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Full text of "Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik"

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ARCHIV  FÜR 
KRIMINOLOGIE 


Iii 

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4RCHIV 

fob  ,     0  0 

KRIMINAL  -  ANTHROPOLOGIE 


UND 


KRIMINALISTIK 


MIT  EINER  ANZAHL  VON  FACHMÄNNERN 


Prof.  Dr.  HKM  €IB0SS 


zwölf m  BAJfD. 

MIT  23  ABBILDUNGEN  IM  TEXT. 


LEIPZIG 
VERLAG  VON  F.  C.  W.  VOGEL* 
1903 


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J 

^ 


Inhalt  des  zwölften  Bandes. 


Erstes  Heft 

ausgegeben  4.  Juni  1908. 
Original  -Arbeiten.  saita 


I.  Die  Donnwiteor  "Rrlliulo  in  dpn  .Tnbmn         und  1S04.  Von  Alfred 

Ain^ehl,  k.  k.  <  >lM  [l:in(K's^cric'litsr:ttii  luul  Staatsanwalt  in  (ira^  .  1 


^                                                             . .            —    ^  , 

II.  Ein  Bi'itrai,''  zur  Würdi^^un^  dci- Aiissa^'o  t  inos  Kindes,  das  in  einem 

Strafverfahren  wegen  eine«  Verbrochens  nach  §  176  Abs.  3  des 

Strafgesetzbuchs  als  Zeuge  '\'en)oii)men  •wimlc  

25 

III.  Ein  eigcnthiimlicher  Fall  eines  pl«jtzlichen  Todes.   Mitgctlieilt  von 

SS 

IV.  Laien  al^  Straf richttT.    Von  llauptinann-Auditor  I>r.  (icurg  Li-- 

4t 

V.  Was  ist  heute  noch  von  der  Oaunerspraohe  im  praktischen  Gebrauch? 

Von  L>r.  VV.  Schütze,  Cierichtsassessor  in  Rostock  

55 

Zweites  und  Drittes  Heft 

ausgegeben  1(5.  Juli  1903. 

Original- Ar  betten. 

VI.  üeber  Daktyloskopie.   Von  Camillo  Windt,  k.  k.  PoHzcirath  in 

Wien.   (Mit  17  Abbildungen)  101 

VII.  Siclitbannaehen  latenter  I'in^^  r- und  Fussabdrficke.   Von  Friedrich 

Paul,  k.  k.  Gerichtssecretär  in  OlmOtz  124 

VIII.  L>a9  Rpformatorium  vonElmim.  ]^fit^''ctliciltv()nPr.Witry  in  Bamberg  180 
IX.  Meinungsdissonanzen  der  t*ac)i\  ei-ständigen  Psychiater.  Von  Primar- 
arzt Dr.  Josef  Bcr/.c  in  VVion  134 

X.  Veranch  der  Todtung  eines  Kindes  durch  ein  kaltes  Bad.   Von  Dr. 

jnr.  Rudolf  Mothes  in  Dresden  153 

XI.  Beiträge  zur  Begutachtung  alkoholistiscber  Störungen  in  foro.  Von 

Dr.  Po  Iii  tz,  dirigirendcr  Arzt  der  Irrenabtheilung  der  königl. 

Strafanstalt  zu  ^Munster  i.  W  155 

XII.  Zur  Kenntnis»  der  Zeichen  des  Erhängungstodes.  Von  Prof.  S tra ss- 

m  an n- Berlin  170 

XIII.  Die  Technik  des  Stcmpelfalschers  und  das  Arbeitshans  als  seine 

technische  Hochschule,  sowie  einige  Vorschläge  zur  Abhülfe.  Von 

Dr.  W.  Sc h fitze,  Rostock  i.  M.   (Mit  6  Abbildungen)    ....  175 

XIV.  Zur  Frage  der  Vtiruiitersucliung.    Von  Hans  Gross  191 


ly  InhaltBvcrzcicbnifis. 

XV.  Sind  wir  dem  anatomischen  Sitze  der  ^Vcrbrechenieiprung'*  wirklich 
näher  gekommen,  wie  Lombroso  glaubt?   Vnii  Medieiiialrath  Dr. 

P.  Näckc  in  Hnbcrnisbuig  218 

XVL  EinflusH  in-igcr  Kccllt^'an^^(  hainingeii  bei  der  Begehung  von  Ver- 

brcdien.    Von  I>r.  jur.  Hudo  If  M  otliea  129 

XVII.  Znr  Finge  der  Stiafpioce^bieform.    ^'on  Hauptmann-Auditor  Dr. 

Georg  Lclewer  in  Wien  284 

XVIII.  Rechtsanfänge  bei  den  Grönländern  nach  Sverdrap.  Von.D.  F.  Baron 

Oefnlo  in  Xeuonahr  840 

XIX.  üeber Gedankenlesen.  Von  Hans  Schneickert,  Rechtspraktikant 

in  Mfinphftn  343 

XX.  Aberglaube,  Wahiyagcrei  und  Kun)fuschcrci.  Von  Dr.  W.  Schütze, 

Oeric'litsas>jeg.sür  in  Rot'took  i.  M  252 

Kleinere  M  i  1 1  h  c  i  1  u  n  g  e  n : 

1.  Der  Vail  lielinert.  (Näcke)  259 

2.  In  Sachen  des  Fanatismus.  (Xacke)  260 

3.  Ueber  Selbstenttnannung.  (Nücke)  263 

4.  Ilat^thiscli  und  Verbrechen.  (Näcke)  265 

5.  Traurige  Folgen  einer  Suggestion  bei  einem  Kinde.  (NScke)  266 

6.  Tliici(|uiiierei  und  Aborglaultcn.  (Nücke)  267 

7.  Wichtigkeit  einer  genauen  pHydiiutrischen  Expertise  bei  ge- 
wissen Verbrechern.  (Xacke)  267 

8.  Ueber  den  Einflusa  schlechten  Schlafes  aaf  die  Zengenauseagen. 
(NScke)  •  269 

•    9.  Ein  Selbstmord.  (Siefcrt)   269 

10.  Blutiger  Aberglaube.  (Hahn)   270 

Bflc herb  esp re eil u ng  en  v(in  Medicinalrath  Dr.  P.  Näcke; 

1.  Möbius.  T'eber  die  Wirkuiigi  ii  der  Cnstration     .    .    .    .    .  271 

2.  Kluge,  Männliclics  und  weibliches  Denken   271 

8.  V.  Bühren,  Das  Geschlechtsleben  in  England  n.  8.  w.  .    .    .  272 

4.  Liebmann  und  Edel,  Die  Sprache  der  Geisteskranken  nach 
stenographischen  Aufzeichnungen  273 

5.  Politisch-anthropologische  Revue  278 

6.  M.  Hirschfeld,  Der  umischo  Mensch  274 

7.  Schnitze,  Die  Stellungnahme  des  Reichsgerichts  zur  Ent- 
mündigung wegen  Geisteskrankheit  oder  Geistesschwache 
(S6.  Abs.  1.  B.G.]{.)  un<l  /ur  Pflegschaft  i§  11*10,  B.G.B.) 
nebst  kritischen  Bemerkungen  275 

Bflcherbesprechungen  von  Hans  Gross. 

8.  Golden  weiser,  Zurechnung  und  strafrechtliche  Verantwort- 
lichkeit in  positiver  Beleuchtung  275 


276 

11.  Mittheilungen  der  Deutschen  Gesellschaft  zur  Bekämpfung  der 

276 

277 

13.  V.  Marek  u.  Kloss,  Die  Staatsanwaltschaft  bei  den  Land-  und 

277 

14.  A  r  t  h  u  r  D  i  X ,  Die  Jugendliehen  in  der  Social-  u.  Kriminalpolitik 

278 

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Inh&ltfiverz6ichnis8. 

V 

15.  rif'rirhtliclio  Modinn  

finita 

278 

Iß   r)r  I>po  Muffolmann     Dar  Prcihlpm   flor  W5llonRfr**ilii*it  in 

der  neuesten  deiitJM'hen  Philosophie  .... 

279 

17.  Flescli.  GeschU'rhf.skrankheiten  und  Rcchtsschut/    .    .    .  . 

279 

l*»     Willonssfreilieif  und  Stnif  recht"     ...  ..... 

280 

19.  Münz.  Kitualmord  und  Eid  

2S0 

20.  Reeherehes  evtit^rimeiitftlp'»  '•ur  In  nathoc/'nte  de  l.i  niort  n.ir  brrt- 

Iure  iiar  Dr.  Enj?t'ne  Stocki-*  a-isistt'Ut  i\  l'l"iii\ei"^it<''  do  I.ii'ifo 

281 

21.  Bindinp,  I^chrbuch  des  gemeinen  Deutsclien  Strafrechtes  . 

29 1 

282 

ZA,  V  onrai^e  unu  Despreciiuii^en  UDcr  -nxjw  iv.n8i8  Qcs  i/arwiuiB* 

nnis**.     Die  •*oeiiiletln"»ehe  Tie<leiitiinn'  der  MnM*^.     Zur  Er- 

kpnntniftKtlioorii*  ilor  S'^tlirf Kclim  Kritik " 

2S2 

24.  W.  Lexis,  Abliandlun/j^en  zur  Theorie  der  Bevölkenings-  und 

Moraistatistik  - 

25.  Richard  Bröbneck,  Die  Arten  des  Masochismas  .... 

284 

284 

27.  M.  E.  Mayer.  Die  allf?enieinen  Strafvei^härfungsgründe  des 

285 

2S.  V.  Bar,  Die  Refonn  des  Straf  rechte«  286 


Viertes  Heft 

ausgegeben  18.  Aagust  11(03. 

Ori  pinal- Arbeiten. 


XXI.  Zur  I'hysio-Psycholopio  der  Todesstnnde.  Von  Medidnalrath  Dr. 

287 

XXII.  Die  Verfolf^uufr  flüchtifTor  Vcrhrcclier.  Von  Landrichter  Ilaussner 

in  Zwickau  

909 

XXTII.  Zur  St.itistik  der  Sittlirhkeit«verbrechen.   Von  Medieinalrath  Dr. 

316 

92Q 

XXV.  Genie.  Dandysni  und  Verbrecherthum.  Eiui{?c  psychologische  An- 

322 

XXVI.  Zur  Frage  vom  pi^yciiopnthischen  AberKlaaben.  Von  Hans  Gross 

384 

841 

Kleinere  Mittheilungen: 

1.  Adnexe  für  ine  \'erbreclier  an  Strafanstalten  oder  an  Irren- 

342 

842 

3.  Die  Kosten  einer  (Jrossstadt  für  ihre  Verbrecher.  (Nückel  . 

»43 

4.  Immer  frecheres  (Jebalircn  auf  dem  sexuellen  Verkehrs-Markte. 

344 

345 

Büchcrbesprceh  ungen  v(»n  .Med. -Rath  Dr.  P.  Nitckc. 

346 

2.  Braunschweig,  Das  dritte  Geschlecht  (geschlechtliche  Liebe) 

349 

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\l  Inbaltävcrzcichniss. 

8.  Schultzc,  1.  Wiclitifro  EiitprlK'i<lnn<ron  auf  doni  GcVticto  der 

Soito 

g'erichtlic  lion       cliiatrii-.  2.  Kntlassunp-zwaiig  uud  Ableliuung 

849 

350 

5.  Mendes-Hartins, Justadcft-sa.lcerca da^SocioIoji^iacriramal'' 

350 

6.  II  och  0 ,  Ucber  die  leichteren  Formen  des  periodiHchcn  Irreseins 

351 

7.  IIa  ecke,  Die  transitoriw'ii.lJcwussteeiusstörunjjend.  Epileptiker 

351 

352 

Bttcherbesprechun^on  von  Oberarzt  Dr.  Kellner 

353 

10.  Heilbronner.  rcbor  Fugiic  und  Kupieszustündc  .... 

355 

11.  Bolte,  L'eber  einif^c  Fälle  von  Simulation  ....... 

35G 

Büchcrbosprechungfcn  von  Med.-R.  Dr.  Matthaes. 

857 

BQchc rbesprcchungcn  von  Ernst  Loh»inf?: 

13.  1.  n»»jriislawski,  Die  Antiduollbewegunp.  2.  Gräser.  Für 

deu  Zwcikami)f.     3.  KltMii-Luinmasch,  Die  Verbesserung 

des  Ehrenechatzee.  4.  Der  Minutaur  der  .„Ehre**  

357 

362 

Bficberbcsprecliangcn  von  Hans  Gross. 

15.  Friedmann,  Ueber  Wahnideen  im  Vnlkprleben  

363 

16.  Biberg,  Ucber  lit'iöte»»törungen  in  der  Armee  zur  Frieden»- 

364 

17.  Braun  schweig,  Das  dritte  Geflciüocbt^  Gleicbgescblcchtliche 

364 

19.  West,  Die  Prostitution  bei  allen  Völkern  vom  Altertbom  bis 

zur  Xcnzeir  

365 

365 

21.  Ilaf  ter,  Die  Itechts-  und  Straffähigkeit  der  Personenverbände 

365 

866 

366 

24.  Reissig,  Medicinisn-he  Wissenschaft  und  Kurpfuscherei   .  . 

367 

25.  Dr.  Ma  .\  riial .  MuttcTrecht.  Fraucnfra^rv  und  Woltaiificliauung 

26.  Aschaf  fcnburg,  Das  Verbrechen  und  seine  Bekämpfung  . 

36^> 

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1. 

Die  Donawiteer  Brtnde  in  den  Jahren  1893  nnd  1894 

Von 

Alfred  Amsohl, 
k.  k.  ObnlulMgMlaktmdk  ud  Stutninnlt  in  Out. 

Oft  vernimmt  man,  und  auch  von  den  höchsten  Gerichtsstellen, 
die  Behauptun^^  das  Motiv  einer  .Strafthat  sei  für  deren  rechtliche 
lieurtheilung  ohne  Belang-.  In  dieser  Allgemeinheit  kann  dem  aus- 
gesprochenen Satze  nicht  heigepflichtet  werden.  Mag  auch  das  Motiv 
für  die  rechtliche  Beurtheilung  der  That,  für  deren  Unterstellung 
unter  ein  positives  Gesetz  in  der  Regel  gleichgültig  sein:  die  Er- 
gründung  des  Motives  ist  für  die  Beurtheilung  des  Thäters,  des  psy- 
cholog^ischen  Zusammenhanges  zwischen  That  und  Individuum,  für 
die  Straffrage  und  nicht  zuletzt  auch  für  die  Beweisfinge  von  ^osser 
Wichtigkdt  DaaB  in  Tvkok  Behwem  FSJÜen  aaf  di«  Kburiegung  des 
MotiTes  vcfzicbtet  werden  musB,  beweist  niehts  ftr  seine  Bedentnngs- 
longkeit  In  vielen  Fällen  wiid  das  Motiv  zur  That  als  YeidaehtB- 
moment,  ja  sogar  als  Beweismittel  wiohtig  sein.  Wir  verweisen  nur 
Mf  den  sogenannten  Industriebrand.  Dass  der  Brandstifter  durch 
seine  Handlung  sieh  die  Versiofaerungssumme  zu  erwerben  strebt, 
bÜdet  nicht  nur  das  Motiv  seines  Handelns,  sondern  auch  einen  her- 
vorragenden Beweis  für  seine  Thäterscbaft. 

Gerade  beim  Verbrechen  der  Brandlegung  wird  das  Motiv  oft 
räthselbaft  bleiben,  oft  nicht  aufzuklären  sein.  Der  Untersuchungs- 
richter aber,  der  deshalb  von  vornherein  auf  den  Versuch,  den 
Beweggrund  zu  erforschen,  verzichteti  wird  seiner  Aufgabe  nicht 
gerecht. 

Besonders  im  Stadium  des  Vorverfalirens  hat  man  nach  dem  mög- 
lichen Motiv  zu  forschen,  weil  es  einen  Fingerzeig  bieten  kann, 
welcher  Person,  oder  unndestens  welchem  rersoneiikreis  die  Thäter- 
scbaft zugemuthet  werden  soll.  Ein  unabsehbares  Feld  breitet  sich 
da  vor  dem  Auge  des  Untersuch uugsricUters  aus}  er  darf  sich  durch 

Arahir  flr  KrinlubBlkiopologto.  ZIL  1 


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2 


UebemBehnngoi  ebensowenig  veiblQffeii  als  dnreh  Enttäusehungeii 
Ifihmen  lassen.  In  der  Eauptverhandlang  allerdings  sinkt  die  Be- 
deutung des  Motives  herab,  weil  ohne  weitere  Beweise  die  Hantrt- 
yerhandlnng  an  sieh  nnmOglioh  wäre  nnd  weil  Bttdcsiohten  anf  Pro< 
cessökonomie  nnd  Zeftersparniss  ein  tieferes  Eindringen  in  das  Hotir, 
das  ist  in  die  Fsyehologie  des  Einzelfalles,  hemmen. 

Lengnet  der  Besohnldigte^  der  allein  rerlXssliehen  AuCsehlnss  Uber 
den  Beweggrund  seines  Handelns  geben  könnte,  dann  wird  in  ein- 
zdnen,  allerdings  sehr  seltenen  Fällen  die  Aufhellnng  des  Motives 
ihn  snm  Geständnisse  bringen.  Verharrt  er  bis  zum  Schluss  im 
Leugnen,  dann  wird  das  Motiv  zur  That  in  stetes  Dunkel  gehüllt 
bleiben,  wenn  er  sieb  nicht  später  einmal  in  der  Strafanstalt  zu  einem 
Geständniss  lierbeilässt,  das  dann  zwar  keinen  Werth  mehr  für  die 
einzelne  Strafsache  besitzt,  um  so  grosseren  Werth  aber  für  den 
Kriniinalpsychülo^cn.  Allein  auch  die  Geständnisse  in  der  Straf- 
anstalt bieten  keine  Gewähr  für  ihre  unbedingte  Glaubwürdigkeit. 
Selbst  hier  noeli  werden  sie  einireschränkt;  selbst  hier  noch  wird  der 
That  ein  Mäntelchen  uingehäni:! ,  um  sie  woniflglich  in  anderem 
Licht  erscheinen  zu  lassen.  Sehen,  dass  so  ein  («eständniss  unum- 
wunden ist.  Handelt  es  sich  um  eine  einzige  That,  so  wird  sie  nicht 
in  Abrede  gestellt,  allein  Begleitumstände  und  Motiv  verschwimmen 
im  Lichte  der  Darstellung.  Handelt  es  sich  um  eine  Mehr- 
heit von  Thaten,  —  es  ist  durch  die  Erfahrung  bestätigt,  dass 
znm  Mindesten  eine  daron  abgeleugnet  bleibt.  Warum?  —  das 
Ifisst  sieh  allgemeui  nnd  objeetiv  nicht  erklftren.  Die  grösste  BoUe 
spielt  die  Eitelkeit  auch  hier  wie  fiberall  im  Menschenleben  nnd  es 
Hesse  sieh  ein  ganz  interessantes  Bnch  ttber  Yerbreohereitelkeit  sn- 
sammenstellen.  Aber  auch  andere  Umslftnde  verschleiern  die  Wahr- 
heit: Scham,  sei  es  echte  oder  falsche  Scham;  Schonnng  noch  nicht 
entdeckter  Mitthäter;  Hofitnnng  anf  Gnade  oder  Wiederanfnahme, 
welch  letztere  in  den  Strafanstalten  einen  ftnsserst  günstigen  Nähi^ 
boden  findet,  weil  die  Strttflinge  sich  gegenseitig  oder  durch  Ver- 
mittdung  freigehender  Genossen  Entlastungsbeweise  zu  verschaffen, 
wissen;  schliesslieh  auch  das  Streben,  die  durch  die  Strafthat  ge- 
wonnene Beute  zu  sichon. 

Immerhin  ist  es  ausserordentlich  interessant,  den  Strüflinir  ül»er 
seine  Strafthat  zu  hören.  In  Oesterreich  fungirt  der  Staatsanwalt  als 
Localaufsichtsbehörde  über  die  selbstständigen  StrafaustaUen,  eine  Ein- 
richtung, die  für  die  Strafrcchtsiille;:;e  —  abgesehen  vom  Verwaltungs- 
standpunkt —  die  grössten  Vortheile  bietet  und  den  Staatsanwalt 
unablässig  mahnt,  dass  er  nicht  blos  öffentlicher  Ankläger,  sondern 


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Die  Donawitser  Brinde  in  den  Jahrm  1S98  nud  1S94. 


8 


Hüter  des  lüclites,  Walirer  des  öffentlichen  Interesses  und  aus- 
schliesslich OrjLi^an  zur  I']rforschunj^  der  Wahrheit  sein  soll.  Welche 
Fülle  von  Erfahrung-en  steht  ihm  zu  Geh(»te,  wenn  er  dem  Angeklajrten 
nicht  nur  im  Gerichtssaal,  sondern  8])äter  wieder  in  der  Strafanstalt 
begegnet,  woselbst  der  Sträfling  mit  seinen  Anliegen,  Wünschen  und 
Beschwerden  an  ihn  sich  wendet!  Wie  manches  Fehlurtheil  konnte 
durch  diesen  Verkehr,  durch  diese  Doppelf unction  beseitigt;  wie 
manches  anscheinend  gewagte  Urtheil  hierdurch  bestätigt  werden! 
Und  hier  5ffnet  eich  die  liobtqaeUe,  die  so  nuinche  dunkle  Thak  e^ 
hellt,  so  mancfaeB  riUhselhafte  Motiv  enihttllt,  so  manche  LQeke  fflUt 
und  in  die  Vorzüge  der  Beobtspflege,  sowie  in  ihre  MSngd  hinein« 
lenohtet  Allerdings  lassen  sieh  diese  Erbhmngen  nicht,  oder  nnr 
schwer  yerwerthea.  Oft  aber  wlirden  sie  snr  Berahigong  der  Bichter 
und  Qeecbworenen,  der  AnkUger  und  Vertheidigeri  insbesondere  aber 
des  PnhlioamSi  nm  dessen  willen  ja  alle  diese  Personen  ihrer  Aemter 
walten,  mächtig  beitragen.  Oft  erschlössen  sie  dem  üntersnchungs- 
lichter  einen  unerschöpflichen  Born  der  Belehrung,  der  weder  durch 
theoretische  Gr&belei,  noch  durch  die  Bontine  des  Werktages  ersetzt 
werden  kann. 

Es  ist  der  Vorzog  unseres  ^Archives",  durch  Schilderung  ein- 
zelner Fälle  dem  Untersuchunfrsrichter  die  Fährte  zu  weisen,  die  ihn 
auf  den  Wep;  der  Dia^ose  führt.  Dass  er  oft  und  oft  den  richtigen 
nicht  zu  finden  weiss,  darf  ihn  ebenso  wcniir  beirren  jils  den  Arzt, 

Da  wir  hier  euRii  Fall  von  Brandlegung  vorführen,  sei  es  ge- 
stattet, auf  die  vorzüglichen  Arbeiten  von  Gross  (Handbuch  für  Un- 
tersuchungsrichter, III.  Auflage,  XIX.  Abschnitt,  Seite  712  ff.)  und 
Wein  gart  (Handbuch  für  das  Untersuchen  von  Brandstiftungen)  zu 
verweisen.    Weingart  unterscheidet  drei  Klassen  von  Motiven: 

1 .  Solche,  die  aus  einer  Verstandesthätigkeit  hervorgehen  (Eigen- 
nutz, die  Absicht  durch  den  Brand  Verbrechen  zu  ermöglichen  oder 
zu  Tcrdecken,  politische  Zwecke). 

2.  Gernttthsbewegungen,  Affecte,  (Bachsaoht«  Eifenmeht,  Uium* 
firiedenheit^  Heimweh,  lYurcht,  Huthwillen). 

3.  Motive  bei  Qeisteeknmken  (pathologische  HotiTe). 
SdbstFersliiidlich  sind  damit  die.MotiTe  ebensowenig  erschöpft, 

als  sieh  die  Tiefe  der  menscblichen  B^ehe  ganz  ecgrilndea  IM. 
Es  giebt  Motive,  die  sicher  einen  pathologischen  Zug  aufweisen,  aber 
noch  lange  nicht  auf  Geisteskrankheit  schliessen  lassen.  Schon  die 
Frende  am  Anblick  eines  grossen  Brandes,  die  Erregung  des  Schauens 
bei  seiner  Betrachtung,  die  Lust  an  der  Entfesselung  des  dämonischen 

Elemeotes  kann  als  Motiv  dienen  4ind  hat  schon  oft  als  solches  ge- 

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4 


I.  Ajuohl 


dient.  Aber  auch  die  Freude  am  Manövriren  der  Feuerwehr,  die 
Passion,  sich  selbst  am  Löschen  zu  bethätip^?n,  der  eitle  Dran^,  als 
Retter  gepriesen  und  bewundert  zu  werden,  hat  Brände  verursacht. 
Mir  ist  ein  P^all  bekannt,  da.ss  ein  frut  beleumundeter,  dem  Handels- 
stand angehöriger  junger  Mann  in  Obersteier  Brand  gelegt  und  sich 
dann  an  den  Löschungsarbeiten  übereifrig  betheüigt  hat,  was  auffiel 
und  sehfienKoh  ni  seifier  Enflaryiiiig  fOhile.  Er  gestand,  den  Band 
gestiftet  zu.  haben,  um  aioh  bei  den  Bettimgeaxbeiten  herronnthnn. 
In  einem  anderen  FUle  stiftete  ein  Feaerwehrhomist  in  Kirnten  etpra 
zwanrig  Brilnde,  nnr  nm  steh  an  seinen  Homsignalen  xn  ergSiien. 
In  einem  dritten  FUl  ans  üntoisteier  seichneto  sich  bei  dner  grossen 
üeberscbwemmnng  ein  schSner  jnnger  Mann  im  Jahie  1851  cbdoreh 
ans,  dass  er  sahlreidien  Menschen  mit  Lebensgefahr  ihr  Leben  rettete. 
Wo  es  galt,  ans  Gefahren  mit  eigener  Gefährdung  zu  retten,  war  der 
brave  TIelft  r  zur  Stelle.  Naeh  Jahren  folgte  in  seinem  Wohnort 
Brand  auf  Brand;  der  Mann  war  stets  auf  der  Unglflcksstätte  m 
finden,  unermüdlich  im  Helfen  und  Retten,  bis  endlich  seine  Rettungs- 
wuth  auffiel  und  den  Verdacht  der  Thäterschaft  auf  ihn  lenkte.  Dass 
solches  Handeln  einen  Stich  in's  Krankhafte  verräth,  wird  nicht  zu 
bezweifeln  sein.  Das  Rudiment  zu  krankhaften  Erscheinunijen  findet 
sich  in  jeder  Menschenseele.  „In  dvr  Brust  eines  jeden  Menschen 
schläft  ein  entsetzlicher  Keim  von  Wahnsinn.  Ring:t  mittelst  aller 
heiteren  und  thätigen  Kräfte,  dass  er  nie  erwache!"'  sagt  Feuchters- 
ieben in  seiner  Diätetik  der  Seele.  Ebenso  schlummert  in  jeder 
Menschenbrust  der  Keim  zum  Verbrechen.  Diese  P^rkenntniss  verleitet 
leicht  zu  Uebertreil)nn,iren.  Sie  hat  auch  die  Irrlehre  vom  geborenen 
Verbrecher  geweckt.  Folgerichtig  wäre  dann  jeder  Mensch  ein  ge- 
borener Veihrecher,  aber  auch  ein  geborener  Narr. 

Besonders  schwierig  gestaltet  sich  die  Ergründung  des  Motires 
sowie  die  Bnnittelang  des  ThXters  bei  Massenbiandlegnngen.  Es  ist 
eme  Thatsache  der  Erfahrung,  dass  derartige  Verbrechen  beispiel- 
gebend nnd  ansteckend  wirken  vnd  so  hat  man  anftngÜeh  nie  die 
Gewahr,  ob  die  Brände  von  Einer  Hand,  von  einem  Complott  oder 
von  veisohiedenen,  einander  selbst  nicht  bekannten  Thttem  heiriUiren. 
Diese  üngewissheit  henschte,  als  im  Sommer  1893  die  Bewohner 
von  Leoben,  Donawitz  nnd  den  angrenzenden  Gemeinden  durch  zahl- 
reiehe  Schadenfeuer  beunruhigt  wurden,  die  ihre  verheerende  Wir- 
kung meist  an  kleineren  Objecten  des  Hüttenwerkes  übten,  jedoch 
auch  Baalichkeiten  benachbarter  Grundbesitzer  einäscherten. 

Wer  von  unseren  TiCsern  sollte  den  steirischen  Ersberg  nicht 
kennen,  der  mit  seinen  röthiich-granen  Stufen  gleich  einer  ftgypti- 


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Die  ]>oiuiwitur  Biinde  in  den  Jahrm  1898  nnd  1894. 


6 


sehen  Pyramide  zwigclien  Vordernberp:  und  Eisenerz  (vormals  Inner- 
berg  jrenannt)  emi)orragtV  Sein  Erzgehalt  scheint  unersehr»pf]ieh  und 
trotz  riesenhafter  Ausbeutung  liefert  er  unerniesslielie  Men^^en  an  das 
benachbarte  Hüttenwerk  der  alpiuen  Montanj!:eaellsehaft  in  Donawitz, 
einem  Vorort  der  reichen  Bergstadt  Leoben.  ^Im  Nord  und  Süd  von 
ziemlich  hohen  waldi^ren  Ilüf^elketten  bep^renzt,  bildet  Donawitz  ein 
kleinem  Königreich  für  sich.  Rathlog  blickt  der  fremde  Besucher, 
faUs  er  nicht  gerade  Ingenieur  und  Faebmaim  ist,  in  das  rerwirrende 
DonMaandor  tob  unfnrmlioliQii  rUfliiwIhaftwi  Baligebilden,  ragenden 
Sehloten,  Ton  ghithioth  oder  elektiiBoli-bUliüieh  erleaehteteii  Belrieba- 
itamen ,  regelloe  sieli  kreosendeD  SebieBeoatiiDgeii  und  aeeh  dahin* 
eilenden  kleinen  Dampfmaaehinen.  Heute  Teremigt  sieh  an  dieaer 
Stttle  die  geiatige  &aft  Eniopaa  und  Amerikaa,  nm  die  wunder- 
baren Ermngensehaften  der  teehniaehen  Wiaaeaaehaften  in  Eisen  und 
Gold  unumaetieii.  Aus  dem  Hooholen  eigieaat  sieh  ein  feox^  Strom 
gCBcbmoIzenen  Erzes  unmittelbar  in  eine  Reibe  von  Eisenbabnlowriei^ 
welche  das  flüssige  Roheiaeo  in  die  Kessel  der  ilartinshtUte  bringen. 
Nach  wenigen  Stunden  strömt  dasselbe  Eisen  geläutert  und  geklärt 
durch  geheimniasvolle  Kräfte  abermals  in  feurigem  Sturze  in  grosse 
Oussformen,  die  auf  unterirdischer  Dampfbahn  zum  Trägerwalzwerk 
geführt  werden.  Dort  hebt  ein  mächtiger  Krahn  die  glühenden  Blöcke 
wieder  zum  Licht  empor  und  in  einigen  Minuten  werden  sie  hier 
mit  nn^'lauhlicli  wenigem  Zuthun  von  Mensehenluind  durch  die  ge- 
walli^'en  Walzen  in  fertige  regelmässige  Schienen  und  Triiger  ver- 
wandelt. Von  hier  führt  man  uns  in  die  Drahtzieherei,  wo  frische 
junge  (iesellen,  that.sächlich  jeden  Augenblick  in  ihrem  Lehen  be- 
droht, umsaust  von  wahrhaft  betäubendem  liirm,  den  Draht  fertigen 
helfen,  jenen  Draht,  der  auf  Flügeln  der  Elektricität  den  Gedanken 
und  das  Wort  über  iJinder  und  Meere  trägt."  (Dr.  Max  Reich, 
Leoben.  Wanderungen  durch  Stadt  und  Umgebung.  Veriag  der 
k.  k.  BeqjiakademiBohai  Budhbandinng  Ludwig  NOssler  in  Leoben,  1901. 
Seite  16  fL). 

Eb  iat  begreiflieb,  daaa  die  lortgeeetalen  Brinde  in  diesem  wich- 
tigen Induatrieoentmm  im  ganaen  I^nd  und  darttber  hinaus  das 
grOsste  Aufeehen  regten  nnd  im  Monate  Februar  1894  den  Be- 
wohnern Ton  Donawiti  und  Leoben  den  hSobateii  Grad  von  Unmhei 
Erregung  und  Beaorgnisa  einfitaten. 

Einerseits  stellten  sieh  alle  Anstrengungen,  irgend  eine  Spur  vom 
gebeimnissvoUen  Thäter  zu  finden,  schon  ans  dem  Qmnd  als  erfolglos 
dar,  weil  in  einem  industriellen  Etablissement  grössten  Stiles,  dessen 
Gebiet  Aber  aweitanaend  Arbeiteifamilien  rereinigt,  schon  die  Hasse, 


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6 


L  AiiBcm. 


in  der  ein  Verbrecher  leicht  spurlos  verscliwindt  t ,  seine  Erniittt'lurig 
erschwert,  —  andererseits  aber  musste  die  Bevölkerung  der  Gedanke 
mit  Entsetzen  erftillen,  dass  der  Brand  eines  NachtB  die  grossen 
Werksobjecte  eigieifen,  ja  das  ganze  Werk  yemichten  könnte.  Die 
Schreckntaae,  die  ein  derartiges  Ereignias  im  Gefolge  haben  mlisste, 
jienen  rieh  kaum  besekreiben.  Dazu  gesellte  sieb  nocb  die  ün- 
gewiasbeit  Uber  das  Hotiy.  Es  blieb  so  rftthselhafi  wie  die  Person 
des  Tbflters.  Zahlreiche  Combinadonen  erregten  die  Phantasie  der 
Bewohner.  Man  apiaeb  von  anarchistischen  Complotten  und  von 
Pyromanie;  yon  Bacli sucht  Uber  inhumane  Behandlung  der  Arbeiter 
und  von  Zorn  über  ein  im  Sommer  1893  ergangenes  Verbot,  inner- 
halb des  Werkes  Schweine  und  Schweineställe  zu  halten. 

Die  meisten  dieser  Conibinationen  erwiesen  sich  in  der  Foh^t'  als 
mehr  oder  minder  unhaltbar,  alle  aber  als  raüssig  angesichts  dir 
Thatsache,  dass  bei  auffallenden  und  Aufsehen  erregenden  Verbrechen 
so  häufig  auf  die  Ergründung  eines  speciellen  Motives  verzichtet 
werden  niuss,  dass  aber  allen  in  der  Regel  das  gencrene  Motiv  der 
Lust  an  bösem  Thun,  an  Schaden,  Furcht  und  Schrecken  der  Mit- 
menschen und  moralische  Unzulänglichkeit  des  Thäters  zu  Grunde 
liegt. 

Die  Reihenfolge  der  Brände  in  Donawitz  stellt  sich  folgender- 
uia^uiäen  dar. 

1.  Am  Abend  des  21.  August  1893  brannten  im  Dachraume 
der  Holzhfltte  zwiachoi  Hans  Nr.  70  und  72  gegenüber  der  Werks- 
restauration Nr.  71  alte  Fetzen  und  Stroh  vorrSthe.  Der  Brand  wurde 
sofort  bemerkt  und  gdöscht  Die  rings  um  die  Holzhtttte  gelegenen 
Gebäude  waren  entBchiedener  Feuersgefabr  ausgesetzt  Die  Art,  wie 
das  Feuer  entstandeui  schliesst  jeden  Zweifel  an  absichtlicher  Brand-  . 
Stiftung  aiiB.  Ein  Schade  ist  nicht  entstanden. 

2.  Am  1 6.  Oetober  1893  Abends  brannte  gegenüber  der  Waks- 
restauration der  an  das  in  der  Coloniegasse  gelegene  Haus  Nr.  70 
angebaute  Stall  nieder.  Die  umliegenden  Oebäude  schwebten  in 
grÖBSter  Feuersgefahr.  Der  Schade  belief  sich  auf  580  fl.  40  kr 
Dem  Arbeiter  Peter  Zischka  verbrannten  Heu-  und  Strohvorrathe, 
dann  8  Strohsäcke  im  Werthe  von  5  fl. 

3.  Am  8.  November  189  3  gegen  7  Uhr  Abends  brach  im 
Dachraum  des  zu  dm  Coloniehäusern  in  der  Langen  Hasse  gehö- 
rigen StallgebiiiKit  s  Feuer  aus.  Dachstuhl  und  innere  Kiiirichtung 
wurden  t  in^iiisrlK  rt ,  die  Mauern  beschädigt,  die  umliegenden  Ge- 
bäude grosser  I  Viu-rsgefahr  ausgesetzt. 

Der  Schade  der  alpinen  Moutangesellschaft  belief  sich  auf  630  fl. 


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Die  Douawitzcr  Brande  in  den  Jahren  lb93  und  lb94 


7 


tO  kr.  Dem  Arbeiter  Peter  Zischka  Terbnumten  Heu-  und  Strobvorräthe 
und  61/2  me  Futter  im  Wertbe  tou  30  fl.  Dem  Arbeiter  ÄDton 
Jemest  2  Ziegen,  1  Eitz,  2  Kanineben,  1  Katze,  4  mo  Heu,  Strob, 
HandtOeber,  1  Sebaf  und  eine  Heugabel  im  Wertbe  von  zneammen 
62  fl.  70  kr. 

4.  Am  19.  Januar  189  4  Abends  brach  im  Dadiraunie  der 
zwischen  dem  Werksspitale  und  der  Gasanstalt  an  der  (Gemeinde- 
Strasse  gelegenen  Kalkhütte  Feuer  aus.  Der  Brand  wurde  recht- 
zeitig bemerkt  und  gelöscht  Die  Auslagen  von  Löschkosten  beliefen 
sich  auf  12  fl.  10  kr. 

b.  Am  I.  Februar  l'^94  i'Fnschinfrsonnta^')  zwischen  9  und 
10  Ulir  Abends  brannte  das  Matt  rialma^Mzin  der  Werksmaurer  näelist 
dem  Martinofen  vollständig  niech'r.  Xiclit  nur  in  Donawitz,  sondern 
auch  in  der  Stadt  Leoben  verursachte  dieses  Feuer  den  grüssten 
Schreck. 

Auch  diesmal  brach  das  Feuer  im  Dach  räum  aus,  woselbst 
StnkatuiTohr  aufgeschichtet  dalag,  also  ein  Zündstoff,  der  den  Aus- 
brach und  die  Wdterrerbreitung  des  Feuers  erbebtich  begünstigt. 

Nur  ein  in  diesem  Theil  des  Werkes  selbst  beschäf- 
tigter Arbeiter  konnte  diesen  Brand  legen;  ohne  die  ge- 
naueste Localkenntniss  schien  dies  unmöglich,  zumal  da 
der  Portier  den  Eingang  überwachte,  ein  Fremder  daher 
gar  nicht  Zutritt  gefunden  hfttte. 

Nach  Ausführnng  des  Verbrechens  verschwand  der  TbSter  in 
den  gegen  den  Vordembergerbach  gelegenen  Garten.  Im  Schnee 
fanden  sich  verwischte  Fussspuren  eines  männlichen  Individuums. 

Die  gesammten  nördlichen  Anlagen  und  der  Gasometer  waren 
auf  das  Höchste  gefährdet}  5V2  Schritte  vom  Brandobject  entfernt 
steht  ein  grosses  Uolzmagazin,  unmittelbar  daran  die  grosse  Martins- 
hütte. Die  jenseits  des  Haches  l)efindlichen  Wohntrebäudo,  der  "VVald 
an  der  Strasse  schwebten  ebenso  in  (iefahr  als  zalilreiche  Menschenleben. 

Der  Schade  belief  sich  auf  4VtU5  fl.  42  kr. 

6.  Drei  Ta^r*'  später  —  am  7.  Februar  1S9  4  —  <rab  es  wieder 
Feuerlärm  im  Werk.  Es  brannte  wieder  in  derselben  Kalkhütte,  an 
der  schon  am  19.  Januar  Brand  «relefjt  wonlen  war.  Der  Brand 
kam  beim  Zie<;enstalle  der  Arbeiterfamilie  Trinkl  nächst  dem  l*er- 
sonalliuuse  Xr.  47  zum  Ausbruch,  wurde  aber  unterdrückt.  Die  ver- 
riegelte Eingangsthür  der  Kalkhütte  war  uufj^erissen ,  vom  Fenster 
des  Trinkl'schen  Zicgenstalles  der  vorgehängte  läppen  weggehoben, 
das  Diahtgitter  umgebogen  und  durch  die  so  erstandene  Oeffnung 
der  Zündstoff  in's  Stroh  geworfen  worden. 


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8 


I.  AMiK;ilL 


Da  die  Ealkhfltte  vom  laoliiqiUale  nur  9  und  von  deo  Arbeite^ 
wobnnngen  nnr  10  Schritt  eotfernt  lat,  war  grosae  Gefahr  für  Men- 
aohenleben  and  fremdee  Ei^thom  Torhanden. 

Der  Schade  betrog  51 H  20  kr. 

7.  Etwa  100  Schritt  Ton  der  Kalkhütte  entfernt,  liegt  das  Per- 
sonalhaua  Nr.  43,  in  dem  seit  Herbst  1899  wiederholt  Einbmchs- 
diebstähle  yerübt  und  versucht  worden  waren. 

In  diesem  Hanse  fanden  am  8.  Februar  1894  die  beiden  Ar- 
beiter  Josef  Wagrner  und  Franz  Erler  etwa  2  Fuss  von  der  Treppe 
entfernt  in  einer  Dachluke  eine  runde  Papiersehaelitel  mit  Sä'resiiähnen 
und  darauf  einen  mit  einem  brennenden  Lappen  iiniwundeuen  Besen. 

Dem  Zufall,  der  diese  Arbeiter  rechtzeitiL'  herbeiführte,  ist  es  zu 
danken,  dass  d^r  Brand  im  Keim  err^tickt  wurde,  iin  anderen  Falle 
hätte  das  Feuer  zunächst  das  hölzerne  Stiegenhaus  er^^Tiffen  und  die 
zahlreichen,  in  den  beiden  ^'rossen  Dachwohnungen  schlafenden  Ar- 
beiter zum  Opfer  frefordert.  \Uvt  auch  alle  benachbarten  Objecte 
waren  der  prüsstcn  (Jcfahr  ausgesetzt. 

8.  An  demselben  Abend  wurde  in  einer  zu  den  Endrcs'schen 
Personalhäusern  in  Douawitz  gehörigen  Ilolzläge  Feuer  gelegt,  das 
zwar  ausbrach,  jedoch  von  selbat  verlosch. 

9.  Die  seit  dem  4.  Februar  1894  in  der  Bevdlkemng  herrschende 
Panik  errdi^te  ihren  Höhepunkt,  als  am  10.  Februar  Abends  der 
etwa  10  Hinuten  ausserhalb  des  Werkes  Donawitz  in  der  Biehtnng 
gegen  den  vulgo  Gigeri  am  Galgenbeig  gelegene^  isolirte  Heustadel  des 
Grundbesitzers  Alois  Tranawieser  sammt  einer  anstossendeiiy  der  Ge- 
meinde Donawitz  gehörigen  TorfinuUhütte  an  Baab  der  Flammen  wurde. 

Der  Sehade  Traunwiesev's,  dem  auch  Heu  im  Werthe  von  88  fl. 
verbrannte,  beträgt  308  fl,  jener  der  Gemeinde  Donawitz  25  iL,  die 
Löschkosten  beliefen  sieh  auf  5  fl.  3U  kr. 

Die  begreifliche  Aufregung  in  der  Bevölkerung  und  die  Frechheit 
der  geheimnisvollen  Brandleger  machten  TesBchärfte  Sicherheitsmaass- 
regeln  noth  wendig. 

Seitens  der  Werksdirection  waren  bis  nun  schon  über  looo  fl. 
tür  Streif-  und  Nacbtwachen  und  Feuerbereitschaft  verausgabt  worden. 
Auf  die  Erirrcifunir  des  Thäters  wurde  ein  Preis  von  loüfl.  gesetzt 
und  alles  vorgekehrt,  was  zur  Abwendung  weiterer  Scliäden  und  Ge- 
fahren zweckdienlich  schien.  Nicht  minder  hat  die  Gemeindevor- 
stehung  Donawitz  durch  Aufstellung  von  Wachen,  durch  Kund- 
machungen an  die  Bewohner  und  durch  Xacliforseliiingen  nach  den 
Urbeljern  der  Bräude  zu  deren  Bewältigung  beigetrugen,  was  in  ihren 
Kräften  stand. 


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Die  Donawitzer  Biinde  in  den  Jahren  1808  and  1894. 


9 


Am  11.  Februar  1S94  Vormittags  11  Uhr  wurde  auf  dem  Garten- 
zaun des  Hauses  Nr,  57  ein  angebefteter  Zettel  ij:efunden.  Daiaof 
Stauden,  mit  Bleistift  unortho^^rapliisch  f^esclirieben,  die  Worte: 

„Achtun^r,  hall)  Douawitz  muss  noch  im  Feuer  geben! 
Unser  Commando  lautet:  H.  Od.  M.  D.  J.  T.  B.  II." 

Am  15.  Februar  waren  in  Leoben  zwei  Briefe  an  den  Werks- 
director  Ferdinand  llauttmann  und  an  den  Ingenieur  und  Feuerwebr- 
hauptiuann  Franz  Ciudera  zur  Post  gegeben  worden,  welche  folgenden 
Wortlaut  aufweisen: 

„Achtang!  Halb  Friedan  (d.  l  ein  Tbeil  Ton  DonawiU)  muss 
mit  Dynamit  in  die  Loft  und  Fener  gelien  mit  Dureetorliaiui!  Unser 
Gommwido,  alte  DonawUier  gewesen.  H.  6.  W.  0.  J.  D.  F.  — 
„AGfatnngt  die  Feuerwehr  bekommt  GescbAfte!  Nocb  geang  Stallungen 
müssen  im  Feaer  stehen  mit  alt  gewesene  Donawitier.  H.  G.  W.  0* 
J.  D.  F.  W.« 

Für  jeden  lAten  war  sofort  kennbar,  dass  beide  Briefe,  auf 
linürtem  weissem  Papier  geaehrieben,  von  ein«r  und  derselben  Hand- 
sehrift  herrührten,  und  zwar  Yon  jener,  die  auch  der  am  II.  Febmar 
vorgefundene  Drobzettd  trug. 

Auffallen  nuisste,  daas  die  Brände,  insbesondere  jene  des  Jahres 
1894,  sammt  und  sonders  iwisoben  7  und  9  Uhr  Abends,  und  zwar 
meist  in  den  Dach  räumen  ausbrachen,  dass  sie  sich  auf  ein  eng 
umschriebenes  Territorium  beschränkten,  genaueste  Localkennlniss 
verriothen  und  —  Im  auf  den  Magazinsbrand  Tom  4,  Februar  —  sich 
auf  uiinderwertliige  01)jecte  erstreckten. 

Alle  diese  Umstände  und  vor  Allem  aucl)  die  Handschrift  der 
Dnjlibrit'fe  und  ihr  Stil  Hessen  darauf  schliessen,  dass  die  Brand- 
stifter einbeimische,  wahrscheinlicli  jugendliche  Personen  sein 
müssen,  die  vielleicht  aus  (iefallen  an  Feuer,  aus  Behagen  an  den 
Manövern  der  Feuerwehr,  oder  um  diese  zu  chieaniren,  oder 
aus  Abneigung  gegen  ihre  l*fliclit  als  Mitglieder  der  Feuerwehr,  — 
auf  jeden  Fall  aber  um  Schrecken  und  Furcht  zu  errege  und,  ge- 
trieben von  einem  zum  Tbeil  auf  moralisebem  Defeete  bemh^deii 
Hange  sum  Yerbrecben,  ihrem  freTleriscbem  Treiben  fröbnten. 

Am  13.  Februar  waren  von  der  k.k.  Beairksbauptmannsehaft 
unter  Intervention  der  k.  k.  Staateanwalisebaft  an  Ort  und  Stelle  poli- 
zeiliobe  Erbebungen  gepflogen  worden,  am  17.  Februar  fand  der  ge- 
riditliohe  Augenschein,  gleiohfaUs  unter  staatsanwaltachafttidier  Intern 
vention,  statt. 

10.  Gewissermaassen  als  höhnisohe  Antwort  auf  den  gerichflichen 
Augenschein  biach  Sonntaip  den  18.  Februar  1 894  zwischen  9  und 


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10  L  AxscHz. 

10  Uhr  Nachts  in  der  Zeughütte  für  die  Verlader  Feuer  aus,  das 
reell tzeitig  bemerkt  und  gelöscht  werden  konnte,  so  dass  kein  Schade 

entstund. 

Dieser  Brand  sollte  aber  zur  selbstgestellten  Falle  werden,  in  der 
der  Tliäter  sicli  fin^,'. 

Scliun  einige  Zeit  schöpfte  man  Verdacht  gegen  den  Werks- 
arbeiter  Wenzel  Querser. 

Dieser,  am  27.  September  1873  in  Kaplitz  (Bölimen)  als  ehelicher 
Sohn  des  Hausknechtes  Johann  Querser  und  der  Anna  Pils  geboren, 
besuchte  bis  zum  14.  Lebensjahre  in  Kaplitz  die  Volksschule,  kam 
dann  in  Böhmen  als  Halterbub  zn  TenohiedeBeii  Baaem,  später  als 
Znieiclier  bei  Maurern  mit  seiner  Matter  nach  Wien  nnd  Innsbruck 
und  wurde  am  11.  Kovember  1890  als  Platzarbeiter  in  den  Dienst 
des  Donawitzer  Hüttenwerkes  aufgenommen. 

Vom  11.  Norember  1890  bis  24.  Juni  1891  wobnte  er  im  Per- 
sonalhanse  Nr.  73  nächst  der  Werksrestauration,  dann  bis  18.  Octo- 
ber  1893  im  Burschenzimmer  Kr.  2  des  Personalbauses  Nr.  43,  dann 
bis  30.  November  1893  im  Paddlerhause  Nr.  45.  Seit  30.  November 
bediente  er  den  Ma^fazinsbeamten  Ferdinand  Doringer  und  wohnte  in 
der  diesem  zng:ewiesenen  Villa  jenseits  der  Endres-achen  Personalhäuser. 

Anfangs  December  wurde  Doringer  aushiUfsweise  nach  Schwechat 
bei  Wien  versetzt.  Bis  zu  seiner  am  5.  Januar  1894  erfolgten  Rück- 
kehr bewohnte  Querser  allein  die  Villa,  wohin  man  vom  Werke 
an  den  Endres'schen  Häusern  vorüber  (Brand  vom  s.  Februar  ISO  J 
Nr.  8)  gelanf^t,  den  Traunwieserstadl  (Brand  vom  10.  Februar  1894 
Nr.  9)  genau  sieht  und  in  wenigen  .Minuten  erreichen  kann. 

In  der  Zwischenzeit  hatte  er  trotz  des  aiisdrücklicben  Verbotes 
Dorin^ers  dessen  Revolver  zu  sich  gesteckt,  ohne  Warfeni)ass  herum- 
getragen und  auch  drei  Patronen  verschossen.  Fernrr  schwindelte 
er  am  20.  Februar  von  Maria  Radek  in  der  Farracher  Biernieder- 
lage 6  halbe  und  l  ganzen  Liter  Bier  im  Werthe  von  S4  kr.  auf 
Nauien  seines  Herrn  heraus. 

An  demselben  Tage  wurde  der  k.  k.  Staatsanwaltsebaft  als  Schrift- 
probe Queiser's  ein  von  ihm  an  die  Arbeiterstochter  Ansstasia  Papou- 
schek  gerichteter  Liebesbrief,  daürt  Donawitz,  15.  Februar  1894^  über- 
reicht Die  Schriftzfige  verriethen  auf  den  ersten  Blick,  dass  sie  von 
derselben  Hand  herrtthrten,  wie  die  2  Drohbriefe  an  Hauttmann  and 
Oudera  und  der  Drohzettd.  Auch  die  Vorliebe  f&r  Abkürzungen 
mit  grossen  Anfangsbuchstaben,  insbesondere  die  Schreibweise  des 
W.  oder  M.  und  so  viele  andere  oharakteristiBche  Züge  sprachen  für 
die  Identität  der  Handschriften. 


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Die  Donawitzfflr  Btlnde  in  den  Jahrai        and  1894. 


11 


Die  Sachverständigen  im  Schriftfache  erklärten  unter  ihrem  Eide 
auf  Grund  der  sorgfähij^ston  und  gewissenhaftesten  Prüfung,  das» 
die  Drohbriefe  und  der  Drohzettel  ganz  unzweifelhaft  von  Wenzel 
Quer:>er  herrühren.  Xun  war  der  Beweis  erbracht*  dass  Queiser  mit 
den  Firänden  in  Zusammenhange  stehe. 

An  demselben  Tage,  20.  Februar  1S94,  begab  ich  mich  mit  dem 
Untersuchungsrichter  an  Ort  und  Stelle  nach  Donawitz  zur  Verhaftung 
Querser's  und  zur  Vornahme  einer  Hausdurchsuchung.  Wir  trafen 
Querser  nicht  im  Werk.  Er  war  verschwunden,  angeblich  in  die 
Stadt  gegangen,  nach  Meinung  Anderer  geflohen  *  da  er  von  seiner 
Verfolgung  Wind  bekommen.  Wibrend  der  üntersnobungBricbter 
sieb  mit  dem  Scbriftffibrer  und  den  Gendannen  in  Qaenei'B  Wob* 
nnng  begab,  bielt  ich  micb  in  den  Werksiftnmen  anf  nnd  lieas  mir 
den  Weg  zeigen ,  den  Qnener  am  18.  Febmar  znrttcklegte,  als  er 
mit  der  Waaserflaaebe  bis  zur  V6rlad6^Z6ngbtttte  lief.  Da  trat  plötz- 
lich ein  Arbeiter  anf  mich  zn  und  meldete  mir,  daas  Qnener  soeben 
in  das  Weik  znrflckgekehrt  sei  nnd  sieh  vm  nähere  Ich  schritt 
auf  ihn  zu,  fragte  ihn  nach  seinem  Namen,  den  er  mir,  die  Htktze 
in  der  Hand,  nannte,  und  veranlasste  seine  Verhaftung. 

Bei  d^  Hausdurchsuchung  fand  man  das  gleiche  liniirte  Brief» 
papier  vor,  auf  dem  die  Drohbriefe  geschrieben  sind;  dn  Heft  mit 
Stilübungen  und  Entwürfen  von  Liebesbriefen,  die  so  recht  seinen 
phantastischen  und  überspannten  Charakter  blosslegten. 

Durch  die  Aussage  Doringers  sowie  durch  (^Uiersers  Geständnis» 
ist  erwiesen,  dass  dieser  am  1 5.  Februar,  am  Tage  der  Aufgabe  der 
Briefe  in  Leoben,  thatsächlich  in  Leoben  war  und  über  Auftrag  seines 
Herrn  Kleider  in  dem  gegenüber  vom  Postgebäude  gelegenen  Ge- 
schäfte des  Schneiders  Seimann  abholen  musste.  Dit^  Tinte  erwies 
sich  als  jene,  die  im  Foyer  des  Postgebäudes  den  Parteien  zur  Ver- 
fügung steht.  Die  Briefe  waren  von  (Querser,  somit  offenbar  im  Fost- 
gebäude  selbst,  geschrieben  und  aufgegeben  wurden. 

Es  bandelte  sich  noch  um  den  Beweis,  dass  Quersers  verbre- 
cherische Thätigkeit  nicht  anf  die  Drohungen  beschränkt  blieb,  son- 
'  dem  daas  er  der  Brandleger  selbst  sei 

Wie  bereits  erwähnt,  bat  Querser  über  ein  halbes  Jahr  im  Per- 
sonalbanse  Nr.  73  gewohnt  In  der  Wateestannition  Nr.  71  war 
er  anf  FriIhstQck,  Mittag  nnd  Abendessen  abonnirt  Zu  Letzterem 
erschien  er  gewöhnlich  nm  6  Uhr  hemm.  In  der  Nähe  dieser  beiden 
Hänser  stand  die  Holzläge,  in  der  am  21.  Augnst  1893  das  erste 
Fener  anfflammte. 

Ans  dem  Drohbrief  an  Gndera,  wo  es  heisst,  dass  noch  Stal- 


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12 


L  Ammhl 


lungen  ^vim^  in  Feuer  stehen  müssen,  f^eht  hervor,  dass  der  Schrei- 
ber des  Briefes  auch  die  Stallung:en  bei  Nr.  70  nnd  am  Ziegelplatz, 
erstere  zur  früher  erwähnten  Werksrestauration  «rohr.nir,  am  IG.  Oc- 
tober  und  8.  November  1893  an^a'züiulet  liabt^  Zeugen  Fruh- 

niann  und  Iluber  bestätigen,  dass  Querser  ao  diesoa  beiden  Abenden 
nicht  zu  Hause  war. 

Als  Maurer,  Platzarl)eiter,  Schickbursclie  und  Ilandlanger  besass 
Qnerser  die  genaueste  Localkenntniss  bis  in 's  kleinste  Detail. 

In  der  am  Id.  Januar  und  7.  Februar  1894  ?om  Brande 
heimgesuefaten  Kalkbfitte  war  Qaeraer  mh  nnd  oft  bcschiftigt  Das 
Tenain  kannte  er  ToUkommen,  da  die  Kalkhfltte  in  nnmitlelbaier 
NShe  des  PcrBonalhannB  Nr.  43  nofa  befindet 

Dort  hatte  er,  wie  erwShnt,  vom  24.  Jnni  1891  bis  18.  Oe- 
tober  1890,  abo  länger  ab  swei  Jafare^  gewohnt 

Er  war  dort  Zimmergenosse  der  Arbeiter  Josef  Wagner,  Gustav 
Bgger  und  des  Manrers  Wenzel  Leksa. 

Dieser  hatte  am  IS.  October  Mittags  sein  Geld  abgezählt,  in 
die  Schublade  gelegt,  das  Vorhängesehloss  der  letsteren  sngesperrt 
nnd  den  Schlüssel  zu  sich  gesteckt 

Am  Abend  dieses  Tages,  an  dem  Qnerser  aus  dem  Hause 
Nr.  43  auszog,  fand  Leksa  das  Schloss  von  seinem  Kasten  weggerissen, 
diesen  aufgesprengt,  und  von  seinem  (»elde  24  fl.  gestohlen.  Das 
Burschenzimmer  war  versperrt  gewesen,  allein  (kr  ^olilüssel  hing  an 
der  Wand  im  Vorhause.  Ein  Fremder  konnte  den  Diebstahl 
nicht  verübt  haben. 

Damals  wurden  die  Arl)eiter  Alois  Scliweigliardt  und  Josef 
Fruhmann  dieses  Diebstahls  beschuldigt,  Frulmiaiin  sogar  verhaftet. 
Bald  aber  hatte  sich  ihre  Schuldlosigkeit  licrausgL'stellt. 

Jetzt  erscheint  es  ausser  Zweifel,  dass  Querser  diesen  Diebstahl 
begangen.  Ueber  zwei  Jahre  hatte  er  neben  Leksa  geschlafen.  Er 
kannte  genau  den  Aufbewahrungsort  des  lOmmenehlfisseis  und  des 
Geldes,  hatte  immer  Geld,  trotzdem  er  bei  der  Ausrahlung  oft  nur 
einige  Kreuzer  herausbekam,  schlug  sieh  gerne  mit  MäddieB  hemm; 
lebte  Behr.  flott,  kam  oft  Mb  Höngens  betrunken  nach  Hause  und 
zahlte  im  Oetober  1893  dem  Sdineider  KoTalsehitseh  fttr  einen  neuen 
Book  sammt  Weste  13  fl.  60  kr.  haar  aus. 

Schon  Im  Herbste  1893  war  dem  Josef  Wagner  ans  verspOTtem 
Kasten  ein  Geldbetrag  von  20  fl.  weggekommen.  Eines  Tages  hatte 
Qnerser  Wagner's  Geld  beobachtet  Wiederholt  begab  er  sieh  von 
der  Schicht  allein  in's  Burschenzimmer  und  hatte  dort  Gelegenheit  zur 
Ausübung  der  Diebstähle^  deren  Niemand  verdächtigt  wird  als  Qnenwr. 


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Die  Donawitzer  Brände  in  den  Jaliren  IbUä  uud  ISM. 


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Eode  September  1803  wnide  dem  Aibdter  GmteT  Egger  tau 
dem  gleioben  Locale  nnd,  gieieh  wie  dem  Lekaa  und  Wagner,  ans 
yersperrtem,  wahrscheinlich  mitteiit  KacbiolilitaBeb  geöffneten  Koffer, 
eine  Rrieftasche  mit  8  fl.  gestohlen. 

Nachdem  Querser  am  IS.  October  1893,  am  Tage  des  Diebstahls 
an  Lekaa,  das  Personaihaus  Nr.  43  verlassen  hatte,  mied  er  es  lange. 
Geraume  Zeit  darnach  erschien  er  wiodor  dort  mit  seinem  Freunde 
Gottfried  Ep:laner,  dessen  spttter  £rwähnnag  gesolleben  wird,  am 
Karten  zu  spielen. 

Am  Lichtmessta^e,  den  2.  Februar  1S94  zwischen  4—5  Uhr 
Nachniitta^rs,  spielte  Querser  dort  Karten.  Der  Arbeiter  Heinrich 
Neubauer  zählte  sein  Geld,  wobei  ihn  Querser  in  auffallender  Weise 
beobachtete. 

Neubauer  sperrte  seinen  Kasten  ab  und  steckte  den  Schlüssel 
zu  sich. 

Tags  darauf,  am  'A.  PY'hrimr,  fand  er  den  Kasten  aufgebrochen, 
den  Rock  herausgenommen  und  auf's  Bett  gewuifeu.  Glücklicher 
Weise  hatte  der  Einbrecher  die  im  ßocke  verwahrte  Baarschaft  von 
3  IL  mobt  gefunden. 

Nenbaner  und  sein  Kanemd  Jobann  Sonnberger  beieichneten 
sofort  Qnener  als  den  Dieb,  weil  er  allein  den  Ersteren  bdm  Oeld- 
ziblen  so  vefdächtig  belanert  batle. 

DasB  Qamßt  mit  Vorliebe  eich  an  SehlOeser  und  fremde  Seblllssel 
beranmaobte,  beweisen  folgende  Mittbeilnngen  Dorioger^: 

Kaobdem  dieser  im  Januar  t894  yon  Sebweebat  sariiekgekehrt 
war,  konnte  er  die  Thilr»i  seiner  veispeiTten  KSsten  niebt  öffnen,  so 
dass  er  einen  Soblosser  holen  lassen  mnsste;  dieser  erklSrte,  es  müsse 
jemand  mit  Sperrwerkzeugen  an  den  Schlössern  herumprobirt  haben. 

Bei  einer  Durchsuchung  der  Habseligkeiten  Querser's  fand  Do- 
ringer  Mitte  Februar  in  dessen  Werktagsblonse  einen  fremden  Schlüssel, 
der  zu  Doringer's  Ueberraschung  seinen  zweiten  Keller  sperrte. 
Querser  gesteht,  dass  er  sich  diesen  Schlfissel  habe  machen  lassen, 
angeblich  um  den  Waschkessel  säubern  zu  können. 

Niemand  konnte  an  Doringer's  Sclilrvssem  herumprobirt  haben 
als  Querser,  der  dessen  Villa  Monate  lang  allein  bewohnte.  Diese 
Handlungsweise  (Querser's  bestätigt  den  Verdacht,  dass  Niemand 
anderer  als  er  die  Schlösser  an  den  Kästen  und  Koffern  Wagner's, 
Egger's,  Ixksa's  und  Neubauer's  erbiuchen  habe. 

Und  in  der  That  —  erwägt  man,  dass  (Querser  schon  als  Kind 
wegen  Diebstahls  gestraft  worden;  dass  die  Art  der  N'erübung  bei 
allen  diesen  Diebstählen  genau  die  gleiche  war;  dass  Querser  himn 


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14 


L  AMiCBL 


<lie  erfunkrliche  Gelegenheit,  die  nr»thi^'e  Kenntniss  des  Grkllifsitzes 
und  des  Aufbewahrungsortes  der  Baarschaften  besass;  dass  er  zu 
jener  Zeit  Ausgraben  machte,  die  seine  Einnahmen  weit  überstiegen 
und  dass  Niemand  anderer  dieser  Diebstähle  geziehen  werden  kann, 
flo  «roeheint  Qneiwr  der  Thttenchalt.htnlingUQh  yefdSobtig. 

£b  ist  httohst  auffallend,  dasB  wenige  Tage  nach  dem  Diebatahle- 
vefBueh  an  Kenbaner,  am  8.  Februar  1894  —  unmittelbar  hinter 
dem  Yon  QneiBer  so  lange  bewohnten  BnrBobenzimmer  Kr.  2  jener 
Brand  gelegt  wurde,  den  die  Arbeiter  Wagner  nnd  Erler  —  Ersterer 
«ner  der  Beetohlenen  —  entdeckt  hatten.  Es  bedarf  wohl  keiner  be- 
aonderen  Begrflndnng,  wamro  man  in  allen  dieeen  ▼erbrecherisehen 
Handlungen,  aneh  in  dem  am  nämliehen  Tage  bei  Endres  ge- 
legten Brande  (musste  doch  Querser,  um  von  der  Villa  Doringer*8 
in's  Peraonalhaus  Nr.  43  zu  kommen,  an  den  Endres'schen  Häoaem 
▼orbei)  eine  und  dieselbe  Hand  erblickt  —  die  Hand  des  Einzigen, 
dessen  Gebahren  an  diesem  Verdachte  heranafordert,  —  die  Hand 
<iuerser's. 

Diesem  war  insbesondere  djis  am  4.  Februar  eingeäscherte 
l^laterialdepot  wohlbekannt,  da  ihn  seine  Arbeit  oft  und  oft  in  alle 
Bäume  und  Schlupfwinkel  dit  ses  Gebäudes  rief. 

In  derselben  Nacht  schickte  Gudera  den  Querser  nach  seiner 
in  Friedau  gelo^^enen  Wohnung.  Gudera's  Magd  Amalia  Schachner 
jammerte,  dass  man  sich  jetzt  jede  Nacht  vor  Feuer  fürchten  müsse 
und  wünschte  dem  Thäter,  dass  man  ilin  scliiesse  und  dann  in  den 
Schmelzofen  werfe,  worauf  Querser  erwiderte:  „Hier  wäre  Ihnen  ja 
so  nichts  geschehen!*^  Sein  wortkarges  und  sonderbares  Benehmen 
und  seine  S^en,  in  Oadam*s  Wohnung  einzutreten,  fiel  der  Magd 
aofort  anl 

Noch  anfallender  war  Qnerser^s  Benehmen  anlisslich  des  Bran- 
des des  Trannwieserstaders  am  10.  Februar. 

Der  Zimmermann  Josef  Thonhofer  hatte  Feuerwache.  Gegen 
8  Uhr  Abends  besuchte  ihn  der  Arbeiter  Peter  Schopitsch.  In  der 
ITähe  des  Sebert*sohen  Hauses  sahen  sie  am  Zaun  einen  Mann  stehen. 
Als  sie  auf  ihn  zu  gingen,  kam  er  ihnen  pchon  entgegen.  Sie  er- 
kannten Querser,  der  ihnen  mittheilte,  da.ss  er  heute  nirgends  als 
Feuerwache  autgestellt  sei;  erst  um  10  Uhr  Nachts  mfisse  er  antreten, 
das  passe  ihm  heute  durchaus  nicht. 

Unmittelbar  darauf  rief  er:  „Da  ist  Licht!''  und  wies  gegen  den 
vulf^o  Giperl  am  Gal^^enhor«::.  Auf  die  Einwendunjr,  dass  dies  ein 
Halinwächtersignal  sei,  erwiderte  Querser:  „Das  ist  weiter  drüben! 
dort  brennt's!    Ich  gehe  melden.''  —  Da  das  Licht  nicht  grösser 


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Die  Donawitzer  Brände  in  den  Jahren  189S  und  1694.  16 


war  ah  ein  Laternliclit,  mahnte  Thonhufer  ab,  denn  man  dürfe  die 
Leute  nicht  in  s  lilaue  hinausjagen. 

Erst  als  er  mit  Schopitsch  gegen  das  neue  Stbert'sche  Haus  lief, 
iialim  er  wixklieb  eine  Feuersbnmst  wahr,  denn  die  Flammen  achla- 
gen  gerade  ans  dm  Fugen  des  Traanwieser'selieii  Stedeh  hinaiu. 

Dem  Thonhofer  und  dem  Sohopitseh  fiel  sofort  anf^  dass  Qneraer, 
der  merkwürdiger  Weise  bei  den  Blinden  immer  der  Eato  oder  emer 
der  Ersten  anf  dem  Platie  war»  ihnen  das  Feuer  aagekOndigt  hatte^ 
be7or  es  noch  siobtbar  schien.  Sie  sohöpflen  eogleioh  Verdacht  gegen 
ihn  und  machten  dem  Fenerwehrhanptmann  Gndera  Mitth^lnng. 
Dieser  stellte  Qnerser  zur  Rede,  der  sich  dahin  Terantwoitete,  dass 
er  Uber  Auftrag  Doringer's  in  dessen  Wohnung  um  einen  Kock  habe 
gehen  mflssen  und  über  die  Wiese  am  rechten  Tbalbacbufer  an  den 
Zaun  gekommen  sei,  woselbst  er  sich  eine  Cigarette  angezündet  habe 
nachdem  er  unterwegs  den  £odres'Bohen  Feuer  Wächter  liudwig  Bainer 
getroffen  und  goijrüsst 

Doringer  und  Rainer  erklären  diese  Verantwortung  für  unwahr. 
Von  der  Cigarette  hat  weder  Thonhofer  noch  Schopitsch  etwas  ge- 
sehen. 

Auf  die  Widersprüclie  zwisclien  seinen  und  den  Angaben  der 
von  ihm  angerufenen  Zeugen  aufmerksam  fjemacht,  erwiderte  Querser, 
er  habe  sich  von  Düringer  weg  zum  Kaufmann  Ila^iiel  begeben,  dort 
Cigaretten  gekauft,  im  Vorübergehen  den  Uhrnuiciier  Jäger  gegrüsst 
und  sei,  die  neue  Gemeindestrasse  entlang,  an  jene  Stelle  gekommen, 
wo  ihn  Thonhofer  und  Schopitsch  getroffen. 

lYans  Jäger  stellt  jedoch  eine  Begegnung  mit  i^uciätr  entschieden 
in  Abrede.  Querser's  ganzes  Benehmen  am  10.  F^ruar  rsefatfertigt 
den  Verdacht,  dass  er  den  Stadel  Traunwieser's  in  Brand  gesteint 
habe. 

Die  wider  ihn  erhobene  Anklage  wird  am  krftftigstea  unterstfitst 
durch  die  Vorgange  des  18.  Februar. 

Querser  erschien  damals  freiwillig  im  Feuerwehriocale,  dort 
legte  er  die  Feuerwehrmontur  ab  und  vertauschte  sie  mit  OiVUklei- 
dung.  Gegen  '/i  10  Uhr  Abends  sah  ihn  Gndera  mit  einer  leoren 
^^Literflasche  an  den  Generatoren  der  neuen  Martinshütte  TorQber 
gOgen  d&a  Hüttenplatz  geben.  Der  Arbeiter  Heinrich  Sommerauer, 
beim  Aufzuge  des  Martinofens  beschäftigt,  sah  ihn  von  der  Thüre 
nächst  der  Portierloge  her  den  Hüttenraum  l)etroten  und  bis  zur  Kreu- 
zung des  Normalgeleises  mit  dem  schmalsimrigen  Schienenstrange 
gehen.  Dort  kehrte  Querser  plötzlich  um  und  lief  die  Eisenbahn- 
«Waggons  entlang  bis  zur  Zeughütte  der  Verlader. 


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16 


L  Amscul 


DureetionsgebSnde  sich  Idem  Feaerwehidepot  nfihem.  Kanm  haitte 
Qnflraer  es  betreten,  als  aaoh  die  ZenghOtte  der  Verlader  flcbon  brannte. 

Gndaa  tweifelte  mm  nicht  l&nger,  dass  Qnener  diesen  Brand 
gelegt  babe.  Qaerrar  bebanptet,  er  wollte  Wasser  holen  vnd  habe 
sieh  „Teigaeht^  gib  den  Weg  Terfeblt),  sei  irithttmlieh  snm  Martin- 
ofen gekommen  und  denselben  Wsg  wieder  znrttekgegangen. 

Diese  Verantwoftang  entbehrt  jeden  Haltes,  denn  einmal  ist  es 
ansgeschlossen,  dass  ein  Mensch  wie  Querser,  der  sich  in  allen  Win- 
keln des  Werkes  genauestens  anskennt,  den  koraen  nnd  geraden,  ihm 
80  wohlbekannten  Weg  vom  Fenerwehrdepot  zum  Brannen  pIdtzUeh 
Yorfehlen  und  nnbewusst  eine  ganz  andere  Kichtoag  einschlagen 
werde,  dann  aber  hätten  ihn  Gudera  und  Sommerauer  unfehlbar 
sehen  müssen,  wäre  er  von  der  Martinshütte  zurQok  bmkUS  nnd  längs 
des  Directionsgebäudes  zum  Hrunnen  gelaufen. 

Seit  2(1.  Februar  befindet  sich  Querser  in  Haft. 

Thatsache  ist,  dass  die  Brände  seit  dieser  Zeit  aufgehört  hatten. 
Das  Gefühl  der  Sicherheit  kehrte  vvieder  und  nicht  ungerechtfertigt 
erscheint  es,  wenn  der  Stillstand  der  Brände  seit  Querser's  Festneh- 
mung als  sehr  erhebliches  Verdachtsmoment  für  seine  Schuld  in  die 
Wagschale  geworfen  wurde. 

Da  unterbrach  am  12.  April  Nachts  ein  neuer  Brand  die  be- 
.reits  eingetretene  Rahe. 

In  der  Nihe  der  WeiksgieBSoroi  liegt  das  Wohnhans  Nr.  34. 
Vier  Schritte  davon  steht  die  zu  diesem  Hanse  gehörigei  ans  Brettern 
erbaute  nnd  mit  Brettern  gedeekte  Holzlige  mit  4  Abtbeilnngen,  jede 
mit  einer  Bretterthfir  TcrschlosBen.  An  der  ndrdliehston  Abtheilnng 
wurde  gegen  Mitternacht  der  Brand  gelegt»  der  die  Seitenwinde  der 
Holzlige  stark  beschftdigte«  die  in  dieser  Abtheilnng  befindlichen 
FlascheiH,  Holz-  nnd  StrohTOirSthe  ▼emiehtete  nnd  die  vmliegendea 
Hänser  nnd  das  Leben  ihrer  Bewohner  gefährdete. 

Die  alpine  Montangesellschaft  erlitt  einen  Schaden  von  53  fL  Die 
Farmcher  Brauerei  einen  solchen  von  25  fL 

Am  15.  April  erhielt  Feuerwehrhauptmann  Gudera  mit  der  Post 
einen  in  Donawitz  am  14.  April  aufgegebenen  anonymen  Drohbrief, 
dessen  Schreiber  sich  als  den  Brandstifter  vom  12.  April 
bekennt. 

Der  Brief  lautet : 
Donawitz,   13.  April   1">9  1.  —   Euer  Wohlg:el)üren ! 
Ich  mache  euch  anffnt'iksaui,  die  F'ciu'rwehr  wieder  aufzustellen,  in- 
dem ich  und  meine  Coliegen  jetzt  das  Brandlegen  wieder  beginnen 


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Die  Duuawitzcr  Brände  in  den  Jahren  1898  und  1894. 


17 


aber  in  gFSaserar  Wdse.  Diesen  kleinen  Brand  vom  12.  anf 
den  13.  April  habe  ich  nm  9  Uhr  Abends  gelegt  Lieber 
Herr  Fenerwehrhanptmann,  die  Wache  aber  mit  Vorsicht  anstellen 

nnd  bitte  Ihnen,  diesen  Brief  in  Herrn  Director  vorzulegen,  dass  ich 
nicht  einen  zweiten  Brief  schreiben  braoche.  Ich  ersuche  in  Horm 
Director,  den  1.  Mai  feiern  zu  lassen;  wenn  er  nicht  gefeiert  ^^ir(l, 
so  werde  ich  einige  Bomben  und  mehrere  Sprengstoffe  von  mehreren 
Anarchisten  aus  einer  grösseren  Stadt  mit  List  bringen  lassen  und 
sie  auf  die  gefährlichsten  Stellen  schleudern,  besonders  in  Herrn 
Hauttmann  sein  Geniacli  hinein.  Also  bitte  diesen  Brief  ihm  vor- 
zulegen, dass  er  sich  zu  richten  weiss,  llir  habt  mir  es  zu  verdanken, 
dass  ieh  euch  früher  davon  schreibe,  denn  meine  Collegen  smd  in 
wüthendein  Zorn.'' 

Bald  gelang  es,  den  Schreiber  dieses  Briefes,  der  sich  für  den 
Brandleger  vom  12.  April  erklärt,  zu  entdecken. 

Am  22.  April  wurde  der  schon  früher  genannte  intime  Freund 
Onersei^s,  Gottfried  Eglauer,  vom  Gemeindeamte  Donawitz,  als 
mehrerer  Dlebstfthle  verdächtig,  dem  Bezirksgerichte  Leoben  eingeliefert 

Da  ich  Verdacht  schöpfte,  dass  %lauer  mit  den  Bränden  in 
iigendwelchem  Zusammenhange  stehen  könnte,  betbeiligte  ich  mich 
an  der  Hauptverhandlnng  vor  dem  Bezirksgerichte.  Daselbst  fand 
sich  Anlass,  dem  Eglaner  emige  Worte  in  die  Feder  zu  dictiren.  Die 
Aehnlichkeit  mit  den  Schriftzflgen  des  Drohbriefes  vom  13.  April  1894 
schien  augenfällig. 

Die  Folge  davon  war  Eglauer's  Ueberstellunjr  an  den  Unter- 
suchungsrichter. Die  Yergleichung  der  Uandsobrif  ten  durch 
Sachverständige  ergab,  dass  Eglauer  zweifellos  der 
Schreiber  des  Drohbriefes  vom  13.  April  und  somit  auch 
nach  seinem  eigenen  Geständnisse  im  Briefe  der  Tbäter 
der  Brandlegung  vom  12.  April  sei. 

Gottfried  Eglauer,  am  3.  September  1873  in  Mühlthal  als  un- 
ehelicher Sohn  der  Maria  Eglauer,  derzeit  unbekannten  Aufenthalt»  s,  ge- 
boren, zuständig  nach  (Jai,  wurde  von  1874  —  1892  von  seinem  natür- 
lichen Vater,  dem  Sch weisser  Anton  Oessler  in  Donawitz,  aufer/ogen 
und  verpflegt.  Bis  zum  11.  Lebensjahre  besueiite  er  in  Donawitz 
die  Volksschule  und  kam  dann,  gleich  Querser,  als  Maurer  in's  Werk. 
Im  Jahre  1892  erklärte  er  seinem  Vater,  dass  es  ihn  daheim  nicht 
mehr  freue  nnd  dass  er  lieber  in's  Burschenzimmer  kommen  möchte. 

Er  kam  dann  1892  wirklich  in*s  Personalhaus  Nr.  73,  in  dasselbe, 
worin  Querser  seiner  Zeit  gewohnt  Dort  schlief  Eglaner  neben  den 
Arbeitern  Ferdinand  Wohhnuther  und  Josef  Beischi. 

liddr  Mr  Crimlnakafkiiiipola^  ZU.  2 


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18  1.  Amüchl 

Eine  Woche  vor  Wöbaaeliteii  1893  worden  dem  Ersteren  aus 
seinem  Boeksacke  eine  Brieflasche  im  Werthe  von  20  kr.  saromt  6  fl. 
Inhalt,  am  31.  März  1894  aus  dem  gleichen  Bocke  5  fl.  und  in 
der  Nacht  vom  17.  znm  18.  April  2fl.  gestohlen. 

Schon  zn  Allerheiligen  1893  war  dem  Beisehl,  während  er  schlief^ 
ans  seiner  Hosentasche  1  fl.,  am  12.  oder  13.  April  ans  seinem  Geld- 
täschchen ein  Betrag  von  20  kr.  und  am  20.  April  1899  sdn  Geld- 
täschchen im  Werthe  von  20  kr.  eammt  2  fl.  30  kr.  Inhalt  gestohlen 
worden. 

Der  Verdacht  fiel  sofort  auf  l^^^lauei ,  denn  ein  Fremder  ver- 
mochte in  (las  Hurschenzimmer  niclit  zu  dring^en,  weil  jeder  Arbeiter 
einen  Sclilüssel  dazu  besass.  Zudem  hatte  Eglauer  die  beste  Ge- 
le^enlii'it  zu  diesen  Diebstählen,  er  wusste  irfnau,  wo  die  beiden  Ar- 
beiter ihr  (leid  zu  verwahren  jjflefjten.  st  ni  Kasten  stand  neben  dem 
Wohluiutber's,  sein  Bett  g'egenlibcr  dem  lieischTs. 

i^glauer  iresteht  selbst,  dem  Wohlniutlier  vor  Weibiiaelitcn  6  fl. 
und  dem  Ivci^ehl  am  20.  April  1S94  2  fl.  30  kr.  g-estohlen  zu  haben, 
leugnet  al>er  die  übrij^en  Diebstähle.  Nach  den>  vorhin  (iesa^^tin 
jedoch  müssen  ihm  auch  diese  zur  Last  j^elej^t  werden,  da  Niemand 
anderer  diesfalls  verdächtigt  werden  kann  und  er,  der  Freund  (^uer- 
ser's,  gleich  diesem  von  der  Arbeit  weg  ohne  Grund  oft  in  die  Burschen- 
zimmer  lief,  obwohl  er  dort  nichts  zu  thnn  hatte,  dann  aber  weil  er 
noch  anderer  Diebstähle  verdächtig  ist 

Sein  Vater  selbst  schildert  ihn  als  einen  gleichgültigen  Menschen, 
der  sich  aus  dessen  Lehren  nie  etwas  gemacht  hat  Kleinere  Dieb- 
stähle hat  er  schon  begangen,  als  er  noch  beim  Vater  lebte.  Der 
Vater  selbst  hatte  deswegen  Anstände,  eine  Anzeige  wurde  jedoch 
niemals  erstattet 

Vor  etwa  2  Jahren  hatte  sich  Eghiner  drei  dem  Werke  gehörige 
Pinsel  angeeignet  Er  redet  sich  zwar  auf  Vergesslichkeit  aus,  allein 
er  niusste  wissen,  dass  die  Arbeiter  derartiges  Handwerksgeräth  nach 
der  Arbeit  jedesmal  an  den  eigens  hierzu  bestimmten  Aufbewahrungsoit 
abzugeben  haben. 

Am  10,  April  IS91  Nachmittags  ging  er  in  Begleitung  des  Franz 
Reisenbofer  über  den  Ilauptplatz  in  Leoben  und  stänkerte  die  Passanten 
grundlos  an.  Vor  dem  (iewölbe  des  Kaufmanns  Ki])fel  stahl  er  bei 
helllicbtem  Tag  einen  Stock  im  Werthe  von  10  kr.  aus  dem  Auslage- 
ständer, wiewohl  ihn  lleisenhofer  von  diesem  Diebstahl  eindringlich 
abgemahnt  hatte. 

Auch  dieses  Diebstahls  ist  Eglauer  geständig.  Was  den  Brand 
vom  12.  zum  13.  April  betrifft,  so  beruft  er  sich  auf  Alibizeugen. 


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Die  Don&witzer  Brihide  in  den  Jahren  189S  und  1894.  19 


In  der  That  bc3täti.c:t  n  die  Arbeiter  Wenzel  Razak  und  Alois  Kofler, 
daas  E^lauer.  als  der  Feueralarm  ertfmte,  in  seinem  Bette  lag,  Alois 
Kofler  überdies,  dass  er  vor  10  Uhr  nacii  Hause  j^^ekomnien  sei. 

Es  ist  nun  g^anz  gut  mög:lich,  dass  Eglauer,  nachdem  er  den 
JJrand  g:elee^t  —  und  im  Drohbriefe  bezeichnet  er  \)  Uhr  als 
die  Stunde  —  nueli  Hause  gekommen  sei  und  sicli  niedergelegt 
habe.  Zudem  war  das  Materi«al  ein  solches,  das  den  Ausbruch  des 
Brandes  mehrere  Stunden  nach  dem  Anstecken  gestattete.  Anderer- 
floHs  18t  aber  aneb  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dass  Eglaaer 
deb,  wihrend  Beine  Kamenden,  mttde  yon  der  Aibeit,  fest  sobliefen, 
«Dtfeml^  den  Brand  gelegt  and  dann  sieb  wieder  anf  sein  Lager  be- 
geben habe. 

Sein  Leugnen  der  ürbeberschafl  des  Drohbriefes  eiscbdnt  gegen- 
fiber  dem  Gntaebten  der  Saebyeisttndigeo  nnd  den  Yorliegenden 
Schriftproben  belanglos. 

Am  10.  Hai  brannte  es  wieder  in  der  Eegelstätte.  Ob  es  sich 
hier  um  einen  Znfall,  nm  Unvorsichtigkeit  oder  um  ein  Verbrechen, 
vielleieht  nm  einen  sogenannten  Decknngsbiand  handelte,  blieb  für 
immer  unanfgekiärt. 

Querser  leugnet  mit  Ausnahme  des  Kevolrertragens  nnd  des 
Herausschwindeins  von  Bier  alles  rundweg  ab. 

Sein  Benehmen  vor  dem  Untersucimngsrichter  ist  ein  halsstarriges 
und  freches,  keineswejrs  das  Benehmen  eines  Schuldlosen.  Nur  wenn 
ihn  die  Wuelit  der  l^eweise  drückt,  wird  er  kleinlaut.  Er  gehört  zu 
jenen  exaltirten,  moralisch  defecten  Typen,  die  in  der  kriminellen 
Casuistik  die  Hauptrolle  spielen.  Eglauer  selbst  schildert  ihn  als 
einen  „damischen",  ohne  Ursaclie  in  Zorn  gerathenden  Menschen,  der 
oft  i^rundlos  nach  seinen  Kameraden  Eisentriimnier  und  Holz|)rii^^rl 
schleuderte.  Doringer  erklärt  ihn  als  lügenhaften,  uuvcrlä^^slichen, 
Neubauer  als  ausgelassenen  Menschen,  dem  nichts  heilig  ist,  und 
hQrls  eines  Tages,  wie  Querser  einem  Knaben  znrief:  „Wenn  icb 
kOnntf,  mOcht*  ieh  wem  was  aathnn!**  Naeh  dem  Zeugnisse  Früh- 
mann^s  nnd  anderen  Kameraden  war  Querser  vorher  ein  lustiger, 
leichtiebiger  Nachtsehwfirmer.  Seit  Herbst  1893  aber  hatte  er  sieh 
anfCallend  veilndert  Still  und  in  steh  gekehrt,  mied  er  jede  Gesell- 
schaft Ohaiakterislisch  ist  auch  die  Hast  und  Bnhelosigkeit,  das 
Fabiige  und  Unstete  seines  Wesens.  Leonhard  Petschnig  sah  ihn 
zweimal  bei  nfichflicher  Beobachtung  „alle  Augenblicke  Sprilnge 
•  machen'',  Martin  Peter  schildert  ihn  als  menschenscheuen  Burschen, 
der  nirgends  Bast  und  Buhe  hatte  und  immer  hin  und  her  lief.  Ein 
anderer  Zeuge  sagt  von  ihm,  „er  gebt  nie,  sondern  hiuft  oder  stehf*. 

2* 


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20 


I.  Ajucbi, 


Einmal  <lii,  t  inmal  dort,  flackerte  er  wie  ein  Irrlicht  herum.  Der 
Zimnu  riiiifseher  Geurg  Haider  hat  ihm  nie  recht  {.,'etraut,  weil  Queraer 
ihm  nie  recht  in's  Gesicht  schauen  konnte.  Als  in  den  Burschen- 
zimmem  die  Diebstähle  ruchbar  wurden,  hegte  er  sofort  gegen  Querser 
Verdacht,  schon  aus  dem  Grunde,  weil  er  diesen  yon  der  Schiebt 
wef  bald  in  diesesy  bald  in  jenes  Bursebenzinimer  gehen  sah,  wo  er 
niehtB  asn  Baohen  hafte.  Dem  Quaitiermeister  Franz  Leskovar  fiel  ee 
auf,  dass  Qnener  in  der  letzten  Zeit  bei  jeder  Begegnung  immer 
yefdftchtig  zur  Seite  sah,  als  wenn  er  sieh  nicht  getraut  hStte,  jemand 
in*8  Geeicht  zu  schauen. 

Was  die  Verbindung  Eglauer's  mit  Qnener  betriffti  so  kann  ihnen 
verabredete  Zusammenrottung  nicht  nachgewiesen  werden.  Gtteioh- 
wohl  beweist  die  Aehnlichkeit  des  Inhaltes  der  Drohbriefe,  dass  sie 
von  einander  wnssten,  —  ihr  intimer  VeriLcfar,  dass  das  Treiben  des 
Emen  dem  Anderen  nicht  verborgen  war.  Ein  unmittelbarer  Zu- 
sammenhang zwischen  Eglancr  und  den  Bränden  vor  dem  12.  April 
erscheint  nach  dem  geschilderten  Sachverhalte  ausgeschlossen.  Das 
böse  Beispiel  Querser's  reizte  ihn  zum  Drohbrief  an  und  das  Bestre- 
ben, seinen  Freund  zu  entlasten,  zur  Bnuidle^unt^  vom  12.  Aiiril. 

Am  12.  und  13.  Juni  1S91  fand  die  Hauptverhandlung  vor  dem 
Kreis-  als  SchwurjL^erichte  T.pnhcn  stiitt.  Eglauers  erinnere  ieh  mich 
heute  nicht  mehr:  sein  Benehim  n  !)ot  nichts  Benierkenswerthos.  Wohl 
aber  fiel  bei  Querser  auch  im  X'erhandlungssaale  sein  unstetes,  flackern- 
des Gehaben  auf.  Er  stand  nie  ruhijLr,  wiegte  sich  beim  Sprechen 
auf  den  Zehen,  iresticulirte  lebhaft  und  blieb  niemals  auf  einem  Fleck 
stehen.  Eine  inilitäiische  Habt-Acht-Stellung  wäre  ihm  unmöglich 
gewesen.  Er  und  Eglauer  leugneten  die  Brände  und  Drohbriefe  hart- 
nfickig  ab  und  bellieneften  ihre  Unschuld. 

Den  Geschworenen  wurden  26  Fragen  vorgelegt,  die  sie  folgender- 
maassen  beantworteten: 

1.  Querser,  Brandlegung  am  Holzgebftnde  vor  der  Werkarestau* 
ration  am  21.  August  1893:  12  Stimmen  nein. 

2.  Querser,  Brandlegung  an  dem  zur  Weiksrestauzalion  gehdrigen 
SchwdnestallgebSnde  am  16.  October  1893:  12  Stimmen  nein. 

3.  Querser,  Brandlegung  an  dem  zu  den  Peisonalhäusm  ge- 
hörigen SchweinestaUgebäuden  am  8.  November  1893:  12  Stimmen 
nein. 

4.  Queiser,  Brandlegung  an  der  Kalkhütte  am  19.  Januar  1894: 

12  Stimmen  nein. 

5.  Querser,  Brandlegung:  im  Materialroagazin  der  Werkamaurerei 
am  4.  Februar  1694:  12  Stimmen  nein. 


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Die  Donawiber  Biflnde  in  den  Jaluren  1893  und  1894.  21 


6.  Querser,  Brandlegong  in  der  Kalkhütte  am  7.  Februar  1894: 
12  Stimmen  nein. 

7.  Querser.  Rrandlcf^un^r  an  Fetzen  und  Sä^eiji)ähnen  in  einer  Dacb- 
lucke  des  Personalhauses  Nr.      am  8.  Februar  1894:  12  Stimmen  nein. 

8.  Querser,  Brandle^amji^  in  einer  IlolzUige  im  Endresseben  I'er- 
sonalbause  am  8.  Februar  1891:  12  Stimmen  nein. 

9.  Querser,  Brandle^^ung  am  Henstadl  des  Alois 
Trannwieser  am  10.  Februar  1894:  12  Stimmen  ja. 

10.  Qnereeri  Brandlegung  an  der  Verladerzengh litte 
n&ohst  der  Directionskanzlei  am  18.  Februar  1894: 
12  Stimmen  ja. 

11.  Hat  Qaeraer  mehr  als  anmal  Brand  gelegt?  1 2  Stimmen  ja. 
*  12.  Qnerser,  Drohung  mitBrandlegong  in  dem  am  ll.Febmar  1894 

gefondenen  Zettel:  12  Stimmen  ja. 

13.  Qneroer,  Drohung  mit  Brandlegung  in  dem  am  15.  Fe- 
bruar 1894  an  Vtmz  Gudeia  gerichteten  Briefe:  12  Stimmen  ja. 

14.  Querser,  Drolmn^  mit  Mord  und  Brandlegung  in  dem  am 
15.  Februar  1894  an  den  Werksdirector  Hauttmann  gerichteten  Briefe: 
12  Stimmen  ja,  jedoch  mit  Auschluss  der  Worte  ^mit  Mord"". 

1 5.  Querser,  Diebstahl  Ton  20  fl.  an  Josef  Wagner  im  Herbste  1893: 
12  Stimmen  nein. 

1 6.  Querser,  Diebstahl  einer  Brieftasche  mit  8  f l  an  Gustav  Elgger 
Ende  September  1893:  12  Stimmen  nein. 

17.  Querser,  Diebstahl  von  24  fl.  an  Wenzel  Leksa  am  18.  Oc- 
tober  1893:  12  Stimmen  nein. 

18.  Querser,  Diebstablsversuch  an  Heinrich  Neubauer  am  2.  Fe- 
bruar 1S94  durch  Aufbrechen  eines  Kastens:  12  Stimmen  nein. 

19.  Querser,  Betrug  durch  Herausschwindeln  von  Bier  im  Wertbe 
▼on  84 kr.  von  Maria  Ratteg  am  20.  Februar  1894:  12  Stimmen  ja. 

20.  Quener, unbefugtes  Tragen  eines  Berolrers:  1 2  Stimmen  j a. 
2t.  EglaneTf  Brandlegung  an  der  zum  Hanse  Nr.  34  gdiOrigen 

Holzhfitte  am  12.  April  1894:  12  Stimmen  nein. 

22.  üglauer,  Drohung  mit  Brandlegung  in  dem  14.  April  1894 
an  Feuerwehrhauptmann  Gudera  geriehteten  Briefe:  12  Stimmen  nein. 

23.  Eglauer,  Diebstahl  yon  3  Finsehi:  10  Stimmen  ja,  2  Stim> 
neu  nein. 

24.  Eglauer,  Diebstahl  von  Geld  zum  Nachtheile  des  Josef 
Beiflohl  u.  z.  Anfangs  November  1893  1  fl.,  am  12.  oder  13.  April  1894 
20  kr.,  am  20.  Ai)ril  1894  ein  Geldtäsohehen  im  Werthe  yon  20  kr. 
mit  2  fl.  30  kr.  Baarschaft:  11  Stimmen  ja,  1  Stimme  nein. 

25.  EglaueTi  Diebstahl  von  Geld  zum  Nachtheile  des  Ferdinand 


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22 


L  Amkihl 


Wohliiiiither  ii.  z.  um  Weihnachten  lh93  ein  Geldtäschchen  im  Werthe 
von  20  kr.  mit  6  fl.,  am  31.  März  1894  5  fl.  und  am  17.  April  1894 
2  fl.:  12  Sti  111  iiien  ja. 

2().  Ej^luuer,  Diebstahl  eines  Stockes  aus  dem  Auslagekaäten  des 
Kaufmanns  Kipfel  am  10.  April  1894:  12  Stimmen  ja. 

Auf  Grund  dieses  Wahrspruehes  wuide  Wenzel  Querser  Ton 
da  Anklage  wegen  sammilicher  Diebfltalilsfiusten  und  wegen  der 
Biünde  am  21.  August,  16.  Oetober,  18.  Korember  1893,  19.  Januar, 
4.,  7.,  8.  und  9.  Februar  1894  frdi^rochen,  dagegen  Bchuldig  e^ 
kannt  des  Verbrechens  der  Brandlegung  am  Heuatadl  des  Aloia 
Ttaunwieeer  und  an  der  YerladeneugliGtte  am  10.  und  18.  Fe- 
bruar 1894,  des  Verbreehens  der  gefSbrliehen  Drohuxig,  der  Ueber- 
tretung  des  Betruges  und  des  unbefugten  Waffentragens ;  Gottfried 
Eglauer  wurde  freigesproehen  von  der  Anklage  wegen  Brandlegung 
und  'gefährlicher  Drohung,  sowie  wegen  Diebstahls  von  7  fl.  an 
Wohlmuther,  dagegen  schuldig  erkannt  der  Uebertretung  des  Dieb- 
Stahls  von  3  Pinseln,  dann  eines  Stockes,  femer  von  3  f l.  70  kr.  an 
Keiscbl  und  von  6  fl.  20  kr.  an  Wohlmuther.  Hierfür  wurde  ver- 
urtheilt  Querser  unter  Anwendung  des  ausserordentlichen  Milde- 
rungsrechtes zu  15  Jahren  sclnvcren  Kerkers,  crg:änzt  durch  ein- 
same Absperrung'  in  dunkler  Zelle  mit  Fasten  ;un  15.  Februar  und 
15.  Aug:ust  jedes  Jahres,  Eglauer  zu  14  Tagen  ätrengen  Arrestes, 
verschärft  durch  einen  Fasttag  wöchentlich. 

Zwei  Briefe,  im  ersten  Straf  jähre  Querser's  aus  der  Strafanstalt 
an  einen  Donawitzer  Freund  gerichtet,  mögen  hier,  in  lesbare  Schreibart 
übertragen,  Kaum  finden.  Sie  mögen  als  Beispiel  dienen,  wie  man 
in  Strafanstalten  denkt  und  schreibt 

Der  erste  ist  tou  Querser  selbst  geschrieben  und  lautet:  „Beater 
Freund,  ich  grOsse  Dich  yidmals  und  ersuche  Dich  schreibe  mir,  ob 
Gottfried  Eiglauer  schon  eingerfickt  ist  Wissen  thust  es  eh,  wie*s  mir 
geht  Das  »nage  ist,  dass  lYeiheit  nicht  ist,  denn  ich  habe  schon 
alles  yergessen,  ich  denke  nicht  einmal  hinaus!  Hier  wird  man  ge- 
scheit^ die  Dummheit  yergeht,  denn  die  Jahre  werden  bald  abgebogen 
sein,  nachher  wird  man  vernünftig.  Büch  kriegst  nicht  mehr  dran. 
Einestbeils  freut  es  mich,  dass  ich  eingesperrt  bin.  Wenn  man  jung 
ist,  ist  man  dumm.  Mir  vergehen  hier  ein  paar  Monate  früher,  als 
draussen  14  Tage,  weil  ich  Arbeit  genug  habe.  Ich  bin  bei  der  Bild- 
hauerarbeit So  vergeht  die  Zeit;  denn  8  Stunden  Arbeit,  2  Stunden 
Schule,  und  der  Tag  ist  vorbei.  So  vergeht  eine  Minute  um  die 
andere  und  die  Zeit  wird  kommen,  Oesund  bin  ich  wie  Eisen.  Ich 
grüsse  meine  Collegen.  Servasl  Ai^el  Lebe  wohl!*' 


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Die  Donawitser  BrSiide  in  den  Jahren  1898  nnd  1804. 


28 


Ein  späterer  Brief  stuinnif  von  der  Ilaiul  eines  ircwisson  Alois 
F^clnvt'i^'lianlt.  eines  32jäliri;_'-en  Donawitzer  Werksarlx-iters,  der  we^^en 
Xollizucht,  verübt  an  U  kleinen  Mädclien,  vom  vScIiwur^renehte  lA'oben 
am  21.  Au^rust  1S04  zu  } jäliriirem  schweren  Kerker  ij^'leicli  <^Hierser 
Vom  Verfa.sser  anpreklai^ti  verurtlitült  worden  war  nnd  seine  Strafe 
ia  derselben  Strafanstalt  (Graz)  verbiisate,  wie  Wenzel  l^uerser.  Dieser 
Brief  trägt  das  Datum  30.  Deoember  1 894,  ist  an  die  gleiche  Adresse 
gerichtet  wie  Qneiser's  früher  wiedergegebener  Brief  und  lautet: 
„Bester  Freund!  Ich  grfisse  Dich  vielmals  nnd  wünsche  Dir  glück- 
liches Neujahr,  indem  wir  uns  schon  lange  von  DonawiCz  ans  kennen, 
obwohl  ich  nicht  so  oft  mit  Dir  verkehrt  habe  wie  Dein  Freund 
Wenzel  Querser,  weil  wir  nicht  in  einem  Zimmer  bei  einander  waren 
und  auch  nicht  soviel  Gelegenheit  gehabt  haben  miteinander  zu  ver- 
kehren, da  Du  weisBt,  in  was  fflr  eine  Gelegenheit  ich  auch  gefallen 
bin,  indem  ich  es  mir  nicht  gedacht  hitte^  derweil  ich  noch  als  Zeug- 
wart und  Maurergebttlfe  beim  Czerwenka  war,  so  miiss  ich  Dir  fol- 
gendes von  Deinem  alten  Collegen  und  Freunde  Wenzel  Querser 
mittbeilen,  weil  ich  früher  nicht  dazu  gekommen  bin  wie  jetzt  liier, 
indem  wir  alle  Tage  beisammen  waren.  Das  Geschäft,  was  er  gehabt 
hat,  weisst  so,  indem  Du  ihm  letzthin  einen  Hrief  f^'eschrieben  hast, 
den  er  mir  hat  lesen  lassen.  Er  hat  Dir  nicht  zurückfreschrieben, 
denn  er  ist  den  d»tten  Tag  darauf  nacli  St.  Kujjrecht  oder  wie  es 
heisst,  zur  Kirchenrejiaratur  i^^ekommen.  Vorher  waren  wir  noch  Itoi- 
sammen  und  hat  er  mir  noch  was  geschenkt,  damit  ich  Dir  zurück- 
schreiben möchte,  dass  er  Deinen  lirief  erhalten  hat  und  viele  Grüsse 
an  Dich,  an  die  Juliane  Papouschek,  halt  an  alle  Bekannten.  Weil 
sich  dies  zugetragen  hat,  so  bin  ich  hier  erst  dazu  gekommen,  zu 
schreiben,  indem  ich  nicht  gern  schreibe,  aber  weil  er  mich  dafür  be- 
lohnt hat  und  das  zugetroffen  ist,  muss  ich  Difs  sehreiben,  damit 
ich  meine  Sache  ausgerichtet  habe.  Er  ist  auch  zur  Reparatur  mi^ 
gekommen  und  wie  er  ein  verwegener  Mensch  ist,  bat  er  eine  Dumm- 
heit gemacht  Der  Betriebsfahrer  hat  ihm  darauf  eine  Ohrfeige  ge- 
geben, denn  er  hat  es  schon  so  im  Brauch  gehabt  Der  Wenzel  aber 
hat  dn  Messer  erwischt  und  hat  ihm*s  hineingestochen  und  hat  aus 
Zorn  ein  Viertel  Spiritus  ausgetrunken,  was  er  selbstverständlich  bei 
der  Hand  gehabt  hat,  weil  sie  es  beim  Goldveizieren  gebraucht  haben. 
Denselben  Tag  ist  er  in*s  Spital  gebracht  worden  und  gestorben.  Es 
hat  geheissen,  er  ist  in's  Irrenhaus  gekommen.  Das  war  eine  Lüge. 
Der  Spiritus  hat  ihn  verbrannt,  er  ist  seit  14.  October  1894  todt,  der 
Betriebsführer,  den  er  gestochen  hat,  ist  nach  3  Tagen  gestorben. 
Vorher  hat  der  Wenzel  noch  von  seinen  Gollegen  aus  Donawitz  Geld 


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24      L  Ambchi.,  Die  Donawitcer  Brinde  in  den  Jahren  1893  und  1894. 


bekommen,  von  jedem  3  Gulden.  Er  hat  mir  die  Briefe  lesen  lassen, 
dass  sie  ihn  schön  p^rüssen  und  niemals  verlassen  werden  und  das.s 
einer  noch  bei  der  Feuerwehr  sei.  Wer  sie  waren,  hat  er  mir  nicht 
gesagt  und  unterschrieben  waren  sie  aucii  nicht.  Ich  hab'  ihm  ge- 
sagt, Du  bist  eh  glücklieb,  dass  Dir  die  Collegen  auch  Geld  schicken! 
Die  Ton  der  Post  die  Kellnerin  hat  ihn  auch  in  Giaz  anl^noht 
Daas  er  mit  dem  oidentlichen  MSdchen  im  VerbiltniflB  war,  hatte  ich 
nicht  geglaubt,  wenn  ich  es  selber  nicht  gesehen  hitte.  Der  Werk- 
meister hat  ihm  oft  gute  Worte  gegeben.  Er  hat  es  ihm  angekaanl^ 
daas  ibm  um  sein  Leben  nichts  ist  Er  ist  und  war  ein  gleichgültiger 
Mensch.  Sdne  Antwort  war:  „Hab*  ich  früher  nicht  gelebt,  braach* 
ich  jetzt  auch  nicht  zu  leben;  wenn  ich  mir  nicht  selber  was  anthne, 
so  mnss  ich  noch  lange  leben  1*^  —  Jetzt  red'  mit  so  einem  Menschen!! 
—  I^sen  wir  ihn  rub'n!  Wie  er  sich  es  gewünscht  hat,  ist's  ge- 
schehen. Vielleicht  hast  es  schon  gehört,  er  ist  seit  14.  October  todt 
Adje,  lebe  wohl!  Das  siebst,  dass  ich  kein  Schönschreiber  bin!  In 
die  Schule  war'  ich  in  Donawitz  lanjre  irenug  geganpren.  Schreiben 
brauchst  mir  nicht  Hab'  eh'  erst  einen  Brief  von  meiner  Mutter  ge- 
kriegt. Was  Neues  ist,  weiss  ich  so.  Ich  frriissc  Dicli  vielmals  und 
alle  ])ekannten,  Zimmcr^^enossen  Wagner,  halt  alle  Bekannten.  Viel- 
leicht sehen  wir  uns  noch  einmal.    Adje,  lebe  wohl!" 

Die  Mittheilungen  über  Querser's  Tod  und  «die  ?>nior(iuug  des 
Betriebsfiihrers  waren  vom  Anfang  bis  zum  Ende  erlogen.  Augen- 
scheinlich hat  Querser  selbst  diesen  Brief  inspirirt,  sei  es,  dass  er 
sich  keine  Briefe  mehr  erwünschte;  sei  es,  dass  er  sich  interessant 
machen;  sei  es,  dass  er  seine  früheren  Freunde  zum  Besten  haben 
wollte.  Dem  Leser  der  Urschriften  fiUlt  die  gleiche  Schreibweise 
gewisser  Wörter  anf.  In  beiden  Briefen  wird  der  Baebstebe  j  dnreh 
1  ersetzt:  „letzt  und  adle*'  statt  ,Jetzt  und  a^je*'.  Schwdgbardt  war 
eüi  OberBtdrer,  Qneiser  ein  Böhme,  der  nach  dem  Gehör  den  Zungen- 
fehler  „1**  statt  ^'^  graphisch  zum  Ausdruck  brachte. 

Hehr  als  8  Jahre  nach  seuier  Verurtheilnng  gestand  er  mir,  die 
BrSnde,  wenn  auch  nicht  alle,  gelegt  zu  haben.  Auf  die  Frage 
warum  er  dies  gethan,  erwiderte  er:  »Weil  mir  das  Ausrücken  der 
Feuerw^r  Fkeude  machte  !** 


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IL 


Ein  Beitrag  zur  Würdigung  der  Aussage  eines  Kindes, 
das  in  einem  Strafverfahren  wegen  eines  Verbrechens 
nach  §  176  Abs.  3  des  StralgeBetzbachs  als  Zeage  yer- 

nommen  warde. 


Der  1859  geborene,  unverheirathete  Franz  Bergmann  arbeitete 
seit  dem  Jahre  189G  aU  Schreiner  in  einer  Maschinenfabrik  der  Stadt 
N.  Seine  Arbeitsleistungen  entsprachen;  er  theilte  aber  die  üble  Ge- 
wohnheit vieler  Arbeiter,  nach  der  Niederloijung  der  Arbeit  am  Sams- 
tage das  Zechen  zu  bci^innen,  es  am  Sonnta^re  fortzusetzen  und  den 
Montag,  manclimal  noch  drii  Dienstag,  in  Trunk  und  Müssiggang  zu- 
zubringen. Seitdem  Bergmann  in  der  Maschinenfabrik  beschäftigt 
war,  wohnte  er  als  Miether  im  Hause  Xr.  tJ  der  nur  aus  einigen  Häu- 
sern bestehenden  Hofstrasse  in  N.  Dieses  Haus  geliört  den  Kutschers- 
eheleuten Bruckner.  Betritt  man  es,  so  gelangt  man  uiunittelhar  vom 
Hausthore  weg  zur  linken  Seite  an  die  Stiege,  die  in  die  zwei  oberen 
Stockwerke  des  schmalgebauten  Hauses  führt,  und  man  hat  zur  rech- 
ten Hand  die  Thüre,  die  sich  in  das  einzige  Zimmer  des  Erdgeschoases 
df&iet  Längs  der  dieser  Tbfire  gegenftberfiegenden  Wand  dieees 
Zänunen  stehen  em  Sopha  nnd  ein  Bett  Das  Sopba  befindet  sich 
in  der  KShe  des  emen  der  swei  auf  die  Strasse  hinaosgebenden 
Fenster;  das  Bett  ist  gegen  den  Uintergnind  des  Zimmers  gerüeki 
An  der  Wand  Aber  dem  Sopba  hingen  nm  den  Spiegel  hemm 
mehrere  Bilder.  Das  Zimmer  des  Erdgesobosses  war  an  Bemann 
Yenmetbet  Im  ersten  Stocke  des  Hanses  wohnen  die  Eheleate 
Bruckner,  bei  denen  der  1892  geborene  Knabe  einer  Schwester  der 
Ehefrau  Bruckner  lebt.  An  das  Hans  Nr.  6  der  Eheleute  Bruckner 
stitest  das  Haus  Nr.  8  der  Uofstrasse.  Auch  dieses  Haus  hat  eine 
schmale  Vorderseite.  Betritt  man  es,  so  gelangt  man  links  vom  Haus- 
thore zur  Thüre  des  einzigen  Zimmers  des  Erdgeschosses  und  man 
bat  rechts  die  Stiege,  die  in  die  oberen  Stockwerke  leitet  Das  Zimmer 


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26 


Ein  Beitrag  zur  WQi-diguog  der  Aussage  eines  Kindes. 


des  Erdgeschosses  des  Hauses  Nr.  8  ist  an  die  Holzhauerswittwe 
Sehleeht  yermiethet,  bei  der  die  Geliebte  ihres  Sohnes  Johann  Schlecht, 
eines  Holzhaners,  wohnt,  der  in  einem  anderen  Theile  der  Stadt  znr 
Mietbe  sitzt  In  der  besseren  Jahreszeit  stehen  anf  den  Anssenbrettem 
der  zwei  Fenster  des  Zimmers  im  Erdgeschosse  des  Haoses  Nr.  6 
Holzkfibel,  in  denen  die  Ehefran  Bruckner  Schlingbohnen  zieht,  die 
sich  an  Schnfiren  bis  zn  den  Fenstern  des  ersten  Stockwerks  hinauf- 
ranken.  Diese  Pflanzenzier  fehlt  den  anderen  Häusern  der  Hofstrasse; 
sie  fehlt  auch  den  ITäusem  der  Schmiedstrasse,  in  welche  die  Hof- 
strasse einmündet.  Nahe  der  Stelle  der  EinmUndun^  steht  das  Hans 
Nr.  10  der  Scliinioilstrssse.  Im  Erdgeschosse  dieses  Hauses  betreiben 
die  Eheleute  Eisi  nheiss  eine  Kramerei,  im  ersten  Stocke  di  s  Hauses 
wohnt  seit  dem  ik'jrinne  des  Jahres  1S9<^  die  Arl)eiterin  Pauline  Brod 
mit  ihrem  am  15.  October  1S91  geborenen  Kinde  Wilhclmine.  In  der 
Nähe  der  Kramerei  der  Eheleute  Eisenhriss  befindet  sich  die  Bier- 
wirthseiiaft  zur  ^(ioldenen  Kugel".  Bt'ii:inann  verkehrte  viel  in  den 
Räumen  dieser  Wirthschaft;  er  liebte  es  aber  auch  auf  dem  Wege 
zur  Fabrik  in  einer  der  ihr  nahen  Branntweinschänke  vorzusprechen 
und  einige  (ilas  ordinären  Schnapses  zu  leeren. 

Die  Tochter  Willielniine  der  l\auline  Brod  besuchte  im  Sommer 
189S,  wenn  auch  nicht  regelmässig,  einen  Kindergarten;  die  Kinder- 
gärtnerin beobachtete,  dass  sie  geistig  geweckt  ist  und  keinen  auf- 
fälligen Hang  znr  Lüge  zeigte.  War  Wilheimine  Brod  nicht  im  Kinder- 
garten, so  stand  sie,  da  ihre  Mutter  der  Arbdt  nacligebeB  musste, 
unter  Aufsicht  ihr«  Mutterachwester  Anna  Brod.  Diese  konnte  wäh- 
rend einiger  Tage  in  der  Mitte  des  Juli  |898  die  Aulsicht  Aber  ihre 
Nichte  nicht  führen;  es  geschah  daher,  dass  Wilhelmine  Brod  mit 
den  Kindern  |der  ^ftmerseheleute  Eisenbeiss  sich  ziemlich  unbeauf- 
sichtigt auf  der  Strasse  umhertreiben  konnte. 

Bergmann  [arbeitete  gegen  seine  Gewohnheit  am  Montage,  dem 
18.  Juli  1898.  Als  er  am  Tage  des  folgenden  Tages,  den  19.  Juli  1898, 
auf  dem  Wege  zur  Fabrik  war  und  in  einer  Branntweinschänke 
mehrere  Glas  Schna])s  v<  rtilgte,  kam  ihm  der  Gedanke,  den  Tag 
ftber  zn  f^em.  Er  kehrte  in  seine  Wohnung  zurück  und  traf  in 
seinem  Zimmer  die  mit  dem  Ordnen  des  Bettes  Ix  sehäftigte  Ver- 
mietherin,  die  Ehefrau  Bruckner;  er  verbreitete  Fuselduft  und  machte 
den  Eindruck  eines  etwas  angetrunkenen  Mensehen.  Anf  die  Frage 
der  Brueknerj  warum  er  nicht  arbeite,  tTwidt^rtc  Bergmann,  es  sei 
sein  Bruder  gekommen,  er  wolle  sieh  umkleiden  und  dann  bei  dem 
Obermeister  der  Fabrik  das  Fernbleiben  von  der  Arbeit  entschuldigen. 
Mit  besserer  Kleidung  versehen,  erschien  Bergmann  in  dem  Wohn- 


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Ma  Bdtnif  znrWfir^gang  der  Anseage  einM  Kindea. 


27 


zininier  der  Bruckner  und  Hess  sich  von  ihr  eine  Tasse  Kaffee  ein- 
schenken. Als  er  diesen  einnahm,  gerieth  er  mit  einem  anderen 
Miether  der  Bruckner  in  Streit;  diese  Bruckner  kündigte  ihm  daher 
zum  1,  August  IS'JS  die  Miethe.  Bergmann  machte  sich  dann  auf 
den  Weg  zuni  Obermeister  der  Fabrik,  brachte  die  erlogene  Ent- 
Bobnldigang  seines  FernbleibeiiB  Ton  der  Arbeit  vor  und  verfügte 
sioh  dann  in  die  Wirthsoliaft  znr  «Goldenen  Kugel'^ ;  er  tnl  daseUwt 
zu  guter  VormittagsBtnnde  ein.  Dan  er  in  der  Wirthschaft  3—4  Glas 
Bier  und  eine  Mischung  aus  Wein  und  kflnstlichem  kohlensaurem 
Wasser  .trank  und  dass  er  ziemlioh  betrunken  die  Wirthsohaft  ver- 
liesSf  steht  fest;  es  ist  aber  niebt  festsustellen,  zu  wdcher  Vormittags* 
stunde  er  in  sein  Zimmer  znrUckkehrte.  —  Beigmann  behauptet,  etwa 
um  1 1  i/i  Uhr  Vormittags  nach  Hause  gekommen  zu  sein.  Als  die 
Ehefrau  Bruckner  etwa  um  t  Uhr  Nachmittags  von  der  Strasse  aus 
ihre  Schlingbohnen  begoss,  sah  sie  durch  eines  der  Fenster  in  Berg* 
mann's  Zimmer  und  nahm  wahr,  dass  er  auf  dem  Sopha  lap:;  er 
schien  zu  schlafen.  Um  die  fünfte  Nachmittagstunde  erscholl  Feuer- 
lärm; es  'brannte  in  der  nahen  Neustrasse.  Die  Ehefrau  Bruckner 
eilte  aus  der  Wohnunjr  vor  das  Haus;  Bergmann  trat  an  ein  Fenster 
und  fragte  die  Bruckner,  wo  es  brenne;  er  verliess  bald  darauf  sein 
Zimmer  und  brachte  den  Kest  des  Taiz:es  in  der  Wirthschaft  zur 
„Goldenen  Ku^^el"  zu.  Als  am  Abende  desselben  Tages  Pauline  Brod 
von  der  Arbeit  heimkam,  erzälilte  ihr  die  11  jährige  Krämerstochter 
Eisenbeiss,  dass  die  kleine  Willielmine  Xncli mittags  einmal  hinter  der 
Uausthüre  versteckt  stand  und  weinte,  l'auline  Brod  maass  der  Er- 
zählung keine  Bedeutung  bei;  es  fiel  ihr  aber  im  I^ufe  des  Al)ends 
auf,  dass  ihr  sonst  so  heiteres  Kind  still  und  in  sich  gekehrt  und 
dessen  SammtiOekehen  zerknittert  und  beschmutzt  war. 

Am  22.  Juli  1808  zog  Panline  Brod  ihrer  Tochter  ein  Msohes 
Hemd  an;  sie  untersuchte»  weil  am  abgelegten  Hemde  gelbe  Flecken 
waren,  die  Geschlechstheile  des  EindeSi  und  entdeckte,  dass  «sie  ge- 
rdtbe^  aufgekratzt  und  au^eschttrft  sind.**  Das  Kind  erwiderte  auf 
die  liage,  „ob  ihm  Jemand  etwas  gethan  habe**  mit  dnem  ^^ndn** 
und  begann  zu  weinen.  Da  die  ron  Panline  Brod  angewendeten 
sogenannten  Hausmittel  den  Znstand  der  GeschlechtstheÜe  des  Kindes 
nicht  besserten,  wurde  dieses  Yon  der  Tante  Anna  Brod  am  27.  Juli 
zu  einem  Arzte  geführt  Dieser  überzeugte  sich  davon,  dass  Wü- 
helmine  Brod  „an  schwerer  Gonorrhoe  der  Geschlechtstheile'^  er- 
krankt sei  nnd  ordnete  an,  dass  sie  thunlichst  bald  in  das  Kinder- 
hospital gebracht  werde.  Auf  Befragen  erzählte  VVilhelmine  Brod 
der  Tante,  „ein  Mann  aus  der  Hofstrasse  habe  ron  seinem  Zimmer 


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28 


Ein  Beitrag  zur  Würdi£;uiig  der  AuB«age  eines  Kiudes. 


ans  sie  hmeingerofen,  damit  sie  ihm  alwas  liole,  habe  dann  die  Thttie 
sogeaperrt,  sie  anfs  Bett  gelegt,  ihr  die  Rjlcke  hinan^ieechoben,  ihr 
einen  Steeken  in  den  Baneh  gesteekt,  ihr  sehtieeslich  einen  Pfennig 
gegeben  nnd  gesagt,  er  haue  sie  recht,  wenn  sie  etwas  sage**. 

Dieselbe  EnShlung  maehte  Wilhelmine  Brod  ihrer  Mntter  nnd 
deren  Bruder,  worauf  diese  drei  Gesobwister  sie  aufforderten  sie  Tor 
das  Haus  zu  fmiren,  in  dem  sich  das  EnShlte  angetragen  habe.  Wil- 
heliuine  Brod  führte  ihre  Angehörigen  vor  das  Haus  „mit  den  Rlumen 
am  Fenster"  und  bezeichnete  das  Zimmer  hinter  den  Blumen  als  den 
Ort  des  (leschehnisses;  sie  zeigte  bei  diesem  Vorgange,  obwohl  sie 
unter  dem  Schutze  der  Ihrigen  war,  eine  grosse  Angst  und  war  nicht 
zu  bewegen,  das  Haus,  also  das  Haus  Nr.  G  der  Hofstrasse,  zu  be- 
treten. Noch  am  Abend  desselben  Ta^res  —  27.  Juli  —  forderte 
der  Spähmann  Kaiser  die  Wilhelmine  Brod  auf,  ^ihn  in  die  Strasse 
und  an  das  Haus  zu  führen,  wo  es  war**;  auch  ihn  führte  das  Kind 
an  das  Haus  Xr.  fi  der  Hofstrasse  und  sa^e:  ,,da  unten  im  Zimmer 
hat  der  Mann  mit  mir  die  Sache  gemacht".  Bergmann,  der  Bewohner 
dieses  Zimmers  war  nicht  zu  Hause;  er  befand  sich  in  der  Wirths- 
Stube  zur  „Goldenen  Kugel*'.  Der  Spähmann  führte  die  Brod  vor 
die  Fenster  der  hell  erleuchteten  Stube.  In  dieser  sassen  mehrere 
Qäste;  unter  ihnen  war  einer,  der  eine  Zeitung  las.  Wilhelmine 
Brod  beseiehnete  unTerzttglieh  den  Zeitnngsleser  als 
den  Hann,  der  es  gethan  habe;  dieser  Zeitnngsleser  war 
Franc  Bergmann.  Der  Polizeibeamte  rief  diesen  zu  sich  auf  die 
Strasse  nnd  fragte  das  hinter  ihm  sich  Sngstlich  Tersteckende  Kind, 
ob  es  den  Hann  kenne;  er  erhielt  die  Antwort:      der  war  es**. 

Qegen  Bergmann,  der  in  Haft  genommen  worden  ist,  wurde  die 
Untersuchung  wegen  eines  Verbrechens  nach  §  176  Abs.  3  des  Straf- 
gesetzbuchs geführt  Er  leugnete  ;die  Begehung  der  That  und  be- 
hauptete, er  könne  sich  an  die  Ton  Wilhelmine  Brod  behaupteten 
Vorgänge  nicht  erinnern,  weil  er  am  19.  Juli  1S98  betranken  ge* 
Wesen  sei  Das  Landgericht  in  N.  Yerurtheilte  den  Bergmann,  der 
bei  seinem  leugnen  verharrte,  zu  einer  sehr  schweren  Zuchthaus* 
strafe.  Er  verbüsste  einen  grossen  Tlicil  der  Strafe;  der  Best  der 
Strafe  wurde  vom  Staatsoberhaupt  aus  (inade  erlassen. 

Es  mrK'hte  nicht  ohne  Interesse  sein,  aus  den  Ergebnissen  des 
Strafverfahrens  gegen  Bergmann  einige  Umstände  liervorzuheben  und 
an  diese  Umstände  einige  Bemerkungen  anzuknüpfen: 

I.  1.  Wilhelmine  Brod  wurde  in  den  letzten  Tagt  n  des  Juli  189S 
?n  das  Kindersi)ital  aufgenommen.  Die  ärztliche  Untersuchung  stellte 
fest,  dass  die  Lymphdrüsen  in  den  Leisteugegeudeu  des  Kindes,  die 


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Ein  Bdtraf  nur  Wflrdligitng  der  Amaaise  einee  Kindes. 


89 


Äusseren  Schamlippen,  die  Klitoris  und  die  inneren  Scliamlefzen  stark 
gescliwellt  und  die  bezeichneten  Geschlechtstheilc  dicht  mit  einem 
weisslich  gelben  Eiter  bedeckt  waren;  die  niikroskoi)ische  Unter- 
snchung  ergab  das  Vorhandensein  von  Gonokokken.  Nach  der  An- 
schauimg  der  Aerzte  stellte  die  Untersuchung  als  unzweifelhaft  fest, 
dasB  die  vordem  ganz  gesunde  Wilhelmine  Brod  an  Gonorrhoe  in 
Folge  von  Ansteckung  litt  und  d«n  „die  hoehgradige  AnsohweUiing 
ihrer  GescUechtBäieile  auf  gewaltsame  Manipulationen  mit  dem  Kinde 
durch  Beiaeblafsaote  seitens  eines  erwachsenen  Mannes  hinw^se*'. 
Wilhehnine  Brod  wurde  am  15.  Angnst  1898  als  yon  der  Gonorrhoe 
geheilt  ans  der  ärztlichen  Behandlung  enthissen. 

2.  Der  Landgeriohtsaizt  nntersuchte  am  3.  Angnst  1898  den 
Bergmann  in  Beziehung  auf  Gonorrhoe;  er  konnte  hei  Berg-  . 
mann  Erscheinungen  von  Gonorrhoe  (Tripper)  nicht 
nachweisen. 

3.  Wilhelmine  Wrod  wurde  am  21.  September  1898  abermals  in 
das  Kinderspital  aufgenommen,  weil  bei  ihr  „die  secundären  Erschei- 
nungen der  constitutionellen  Syphilis"  auftraten.  Diese  Erscheinungen 
verschwanden  nach  einer  vier  Wochen  dauernden  ärztlichen 
handlunir. 

4.  Der  i^ndgerichtsarzt  untersuchte  am  12.  November  l*^08  den 
Bergmann  auf  Syphilis;  er  konnte  keine  Erscheinungen 
früherer  oder  bestehender  Syphilis  finden. 

5.  In  der  Ilauptverhandlung  gegen  Bergmann  gaben  der  Ober- 
arzt des  Kinderspitals  und  der  I^milgerichtsarzt  mit  einer  ausführ- 
lichen, in  die  Gründe  des  ürtheils  des  Landgerichts  aufgenommenen, 
Begründung  das  Gutachten  ab: 

a)  die  festgestellte  Gonorrhoe  und  die  festgestellte  Syphilis  der 
Wilhelmine  Brod  kann  auf  einen  Ansteckungsact,  die  Ansteckung 
kann  auf  «neu  Eingriff  in  das  Geschlechtsleben  der  Brod  mittelst 
der  kranken  Geschlechtsorgane  eines  Mannes  zurttckgefOhrt  weiden; 

b)  die  Zeit  des  Auftretens  der  Gonorrhoe  und  die  Zeit  des  Auf- 
tretens der  Syphilis  entopricht  den  ansohanungsgemissen  Incubations- 
zeiten  dieser  Krankheiten;  die  Ansteckung  kann  also  Mitte  Juli  1898 
erfolgt  sein; 

c)  obwohl  Bergmann  am  3.  August  1S9S  Erscheinungen  von 
Tripper  nicht  zeigte,  kann  die  eiterige  Entzündung  der  Geschlechts- 
theile  des  Kindes  von  einem  Beischlafs  versuche  des  Bergmann  her- 
rühren, da  es  möglich  sei,  Bergmann  habe  zur  Zeit  der  Begehung 
der  That  an  einem  „ Nachtripper gelitten; 

d)  obwohl  Bergmann  am  12.  November  lb9b  Erscheinungen  von 


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30 


Em  Beitrag  zur  Würdigaag  der  Aussage  eines  Kindes. 


Syphilis  nicht  zeigte,  ist  immerhin  die  HOgliohkeit  gegeben,  dass 
diese  Krankheit  bei  ihm  zur  Zeit  der  Begehung  der  That  Tor- 
banden  war. 

II.  Die  Behauptung  der  WÜhelmine  Brod,  dass  auf  sie  ein  gewalt- 
samer unzfiehtiger  Angriff  erfolgt  sei,  ist  naeh  dem  Gntaehten  der 
Aerzte  für  zweifellos  richtig  zu  halten.  Das  Landgericht  hielt  aber 
auch  thatsSohlich  fQr  erwiesen,  es  habe  Bergmann  diesen  Angriff 
begangen;  es  schenkte  der  den  Bergmann  belastenden  Behauptung 
der  Wilhelmine  Brod  Glauben,  obwohl  es  nicht  verkannte,  dass  die 
Erzählung  der  Brod  bezüglich  der  näheren  Umstände  des  auf  sie 
gemachten  Angriffs  mit  Vorsicht  aufzunehmen  seL  Dass  diese  Vor- 
sicht geboten  war,  dürfte  aus  den  folgenden  Erwägungen  zu  ent- 
nehmen sein. 

1.  Wilhelinine  Brod  wurde  am  27.  Juli  is'is  von  einem  Arzt 
untersuclit.  Als  dieser  jxesclileclitliclie  Erkrankung  festgestellt  hatte, 
erzählte  die  Brod  der  Tante  und  alsbald  darauf  der  Mutter  von  dem 
auf  sie  'i^enuichten  Angriff.  Wird  angenommen,  da.ss  dieser  am 
\[).  Juli  erfolgte,  so  verstrich  zwischen  dem  Kreigniss  und  den  ersten 
Erzählungen  des  Kindes  hierüber  eine  Woclie.  innerhalb  dieses  Zeit- 
raums kann  Wilhelmine  Brod  die  Erinnerung  an  das  Ereigniss  frisch 
und  rein  bewahrt  haben;  es  ist  aber  auch  für  möglich  zu  halten, 
dass  aioh  die  Erinnerung  Terwudite  und  dass  das  jugendliche  Ge- 
bim  in  die  Erinnerung  an  dieses  Ereigniss  die  Erinnerungen  an 
andere  Erlebmase  yerwob,  dass  also  schon  die  ersten  Erzählungen 
und  yielleicht  mehr  noch  die  späteren  ein  Gemenge  von  Wahrheit 
und  Diehtnng  enthalten. 

Wilhelmine  Brod  konnte  bei  den  Enählungen  gegen&ber  der 
Tante  und  Mutter  weder  den  Tag  bezeichnen,  an  dem  sich  das  Er- 
eigniss zutrug,  noch  die  Tageszeit  Bei  der  Mutter  kehrte  auf 
die  Zuzählung  des  Kindes  hier  die  Erinnerung  an  den  Tag  zurück, 
an  dem  es  in  der  Xeustrasse  brannte;  es  steht  fest,  dnss  dies  am 
19.  Juli  war.  Mit  dieser  Erinnerung  tauchte  bei  ihr  die  Erinnerung 
sowohl  der  Tliatsache  auf,  dass  ihr  an  demselben  Tage  die  11  jährige 
Krämerstochter  Eisenheiss  berichtete,  die  Wilhelmine  habe  Nachmittags 
geweint,  als  die  Flrinnerung  daran,  dass  ihr  am  Abend  desselben 
Tages  das  stille  Wesen  ihres  Kindes  und  der  Zustand  von  dessen 
Röckchen  auffiel.  Es  ist  mi'>glicli,  dass  diese  oben  bezeiclmi  tt  n  Um- 
stände mit  dem  auf  Wilhelmine  Bmd  gemachten  Angriffe  zusammen- 
hängen; ein  sicherer  Beweis  dafür,  dass  der  Angriff  am  19.  Juli 
geschah,  wird  durch  sie  wohl  nicht  geliefert 

3.  Wilhelmine  Brod  wurde  vom  Untersuchungsrichter  zum  ersten 


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Ein  Beitrag  rar  WUrdigung  der  Anaaage  eine«  Kinde».  31 

Mal  am  8.  Anprnst  1898  vernommen;  sie  sa^^e  nach  dem  über  die 
VeniehiKunj^  errichteten  Protokoll:  ^am  Tajje,  wo  es  in  der  Neu- 
Strasse  brannte,  sind  die  Ei.senbeiss-Miidciien  früh  bald  nach 
dem  Kaffee  trinken  mit  dem  Kinderwagen  in  die  Hofstrasse; 
da  bin  ich  auch  mit*'.  So  sehr  beBtimmt  diese  Aussage  den 
Tag  bezeiclmet,  an  dem  sieh  das  Ereigiiiss  zugetragen  haben  soll, 
worüber  die  Brod  im  weiteren  Verlaofe  der  Vernehmung  berichtet, 
so  sehr  mOchte  bezweifelt  weiden,  dass  die  Brod  diese  bestimmte 
Bezeichnung  ans  der  eigenen  Erinnerung  schöpfte  und  in  Folge  des 
Kachdenkens  und  Besinnens  gewann;  es  liegt  die  Möglichkeit  nahe 
genug,  dass  das  Kind  aus  den  Gesprächen  mit  der  Mutter  zu  der 
Annahme  gelangte,  es  sei  der  19.  Juli  der  Tag,  an  dem  ihr  Uebles 
widerfuhr. 

4.  Wenn  nnn  hiemach  auch  das  Datum  des  19.  Juli  noch  nicht 
fOr  genfigend  sichergestellt  zu  halten  sein  dürfte,  so  wird  man  vor- 
erst wenigstens  das  für  möglich  halten,  dass  die  Brod  am  Tage 
des  Ereignisses  „früh  bald  nach  dem  Kaffeetrinken"  mit  den 
Eisenbei^?s-^^ä(lehe^  in  die  Hofstrasse  ging.  Nach  dem  Protokolle 
vom  b.  August  leitet  die  Brod  die  Erzählung  über  das  Ereigniss 
mit  der  folgenden  Vor^'esehichte  ein:  „In  der  Ilofstrasse  ist  ein  Haus, 
wo  unten  am  Fenster  lilumen  sind, .  .  die  sind  am  Fenster  so  hinauf- 
gebunden. Aus  dem  Zimmer  hat  mir  eine  Frau  gerufen,  ich  sollte 
ihr  einen  Zucker  holen,  ich  bin  in's  Zimmer  hinein,,  da  war  eine 
dicke  Frau  und  ein  Mann;  die  Frau  hat  dem  Mann  einen 
Kaffee  gebracht.  Die  Frau  sagte,  ich  solle  ihr  '/2  Pfund  Zucker 
holen  und  gab  mir  das  Geld  hierzu;  ich  weiss  nicht  mehr,  wo  ich 
den  Zucker  holte.  Ich  ging  in  das  Haus  wieder  zurttck,  die  Stiege 
hinauf  und  gab  ihr  den  Zucker;  ich  bin  dann  die  Stiege  wieder 
hinunter  und  auf  die  Qasse  hinaus  ...  Ich  blieb  dann  mit  den  Eisen* 
beias-Eindem  noch  auf  der  Strasse  ...  Ich  war  schon  früher  einmal 
in  dem  Haus,  da  habe  ich  ffir  die  Frau  auch  etwas  holen  mttssen; 
sie  sagte  nur,  dass  sie  einen  Buben  hat''.  Nach  dieser  Vorgeschichte 
geht  die  Brod  zum  Bericht  Uber  das  Ereigniss  mit  den  Worten  Aber: 
«Ich  blieb  noch  ...  auf  der  Strasse  ...  da  hat  mich  dann  der 
Mann  noch  einmal  in's  Zimmer  hineingeruf cn^.  So  sehr 
es  nun  nach  dem  Inhalte  des  Protokolls  vom  8.  August  1898  für 
wahrscheinlich  gelten  könnte,  dass  die  Hrod  in  der  Hofstrasse  zu 
einer  guten  Vormittagsstunde  war  (bald,  nachdem  sie  Kaffee  getrunken 
hatte,  Zeit,  da  andere  Leute  erst  zum  Frühstücke  schritten),  so  ent- 
stehen doch  nicht  unerhebliche  Hedenken,  ob  sich  die  sogenannte 
Vorgeschichte  am  Tage  des  Ereignisses  zutrug. 


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32 


£ia  Beitrag  zur  Würdigung  der  Aussage  eines  Kiudes. 


WUhehnioe  Brod  verlegt  den  Sebanplatz  der  Vorgesehiehte  in 
das  Hans  ^wo  unten  am  Feneter  Blomen  sind"  nnd  mm  Theil  in 
daa  Zimmer  des  ErdgeaehoBBefl^  aam  Theil  in  den  ersten  Stock  dieaes 
Hansea,  also  in  das  Haas  Kr.  6  der  Hofettasse.  Von  den  Bewohnern 
dieses  Hanses  kann  nur  die  Ehefrau  Brackner  als  die  in  Be- 
tracht kommen,  auf  die  sich  die  Erzählung  des  Kindes  bezieht.  Non 
ist  thatsächlich  richtig,  dass  die  Bruckner  am  19.  Juli  dem  Bergmann 
nach  der.Heimkunft  von  der  Branntweinschänke  einen  Kaffee  reichte^ 
aber  das  war  im  ersten  Stockwerke  des  Hauses  und  sie  brachte 
ihm  den  Kaffee  nicht  in  das  von  ihm  bewohnte  eben- 
erdii:«'  Zimmer.  Die  Bruckner  stellt  aber  mit  aller  Bestimmtheit 
in  Abrede,  (iasö  sie  sich  jt'  riniual  von  der  Wilhelmine  Brod 
habe  Zucker  holen  lassen  nnd  dass  sie  dieses  Kind  je 
einmal  vor  der  Einleitun;^  des  Strafverfahrens  ü:e2:en 
Berg: mann  gesehen  habe.  Allerdings  trifft  die  weitere  Behaup- 
tunj^  der  Brod  ..die  Frau,  für  die  sie  den  Zucker  und  früher  auch 
sebon  einmal  etwas  holte,  habe  ihr  gesagt,  dass  „sie  einen  Buben 
habe",  auf  die  Verhältnisse  der  Bruckner  insofern  zu,  als  bei  ihr  der 
1892  geborene  Sohn  einer  Schwester  lebt,  aber  da  die  Bruckner  den 
Widerspmeh  gegen  die  Behauptungen  der  Brod  dnreb  ihren  Eid  he- 
kiiftigte  und  jeder  Grund  zum  Hisstranen  in  diesen  Eid  fehlt,  so 
m({ohte  die  von  der  Brod  erzihlte  Voigeschiehte  nnd  der  yon  ihr  he* 
hauptete  Zusammenhang  dieser  Vorgesehiehte  mit  dem  später  auf 
sie  gemachten  Angriffe  nicht  unerheblichen  Zwdfeln  begegnen.  Diese 
entgingen  dem  Landgerichte  nicht;  es  hielt  den  Widerspmeh  fOr  dnen 
„Neben punkt".  Diese  Anschauung  ist  insofern  richtig,  als  das  lAud* 
geriebt  die  „Hauptpunkte*^  der  Aussage  der  Brod  für  glanbwfirdig 
erachtete;  es  möchte  aber  doch  eines  gegen  diese  Anschauung  ein- 
zuwenden sein.  Die  Wilhelmine  Brod  wurde  am  to.  August  1898  bei 
der  zweiten  Vernehmung  vom  Untersuchungsrichter  gefragt:  „weisst 
Du  denn  wirklich,  ob  die  Frau  im  Hause  Dich  Zucker  holen  liess?**; 
sie  erwiderte:  „die  dicke  Frau  —  .,damit  meinte  sie  die  Bruckner** 
—  hat  niir's  gesagt  oder  es  könnte  wo  anders  g e w <■  s e n  sei n." 
Nach  dieser  Antwort  gab  d:us  Mädchen  Brod  die  Möglichkeit  zu,  dass 
sich  die  ganze  Vorgescbicbte  zu  einer  anderen  Zeit  und  an  einem 
anderen  Orte  zutrug;  nacb  dieser  Antwort  läge  vielleicht  die  Annahme 
nicht  fern,  dass  das  der  Zügel  des  Verstandes,  der  Erfahrung  und 
der  klaren  Begnfli-  von  Zeit  und  Raum  noch  entbehrende  jugend- 
liche Hirn  der  Brod  noch  nicht  im  Stande  war,  die  zeitliche 
Reihenfolge  der  von  ihr  erlebten  Ereignissei  die  niheren  Umslinde 
der  Ereignisse  nnd  das,  was  die  emzelnen  Eriebnisae  Ton  einander 


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Ein  Beitrag  zar  Wfirdiining  der  Anssage  eines  Kindes. 


88 


unterscheidet,  dauernd  getreu  und  unverwischt  festzuhalten.  Fehlte 
der  Brod  diese  Fähigkeit,  so  fehlte  sie  ihr  für  „Neben-"  und  für 
„Hauptpunkte**;  jedenfalls  lä^;e  es  nicht  ausserhalb  des  Bereichs  der 
Wahrscheinlichkeit,  dass  die  Brod  hei  der  aus  dem  Gedächtnisse 
fliessenden  Wiederiralie  der  so^renannten  Hauptpunkte  vielleicht  doch 
etwas  von  dem  wirklichen  Bilde  abwich.  Löst  man  im  Hinblick  auf 
die  anjrcdeuteten  Bedenken  die  o;anze  Vor«,'cschicht('  aus  der  Erziililun^tr 
der  Willielniiue  Brod  aus,  so  scheint  hü<'ljstL'ns  der  Umstand  verbin;;t 
zu  bleiben,  dass  sie  am  Tage  des  Ereignisses  „zu  guter  Vormittagsstundc'* 
in  der  Hofstrasse  sich  aufhielt  und  mit  anderen  Kindern  spielte. 

Das  I^ndgericht  nimmt  an,  dass  Bergmann  die  Tliat  am  Vor- 
mittag des  19,  Juli  ISOS  beging.  An  diesem  Vormittag  war  Bergmann 
in  seinem  Zimmer,  als  er  sich  umkleidete,  um  sich  bei  dem  Obermeister 
der  Fabrik  für  den  Tag  absnmeldeii;  er  war  an  diesem  Vormittag  im 
ersteiiStookwerkedesHanseSy  als  er,  mit  der  besseren  Kleidung  angetban, 
den  ihm  von  der  Bruckner  gereichten  Kaffee  trank;  er  kehrte  nach  einem 
längeren  Verweilen  in  der  Wirthschaft  znr  „Goldenen  Kugel",  etwa  um 
11 '/t  Uhr  Vormittags,  in  sein  Wohnzimmer  zurück.  Darfiber,  ob 
Bergmann  die  Tbat  begangen  haben  soll  in  der  Zeit,  da  er  sich  um- 
kleidete^ oder  nachdem  er  den  Kaffee  getrunken  hatte  und  bevor  er  zum 
Obermeister  in  die  Fabrik  ging,  oder  als  er  Yom  vormittägigen  Zechen 
heimgekehrt  war,  ist  aus  den  Acten  nichts  zu  entnehmen.  Nimmt  man 
an,  dass  die  Brod  zu  guter  Vonnittagsstunde  in  di*'  Ilofstrasse  Spielens 
halber  kam  und  berücksichtigt  man,  dass  die  Kinder  beim  Spielen  nicht 
allzu  lange  an  einer  Stelle  sich  aufzuhalten  pflegen,  so  scheint  fast  die 
Annahme  näher  zu  liegen,  es  sei  die  That  von  Bergmann  —  wenn  sie 
überhaMpt  als  von  ihm  verübt  angenommen  wird  —  vor  dem  Weg- 
gange zum  Obermeister  als  nach  der  Heimkehr  vom  Gafitbause  verübt 
worden. 

5.  Xach  dem  Protokolle  vom  8.  August  1S98  fährt  Wilhelmine 
Brod  in  der  Erzählung  über  die  Ereignisse  des  fraglichen  Tages  in 
folgender  Weise  fort:  ^ich  blieb  mit  den  .  .  Kindern  dann  noch  auf 
der  Strasse;  da  hat  mich  dann  der  . .  Mann  noch  einmal  in's  Zimmer 
liineingerufen.  Die  Zimmerthüre  ist  gleich  bei  der  Hausthüre  und 
die  Stiege  iiüt  gleich  nebendran,  im  Zimmer  ist  nicht  am  Fenster 
Yom,  sondern  hinten  im  Eck  ein  Bett;  es  ist  auch  nur  ein  Bett  in 
dem  Zimmer,  auch  eni  Spiegel  ist  im  Zimmer  und  auch  Bilder.  Weil 
mich  der  liaon  hineingerufen  hat,  bin  ich  hinein.  Er  sagte,  ich  soll 
midi  aufs  Bett  legen,  das  habe  ich  nicht  gethan.  Dann  hat  er  mich 
hinanf geworfen,  mir  die  Böcke  hinaufgethan  und  in  meinen  Bauch 
etwas  hineingesteckt,  was  mir  wehe  that  Ich  war  nicht  lange  bei 

AiaUr  nr  KitelaakathnpoUtld.  XIL  S 


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84 


Eän  Beitrag  cur  WOrdigwig  der  Aussage  eloes  Kindes. 


ihm.  Der  Mann  sajrte,  ich  solle  nicht;*  sagen;  er  schenkte  mir  einen 
Pfenni«;  und  ein  Bild.  .  .  .  Die  Eisenbeiss-Kindor  waren  nicht  mehr 
auf  der  Stra.ss*',  als  ich  von  dem  Mann  herausk;nn".  Aus  den  (irün- 
den  di's  Urtheils  des  Liind^^erichts  ist  zu  entnelinu^n,  dass  die  Brod 
auch  in  der  Ilauptverhandlunjr  dasselbe  behauittt'te,  was  im  Protokolle 
vom  S.  Auf!;u8t  189S  niedcri^ele^^t  ist,  der  früheren  P>zählunf^  aber 
noch  beifüf^te,  „der  Mann  habe  nach  Schnaps  gerochen,  als 
er  sie  auf's  Bett  legte''. 

Schaltet  man  aus  den  unter  Nr.  5  dargelegten  Gründen  von  der 
Eizlliliiiig  der  Brod  die  Behauptung  aus,  der  Hann  habe  sie  „noofa 
einmal**  in  das  Zimmer  hineingerufen,  so  liegt  in  der  Erzählung  im 
Qrossen  nnd  Ganzen  nichts,  was  den  Eindruck  der  Unglanbwflrdig- 
keit  oder  ünwahrsoheinlichkeit  machen  konnte.  Fttr  die  Glanb- 
wttrdigkeit  der  Erzählung  spricht  wohl  der  Umstand,  dass  die  Brod 
—  diese  weigerte  sich  später  das  flans  nochmals  zn  betreten;  sie 
gab  also  die  früher  gewonnenen  Eindrucke  wiedw  —  die  Lage  der 
Stiege  und  der  Thfire  in  das  Zimmer  des  Erdgeschosses  richtig  schU> 
dert,  dass  sie  femer  richtig  von  den  Bildern  des  Zimmers  nnd  von 
dem  im  Hintergründe  stehenden  einzigen  Bette  des  Zimmers  spricht 
Es  darf  freilich  nicht  verschwi^n  werden,  dass  die  Brod  bei  der 
ersten  Erzählung  der  Mutter  gegenüber  auf  deren  Frage:  „bist  Du 
unten  hinein  oder  die  Stiege  hinauf?"  sagte:  ..die  Stiege  hinauf"  und 
beifügte,  dass  „der  Mann  oben  über  der  Stiege  in  einem  Zinuner  mit 
ilir  die  Saciie  gemacht  lialie",  aber  es  dürfte  hier  ein  Irrthuni  des 
Kindes  oder  ein  Missverständniss  der  ^futter  vorliegen ;  weil  die 
Zimmer  über  der  Stiege  anders  eingerielitet  sind,  als  das  vom  Kinde 
richtig  l)eschriebene  Zinuner  des  ?]rdgeschosses. 

Bergmann  gab,  wie  schon  Eingangs  dieser  Darstellung  erwähnt 
wurde,  am  Morgen  des  19.  Juli  den  Vorsatz,  zu  arbeitm  wieder  auf; 
er  verbreitete,  als  er  heimgekehrt  war,  „Fuselduft".  Nach  den  Grün- 
den des  Urtheils  des  Landgerichts  sa^te  die  Wilhelmine  Brod  in  der 
HauptYcrhandlung,  Bergmann  habe  „nach  Schnaps  gerochen,  als  et 
sie  aufs  Bett  legte**.  Es  ist  nicht  ganz  klar,  welchen  Sinneseindnick 
nnd  welche  Gemchsempfindnng  die  Brod  bezeichnen  wollte.  Möglich 
ist,  dass  sie  den  Gemch  bezeichnen  wollte ,  den  Jemand  nach  dem 
Besuch  einer  Branntweinschänke  und  nach  dem  Genüsse  von  „Schnaps" 
▼erbreitet;  möglich  ist,  dass  sie  den  Geruch  bezeichnen  wollte,  den 
Jemand  nach  dem  Besuch  einer  Bierstube  und  nach  dem  Genüsse 
von  Bier  und  einer  Mischung  von  Wein  und  kohlensaurem  Wasser 
verbreitet.  Wollte  die  Brod  sagen,  sie  habe  jenen  Geruch  zu  haben 
geglaubt,  so  spräche  dies  dafür,  dass  die  That  vor  dem  Weggange 


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Ein  B«itni|r  bot  W&idignng  der  AamMgo  dn«B  Kindes. 


85 


des  Berjj^nann  in  die  Fabrik  und  zum  Obenneister  begangen  wurde; 
wollte  die  Brod  sagen,  sie  habe  die  Empfindung  dio^>es  andrrin  Oe- 
ruchs  zu  haben  geglaubt  so  spriithe  dies  dafür,  dass  die  Tliat  nach 
der  Heimkehr  des  Bergmann  von  der  (Gaststube  zur  Goldenen  Kugel" 
begangen  wurde.  Man  wird  aber  füglich  bezweifeln  können,  dass 
die  Brod,  ein  Kind  von  noch  nicht  sieben  Jahren,  einen  so  erfahrenen 
und  entwickelten  Geruchi*.sinn  hatte,  dass  sie  die  Arten  des  von  Berg- 
mann verbreiteten  Geruchs  unterscheiden  und  als  Unterschiede  em- 
pfinden  konnte.  Nicht  minder  drängt  sioh  die  Fracke  auf,  ob  die 
Brod  im  Stande  war,  in  der  HanptTerliaodlang,  die  erst  mehrere 
Monate  nach  dem  fireignisBe  stattfand,  mit  YerlSssigkeit  einen  fluch- 
tigen Sinneeeindmck  wiederzugeben. 

7.  Die  Brod  behauptet,  nach  dem  erlittenen  Angriffe  vom  An- 
greifer einen  Pfennig  erhalten  zu  haben;  man  kann  das  glauben.  Sie 
kaofte  sich  fOr  den  Pfennig  in  einem  Laden  der  Schmiedstrasse  „was 
Gutes*.  Ist  dies  wahr,  so  läge,  scheint  es,  ein  Scbluss  auf  den  Ein- 
dmck  nahe,  den  das  Ereigniss  auf  das  Innenleben  des  Kindes  ge- 
macht hat:  der  Eindruck  dürfte  nicht  besonders  tief  gewesen  sein. 
War  das  aber  der  Fall,  heftete  sich  das  Ereigniss  nicht  sofort  und 
nnmittelbar  in  das  Gedächtniss  ein,  dann  konnte  das  im  jugendlichen 
Hirne  zügellos  waltende  Vorstellungsvermögen  um  so  leichter  das  Er- 
lebniss  überwuchern  und  in  die  Erinnerung  an  dieses  fremdartige 
Fäden  einschlagen.  Dieser  Annahme  steht  wohl  aucii  nicht  entgegen, 
dass  das  Kind  am  Nachmittage  hinter  einer  Thiire  stehend  weinte 
und  am  Abend  ein  stilles  Wesen  zeigte.  Hätte  die  Brud  den  auf  sie 
geiuaeliten  Angriff  als  eine  Verletzung  ihres  Schamgefühls  empfunden, 
so  hätte  sie  wohl  nicht  unniittelhar  nach  dem  Angriffe  dem  kind- 
lichen Hange  des  Naschens  nachgegeben.  Es  ist  wenig  wahrschein- 
lich, dass  der  Brod  erst  im  Laufe  des  Nachmittags  und  Abends  das 
Bewusstsein  der  Verletzung  ihrer  sittlichen  Unversehrtheit  nach  und 
nach  aufdämmerte  und  dann  sich  in  Thrftnen  und  Verstimmung 
äusserte;  man  kann  jene  und  diese  yielleicht  auch  durch  das  körper- 
tiche  Hissbehagen  erklären,  welches  das  Kind  in  Folge  des  gewalt- 
samen Angriffes  auf  die  GeschlechtstheUe  und  deren  zunehmender 
Entzündung  empfiind. 

8.  Die  Brod  behauptet,  von  Bergmann  ausser  dem  Pfennig  auch 
ein  Bild  erhalten  zu  haben;  sie  zeigte  dieses  dem  Gerichte  vor.  Das 
Bild  ist  von  der  Sorte  farbiger  Druckbilder,  die  in  Läden  zu  Zwecken 
der  Reclame  verbreitet  werden.  Der  ITntersuchungsricht»  nahm  eine 
Durciisuchung  des  Zimmers  und  der  Koffer  des  Bei^gmann  Tor;  er 
fand  im  Koffer  einen  Band  einer  illusthrten  Chronik,  eine  Sammlung 

3* 


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86 


Ein  Beitrag  vor  Würdigung  der  Aiuaage  dnee  Kindea. 


von  alten  farl)igen  Kupfmlrucken  und  zwei  fariiij^e  Bilder  moderner 
Herstellungsart,  aber  von  einer  anderen  Sorte,  als  von  der,  zu  welelier 
das  von  der  Brod  vorgezeigte  gehört  Aus  dem  Fund  im  Koffer 
kann  der  Scbluss  gezogen  werden,  daas  Bergmann  eine  gewisse  Vor- 
liebe  für  das  Sammeln  nnd  die  Anfbewalirang  von  Bildern  bat;  es 
ist  also  die  Bebanptong  der  Brod,  aneb  ein  Bild  von  Bergmann  er- 
balten  zn  babeoi  nieht  nnglaubbaft 

9.  Der  g«eien  Bergmann  erbobene  Yerdaebt  sebien  im  Lanfe  des 
Verfabrens  eine  Zeit  lang  eine  andere  Biobtnng  zn  nebmen.  Es 
wurde  ermittelt,  dass  die  das  Zimmer  des  Erdgeschosses  des  Hauses 
Nr.  8  der  Hofstrass»  hewolinende  Holzbauerswitwe  Scblecht  sich 
sebon  Öfter  durch  Kinder  Kräniereiwaarai  holen  liess  und  dass  sie 
am  Morgen  des  19.  Juli  in  ihrem  Zimmer  gemeinschaftlich  mit  ihrem 
Sohne  Johann,  ehe  sich  beide  zur  Arbeit  begaben,  Kaffee  trank;  es 
wurde  ferner  festgestellt,  dass  Johann  Schlecht  am  19.  Juli  IS9S  in 
das  Krankenhaus  aufjrenoiunien  wurde,  weil  er  zwar  nicht  an  Go- 
norrhoe, wohl  ai)er  an  Sypliilis  litt.  Nach  diesen  Eniiittehin^en  und 
Umständen  lau'  die  Vermullinn^'-  nalie  genu>?,  es  habe  .Inhann  Sclileelit 
die  Williehiiiiu'  Brod  j;-esehleclitlicli  niisshraucht.  Joiuinn  Schlecht 
liefert»;  aber  einen  hinreichenden  Beweis  dafür,  dass  er  sich  am  frag- 
lichen Mor^^en  nur  eine  ganz  kurze  Zeit  im  Zimmer  seiner  Mutter 
aufhielt  und  während  des  Vor-  und  Xiielimittai;s  des  19.  Juli  Holz 
in  Strassen  zerkleinerte,  die  von  der  liofstrasse  ziemlich  entlegen 
sind.  Wilhelmine  Brod  bezeichnete  weder  die  Witwe  Schlecht  als 
die  Fran,  auf  deren  Gebelss  sie  Zneker  geholt  haben  soll,  noch  deren 
Sobn  —  es  war  ibr  in  einer  nnveif&nglieben  Wdse  die  Gelegenheit 
gegeben  worden,  sieb  den  Sobleobt  zn  besehen  nnd  dann  zn  äussern 
ob  sie  ibn  kenne  —  als  den  Hann,  der  sie  angriff;  sie  erklärte  aneb 
in  der  HaoptTerbandlung,  in  der  sie  dem  Beigmann  und  dem  Sohleebt 
gegenüberstand,  bestimmt,  in  Beigmann  den  Angreifer  zu  erkennen. 

10.  Naeb  den  vorstehenden  Ausführungen  sobeint  ein  erbeblieber 
Tbeil  der  Aussage  der  Brod  für  den  Behistungsbeweis  nicht  verwerth- 
bar  zu  sein.  Immerhin  aber  dürfte  von  dieser  Aussage  doch  so  viel 
übrig  bleiben,  dass  in  dem  Rest  eine  hinreichende  Grundlage  für  die 
Ueberzeugung  von  der  Thäterschaft  des  Bergmann  gefunden  werden 
kann. 

Das  Hans  Nr.  0  der  liofstrasse  unterscheidet  sieh  von  den  an- 
deren liäuscrn  (It  rseli)en  Strasse  und  der  rm|Lrel)ung  durch  die  Blu- 
men vor  den  t'enstern,  die  in  die  Höhe  ranken.  Diese  Erscheinung 
ist  ebenso  auffällig"  als  einfueli :  man  kann  dalier  annehmen,  dass  sie 
bich  dem  üedächtuiss  eines  Kiudes  unschwer  einprägt  und  wenig- 


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ESd  Bdtiag  sur  Wflrdigung  dtx  Annage  elnee  Kindes. 


87 


j^tf-n?;  eine  Zeitlang;  darin  haftet.  Die  Thatsaelie,  dass  die  lirod  die 
ririlu'lit'ii  Verhältnisse  im  Erdfresclioss  und  die  Einriehtun:ir  des  eben- 
erdij^en  Ziuuners  richtig  beschreibt,  lässt  darauf  schliesscn,  dass  sie 
von  Dinicen  s|)richt,  die  sie  p'sclien  hat.  Die  Darstellung;,  die  das 
Kind  von  den  Einzelheiten  des  unzüchtigen  Ani;riffs  giebt,  enthält 
nichts,  was  innerlich  unwahrscheinlich  wäre.  Das  der  Hrod  nach 
dem  Angriffe  gescUeakte  Bild  gestattet  die  Annahme,  dass  es  von 
Bergmann  herrührt.  Die  Brod  bekam  den  Bergmann  von  dem  Tage 
des  firaigiiuses  bis  znm  27.  Juli  nicht  mehr  zu  Gesicht;  m  erkannte 
in  dem  in  der  Gkislstabe  sitzenden  Zeitnngsleser  ihren  Angreifer  und 
gerade  dieser  Zeitnngsleser  war  der  Miether  des  Zimmers»  worin  die 
Brod  vergewaltigt  worden  zn  sein  behauptete.  Wollte  man  annehmen, 
es  habe  sich  die  Brod  in  den  Ton  ihr  erfundenen  Gedankeni  in 
diesem  Zimmer  angegriffen  worden  zn  sein,  hinangelebt,  so  wfire 
es  ein  kaum  anszndenkendes  VerhSngniss,  wenn  die  Brod  gerade  den 
Zeitnngsleser  und  Mietbar  des  Zimmers  aus  Zufall  als  ihren  An- 
greifer bezeichnet  hätte.  Gbnbt  man  hiernach  den  Schluss  auf  die 
Tbäterschaft  des  Bergmann  ziehen  zu  können,  so  möchte  allerdings 
die  Vermuthung  dafUr  sprechen,  dass  die  That  am  Juli  IsDS  be- 
gangen wurde.  Die  Zeit  vor  diesem  Tage  kann  Mangt  ls  aller  An- 
haltspunkte hierfür  nicht  in  Betracht  koimmn;  am  19.  Juli  war  Bfrir- 
mann  in  Zwischenpausen  kürzere  und  längere  Zeit  in  seinem  Zimmer; 
Näheres  über  den  Zeit|)unkt  <les  Ereignisses  ist  nicht  festzustellen. 

III.  Das  Landgericht  sprach  gegen  Bergmann  eine  sehr  hohe 
Zuchthausstrafe  aus.  Dass  es  ihm  harte  Sülme  auferlegte,  ist  nur 
zu  billigen.  In  einem  Punkte  freilicii  scheint  das  Bericht  bei  der 
Festsetzung  der  Strafe  eine  zu  strenge  Auffassung  gehabt  zu  haben. 
Die  Aerzte  gaben  das  Gutachten  ab,  dass  der  Kfirper  der  Brod  durch 
das  in  ihn  eingednmgene  Gift  der  Syphilis  auf  Lebensdauer  ver- 
seucht und  Tciderbt  sei.  Das  Gericht  trüg  diesem  Gntaditen  bei  der 
Bemessung  der  Strafe  ausgiebig  Bechnung.  Vielleicht  hätte  aber  doch 
der  Umstand  einige  Beachtung  rerdient,  dass  der  Landgerichtsarzt 
bei  Bergmann  Erschdnungen  einer  früheren  oder  bestehenden  Syphi- 
lis nicht  feststellen  konnte.  Konnte  der  Arzt  Syphilis  nicht  feststellen, 
so  mdehte  auch  Bergmann  bei  der  Begehung  der  That  sich  kaum 
der  Mögtichkeit  bewusst  gewesen  sein,  dass  durch  sein  Thun  der 
für  die  Gesundheit  seines  Opfers  schwerschädliche  Erfolg  eintreten 
werde,  für  den  er  Tom  Gericht  in  der  vollsten  Schwere  rerantwort- 
lieh  gemacht  wird. 


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HL 


Ein  fiigeiithlliDlieber  Fall  eines  pldizlichen  TodeB. 

Bnuit  Iioludiig  in  Prag. 

Am  23.  December  1902  wurde  der  mehrfache  Hausbesitzer  und 
mehrfache  Millionär  Dr.  Johann  Tockstein  todt  aufgefunden.  Seine 
Leiche  lag  in  einer  für  frewöhnlich  nicht  in  Gebrauch  stehenden  Kammer 
im  Hause  Nr.  11  in  der  Havlicekstrasse  in  den  Kirl.  Weinbergen  (Vor- 
stadt von  Prag).  Neben  der  Leiche  befand  sich  ein  Waschtrop.  Der  Um- 
stand, dass  an  dem  genannten  Tage  die  zur  Kammer  führende  Thür 
ein  wtnip:  ^reöffnet  war,  erregte  die  Aufmerksamkeit  der  Haus- 
nieibterin  und  veranlasste  sie,  die  Kammer  zu  betreten.  Zunächst  ge- 
wahrte sie  den  Waschtrog,  der  mit  dem  Boden  nach  aufwärts  ge- 
kehrt lag.  Sodann  aber  erblickte  sie  daneben  einen  nienscliüchen 
Körj)er,  in  welchem  sie  alsl)ald  die  laiche  ihres  Hausherrn,  des 
Dr.  Johann  Tockstein  erkannte.  Sogleich  sperrte  sie  die  Kammer, 
in  der  sie  alles  so  belassen,  wie  sie  es  gefunden  hatte,  ab  und  holte 
eiligst  einen  Arzt  herbei. 

Diefler  conBtatirte,  daes  die  Leiche  ruhige  GeriehtBzttge  aofiriee, 
äua  am  ganzen  KOrper  gieh  keine  Spur  zeigte,  welche  auf  eine  etwa 
yerllbte  Gewalt  hfttte  deuten  kOnnen.  Da  es  somit  von  vomherdn 
ausgeschlossen  schien,  dass  Dr.  Tookstdu  das  Oi^er  eines  Mordes 
geworden  sei,  eine  Erklirung  für  einen  natOrtichen  Tod  jedoch  nicht 
zu  finden  war,  kam  der  Gedanke  auf,  es  liege  ein  Selbstmord 
Yor,  ein  Gedanke,  der  sidi  mit  BlitBesschnelle  noch  an  demselben 
Tage  als  bestimmte  Nachricht  vom  Selbstmorde  Dr.  Tockstein's  in 
Prag  verbreitete  und  allenthalben  grosses  Aufsehen  hervorrief,  da 
man  keinen  Grund  dafür  finden  konnte^  was  Dr.  Tockstein,  di  r  nicht 
weniger  als  11  Häuser  st  In  eigen  nennen  konnte,  in  den  Tod  ge- 
trieben haben  sollte.  Diese  Ansicht  fand  übrigens  eine  Bestärkung 
in  folgenden  Umständen:  Am  Fensterbrett  stand  ein  Fläschchen  mit 
einer  Flüssigkeit,  weshalb  man  an  Selbstmord  durch  Vergiftung 


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£iu  «igeuüiUmlichcr  Fail  eines  plötzlichen  Toües. 


39 


glaubte.  Uebeidies  wuide  festgestellt ,  dass  Dr.  Tocksteiii  in  der 
letzten  Zeit  ein  TerstSrtes  Wesen  znr  Schau  trug  nnd  diese  Gemfiths- 
depresBion  wurde  jetzt,  da  er  todt  war,  auf  miBsliehe  finanzielle  Ver- 
biltniBBe  zurttckgefQhrt  Die  Durchsuchung  der  Kleider  ergab,  dass 
der  Todte  70  E.  in  Gold,  200  K.  in  Papier  und  3  K.  in  Silber  bei 
sich  trug.  Ausserdem  fand  man  in  einer  Tasche  ein  Buch  über  Ge- 
sundhdlspflege.  Dieses  Buch  war  es,  das  die  Aufmerksamkeit  des 
Arztes  erregte  und  bei  ihm  Zweifel  ob  des  gemuthniaassten  Selbst- 
mordes aufsteig^en  Hess,  da  es  denn  doch  etwas  widers|)ruchsyoll,  ja 
geradezu  paradox  wäre,  dass  Jemand  der  Pflege  seines  Körpers  eine 
erhöhte  Aufmerksamkeit  zuwendet  und  schliesslich  selbst  Hand  an 
sich  legt 

Mit  Rücksicht  darauf  wurde  Obduction  der  I/eiche  angeordnet 
und  dem  Docenten  der  gericlitlichen  Medicin  an  der  ezecliischen 
Universität,  Dr.  Slavik,  übertragen.  Dr.  Slavik  stellte  fest,  dass 
ein  plötzlicher  natürliclier  Tod  eingetreten  war.  I)ie  Uhducti.m  crgai) 
nändich,  dass  der  Verstorbene  an  einem  Herzfehler  mit  enoniier  Er- 
weiterung des  Herzens,  einer  Erschlaffung  des  Ilerznuiskels  und  einer 
gänzlichen  Verkalkung  der  Arterien  litt;  dies  hat  seinen  plötzlichen 
Tod  herbeigeführt. 

Das  erwähnte  Eläschchen  war  ebenfalls  Gegenstand  gerichts- 
ärztlicher Untersuchung;  doch  stellte  es  sich  heraus,  dass  es  Cognac 
enthielt 

Wie  kam  nun  Dr.  Tockstein  in  die  unbewohnte  und  auch  ander- 
weitig ^icbt  in  Benutzung  stehende  Kammer?  Dies  wird  ärztlicher- 
seits folgendermaassen  erklärt:  Ein  Herzfehler  und  me  Herzerweite- 
terung  bewirken  you  Zeit  zu  Zeit  Anwandlungen  und  Anfälle  von 
Herzbeklemmungen,  bei  wdcben  der  damit  behaftete  Patient  eine 
Todesangst  aussteht  Dabei  wird  das  Bedärfniss  empfunden,  ktlhlere 
und  dem  Zutritt  anderer  Personen  nicht  ausgesetzte  Orte  aufzusuchen, 
um  hier  den  Tod  zu  erwarten.  Dr.  Tockstein  befand  sieh  seit  längerer 
Zeit  in  einem  Zustande  sichtUcher  Aufgeregtheit,  welche  yermuthlich 
bei  ihm  Herzbeklemmungen  herbeigeführt  haben  mag,  unter  deren 
Emwirknng  in  ihm  der  Wunsch  rege  geworden  sein  mochte,  an  einem 
Orte,  wo  er  sieh  ungestört  wusste,  den  Tod  zu  erwarten. 

Wozu  (las  Eläschchen  mit  Cognac  vt>rwen(let  wurde,  ist  ebenso 
unaufgeklärt  wie  der  Umstand,  zu  welchem  Zwecke  der  Waschtrog 
in  die  Kammer  gebraclit  wurde.  Dies  ist  um  so  auffälliger,  als  trotz 
der  mit  grösster  fiewisseiiliaftigkeit  gepflogenen  iiolizeiliclien  Erhe- 
bungen der  Eigenthümer  des  Wasch  troges  nicht  ausfindig 
gemacht  werden  konnte.  Zuerst  meinte  man,  Dr.  Tockstein  habe 


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40 


III.  LoHBDffo,  Ein  dgenthünilidier  Fkll  efnes  pIGtzlieheD  Tode«. 


vielleicht  selber  den  AVasclitropr  aus  dem  Keller  freholt;  allein  in  An- 
betracht des  Umstandes,  dass  Xiemand  von  den  Hausbowohnern  sich 
zu  dem  Eiirontluini  an  (l«'m  Wasciitrof^c  bekennt,  bleibt  niebts  Anderes 
als  die  Annalniie  iibri^'.  der  Wasclitrog  sei  —  unl)ekannt.  durcli  wen 
—  von  auswärts  dorthin  gebracht  worden)  wo  man  ihn  später  vor- 
gefunden hat. 

Die  Aufregunj?,  in  welclier  .sieb  Dr.  'JOekstein  erwie.senerinaassen 
vor  seinem  Tode  befand,  ist  erklärlich  aus  fol^^enden  Umständen: 
Dr.  Tockstein  machte  kein  üehl  daraus,  dass  er  zu  seinen  Bauten 
Geld  benöthigte,  da  er  Baminteniehmer  in  dem  Smne  war,  dass  er 
HSnger  auf  eigene  Bechnnng  baute  mit  der  Absicht,  sie  nach  Fertig- 
Stellung  zu  Terkaufen.  Dies  war  ihm  jedoch  in  der  letzten  Zeit  nicht 
gelungen,  ans  Gründen,  die  vermuthlich  einerseits  in  der  gegenwär- 
tigen wirthschaftlichen  Lage,  andererseits  in  dem  Umstand  zu  suchen 
sind,  dass  in  Folge  der  Assanirang  und  BegnUmng  des  V.  Prager 
Stadttheils  der  Baubewegung  ein  neues  Feld  erstanden  ist  Aller- 
dings erlangte  Dr.  Tockstein  in  letzter  Zeit  von  einem  Geldinstitute 
die  Zusage  eines  Darlehns  von  40000  K.  auf  eines  seiner  Häuser 
(und  zwar  gerade  da^enige,  in  welchem  er  gestorben  ist)  unter  der 
Bedinf^nn^^,  dass  dieser  Betrag  als  zweite  Hypothek  auf  dieses  Haus 
verbücbert  werde.  Jedoch  kam  dieser  Vertrag  nicht  zu  Stande,  da 
Dr.  Tockstein  den  gestellten  Bedingungen  nicht  entsprechen  konnte. 
Daraus  wäre  allerdings  auf  eine  finanzielle  Calaniität  zu  schliessen, 
weiclie  ^'eranlassung  zu  Aufregungen,  die  bei  einem  Herzkranken 
niemals  ungefährlich  sind,  bieten  können. 

Wenn  auch  im  vorliegenden  Falle  ein  \  erijrechen  als  aus- 
geschlossen ijetracbtet  wenUn  kann,  haben  wir  es  doch  mit  einem 
letalen  Ausgange  zu  tliun,  bei  welchem  es  von  vornherein  nicht 
klar  war,  ob  ein  naliirliclier  oder  ein  unnatürlicher  Tod  vorlag.  Tnd 
ein  derartiger  Fall  ist,  wenn  auch  in  concreto  keine  ^'eranlassung 
zum  Einschreiten  des  Untersuchungsrichters  vorliegt,  fQr  die  Krimi- 
nalistik von  Interesse,  da  die  Frage  „natfirlieher  oder  unnatQrlieher 
Tod**  zu  den  wichtigsten  der  Strafrecbtspflege  gehOrt 


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IV. 


Laien  als  Strafricbter. 

Von 

ilauptmami-Auditor  Dr.  Q«ocs  Iialewer  in  Wien. 

Der  lavviiu'iiartif^  jinselnvelleiKk'  Umfang  aliiT  Wissensgebiete  hat 
immer  mehr  die  Erkcnntniss  gereift,  dass  vollkommene  und  wirklich  er- 
spriesslielie  Aibeit  nur  dweb  Specialisirung  geleistet  werden  k5iuie.  Aller- 
dings darf  rioh  die  Specialisimng  nicht  durch  eine  chinesische  Mauer 
von  der  ganzen  flbrigen  Welt  abaehliessen,  sondern  muss  von  Allem, 
was  mit  ihrem  eigenen  Gebiete  in  irgend  einem  Zusammenhange 
steht,  verstindnissvoli  Kenntniss  nehmen  und  die  Wechsdwirknng 
beizustellen  trachten.  Nur  auf  einem  (xebiete  menschlicher  ThStig- 
kät,  und  zwar  auf  einem  der  wichtigsten,  hat  diese  Erkenntniss  sich 
noch  nicht  Bahn  gebrochen,  nämlich  auf  dem  Gfebiete  der  Strafrecht- 
sprechun^.  Dort  ist  nach  einer  weit  verbreiteten,  auch  bei  der  Be- 
rathung  der  deutschen  Militärstrafgericbtsordnungvom  l.December  1898 
ex  cathedra  verkündeten  Anschauung  der  Jurist  nur  dazu  da,  um 
,.den  formalen  Standpunkt  zu  wahren'^  ')•  Wollte  man  einen  Schuster 
mit  der  Anfertigung  eint's  Hutes  oder  einen  Arzt  mit  der  Reparatur 
einer  Uhr  betrauen,  so  fiile  man  judcnfiills  sofort  schwerwio^renden  Zwei- 
feln über  den  Vollbesitz  ungttrüliftr  ( ieisteskrüfte  anheini.  llinmgen 
sind,  nach  !ill;;cnieiner  Anschauung,  UhrniacluT,  Arzt,  llntinarlit  r  und 
Scliustrr  wohl  geeignet  Urtheile  zu  niaclicn,  niindestt'us  i'hensOj  ja 
offonljar  noch  viel  mehr  als  der  lMiuf>richtrr.  Zum  ..Leisten"  des 
Schusters,  bei  dem  er  nach  einem  alten  »Si)rüclnvorte  bleiben  soll,  ge- 
hört hiernach  auch  die  ricliterlidu'  Tliätigkeit.  Wir  sind  natürlich 
weit  entfernt,  einem  der  hier  beispielsweise  genannten  oder  irgend 
einem  anderen  Berufe  nahe  treten  zu  wollen,  im  Ocgentheile  wollen 
wir  ihnen  anch  noch  durch  das  Versprechen  entgegenkommen,  dass 

1)  „Die  Militaretrafgcrichtsordnung  vom  1.  I>econdier  T^ns."  SystematiBeh 
dargestellt  von  Dr.  Wolfgang  Mittermaier.  Berlin  li»99.  ä.  57. 


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48 


IV.  ItELEWeS. 


wir  Juristen  unsererseits  uns  jedes  Eingriffes  in  fremde  Berufssphären 
enthalten  wollen. 

Man  mache  sich  nnr  einmal  klar,  was  dazn  gehOrt|  ein  guter 
Stiafrichter  zn  sein:  Eingehende  Gesetzeekenntniss,  rasches  und  sicheres 
Yerständnias  aller  im  Leben  Torkommender  socialer,  psychologischer, 
natfirlicher  and  bemfticher  Verhältnisse,  die  FShigkeit^  ans  jeder  Sache 
sofort  den  Kam  heranszuschälen,  die  F&higkeit,  correet  zu  denken, 
und  noch  vieles  andere,  was  erschöpfend  anfonzählen  uns  kaum 
möglich  wire.  Man  glaube  ja  nicht,  dass  das  Vorhandensein  einer 
oder  einiger  der  genannten  TIauptbcdingungen  frenüj^e:  alle  müssen 
zusammentreffen,  soll  der  Strafrichter  auf  seinem  Platze  sein.  Wir 
mttssen  zugeben,  dass  nicht  alle  Juristen  allen  diesen  Bedingungen 
entsprechen,  aber  es  heisst  den  Teufel  mit  dem  Beelzebub  verjagen, 
wenn  man  deshalb  an  ihre  Steile  Laien  setzt,  bei  denen  das  Vor- 
handensein alh^r  dieser  Bedin^runjren  überhaupt  ausgeschlossen  ist, 
und  dio  der  ihnen  zugemutheten  Aufirabo  nur  ein  „durch  keinerlei 
Sachkenntniss  j!:etriil)tes  Urthoil"  entf^^'^^t-nbrini^en  k<tnnen.  Diesem 
Mangel  kann  viehuehr  nur  dadurch  abgeholfen  werden,  dass  man 
das  Richtcnuatcrial  verbessert,  oder,  da  doch  in  hinreichender 
Zahl  gutes  und  sehr  crutes  Juristenniaterial  vorhanden  ist,  da- 
durch, dass  man  das  Strafriebteranit  durch  eine  —  seinem  für  die 
Allgemeinheit  so  bedeutungsvollen  Werthe  entsprechende  —  Aus- 
stattung an  Ehren,  Ansehen  und  standesgemässem  Einkommen  so  be- 
gehrensweith  macht,  dass  eine  zahlreiche  Beweifoung  um  die  Straf* 
riehterstellen  entsteht  und  so  die  Staatsverwaltung  in  die  Lage  kommt, 
eine  sorgfiUtige  Auswahl  unter  den  Gandidaten  zu  treffen,  und  nicht 
gezwungen  ist,  jeden  sich  Meldenden  zu  acceptiren,  um  nur  die 
lücken  im  Status  ausftUlen  zu  können. 

Von  der  Wissenschaft  Iftngst  verworfen,  nimmt  die  Mitwirkung 
des  Laienelements  bei  der  Stmfgerichtspflege  de  lege  Uta  noch  immer 
einen  breiten  Raum  ein  und  ist  immer  wieder  eine  Forderung  der 
Allgemeinheit.  Der  Entwurf  des  österreichischen  Pressgesetzes,  der 
aus  den  schlimmen  Erfahrungen  die  Lehre  ziehen  und  die  durch  die 
Presse  b^^angenen  Ehrenbeleidigungen  theilweise  den  Geschwormn 
entziehen  will,  ist  der  erste  Versuch  einer  Besserung,  leider  aber  noch 
ganz  vereinzelt  geblieben.  Eines  der  jüngsten  Processgesetze,  die 
schon  erwähnte  deutsche  Militärstraf^'eriohtsordnung,  hat  auch  dem 
Laicnelemente  eine,  wenigsti-ns  nunit  riseli  und  äussfrlieh  dominirende 
Stelluntr  eiiiireräunit,  die  natürlieii  p  nide  in  kritiselien  Fällen  durch 
blosse  Ausniitzung  der  nunu-riselien  L'ebernuicht  zur  alirin  aussehlag- 
gebcnden  gemacht  werden  kann.  Dazu  kommt  noch  die  merkwürdige 


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LaieD  als  Strafilditer. 


48 


Theiliinp  der  Verhandliing:8fühning:  in  Voreitz  und  Loitun/?.  Vor- 
sitzender ist  der  ran^lKichste  an  der  Verhandlung  theilnohniende 
Officier  dea  Soidatenstandes,  Verhandiungsleiter  das  theilnclunendc 
Militärjustizorpran  oder  von  mehreren  das  rang'höchstc.  Für  den  Ver- 
handlun^'t^Ieiter  bedeutet  es  eine  eiupfindlielie  Zurucissetzuni;,  da,ss  man 
ihm  als  dem  Spiritus  rector  nicht  auch  die  Ehre  des  Vorsitzes  über- 
lässt,  und  auch  der  Vorsitzende  kann  sich,  wie  jeder  gewissenhafte, 
intelligente  und  gebildete  Mann  auf  seinem  Platze  nicht  wohl  fühlen, 
den  er  mit  bestem  Willen  und  Eifer  zufolge  mangelnder  Fachbildung 
und  Routine  unmöglich  yoll  ausfOUen  kann.  Das  Gesetz  weist  dem 
Vonitzenden  inidiesondere  die  Aufgabe  zu,  die  Oidnung  in  der  Yei^ 
handluDg  aufieebt  zu  erhalten.  Wir  möchten  glauben,  dass  ein  rou- 
tinirter  Berufsriehter  für  diese  oft  ftberaus  heikle  Aufgabe  viel  ge- 
eigneter sd,  und  das  MilitSijustizorgan  wird  auch  den  militSrisehen 
Parteien  gegenüber  die  erforderliche  Autontitt  haben,  wenn  ihm  nur 
Gesetz  und  Vorschrift  die  entsprechende  Stellung  im  militärischen 
0r<::ani8mU8  zuweisen.  Dies  ist  freilich  unmöglich,  wenn  das  Militär- 
justizorgan,  wie  in  Deutschland,  „Militärbeamter"  ist,  denn  dem 
soldatischen  Auge  erscheint  nur  ein  wirklicher  Officier  als  die 
Verkörperung  der  Autorität  >)•  Man  kann  sich  leicht  eine  beliebig 
lange  Reihe  von  Complicationen  ausdenken,  die  sich  aus  der  Thei- 
lung  zwischen  Vorsitz  und  lA'itung  in  der  Verliandlung  ergeben 
können  und  die  dem  Ansehen  des  Gerichtes  keineswegs  förderlich 
sind.  Ein  lieisj»iel  hierfür  fanden  wir  kürzlieh  im  „Neuen  Wiiner 
Journal**,  das  unter  der  Spitzniarke  ^Scandal  bei  einem  Kriegs- 
gerichte, Vorsitzender  und  Verhandiungsleiter''  folgende,  vom  6.  Fe- 
bruar I90;i  datirte  Meldung-)  aus  Braunschweig  bringt: 

„Vor  dem  Kriegsgerichte  der  X.  Division  fand  gestern  hier  eine 
Verhandlung  statt,  bei  der  ein  bemerkenswerther  Zwischen- 
fall vorkam.  Der  Unterofficier  H.  war  der  Missbandlung  des  Husaren 
L.  angeklagt,  wurde  aber,  wie  gleich  bemerkt  sein  mag,  freigesprochen. 
Als  im  Laufe  der  Verhandlung  der  Vertreter  der  Anklage  Gründe 
anfahrte,  die  die  Aussage  emes  Zeugen  als  unwahr  erscheinen  liessen, 
erhebt  sich  der  Vorsitzende,  M%jor  y.  N.,  um  dem  Ankläger  das 
Becht  zu  bestrdten,  die  beschworene  Aussage  des  Unterofficiers  als 
unwahr  zu  bezeichnen.  Der  Verhandlungsführer  und  auch  der  Ver- 

1 1  r)er  ni8si»cho  Militärrichtcr  ist  ein  wirklichpr  Officier,  der  österreichiech- 
ungaridche  hat  Officieretitel  uud  Officierschaiakter. 

2)  Wir  ttbenehmen  diese  Meldong,  ffir  deren  Richtigkdt  vir  die  Vorant- 
wortaog  dem  geoannten  Blatte  ftberlaaeen  mOasen,  unter  Weglaasmig  der  Namen 
der  betheiligten  Personen. 


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44 


IV.  Lblbwi» 


tretor  der  Anklage  suchen  dem  Vorsitzenden  klar  zu  machen,  dass 
letzterer  Redefreiheit  ireniesse  und  als  Parteivertreter  berechtigt  sei, 
seine  persönliche  Ansicht  zu  iiusst'rn.  Major  V.  N.:  „Dana  bitte  ich, 
mich  nachher  näher  darüber  zu  belehren," 

Als  später  der  Vertheidij^er  ausführt,  er  habe  den  Verdacht,  L. 
wolle  den  I^nterofficior  H.  ledii,dich  aus  Hache  in's  Un<;lück  stürzen, 
unterbricht  der  Verhuiuilun^^sfilhrer  den  Vortlieidifrer,  bemerkend,  nicht 
L,  sondern  Unterofficier  II.  sei  der  Angeklagte,  und  er  bitte,  diesen 
eotlisteiide,  moht  aber  jenen  bdaslende  Momoite  voRnbringen.  Der 
Vorsitzende,  Miyor  t.  N.,  weist  diesen  Einwurf  des  Verhandlnngs- 
führers  znifldk  und  verlangt  fttr  den  Vertheidiger  ebenaognt  voUe 
Bedefreiheit,  als  sie  für  den  Vertreter  der  Anklage  in  Ansprach  ge- 
nommen worden  sei.  Jetzt  kommt  es  zu  scharfen  Oontroversen.  Der 
Verhandlnngsfübrer  will  seinen  Standpunkt  rechtfertigen.  JAajot  y.  N. 
ntft:  „Ich  bin  Vorsitzender**.  Kriegsgeriohtsrath  S.  antwortet: 
„Ja,  und  ich  habe  die  Leitung  der  Verhandlung".  Beide  Herren 
vertheidi^en  ihre  Ansicht  Kri^gsgeriebtsrath  3.  bemerkt  dabei,  er 
werde  sich  beim  Divisionscommandeur  beschweren;  Major  T.  N. 
verbittet  sich  diese  Drohung.  Kriegs^erichtsrath  S.  erklärt,  er  werde, 
sofern  ihm  noch  weiter  sein  Recht  der  Verhandlungsleitung  streitig 
gemacht  werde,  die  Sitzung  abbrechen  und  dem  Divisionscommandeur 
sofort  Mel(hiii«r  t  rstatlen.  Dann  wurde  die  Verhandlung  ohne  weiteren 
Zwischenfall  zu  End»*  iri'fiihrt.'' 

Nun  nniss  an»  rkaunt  werden,  dass  —  wenn  überhaupt  irgendwo 
in  der  Strafgerit'ht.s|ifiege  —  j^rerade  bei  den  MilitärirerichtHi  die  Iler- 
an/ieliunir  des  Laienelenients  zulässig,  ja  sogar  w  üiisclienswerth  er- 
scln  int,  allerdinirs  mit  der  von  der  deutschen  ^lilitärstrafgerichtsord- 
nung  eingeführten  Htschräiikung  auf  Officiere  ((ileichgestellte).  Der 
Officier  (obere  Militärbeamte)  ist  hinsichtlich  der  militärischen  Delicte 
—  und  nur  bei  solchen  wäre  er  richtiger  Weise  beizuziehen  —  kein 
Laie^  sondern  mit  den  tbaisftehlicben  Verhältnissen  wohl  vertraut  und 
steht  mit  seiner  Intelligenz  und  Bildung  hoch  Uber  dem  Durch- 
Schnittsniveau  des  Oivilgeschworenen,  dessen  Berufung  hauptsSchlich 
vom  Steuercensus  abhängt 

Man  wird  uns  vielleicht  den  Vorwurf  machen:  wir  sprächen 
pro  domo.  Wir  wollen  es  auch  gar  nicht  bestreiten.  Aber  wir  sprechen 
nicht  so  sehr  und  ausschliesslich  im  eigenen  Interesse,  sondern  in 
der  aus  tausendfacher  praktischer  Erfahrung  und  aus  wohlüberlegter 
theoretischer  Erwägung  geschöi)ften  Ueberzengung,  dass  die  Mitwir- 
kung der  Uiien  bei  der  Straf rechtsprechung  in  dem  heutigen  Um- 
fange den  Interessen  der  Hechtspflege  und  somit  den  Interessen  der 


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Laien  ab  Strafriehter. 


45 


All^meinheit  abtril<rlicli  ist.  Den  Lesern  dieses  ArchivB  sind  hin- 
reichend viele  lieispiele  hierfür  bekannt,  in  denen  die  Unzulän^lieh- 
koit  des  Geschworenrnirerichtes  crass  denionstrirt  wird.  Wir  wollen 
nun  versuchen,  an  der  Hand  der  Statistik  denselben  Nachweis  zu 
liefern.  Aus  dem  soeben  erschienenen  3.  Hefte  des  LXl.  Bandes  der 
dflittnoiehttehen  SlatiBtik:  „Die  Ergebnisse  der  Strafrechtspflege  in 
den  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreidien  und  l4indem  im  Jahre 
1898*^  (bearbeitet  vom  Burean  der  k.  k.  Btatistiflohen  Centraloommiasion 
nnter  Mitwirkung  des  k.  k.  JoatizminiBterinmB)  entnehmen  wir  fol- 
gende Daten  ttber  das  Strafrerfobren  vor  den  Gerichtshöfen: 

Die  Hanptverhandlnngen  und  deren  Ergebniss: 

Die  Zahl  der  von  den  Gerichtshöfen  erster  Instanz  CErkenntniss-, 
Geschworenen-  und  Ansnahmsgerichten)  im  Jahre  1S98  durchgeführten 
Hanptverhandinngen  belief  sich  auf  39115,  in  welcher  Ziffer  die 
Yorgekommeni  n  Einspruchsverhandlungen  in  Presssachen  nicht  ein- 
gerechnet sind,  wohl  aber  die  abgesondert  vorgenommenen  Haupt- 
Verhandlungen  2464  Verhandlungen  fanden  vor  dem  (ieschworenen- 
gerichte,  36585  vor  dem  Erkenntuissgerichte  und  6ö  vor  Ausnahms- 
gerichten (JasJo.  Xeu-Sandec  und  Tarni'>w)  statt. 

Die  Zaid  der  vor  den  Erkenntnissgerichten  angeklagten 
Personen  betrug  52(H5,  daniutcr  721.  die  ])l(»s  we^^eii  Ui'licrtivtung 
angeklagt  waren  und  nur  wegm  Zusammenhanges  ihrer  relitMtrctuug 
mit  Straftliaten  anderer  Personen  sich  vor  einem  (weriehtshufe  zu  ver- 
antworten hatten.  Das  Ergebniss  der  gegen  diese  52  045  Personen 
durchgeführten  30  5S5  Ilauptverhandlungen  (bezw.  der  gegen  die 
ürtheile  der  Erkenntnissgerichte  au  den  obersten  Gerichts-  als  Cassa- 
tioDshof  ergriffenen  Nichtigkeitsbeschwerden)  bestand  darin,  dass 
43892  PersiHien  oder  84^  Proc  verurtheOti  8097  Personen  oder 
15.5  Proc  freigesprochen  und  56  Personen  nach  §  261  StPO. 
vor  das  Geschworenengericht  verwiesen  wurden. 

Vor  den  Geschworenengerichten  fanden  2464  fianptver- 
handlungen  statt,  und  die  Zahl  der  Angeklagten  belief  sich  auf  3256^ 
von  denen  sich  93  nur  wegen  des  Zusammenhanges  der  ihnen  zur 
Last  fallenden  Strafthaten  mit  anderen  Strafthaten  vor  dem  Gö- 
sch woronengerichte  zu  verantworten  hatten,  darunter  4  nur  wegen 
UebertretuiigeiL  Das  Ergebniss  dei  durchgeführten  Verhandlungen 
(bezw.  der  gegen  die  ürtheile  der  Geschworenengerichte  an  den 

1)  §§  57,  5%i,  114,  214  St  P.O.  Zur  Vermoidung  von  VeraGgcrimgen  oder 
Eridiweniiigen  des  Yerfahrent  oder  mr  Kfiming  der  Haft  eines  Bescholdigten 
kann  hiu»ichtlich  einzelner  »trafljnriM-  Handhingen  oder  einaelner  Beschuldigten 
tlaa  Sünfvecfahfen  abgesondert  gefühlt  und  aum  Absehlnase  gebracht  weiden. 


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46 


IV.  LdCUEWEB 


obersten  Gericlits-  als  Cassationsliof  ergriffenen  Xiclitigkeit.sl)e.seli wer- 
den) bestand  darin,  dass  von  den  3256  Angeklagten  2325  oder 
71.4  Proc.  verurtheilt,  und  931  oder  2S.6  Proc.  freigesprochen 
(darunter  876  niohtBchnldig  erklirt)  wurden,  D«r  Fall,  dass  eine 
Stnifeaobe  nach  §  832  StPO.  zur  nochmaligen  Entscheidnng  vor  ein 
andercB  Gesohworenenf^cht  yerwieeen  wurde,  kam  im  Jahre  1898 
nicht  vor. 

Nachstehende  Tabdle  zeigt  die  Ergebniaee  der  erkenntnissgericht- 
Uchen  nnd  gesehworeneogeriohtlichen  Hauptrerhandlongen  in  den 
Jahren  1888—1898: 


1 

ErkenntDisgeriobt:  1 
Zdü  der 

Oeiohvoren«Bgerieht: 
Zahl  der 

von  ]><  \C(\  Anjf«- 
kUgten  waid«D 
varartKaiUt  rtmi 

Jahr: 

«  • 

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1  ^ 

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* 

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m  O  u 

« 

1888 
1889 
1890 
1801 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 

40,013 
41,2S7 

41,728 

11.077 
44,828 
,  42,048 
45,284 
1  44,631 
i  44,516 
47,-'}0 
52,045 

84,664 

35,448 
36,311 
36,199 

38,534 
30,039 
39,062 
38,342 
37,963 
39,7")0 
43,892 

5,415 

5,745 
5,386 
5,438 

0,233 
5,995 
0,188 
6,254 
6,521 
7,457 
8,097 

34^ 

34 

31 

40 

61  , 
14  ' 
34 

85  , 
32 

33 
56 

1 

)  8,168 

3,045 
3,301 
3,137 

1  3,301 

1  3,136 
3,090 

1  3,279 
3,116 

I  3,011 
3,256 

2365 

2.212 
2,435 
2,370 
2,415 
2,330 
2,272 
2,272 
2,261 
2,0M0 
2,325 

1 

802 

838 
864 
762 
886 
806 
815 
1,007 
8.'>3 
921 
931 

1  \ 

2 
5 

z 

3 

1 

• 

SM 

H7,l 

86,1 
,  H6,0 

'  Sö,9 

1  SM 

i  H4Ui 

84,3 
1  ' 

74^ 

72,6 
7.%S 
75.6 
TJkl 
743 
"Ii.'» 
69^ 
72^ 
6M 

71,4 

Vor  den  drei  Ausnahmsgeriehten  in  Jaslo,  Ken-Sandec  und 
Tamöw  fanden  im  Jahre  1898  im  Ganzen  66  Haupt^erhandlungen 
statt  Die  Zahl  der  vor  diesen  drei  Gerichten  angeklagten  Personen 
belief  sich  auf  936,  Ton  denen  776  oder  82.9  Proc  yemrtheilt  wurden 
(davon  16  blos  wegen  einer  Uebertretnng),  und  160  oder  17.1  Proc 
niclitschuldi^'  erklärt  wurden. 

Wie  diese  Ziffern  klar  beweisen,  kommen  Freisprechungen 
bei  den  Oeschworenengerichten  ungleich  häufiger  vor, 
als  bei  den  nur  mit  rechts^^elehrten  Richtern  besetzten  Erkenntniss- 
gerichten, im  Jahre  IS9s  beispielsweise  wurden  von  den  Erkenntniss- 
gerichten nur  |.">.7  Proc.  aller  An<,'ekhii;ten.  von  den  Geschworenen- 
gerichten hint^t  ui  ii  -Js.d  Proc.  aller  An^a'kUigten  frei^a'sproehen  oder 
für  niclitsciiuldiir  e.rklärt.  Fjisst  man  die  Ergebnisse  des  ganzen 
lü jährigen  Zeitrauiucs  von  I8b9  — 1898  zusammen,  um  ein  von 


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Laien  als  Stmfriobter. 


47 


znfSlligeD  Einflüäsen  freieres  Durclischnittsverhältniss  zn  gewinnen, 
80  ergiebt  sieb,  dass  von  den  446 25S  Angeklagten,  die  sich  vor 

einem  Erkenntnissf^erich te  (oder  von  einem  Ansnalimsprerichte) 
zu  verantworten  hatten,  63  330  oder  14.2  Proc.  f rei^'esi)rochen 
wurden,  wülirend  hinge^ren  von  den  31672  Aufgeklafften,  die  in 
Fol-rt'  der  Qualifieafion  ihrer  Strafthat  oder  weijen  des  Zusaninien- 
liun;,'es  dieser  mit  andert-n  Strafsachen  vor  das  Gesch  worenen - 
gericlit  f^estellt  worden  waren,  S67S  oder  2  7.4  Proc.  frei- 
fresj) rochen  wurden.  Bei  manchen  Oeschworenenfrerichten  wurde 
auch  dieser  durchschnittliche  Procentsatz  noch  iiherschritten,  wie  die 
nachfoljjende,  aus  den  Ausweisen  der  Staatsanwaltschaften  zusammen- 
gestellte Uebersicht  ersehen  lässt: 


Zahl  der  Ange- 

DftYon wurden  freigesproohen 

Oeschworeueugerioht 

klagten  iuuer- 

halb  der  Jahre 

in  abaoloter 

in  Proc.  der 

—  " 

1680  bit  1888 

Zahl 

Zitlil  der 
Au^eklugtcu 

265 

85 

81,1 

1.168 

367 

Sl,6 

1,004 

322 

32,1 

068 

243 

:iü.4 

833 

315 

;J7,s 

549 

311 

;JN4 

483 

196 

40,(J 

830 

350 

42.1 

635 

270 

441 

189 

42,8 

887 

:',S7 

'  4S,e 

639 

295 

4«.l 

502 

236 

4S,0 

09 

72 

78,7 

Fast  ehenso  häufii^-,  wie  die  Fälle  der  Freisprechung,  bezw.  der 
Nicht.schuldigerklärunj,'  sind  aucii  jene  Fälle,  wo  die  Geschworenen- 
gerichte den  Angeklii^'ten  zwar  schuldig  sprechen,  jedoch  in  der  ihm 
znr  Last  fallenden  That  eine  minder  schwere  Strafthat  erbHcken,  als 
diejeni^^e  ist,  die  ihm  in  der  Anklage  zur  Last  gelegt  worden  war. 
In  Folge  der  vereinigten  Wirkung  der  fVeispieobnngen,  der  Nicht* 
sobnldigerkUbningea  und  der  Unterstellnng  mancher  Strafthaten  unter 
ein  milderes  Strafgesetz  sinkt  die  Zahl  jener  WahrsprQche,  die  mit 
der  Anklage  ToUkommen  ttbereinstimmen,  auf  nahezu  die  Hälfte  aller 
Wahrsprache  herab,  wie  die  Ziffern  der  nachstehenden  Tabelle  er- 
sehen hisaen,  in  der  die  bezüglichen  Daten  für  die  Jahre  1880—1898 
zusaromeDgesteüt  sind: 


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48 


IV.  Lblbwbr 


Zahl  der  Tor  dem  Gfschworenpiipprichtc  iinceklaKtPn  Pcnionea, 


Jahr 

baiflglidi  welcher 

<  1 1  V  >  r           1 1  «  1  t  r      1 1 II 

einen  Walirspruch 
abzageben  hat- 
ten'}: 

bex&gUch  welcher  der  Wahrspnich 

mit  der  Anhiage 
gani  ftherein- 
itiiDiiites 



mit  der  Anklage 
nnr  thdlweite 

U  Vv  WIUMXllUAIIw  ■ 

—  — — ■  — 

■precbend  war 

lo89 

3,008 

649 

796 

1800 

1,740 

689 

824 

IS'.Jl 

3,009 

1,717 

0.-.5 

727 

lSd2 

3,268 

1,789 

626 

853 

189S 

3,093 

1,710 

620 

762 

1894 

3.052 

1  ,•'.<  »4 

608 

780 

1805 

3,244 

1,001 

671 

972 

1896 

3,066 

1,558 

703 

805 

1897 

2.948 

1,436 

O,-)! 

855 

1898 

3,201 

1 ,62.') 

700 

876 

Nach  den  Eri^^ebnissen  des  Jahrzehnts  1SS\) — ISOS  stimmen  somit 
von  31  231  abfxef::el)enen  Wahrsprüchen  nur  1  6  34'.),  das  ist  nur  r)2.3  Proc. 
vollkommen  mit  der  .Thohenen  Anklage  überein,  in  0632  Fällen 
oder  21.2  Proc.  der  (irsammtzahl  nitsprach  d(T  Wahrspruch  der  Ge- 
schworenen nur  theilwt'ise  der  erhobenen  Ankla-:e,  und  in  82r)0  Fällen 
oder  in  26.5  Proc.  alK  r  Fälle  wurde  der  An;:i  klai;te  von  der  An- 
klage freigesprochen,  bezw.  fllr  nichtsehuldij;  erklärt.  Dieser  ver- 
bältnissmäsäig  hohe  Procentsat/  von  Freisprechungen,  der,  wie  schon 
bem^ti  in  manchen  Gerieb tssprengeln  sich  noch  erbeblich  steigert, 
Ist  —  laut  Angabe  dsx  eituten  Statistik  —  naeh  den  Mittlieilmigen 
der  StaajsanwaltBcbaften  dadnreh  zn  erküren,  dass  die  Geschwo- 
renen sich  hänfig  ans  Mitleid  oder  ans  Scheu  vor  dem 
hohen  Strafsatze  bestimmen  lassen,  einen  freisprechen- 
den Wahrspruch  abzugeben,  oder  dass  die  Geschworenen 
nicht  die  erforderliche  Urtheilskraft  besitzen,  um  einen 
Straffall  richtig  zu  erfassen  und  es  vorziehen,  durch 


l)  Dif  Zahl  der  iVri^oneii,  bezüglich  welcher  die  Geschworenen  einen  Wabi^ 
pprufh  :il)zu«rf'l)on  liahtii,  i>t  stct.'i  kleiner,  als  «Up  Z;ihl  der  Personen,  ijrfron  die 
die  Verliandlini^  vor  »Iciii  (iescliwurenonf^crichtc  durchgeführt  wurde,  weil  die 
Fragest elliiQg  au  die  Uescliworeuen  entfällt:  a)  wenn  sieh  im  Laufe  der  Ver- 
bandloDg  beraoMtellt,  dass  das  Strafverfahren  ohne  den  Antrag  dee  geeetdieh 
berechtigten  Anklägers  eingeleitet  oder  ^v<^^■n  dessen  Willen  fortgesetzt  worden 
•  ist.  oder  l)i  dass  die  Strafbarkeit  der  dorn  Aii^cklafrten  /.nr  Last  g'elegten  Tliat 
duix-h  Verjähning  erloschen,  oder  c)  die  »trafgcnchtliche  Verfolgung  aua  (jirilnden 
des  Processrecbts  ausgeschlossen  ist,  dl  wenn  die  Stnfbariieit  der  Hiat  durch 
Begnadigung  aufgehoben  wurde,  e)  wenn  der  AnkJBger  nach  Eröffiinng  der 
Hauptverbandlung  und  «  he  die  an  die  Ceschworencn  zu  steNendm  Fragen  Ter- 
lesen  wurden,  von  der  Aniüage  zurücktritt  (§  SIT  SU  F.  0.). 


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Liden  als  Strafrichter. 


49 


einen  f reisprecbendea  Wahrsprucb  ihr  Gewissea  zu  ent- 
lasten. 

Wir  müssen  den  von  den  Staatsanwiiltscliaften  für  die  unver- 
hältnissmä.«isiic  häufip.'n  Freisprüche  und  auch  für  die  oftmalige  Un- 
terstelhini;  einer  Strafthat  unter  ein  unverdient  mihles  Strafgesetz 
durch  I^ienrichter  gegebenen  Erklärungen  noch  einen  weiteren  hin- 
zufügen. Der  laienrichter  hat  nftmlieh  oft  kein  Verständniss  für 
den  Untenehied  zwisohen  Recht  und  Gnade.  Ifit  dem  Augenblicke, 
wo  er  sich  auf  den  Bichtentahl  niedergelaasen  bat,  glaubt  er  ledig- 
lieh nach  seiner  Ueberzengong  nrtheilen  zn  dürfen  nnd  Ubenieht 
hierbei,  dass  er  nicht  nnr  an  seine  üebensengnng  gebnnden  uAf  son- 
dern auch  an  das  Gesetz.  Dasa  kommt  noch,  dass  er  häufig  auch 
den  Berufsiiohter  unter  das  Hindeststrafausmass  hinabgehen  sieh^ 
sich  aber  dabei  nicht  darüber  klar  wird,  dass  der  Bembrichter  dies 
zu  Folge  Anwendung  des  ausserordentlichen  Milderungsrechtes  oder 
Abkfiizung  det  Strafzeit  aus  Erwerbsrücksichten  oder  d^l.  p:egen  An- 
wendung entsprechender  Verschärfun<j:en  thun  durfte.  3o  glaubt  sich 
dann  der  Luenrichter  berechtigt,  Gnade  zu  üben,  wo  er  verpflichtet 
ist,  nach  dem  Gesetze  Recht  zu  sprechen,  und  es  liegt  auf  der  Hand, 
dass  hierdurch  die  allgemeine  Achtunfj  vor  dem  Gesetze  leiden  niuss. 
Der  ^bon  juge"  kann  im  einzelnen  Falle  durch  (liite  und  Gnade 
nicht  so  viel  Gutes  stiften,  als  er  durch  Untergrubung  des  Ansehens 
der  Gesetze,  zu  deren  Beobachtung  er  eidlich  verpflichtet  ist,  das 
allgemeine  Kechtsbewusstsein  schädigt. 

Wir  haben  an  der  liand  verlässlichen  Ziffernmaterials  gezeigt, 
wie  unverhältnissmässig  gross  die  Anzahl  der  von  den  Geschworenen- 
gerichten geschöpften  Freisprüche  im  Verhältnisse  zur  Zahl  der  von 
den  Erkenntnissgerichten  geschöpften  ist  und  behaupten,  daraus  die 
Unzulänglichkeit  der  Laiengericfate  zu  erkennen.  Dagegen  kann  man 
uns  zwei  Einwendungen  machen,  weshalb  wir  uns  gleich  mit  ihnen 
beachiftigen  wollen. 

Elstens  könnte  eingewendet  werden ,  es  sei  immer  besser ,  viele 
Schuldige  laufen  zu  lassen,  als  einen  Unschuldigen  zu  bestrafen. 
Dies  geben  wir  auch  ohne  Weiteres  zu,  da  wir  den  Grundsatz:  in 
dubio  mitius  ab  eine  der  Hauptregeln  der  Strafrechtsprechung  an- 
erkennen. Dennoch  halten  wir  es  auch  für  ein  grosses  Uebel,  wenn 
man  einen  Schuldigen  laufen  lässt,  und  die  Strafgerichte  sind  auch 
nicht  dazu  da,  möglichst  viele  Schuldige  laufen  zu  lassen,  sondern 
im  Gegentheile,  um  dies  thunlichst  zu  verhindern.  Ist  die  Bestrafung 
eines  Unschuldigen  eines  der  grössten  Uebel,  das  menschliche  Un- 
zulänglichkeit verschulden  kann,  so  bedeutet  doch  andererseits  jeder 

ArdÜT  lüi  Krimiaalanthropologi«.  XU.  4 


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50 


IV.  Ijsliweb 


Freisprucli  eint-s  Seliiildi^a'n  ein  Verfehlen  des  Zweckes  der  Straf- 
rech tspfle^re,  und  eine  staatliche  Institution,  die  ihren  Zweck  häufig 
verfehlt,  ist  auch  ein  Un'rlück  für  Stmit  und  (iesellschaft.  Jeder 
Freisprach  oder  unverhäitni.ssniäüsi^  milde  ►Spruch  über  einen  Schul- 
digten ist  ein  Ansporn  für  den  Verbrecher  und  für  die  Anderen  zur 
Begehung  neuer  Uebelthaten,  untergräbt  das  Beehtsbewnsstsein  und 
das  SicherlieitBgeflIbl  der  Allgemeinheit,  das  Wettmam  der  dturch  die 
Uebelthat  Beschldigten  and  Gefährdeten  in  die  an  ihrem  Schutze 
verpflichtete  Staatsgewalt  nnd  läset  dagegen  die  rechtmässige  Bestra- 
fang  anderer  Verbrecher  als  eine  unbillige  Härte  evBcheinen. 

Zweitens  könnte  man  fragen:  „Woraus  geht  herror,  dass  die 
Geschworenengerichte  mit  ihrem  grösseren  Procentsatze  an  Freispra- 
chen Schuldige  freigesprochen  haben?  Vielleicht  haben  im  Gegentheile 
die  Erkenntnissgerichte  mit  ihrem  grösseren  Procentsatze  an  Schuldig- 
sprächen  Unschuldige  verurtheilt  Hierauf  giebt  uns  die  Statistik 
Aber  den  Gebrauch  und  Erfolg  der  Rechtsmittel  Auskunft,  und  wir 
wollen  aus  dem  uns  vorliegenden  Hefte  der  statistischen  Central- 
commission  die  erforderlichen  Ziffern  herausheben. 

Gegen  die  Urtheile  der  Gerichtshöfe  erster  Instanz  (I>kennntniss-, 
Ausnahnis-  und  Geschworenengerichte)  stehen  die  Rechtsmittel  der 
Nichtii;keitsbeschwerde  (an  den  obersten  Gerichts-  als  Cassationshof) 
und  der  Berufuni;  i'i;e;;en  den  Ausspruch  über  die  Strafe  und  über 
<lie  privatrechtlichen  Aussprüche  an  den  Gerichtshof  zweiter  Instanz) 
offen  (§§  2S0--296  und  :i43— 35 1  StPO.).  Die  Ziffern  ül)er  die  Rechts- 
mittel gegen  den  Ausspruch  über  die  pri\ atrechtlichen  Ansprüche 
werden  wir,  als  zu  unserem  Zwecke  nicht  nöthig,  übergehen.  —  Nach 
I  1  des  Gesetzes  vom  31.  December  1877,  RGBl.  Xr.  3  ex  1S78, 
hat  aber  schon  der  Gerichtshof  erster  Instanz  die  gegen  ein  End- 
urtheil  gerichtete  Nichtigkeitsbeschwerde  zurückzuweisen,  1.  wenn  sie 
zu  spät  oder  von  einer  Person  eingebracht  wurde,  der  die  Nichtig- 
keitsbeschwerde nicht  zukommt,  oder  die  auf  dieselbe  yerzichtet  hat; 
2.  wenn  nicht  einer  der  in  der  Strafproceaaordnung  angeführten 
Nichtigkeitsgrttnde  deutlich  und  bestimmt  bezeichnet,  insbesondere 
wenn  der  Thatumstand,  der  den  Nichtigkeitsgrund  bilden  soll*,  nicht 
«usdräcklich  oder  durch  deutliche  Hinweisung  angeführt  ist;  3.  wenn 
die  unter  2.  geforderte  Angabe  nicht  zu  Protokoll  oder  in  einer  von 
einem  Vertheidiger  unterschriebenen  Eingabe  erfolgt. 

Die  Zahl  dieser  schon  in  der  ersten  Instanz  zurückgewiesenen 
Nichtigkeitsbeschwerden  betrug  im  Jahre  l^OS  791.  In  82  Fällen 
wurde  gegen  die  Zurückweisung  der  Nichtigkeitsbeschwerde  von  dem 
im  $  2  des  vorbenaunten  Gesetzes  eingeräumten  Rechtsmittel  der  Be- 


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Laien  als  Stnifrichter. 


61 


schwerde  (ohne  aufschiebende  Wirkunfi;)  an  den  obersten  Gericlits- 
als  Cassationshof  Gebrauch  jremacht,  aber  in  72  Fällen  ohne  Erfolg. 
Die  Statistik  {xiebt  allerdiiiirs  keine  Auskunft  darüber,  ob  unter  den 
schon  in  erster  Instanz  zurückgewiesenen  791  Xichtiy;keitsl)esclnverden 
auch  von  der  Staatsanwaltschaft  eingebrachte  waren,  aber  ein  Blick 
auf  die  oben  angcfülirten  (iründe  des  §  1  des  Gesetzes  vom  IM.  De- 
cenii»er  1S77,  KGBl.  Nr.  3  ex  1878  zur  Zurückweisung  der  Nichtig- 
keitsbeschwerde schon  in  erster  Instanz,  zeigt  klar,  dass  es  sich  hier 
ausschliesslich  oder  doch  fast  ausschliesslich  um  vom  Venirtheiltea 
eingebrachte  Rechtsmittel  handeln  muss. 

NaohBtehende  Tabdle  seigt  die  betreffendes  Daten  der  Jahte  1889 
bis  1898: 


Zahl  der  durch  den 

Zahl  der  gegen  diese  Zurück weisnag 

Jahr 

Gerichtshof  zurück- 

•iagebraohtca  Betehwerdea 

g«wiMeD«a  Kiditig- 

Biit  Erfolg 

ohne  Erfolg 

1889 

640 

14 

94 

1690 

587 

10 

83 

1891 

604 

5 

91 

1892 

656 

5 

64 

1893 

619 

16 

84 

1894 

627 

6 

68 

1895 

672 

69 

1890 

722 

l 

53 

1897 

682 

14 

86 

1898 

791 

10 

72 

Die  Zahl  der  beim  obersten  (ierichts-  als  Cassationshofe  ein- 
gelangten Nichtigkeitsbeschwerden  nimmt  seit  dein  Jahre  1S90  un- 
unterbrochen zu  und  betrug  im  Jahre  189S  1517,  duiLinter  13^7  gegen 
Urtheile  der  Erkenntnissgerichte  und  130  gegen  Urtheile  der  Ge- 
echworenengerichte  0*  Von  den  52045  Urtheilen  der  Erkenntnisa- 
gericfate  im  Jahre  1898  worden  sohin  2.7  Proa,  Ton  den  3201  Ur- 
theilen der  Geschworenengeriehte  in  denuselben  Jahre  4.1  Free,  mit 
dem  Yor  den  obersten  Geriehte-  als  Oassationshof  gebugten  Rechts- 
mittel der  Niohtigkeitsbesohwecde  angefochten. 

Die  folgoide  Tabelle  giebt  eine  Uebersicht  Aber  die  Zahl  und 
Art  der  in  den  Jahren  1888 — 189S  eingelangten  Nichtigkeits- 
beschwerden: 


1)  Ungerechnet  59  Nichti<,'kc>it.s)jeselnverdeQ  zurWahning  dM  üeMtzes,  TOD 
denen  2o  ohne  Wirkung  für  den  Beschuldigten  waren. 

4* 


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52 


IV.  Lblbwbb 


Zahl  der  beim  Cassntionshofe  ein» 
gelangten  Nichtigkeitsbeschwerdea 


iVon  den  eincelangt.  Nichtiukeits- 
jbeschwerden  waren  ergriffen  vom 


Jahr 


gegen  Urtheile  <ler 


PrlTal- 
•nldlgNT 


Staata- 
•nwalt 


An« 
geMagten 


1888 
1889 
1890 

1801 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1806 


82G 
883 
805 
895 
996 
1,030 
1,164 
1,203 
1,242 
1,266 
1,887 


138 
108 
126 
III 
148 
114 
126 
128 
137 
132 
130 


964 
991 
031 

1  noR 

1,144 
1,144 
1,290 
1,331 
1,379 
1,398 
1,517 


134 
133 
189 

146 
159 
174 
182 
228 
172 
192 
211 


4 
4 
4 
4 
5 
6 
8 
9 
8 
8 
18 


826 
854 
788 

856 
980 
964 
1,100 
1,094 
1,199 
1,198 
1,293 


Die  überwieirende  Mehrzahl  der  eingelangten  Xichtigkeits- 
beschwerden,  iiümlich  1293  oder  85.2  Proc.  war  also  aucli  diesmal, 
wie  in  den  früheren  Jahren,  vom  Anfi^eklajsten  ausgeganj^en. 

Wenn  man  zu  den  im  Laufe  des  Jahres  1898  eing:elangten 
1517  Nichtigkeitshcscliwcrden  die  aus  dem  Vorjahre  noch  anbiingi^; 
verbliebenen  123  Nichtigkeitsbeschwerden  hinzuzählt,  so  beziffert  sich 
die  Summe  aller  Nichtigkeitsbeschwerden  gegen  Endurtheile,  über 
die  der  obecato  Geriehts-  als  Oassationsbof  im  Jahre  1898  za  ent- 
scheiden  hatte,  anf  1640  (wobei  jedoch  die  Nichtigkeitsbeschwerden 
zur  Wahrung  des  Gesetzes  nicht  mit  inbegriffen  sind).  Von  den  217 
im  Jahre  1898  erledigten  Nichtigkeitsbeschwerden  def  Staatsanwalt- 
schaft hatten  128  oder  59.0  ProC|  Ton  den  11  erledigten  Nichtige 
keitsbeschwerden  der  PrivatankUlger  3  oder  27.2  Proc.  Erfolg,  hin- 
gegen hatten  Ton  den  1772  eriedigten  Nichtigkeitsbeschwerden  der 
Angeklagten  nur  189  oder  10.7  Proc.  Erfolg.  Diese  Gegen überstellnng 
beweist  klar,  dass  die  Strafgerichte  im  Allgemeinen  zu 
milde  judicirt  haben. 

Dasselbe  Bild  zeigt  die  Betrachtung  der  Ergebnisse  des  Hechts^ 
mittels  der  Berufung:  Die  Zahl  d^  bei  den  Gerichtshöfen  zweiter 
Instanz  eingebrachten  Berufungen  gegen  Urtheile  der  Erkenntniss- 
nnd  Geschworenengerichte  hinsichtlich  der  Strafart  oder  des  Straf- 
ausmasses,  bezw.  des  Anssjjnichs  über  die  privatrechtlichen  Ansprüche 
belief  sich  im  .lalire  Ibüb  auf  ir)52.  (Sie  hat  seit  dem  Jahre  ISSO, 
wo  sie  2290  betrug,  nicht  unerheblich  abgenomnu'n).  Wie  gewöhn- 
lich, so  war  auch  diesmal  der  w  eitaus  grösste  Theil  der  eingelangten 
Berufungen I  nämlich  78.7  Proc  —  von  den  Angeklagten  ergriffen 


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Laien  aU  Stxa£richt«r. 


63 


worden,  doch  nur  in  verhältnissmässijr  sehr  wenifjen  Fällen,  nünilich 
7.9  Proc,  mit  Erfolg.  Dagegen  schliesbt  die  Statistik  aus  dem  in 
der  Kegel  sehr  hoben  Procentsatze  der  erfol^eichen  Berofungen  der 
StaatsanwaUschaft,  daas  die  Straf bem es sung  in  nicht  wenigen 
FftUen  eine  zu  milde  war.  Die  folgende  Tabelle  giebt  eineUeber- 
sieht  iiber  die  Zahl  der  seit  dem  Jahre  1888  bei  den  Oberlandes- 
geriehten  all|jShrlieh  eingelangten  Berofongen  gegen  die  StralnrtheUe 
eiBter  Instanz  nnd  ttber  den  Erfolg,  den  die  von  Seite  der  Staals- 
anwaltBohaf^  besw.  von  Seite  der  Privatankttger,  sowie  von  Seite  der 
Angeklagten  ergriffenen  Berofongen  hatte: 


Jähr 


Zahl  der  bei  den  Oberlaiitii  sjicricbten  einge- 
langtea  Berufougen  gegeu  Urtheile  der  £r- 
kenatala»«  «ad  OeMibworeiMOgeriehte 


SlMta- 
•Bwalt: 


Privat- 
anUigw: 


An. 
geUagten: 


Von  100  Berufungen 
dar 


Staatsan- 
vr  altschaft 


An- 
geklagten 


hatten  Erfolg: 


1888 

170 

3 

1,435 

1,608 

73,5 

6,7 

1889 

150 

9 

1,383 

1,542 

74,0 

7,3 

1890 

157 

2 

1,501 

1,660 

70,Ö 

S,4 

1891 

189 

7 

1,439 

1,635 

00,0 

0,5 

1892 

248 

1 

1,581 

1,830 

68,9 

7,4 

1893 

284 

6 

1,475 

1,765 

70,4 

7,3 

1894 

232 

2 

1,515 

1,749 

72,0 

6,5 

1895 

SSO 

9 

1,414 

1,653 

77,0 

6,3 

1896 

857 

6 

1,300 

1,563 

81,3 

5,6 

1897 

278 

4 

1,476 

1,758 

84,1 

5,7 

1898 

860 

1 

1,301 

1,652 

74,9 

7,9 

Von  den  im  Jahre  1898  eingelangten  1301  Berofongen  der  Ver- 
nrdieüten  waren  1236  oder  95.0  Proo.  gegen  das  Stiafaosmaass  oder 
die  Strafart^  besw.  gegen  die  im  Strafortheile  aosgespioehene  Zolfissig- 
keit  der  Stdlong  des  Abgeortheilten  onter  Polizeiaofsieht  oder  dessen 
Anhaltong  in  einer  Zwangsarbeiteanstalt  gerichtet  (ond  65  oder 
5.0  Proc.  gegen  den  Inhalt  des  Strafortheils  über  die  privatrecfatlicben 
Ansprüche).  Von  ersteren  hatten  88  oder  7.1  Proc.  den  vom  Ver- 
urtbeilten  beabsiclitif^en  Erfolg.  Das  procentoale  Ergebniss  des 
Jiibres  189S  stimmt  mit  dem  Durcbscbnittserf^ehnisse  des  ganzen  Jabr- 
zt  lints  1889  -1S98  übeiein,  wie  sich  aas  den  Ziffern  der  nachstehenden 
Tabelle  ergiebt: 


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64 


IV.  LdOEWBB,  Laien  als  Stnfrichter. 


Zahl  der  bei  den  OberJniidpsLM'richten  einfyclniiKteu  Hern- 
fuDgen,  ergriö'eu  vom  Aogeklagteu  (Verurtheilteu)  gegeo 
di«  Stnliwt  oder  du  Btnhmmmm 


mit  P^rfolir! 

oHn#>  Krfolff  • 

VI  CM%  III  lUJ  \i  U  • 

1889 

95 

1,209 

1,S04 

1890 

112 

1,333 

1,445 

1891 

103 

1,279 

1,382 

1892 

110 

1,406 

1,516 

1893 

07 

1,804 

1.401 

1894 

89 

1,352 

1,441 
1,354 
1,248 

1895 

81 

1,273 

1896 

65 

1,178 

1897 

76 

1,347 

1,423 

1898 

88 

1,148 

1.236 

IMe  Veniiäieilleii  haben  sohin  im  Jahre  1898  an  Nichtigkeite- 
beechwerden  nnd  Bmfangren  znsammen  3008  Rechtsmittel  (ans- 
genommen  die  Berufungen  gegen  die  Stelinng  unter  PolizeianfBicht 
oder  Abgabe  in  die  Zwangsarbeitaanslalt)  an  die  zur  Entscheidung 
benifene  SteUe  gebracht,  jedoch  nur  in  277  Ffillen  mit  Erfolg,  w&hrend 
die  nur  567  Beehtamittel  der  Staatsanwaltschaft  in  390  FUlen  erfolge 
reich  waren. 

Vorstehendes  Ziffemmaterial  Uber  den  Gebrauch  der  Bechtsmittot 
bew^t,  dass  im  Allgemeinon  zu  milde  judicirt  wurde, 
nnd  zwar  auch  schon  von  den  Erkenntoissgerichten.  Die  Divergenz 
zwischen  den  Erkenntnias-  und  den  Geschworenengerichten  hinsicht- 
lich des  Procentsatzes  an  Freisprüchen  ist  also  nicht  etwa  dadurch 
zu  erklären,  dass  die  (leschworenenf^erichte  richtig  judicirt,  hingegen 
«lie  Erkenntnissgerichte  eine  erhebliche  Anzahl  Unschuldiger  ver- 
urtheilt  liätten,  sondern  dadurch,  dass  die  (Geschworenengerichte  einen 
erheblichen  Procentsatz  Schuldiger  freigesprochen  haben.  In  diesem 
erheblichen  Procentsatz  von  Fällen  haben  sich  also  die  Geschworenen- 
gerichte ihrer  Aufgabe  nicht  gewachsen  gezeigt,  und  die  Anzulil 
<lieser  Fälle  ist  eine  so  bedeutende,  dass  man  ihr  Vorkommen  nicht 
mehr  mit  der  Unzulänglichkeit  des  menschlichen  Erkenntniss  venu  ei- 
gens allein  erklären  kann,  umsomehr  als  die  Resultate  der  Thätigkeit 
der  Erkenntniasgerichte  bewasen,  dass  sie  thatsftchlich  mehr  „Er- 
kenntnisB**  besessen  haben,  als  die  Laiengerichte. 


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V. 


Was  ist  heute  noch  von  der  Gaunersprache  im 
praktischen  Gebrauch? 

Dr.  W.  8ehütae,  GiiditmneflBor  in  RoBtock. 

Ueber  das  Wesen  der  Gaunersijrache ,  iibt  r  ilire  Entstehun«; 
schreiben  zu  wollen,  das  hiesse  lieute,  gej^enülier  Av»-  Lalleniant's 
frrundlejrender  Arbeit,  Eulen  nacli  Athen  trairen,  aber  dücli  bietet 
dieser  scbwit-ri^e  Gegenstand  viele  Seiten,  die  stets  von  Neuem  sorg- 
fältig,'«- Beubaclitung  erfordern,  wenn  wir  nicht  ins  Hintertreffen  ge- 
rathen  wollen.  Da  ist  vor  Allem  zu  beachten,  dass  wir  es  mit  einer 
lebenden  Sprache  zu  thun  haben,  mit  einem  Zweig  unserer  deutschen 
Volkssprache,  der  wie  dieser  Stamm  selbst  und  seine  ttbrigen  Yer- 
zw^gungen,  die  Jäger-,  Sehitte^,  Studentensprache  n.  &  w.,  jafarans 
jahr^  neue  SchdBslinge  zeitigt.  Ebenso  ist  ein  fortgesetztes  Ab- 
sterben alter  Thdie  bemerkbar,  und  dass  bei  diesem  Werden  und 
Vergehen  gerade  die  wilden  Schfisse  bauptsficbUch  in  Frage  kommen, 
ist  nur  naturgemSss.  Um  auf  diesen  Vorgang  ttbersicbtliob  binzn- 
weisen,  habe  ich  ans  den  mir  erreichbaren  Sammlungen  älterer  und 
neuerer  Schriftsteller  bei  jedem  von  mir  gebrachten  Wort,  mdglicbst 
der  Zeitfolge  jener  Arbeiten  nach  g:eordnet,  in  eckiger  Klammer  die 
Thatsacli«^  und  Art  des  früheren  Gebrauchs  vermerkt.  Die  bei  Av6 
Laliemant  und  Kluge  abgedruckten  Sammlungen  habe  ich  nach 
diesen  angefülirt,  theils  weil  sie  auch  mir  meist  nicht  anders  zugäng- 
lich waren,  theils,  weil  sie  dort  für  jeden  anderen,  der  vergleichen 
will,  am  bequemsten  erreichbar  sind. 

Schon  die  oberflächliche  Iktrachtun^^  zeii.rt,  dass  in  der  Gauner- 
sprache ein  unjreheurer  Wechsel  stattirefunden  liat.  Einzelne  Worte 
lassen  sich  allerdinjrs  bis  ins  14.  Jahrhundert  zurück  verfoliren,  die 
weitaus  meisten  aber  sind  wesentlich  neueren,  zum  Theil  sehr  neuen 
Ursprungs. 


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66 


T.  SchCtsue 


Das  miiss  um  so  mehr  auffallen,  als  fast  alle  meine  Gewährs« 
mäBD»  derselben  Classe  angehören,  die  seit  jeher  die  Grundlage  der 
Oaunerwelt  und  damit  auch  ihrer  Sprache  gebildet  bat,  dem  gewerbs- 
mässij^en  Bettler-  und  Landstreicherthum.  Diese  I^eute  verwahren 
sich  zwar  meist  Kbhaft  f^e^en  Verwechslung  mit  dem  eigentlichen 
Verhrecherthum  und  behaupten  vielfach  auch,  dass  die  Kunden- 
sprache, d.  Ii.  die  der  fahrenden  Leute  jeder  Art,  von  der  Verbrecher- 
sprache grundsätzlich  verscliieden  sei,  doch  ist  dies  m.  E.  viel 
zu  weit  gegangen.  Oertliclie  Verliültnis.se  werden  hier  natürlich  ein- 
wirken, der  Specialist  wird  besondere  F'achansdrUcke  haben,  die  er 
sein  iSondereigenthum  nennen  kann,  auch  wird  der  sesshafte  Gross- 
stadtyerbrechcr  in  seinen  geschlossenen  Kreisen  ausser  allerhand  Be- 
sonderbeiten  manche  Sprachschätze  consenratiFer  bewahrt  haben,  als 
der  bewegliche  Vagabund,  der  fortwährend  unter  nenen  Eindrücken 
steht,  doch  im  Grossen  nnd  Ganzen  dftrfte  die  Sprache  des  Kunden, 
gerade  weil  er  ttberall  hmkommt  und  in  Herbeigen,  Gefiingnissen  und 
Aibeitshänsem  auch  mit  Verbrechern  jeder  Art  zusammentrifft,  die 
Gauneispiache  am  vollkommensten  widerspiegeln. 

Da  der  Verbrecher  fttr  ihn  der  grosse  Mann,  der  Held  ist,  der 
ihm  mit  yomehmer  Zur&ckhaltnng  begegnet,  nimmt  er  bewundernd 
und  begierig  alles  tou  ihm  auf,  um  selber  dann  wieder  damit  her- 
▼orzntreten.  Ausserdem  sinken  besonders  mit  zunehmoidem  Alter 
und  mit  Hülfe  des  Ikanntweins  viele  dieser  durch's  ganze  Reich  ge- 
kannten und  genannten  Grössen  von  ihrer  unnahbaren  Höhe  herab 
und  gerathen  unter  die  Brüder  von  der  Landstrasse,  so  dass  auch 
dadurch  wieder  etwaige  Sprach  Verschiedenheiten  einen  Ausgleich  er- 
fahren. 

Trotz  dieser  durch  die  Vorflt^afen^'erzeich^isse  vielfach  bestätigten 
Erfahrungen  aber,  und  obwohl  auch  mancher  alte  Verbrecher  im 
engeren  Sinn  mir  Bt'iträge  geliefert  hatj  kann  ich  das  nachfolgende 
Wörterverzeiclmiss  nur  als  eine  »Saninilung  aus  der  Kundensi)rache 
vertreten,  da  sich  mir  in  meiner  Stellung  als  Amtsanwalt  nicht  hin- 
reichend anderes  Mensehenmaterial  geboten  hat,  um  weitergehende 
Behauptungen  aufstellen  zu  können.  Da  aber  jede  Menschenclasse, 
die  auf  unrechten  Wegen  wandelt,  ihren  Anthdl  zu  dem  unzählbaren 
Heer  der  Landfahrer  stellt,  glaube  ich  vor  der  sonst  sehr  nahe- 
liegenden Gefahr  bewahrt  geblieben  zu  sein,  Gaunerworten  von  all- 
gemdnerer  Bedeutung  einen  yerengerten  Smn  unterzulegen,  wie  er 
yielleicht  gerade  einer  besonderen  Verbrecherdasse  entspricht,  mit 
der  man  hauptsfichlich  zu  thun  hat.  So  sind  z.  B.  fast  alle  Ton 
Roscher  in  Gross'  Archiv  Bd.  3,  S.  277 f.  gebrachten  Ausdrücke  m 


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Was  ist  bente  noch  von  der  G«ttiieiq»i«die  im  pnktiachen  Gebrauch?  57 

ihrer  Ueberselziin^'  auf  Zuhälter  und  Bauernfänger  zufi:('Sclinitton. 
Dass  solche  unzutreffenden  Ein8chränkunfj;en  in  der  Ilantl  des  Prak- 
tikers, der  sich  auf  sie  verlässt,  'grossen  Schaden  anrichten  krmnen, 
liegt  auf  der  Hand.  Finde  ich  z.  B.  in  dem  Tagebuch  eines  nicht 
mit  Arbeitsanswasen  gesegneten  HenselieD,  er  habe  die  letastm 
14  Tage  Kohldampf  schieben  mllBaen  und  übenetze  mir  dies  nach 
Boflcher  dahin,  dass  er  während  dieser  Zeit  als  Zuhälter  ohne 
lYauenzimmer  gewesen  und  daher  kein  Geld  gehabt  habOi  so  ist  der 
Mann  dadurch  mit  einer  durch  nichts  begrilndetien  Untersuchung  auf 
Zuhälterei  bedroht,  die  ausserdem  von  der  richtigen  Spur  ableitet. 
Gerade  darin  steckt  aber  ein  sehr  wesentlicher  Thdl  des  Nutzens» 
den  solche  Wortverzeichnisse  haben,  dass  der  Praktiker  sich  un« 
bedingt  auf  sie  verlassen  kann. 

Jeder  Gensdarni  und  jeder  staatsanwaltschaftliche  Beamte  muss, 
wenn  er  seinen  Pflichten  gerecht  werden  will,  vor  Allem  die  Papiere, 
d*  b.  auch  die  Briefe  und  die  auffallend  häufig  anzutreffenden  Tage- 
bücher der  ihm  verdächtigen  oder  eingelieferten  Personen  sorgfältig 
prüfen.  Steht  in  diesen  etwas  für  die  Untersuchung  Wesentliches, 
und  er  verwendet  es  nicht,  so  hat  er  von  vornlierein  jede  Autorität 
dem  Gegner  gegenüber  verloren,  der  ihn  schnell  und  fachkundig 
unter  die  niclit  sonderHch  zu  fürclitende  grosse  Gruppe  der  Pfuscher 
und  Sclinellfabrikanten  einreiht.  Da-s  sorgfältigste  Nachsehen  anderer- 
seits nützt  nichts,  wenn  wie  gewöhnlich  viel  Kundensprache  drin  vor- 
kommt, und  für  diese  der  richtige  Schlüssel  fehlt  Um  diesem  Zweck 
dienen  zu  können  muas  unsere  Wortkunde  bei  dem  grossen  Wechsel 
in  der  Spnushe  in  nicht  zu  grossen  Zeitafaständen  immer  wieder  einer 
eingebenden  Prüfung  unterzogen  werden.  Einen  gewissen  Werth  hat 
es  ausserdem  schon,  dass  man  auch  nur  weiss,  der  Betreffende  kennt 
die  Gannersprache,  wenngleidi  ich  nidit  so  weitgehende  Schlüsse 
daraus  ziehen  mdchte  wie  Gross,  Handbuch  3.  Aufl.,  S.  288,  da 
me  wenigstens  theiiweise  Kenntniss  der  Gaunersprache  sich  bei  deren 
grosser  Tofbreitung  unter  den  Handwerksgesellen  zuweilen  bei  völlig 
harmlosen  Menschen  findet,  die  thatsächlich  noch  nie  mit  dem  Ge- 
richt in  Berührung  gekommen  sind  und  nur  auf  der  Wanderschaft 
und  in  den  Herbergen  manche  Brocken  aufgeschnappt  haben. 

Da  ich  erst  seit  wenig  über  ein  Jahr  habe  sammeln  können,  so 
kann  mein  Verzeichniss  auf  Vollständigkeit,  die  keiner  Nachträge  be- 
dürfte, natürlich  keinen  Ansj)rueh  machen,  doch  glaube  ich,  dass  icli 
trotzdem  die  hauptsäcIiHch  i:i'!)räuchlichen  Ausdrücke  ziemlich  er- 
schöpfend kennen  gelernt  liabe,  da  mir  in  den  letzten  Monaten  wenig 
Keu^  begegnet  ist,  obgleich  die  günstige  Lage  Kostocks  auf  der 


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68 


V.  Schütze 


Dnrchsugsstraase  an  des  Eflste  ein  liemlieh  nmfangreiehee  Menseben- 
Quiterial  —  im  Winter  bis  14  Einlief emngen  am  Tag  —  bietet  von  dem 
allerdings  nur  ein  kleiner  Tbeil  und  aneh  dieser  erst  naeli  soig- 
fältigster  Vorprüfung  für  diese  Zwecke  verwendbar  ist. 

Aueh  bin  ich  zu  der  l'eberzengunp:  gelangt,  dass  der  Reichthnm 
der  Gaunersprache,  die  ihren  Höhepunkt  scheinbar  um  die  Zeit  von 
1820  —  1840  herumhatte,  in  der  Kariiiayer  sein  FreistädttT  Oiossar 
sammelte,  ganz  bedeutend  im  Rückgang  begriffen  ist  ,  denn  nur  eine 
verhültnissmässig  kloine  Zahl  von  Worten  der  früheren  umfangreichen 
Sammhingen  ist  scheinbar  den  heutigen  Kunden  noch  bekannt,  ol)- 
wühl  manche  unter  meinen  <.ie\viihrsleuten .  besonders  aus  gebildeten 
Kreisen  stammende,  dieser  Sprache  offenbar  seit  längerer  Zeit  eine 
gewisse  liel)evolle  Aufmerksamkeit  hatten  zu  Theil  werden  lassen, 
wie  man  sie  etwa  absterbenden  heimathlichen  Volksgebräuchen  wiihnet. 

Bei  der  Zusammenstellung  habe  ich  keinen  Ausdruck  berück- 
sichtigt, der  mir  nicht  mehrfach  selbstständig  als  noch  jetzt  in  leben- 
digem  Gebmnoh  entgegengetreten  war,  so  dass  icb  vor  den  dnrdians 
nicht  seltenen,  theils  nnbeabsiehtigten,  theils  böswilligen  Tänschnngen 
bewahrt  zn  sein  hoffe,  andererseits  habe  ich  auch  einzelne  Worte 
aufgenommen,  die  m.  A.  nicht  ansscbliesslich  der  Knndenspxache  an- 
gehören, da  es  für  die  hochwichtige  psychologische  Benrtheilnng  von 
wesentlicher  Bedentnng  ist,  zu  sehen,  ans  welchen  Gebieten  der  Kunde 
seinen  Sprachschatz  zu  bereichem  sucht  Aus  diesem  Grande  dürften 
auch  dii  Ableitungen  und  Erklärungen  interessiren,  die  er  sieli  selber 
für  seine  Redewendungen  zurechtlegt,  wenn  auch  vielfach  offenbar 
unrichtig,  üeberhaupt  ergeben  die  Umformungen,  die  ein  ^Vort  sich 
im  Laufe  der  Zeit  hat  gefallen  lassen  müssen,  sehr  häufig,  dnss  der 
Verkeiir  sich  doch  geru  bei  den  ihm  unverständlichen,  weil  ursprüng- 
lich z.  ß.  hebräischen  oder  lateinischen  Worten  etwas  hat  denken 
wollen,  sie  deshalb  an  ähnlieh  klingende  meist  ganz  etwas  anderes 
bedeutende  deutsche  Ausdriieke  angelehnt  und  naeh  deren  Sinn  aus- 
gelegt hat.  Sehr  bezeichnend  ist  in  dieser  Beziehung  z.  B.  das  Wort 
Socher,  das  nach  Av6  I^llemant  tu  a.  ü.  Bd.  4,  S.  117  im  Hebräischen 
=  Kaufmann  ist  und  mit  ,,Sochar*'  zusammenhängt,  er  ist  umher- 
gezogen, besonders  in  Handelsgeschäften,  um  zu  kaufen  und  zu  ver- 
kaufen, und  das  auch  in  der  Kundensi)rache :  Kaufmann  bedeutet 
Statt  dessen  haben  mir  mehrere  Personen,  die  nichts  von  einander 
ahnen  konnten,  den  Ausdruck  ^Sucher*^  gegeben  und  schliesslich 
stellte  sich  die  zweifellos  gutgläubige  Erklärung  ein:  das  sei  ein 
Spottname  anf  die  Noth  des  heutigen  Provisionsrasenden,  der  in  jedem 
Nest  und  jedem  Winkel  hemm  suchen  müsse,  ob  er  nicht  noch  Be- 


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Was  ist  heute  noch  vun  der  CSauoenprache  im  praktischen  Gebrauch?  69 


steller  finde.  Aebnlich  dürfte  es  nm  das  Wort  ;yfehmeni''  stehen  und 
sieher  um  die  Ausdracke  Kohl,  Kohl  reissen,  Kohl  pflanzen  =  blauen 
Dunst  Toimaehen,  die  nach  Atö  Lallemant  mit  unserem  deutschen 
Wort  Kohl  flbeeaU  nichts  zu  thun  haben,  sondern  von  dem  hebrä- 
ischen kolf  Mehrzahl  kolos  abzuleiten  sind  —  die  Stimme,  das  6e- 
rttchl^  der  Sohall|  lis^  Finte^  alles  was  man  zum  Schon  thut  (V^. 
A.  Lb  a.  a.  0.  Bd.  4,  S.  447,  561.)  Andere  Bdspiele  bieten  die  Worte 
Kahn  Bett,  nach  Ay6  lallemant Gefilngniss  vom  hebräischen 
kaan  =  hier  (A.L.  a.  a.  0.  Bd.  4,  S.  387,  552),  Moos  =  Geld,  Plural 
vom  hebräischen  moo  «=  Steinchen,  Pfennig  (vgl.  A.  U  a.  a.  0.  Bd.  4, 
S.  405,  575),  Kies  —  (^cld  von  kis  =  Beutel,  Sickel  (A.  L.  a.  a.  0. 
Bd.  4,  S.  3S9,  558),  schwäclien  =  trinken  von  sowach  =  schlachten, 
opfern  (vgl.  A.  L.  a.  a.  0.  Bd.  4,  S.  007),  Schmiere  —  Polizei  von 
Ischoinar  =—  er  hat  behütet,  bewacht  (vgl.  A.  T..  a.  a.  0.  Bd.  4,  S.  472, 
596),  Knast  =■  Gefängnissstrafe,  Urtheil  von  konas  ==  er  hat  bestraft 
(VL'I.  A.  L.  a.  a.  0.  Bd.  l,  S.  449,  559),  Kaff,  Kaffer  =  Dorf,  Bauer 
von  kt'|iliur  —  Dorf,  kaplier  =  Bauer  (A.  L.  a.  a.  0.  Bd.  4,  S.  392  unter 
kophar  und  S.  555  unter  Kefar),  Katzliof  ==  Fleischer  von  kazow  = 
Fleisciior  (A.  L.  a.  a.  0.  Bd.  4,  S,  450  unter  kozaw  und  S.  555  unter 
kazow)  u.  a.  Wo  solche  Anlehnung  an  l)ekannte  Worte  fehlt,  wird 
der  unverstandene  Ausdruck  vielfach  unsicher  im  Gebrauch.  So 
findet  sich  z.  B.  Poscher  (von  poschat  =  geplündert,  poschut  =« 
Pfennig,  Kleinigkeit,  A.  L.  a.  a.  0.  Bd.  4,  S.  438  unter  poschat,  S.  586 
unter  poschut)  bald  « 1  Pfennig,  bald  —  Groschen.  Ebenso  herrscht  ün- 
Sicherheit  im  Gebrauch,  wo  es  sich  zwar  um  eigentlich  deutsche  Worte 
handelt,  die  aber  auf  den  widerzugebenden  Begriff  nicht  nothwendig 
hinweisen,  so  wird  für  Hose  bald  Weitling,  bald  Streifling  gebraucht. 

Aus  allen  diesen  Gründen  ist  eine  zweifelsfreie  etjrmologische 
Ableitung  oft  kaum  möglich;  wenn  sich  diesbezügliche  Erklfinmgen 
bei  A.  L.  finden,  habe  ich  auf  ihn  verwiesen. 

Die  eingehende  Bezugnah  nie  auf  frühere  Quellen  soll  in  Zweifels- 
fallen dem  Praktiker  eine  sichere  Handhabe  bieten  und  wird  in  ihrer 
Zusammenstellung,  hoffe  ich,  zum  Verständniss  der  Psychologie  der 
Gaunersprache  beitragen.  In  dieser  Beziehung  ist  besonders  der  Ver- 
gleich mit  den  Krämersprachen  interessant,  die  viel  Verwandtes 
zeigen,  in  nianclion  Fällen  aber  den  Worten  eine  völlig:  alnvcichonde 
Bedeutung  beilegen.  So  heisst  Gallaeh,  das  von  altersher  überall  == 
Priester  ist,  hier  plötzlich  Kaufnuiun,  und  niasseniat,  das  nie  etwas 
Anderes  bedeutet  hat  als  l)icbstahl.  Einbruch,  heisst  hier  „(Jeschäft*'. 
Da  auch  die  englische  Volks-  und  besonders  ( Jauut  rsprach»'  bezeich- 
nende Lichter  auf  die  Internationalitüt  mancher  dieser  Wortbildungen 


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60  V.  ScbCtde 


wirft,  habe  icli  auch  diese  zum  Verfrleich  heranfrozojren,  soweit  es 
an  der  Hand  von  Ii.  Bau  mann 's  ^  Londonismen"  möglich  war. 
Die  nHauptvermitUer''  des  Gaanertbams  scheinen  auch  beim  Ver- 
gleich dieser  beiden  Sprachen  wieddr  die  Juden  gewesen  za  sdn. 

Zum  Schlosse  mOchte  ich  nochmals  darauf  hinweisen,  dass  sämmt- 
liehe  im  Folgenden  Ton  mir  gebrachten  Worte  mir  im  lebendigen 
Oebraneh  entgegengetreten  sind. 

Der  Baumersparniss  und  Uebersichtlichkeit  wegen  habe  ich  fol- 
gende Abkürzungen  gebraucht: 

Kl  —  Rotiiwelsch.  Qnellen  und  Wortschttz  der  Gannersprache  und  der  ver- 
wandten Colieinispradien  Ton  Friedridi  Klttge,  Bd.  1  StnMbtug  1901  ist 

steU  nur  Kl.  zitiert. 

A.  L.      Friedridi  Christian  Benedict  Av6  Lallemant,  Das  deutsche  GUumer- 

thum  iu  seiner  su/ialpolitischen  und  lingiiistisehen  AuabüdllDg  ZU  aelneiii 
heutipron  Bestand»',  Leipzig  lb5&— lb62,  Bde.  1—4. 

Steht  nur  A.  L.  ohne  Band-  und  Sdtenangabe,  so  ist  das  Wörteihnch 

in  hd.  4  S.  r>i:»ff.  pomoint. 
Gr.  —  Wrirtorltueli  in   (iross.  Handbuch  für  L'utersuchuupsrichter,  3.  Aufl. 
S.  2!)2  ff. 

L  V.  —  Uber  vagatorum,  3.  Teil,  vocabnhuius  bei  A.  L.  Bd.  1  &  Iblff. 

B.  0.     Der  Betlerordon  und  or  Vokabular  in  roth welsch,  S.  Teil  —  Vocabn- 

larin.<  hei  A.  L.  Bd.  1  S.  21)2  ff. 
Deecko  =  Daa  Deecke'sche  Manuskript  aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  mit 
WSrterbneh.  Letztere»  bei  A.  L.  Bd.  8  S.  24Sff. 

Chrysander      Grammatik  bei  A  L.  B.  3  S.  404  ff. 

Fr.  Gl.  -=  (iauner^ilossar  der  l'reistüdter  Uandsclirift  von  Kajciau  Karmeyer, 
.Tenniseh  =  Deutseh,  bei  (iroas,  Arabiv  B.  2  S.  84—112,  Bd.  8  S.  129—192, 

S.3ü5— 33Ü,  Bd.  4  8.  273— :!00. 
Fr.  G.-Gl.  —  Da.H8elbe  Gaunerisch-Deutsch  ebendort  Bd.  4  8.301-804,  Bd.  5 
S.  131— H>2. 

Lmdenbeig  Berliner  Polizei  und  Verbrechertbum  von  Paul  Liudeubeig,  Leipzig 
1891,  Kedam. 

Bawniann,  T/uidonlsmen  (Slan;^  und  Cant).  Wörterbuch  der  Londoner  Volksprache 
sowie  der  üblichsten  (<ann(<r-  u.  s.  w.  Ausdrücke  von  Ii.  liaumann,  2.  Aufl., 
Beriin  1902. 

1350  =  Dietmar  von  MiM  kiOiach  bei  Kl  S.  2. 

1450  =  Die  Baseler  BctriijLrnisöe  der  Gvler  bei  Kl.  S.  bff. 

14<H»  =  (Jerold  Edlibach  bei  Kl.  S.  19f. 

1516  —  Gengenbach  bei  Kl.  S.  S». 

1593  =  Fischait  bei  Kl.  112f. 

1597  —  Bon.  Vulcannis  bei  Kl.  8.  UM  ff. 

13i9S  ■>  Die  Sprache  der  Lanzknechte  bei  Kieiu;  bei  Kl.  S.  Höf. 
1608  —  Baa  l^ederHlndische  Lied  bei  Kl.  S.  122  ff. 

KUr.  =  V.  Wallhansen  bei  Kl.  S.  129f. 
1616  —  Andrea  bei  Kl.  8.  lauf. 
1620  —  Scbwenter  s  8teiran..l(.^'ia  bei  KL  S.  I32lf. 
1628  «SS  Sneciiu-i  bei  Kl.  S.  IM. 
1640  —  Möschen  »seh  bei  Kl.  8.  l.".2ff. 
*  1Ü52  —  Wencel  8(lu  rff.  r  bei  Kl.  8.  i:.5. 
16b7  =-  Wahlerei  des  Andreas  Hempel  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  93  ff. 
1691  =  Ludolf  bei  Kl.  8.  172  ff. 
1714  ==  Griindlirlic  Nadiriclit  bei  Kl.  8.  IT'Hf. 
1716  <^  Lips  TuUians  Leben  bei  Kl.  ä.  17b ff. 
1722  —  Waldheimer  Rothwelsche  Lexikon  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  118fr. 
172:!      D.K  I  'uisbnrjxer  Vokabular  bei  A.  L.  B.  4  S.  105f. 
1733  —  Bas  ier  Glossar  bei  Kl.  Ö.  177  ff. 


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Wm  ist  hente  noch  von  der  GannerBpraehe  im  pnkdscben  Gebianeh?  61 


1785  —  Die  Koburjjer  Desi^untitui  bei  Kl.  S.  203 ff. 

1787  —  Der  jüdische  BaldODer  bei  KI.  S.  205 ff. 

1745      DsL&  Hildburghnnsener  Wörterbuch  bei  A.L.  Bd.  4  &  151  ff. 

1747  —  Da»  Strelitzer  Glossar  bei  Kl.  S.  213  f. 

1T50  «>  Da:*  Würterliurli  von  St  <M>()r<:('n  am  See  bei  A.  L.  Btl.  4  S.  l.Slff. 
1753/5  —  >teue  ErwoitcruDgen  der  Erkenntuias  nnd  dee  Vorgänge»  bei  KL 
8*  285  ff. 

1755  —  Kotliwelsohc  rJrammatik  bei  Kl.  8.2STff. 
1764  —  V.  Ki'itzenstein  bei  Kl.  S.  237  ff. 
1TS7  —  Sulzer  Zijceunerliste  bei  Kl.  S.  25i)  ff. 

1791  «  Worterbuch  de«  Constanzer  Hans  bei  A.  I..  T?d.  4  S.  IfiTff. 

1793  •=  tSchäffcr,  Abriss  tlcs  .Jauner-  und  Bcttchveseus  io  Schwabeu  bei  A.  L. 

Bd.  4  S.  17!>ff.,  bei  Kl.  S.  268 ff. 
Ib04  »  Bec'icer,  Alctenmisauge  Gcscliicbte  u.  s.  w.  bei  KL  S.  275f. 
1804a  —  Reichsanzeiger  von  1804  bei  KL  b.276ff. 
1S07  —  Wörter\  erzeichniss  von  Mcjer  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  184ff. 
1S07  a  —  Schiutermichel  bei  Kl.  5.  2b7. 

1812  —  Pfister,  AktenmSssige  Geschichte  der  Räuberbanden  an  den  beiden  Ufern 

des  Mains,  deren  W("rter\  eiv.eichniss  bei  A.  L.  Bd.  4  8. 1991f. 
1^^2a  «=  Ein  schiesischer  Häubcrproze^^s  bei  Kl.  8.292 ff. 
Ibl3  M  Sprache  der  i?charfrieliter  bei  Kl.  Ö.  307 ff. 

ISlSa  —  V.  Crolnians.  Alctenmä.ssi<^e  (ietichiehte  u.  s.  w.  bei  Kl.  S,  ;n'*ff. 

1514  —  ('.  1).  Lliristenscn :  Alphabetisches  V'craeichniss  einer  Anzalil  \  oii  Käubern, 

Dieben  u.  s.  w.   Worten'eraeichnis  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  199  ff. 

1515  mm  ti.L.  Hermann,  Kurze  Geecliichte  des  Kriminaiproaeeasee  wider  den  Brand- 

stifter Johann  Christoph  Peter  Horst  n.  s.  w.  Wftrterv«rseichni88  bei  A.  L. 

Bd.  4  S.  226  ff. 

Ib2ü  »  Diebs-  und  iiäubersignalement  und  J auner- Wörterbuch,  herauagegeben 
zu  Pfnllendorf.  WSrterverzeicbnis  bei  A.  L.  Bd.  4  8.  282 ff. 

lS20a  =  Hittler.  Gaunerstreiche  u.  s.  w.  bei  KI.  y.  34r). 

l'siub  —  Schwenken.  Notizen  über  die  btriiclitigaten  jüditschen  Gauner  u.  s.  w. 

bei  Kl.  s.  :U7. 
iViOc  -=  Briinity;  Hncyklopädie  bei  Kl.  S.  34s ff. 
l*>2üd  —  bpitzbubeuäprache  vulgu  Handthierka  bei  Kl.  S.  353  ff. 
1821  —  Pucbmayer,  Urammatilc  nnd  Wflitabacii  der  Zigeunwvpnche  bei  KL 

S.  365 f. 

1928  »  btnhimftller,  YollstSttdlge  Nachrichten  über  eine  poKzdlidie  Untenodiang 

II.  j«.  w.  bei  KI.  i>.  359  ff. 
Ib2b  —  Pfeiffer,  AtLtemuät^eige  Nachrichten  bei  Kl.  S.  M(i2f. 
1680  «  PUlwdn,  Gesdiichtc,  Geographie  und  ^^tati^tik  bei  Kl.  S.  365 f. 
1840  —  Sclilemnier.  Per  praktische  Kriiiiinal-Folizei-Beauite  bei  KL  8.867ff. 

1846  —  Berliner  I'inien-  und  Dicbsspraclie  bei  Kl.  S.  371f. 

1"»47  =  Zimmermann,  Die  Didn'  in  Berlin  u.  »^.w.  bei  Kl.  S.  372  ff. 

1847  a  »  CastoUi,  Wörterbuch  der  Mundart  in  Uaterreicb  anter  der  £nna  bei  Kl. 

S.  890  ff. 

l-^öl  —  Kud.  Frühlidi,  Die  t,'cf;ilirli(licn  Klassen  Wiens  bei  KL  8.392ff. 

Ib56  mm  V.  P.,  Die  Kunden  und  ihr  Treiben  bei  Kl.  b.  4 14  ff. 

1886  «  Wiener  Diniensprache  bei  Kl.  8.  4iefr. 

Knndenapr.  I      Wagnt-r.  Kotliwelsche  Studien  bei  Kl.  S.  421. 

—  n  —  Otto  Buckel,  Deut.>iche  Y(>lk»lieder  aus  Uberhessen  bei  Kl.  S.  421. 
.  —         III  =»  Kocholl.  6  Monate  Vagabund  bei  Kl.  S.  424  ff. 

—  IV  —  Linke.  Deutsches  Handwerksburschcn-Lexikon  bei  Kl.  8.  430ff. 
Krimerspr.  I  =>  Das  Pleis«*len  der  Kilierthäler  bei  Kl.  h.  434 ff. 

—  II  =  Die  8prache  der  Pfälzer  Händler  hei  KI.  S.  487  ff. 

—  III  —  Grimme  und  Kluge,  Winterfelder  Ilauttirersprache  bei  KL  8. 4S9ff. 

—  IV  —  Gundermann,  Die  Frickhöfer  Sprache  bei  Kl.  8.  442. 

—  V  M  Der  Schlü-'sol  /um  Krämerlatciu  oder  kune  Anleitung  zum 

Uennese-Fleck  der  Breveilcr  bei  KL  6. 44ttff. 

—  VI  »  Die  schwibisehe  HSodlersprache  bei  Kl.  8.  476ff. 

—  VII  —  Simon  Salonion,  Das  Jenisch  der  Eitler  Hansircr  bei  Kl.  S.  490f. 
Lebende»  Kothwelbch  <->  Uoyer,  liallächcr  Lattcberschmus  bei  Kl.  ä.  491  ff. 


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68 


V.  Schütze 


Acht,  die  (v^l.  Arnispan^cn.  Hret/.i'l.  Fiidisc,  Man- 
wlu'ttcn,  Rosenkranz;  genauer  am  liänd^cl  gehen). 

Achtgroschonjungo,  der  [Ldbg.  B'U  =  Vigi- 
lant.  Spfthcr  derPolizeh  Gr.  —  PoHzeispion,  Ge- 

li('iiiip(»!izi<tl 

A  c  h  t  b  a  1  b  c  r ,  der  (in  Westpreu&^u,  besundcrs  Tlium, 
Gollap  ond  Umgegend) 


Äffchen,  das«  (vgl.  Kadett!  (Rosdier  io  Oron,  Ar- 
chiv Bd.  3,  S.  27H:  I»i  r  iMinime.  der  froriipft  wer- 
den soll  —  zu  eng —  Kuiidenspr.  J]l  bei  Kl.  S.  424 : 
junger  Handwericsbandie  In  guter  Kleidungl 

Affenfett,  das 

Anhauen  |Kimdoni*pr.  III  bei  KI.  S.  424  um 
etwas  besonders  Wünschensworthcs  extra  bitton. 
Gr.:  bittm,  anbettdn]  (vgl.  fechten) 

Arbeiten  (v<rl.  l»e/.iipfen)  fls4ri  bei  Kl.  Ö.  372  — 
Proetitutinii  irciiicii  -  zu  eii^'  — ;  A. L.:  Arbeit 
=  Diebshuiidwerk,  stehlen,  betrugen] 

Arm  Spangen,  die  (vgl.  Acht)  iBaumann,  Ix)ndo- 
ni^mcn  u.  ■.  w.:  braodetB  »  HandecheUen.  Eben- 
so Gr.l 

A  raeh  k  ratz  er ,  der  (5^.  Doktor,  Schaber,  Sdianm- 

litttM*,  SchnauzenschlajLTer,  VersclionenmjLTsrath) 
Asche,  die.  blanke,  rothe,  schwarze.  (Vgl. 

Blech,  Draht,  Kies,  Kitt,  Mesumme.  .Monne,  Mous, 

Pulver,  Zaster,  Ziinmt,  Zinsen)  iKuiidenspr.  II  bei 

Kl.  8.422  Asche  =  Geld;  ebenso  Kundenspr.  III 

und  IV  dort  S.  424  bczw.  430,  letztere  auch: 

rotho,  blanke,  weisse  Asche  —  Kujjfer-,  Nickel-, 

Silberjreld.    Lcbd.  Uotliw.  dort  S.  491  Asche  ■» 

(Jehl,  ebenso  I.illiir.         und  Gr.)    Vgl.  in  der 

englischen  Gaunersprache  red  clock  »goldene, 

white  clock     ailbeme  Uhr,  mddy  «  Goldgeid 

bei  Baumann,  T.ondonismen. 
Die  Asche  ist  verbrannt  Das  Geld  ist  dui-chgebracht. 

Angnst,  blanker,  auch  weisser  oder  gelber,  Genadaim. 

wenn  er  weisses  oder  gelbes  RieuHSUSong  tiflgt 

(\gl.  Blitzableiter) 

Baldowern  11T87  bei  Kl.  S.  206  Baldower  »  An-   anakundsehafton,  wo  etwas 

Seber;  1747  dort?.  214 Auskundschafter;  1804a  BU  machen  ist 
ort  S.  277  und  lsi»T  Balltover  dort  S.  2S4  eben- 
so; 1S12  baldowern  -=  verrathen,  entdecken  bei 
A.  L.  Bd.  4,  199;  181h  baldoTem  <-  auskund- 
schaften Bd.  4,  S.  22«  dort;  l&20c  bei  Kl.  S.  84S 
baldowern  cb.ii>.i;  .lesjjl.  \^'l?>  dort  S  .'If)!);  1S2S 
dort  S  3t>2  Baldower  einer,  der  Gelegenheit 
znm  Diebstahl  anssieht;  Fr.  Gl.  baldowein  —  aus- 
kiuidsclianeii .  entdecken,  besonders  die  Gelej^en- 
heit  zu  einem  Diebstahl,  behaupten,  .ingeben; 
1S46  bei  Kl.  S.  .HT2  baldowern  anskundsehaften; 
1*«IT  dni-t  S.  :tT.-!  Hahbtwor  ^  Kundschafter;  1S51 
l)aid(>wern  =  nachweiM-n.  anweisen.  1  >iclis{;elcjxen- 
hcit  erkunden  und  mittheilen,  dort  S  i'.tl;  A.  L., 
Kundcnspracho  III  bei  Kl.  S.  4i24,  Liudcnberg  1S91  ' 
und  Gr.:  ausbaldowern      auskundschaften;  Ab-  \ 


Handschellen. 
Zutrfiger  der  Polizw. 


1  25  Pf.  —  2 '/ j-Groschenstfiek 
(angeblich  Rest  der  alten 
'    polnischen  Guldeowih- 
I  ning). 

I  junge  unerfahrene  Hand- 
werkslmrschen ,  beson 
ders  wenn  sie  nocJ»  nett 
und  saaber  augezogm 
sind. 
Schmalz. 
I  betteln,  als  erste  milde  Au- 
frage, will  der  Botref- 
fende nidit  geben,  so 
bohrt  man. 
'  einbrechen,  nach  Anden) 
all-jemein         auf  böse 
'     Wege  gchcu. 
Handschellen. 


Bari>ier. 

Geld,  6ilber-,Gold-,  Kupfcr- 
geld. 


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WaB  bt  heute  noch  von  der  Gannenpraohe  im  piaktidien  Gebrauch?  63 


leitnn^''  au^  «lern  Jüdischen  bei  A.  L.  unter  au8- 
bal(lo\v(>rn. 

Banka  i  lu'it  (vfjl.  Knacker)  machen  iKnndcnspr. 
II  bfi  Ki.  S.  422  Baukarbcit  —  auf  ik-r  Bank 
schhifen;  III  dort  S.  421  =  auch  auf  Tisch  und 
blankem  Fassboden;  IV  dort:  B.  machen  auf 
Bank,  Tioch,  blomer  Dfele  schlafen  8. 480) 

bc'blul»bert  ivg'l.  be*chni(irti 

Beiuliuge,  die  (KunUenspr.  II  und  III  bei  Kl. 
S.  432,  424:  Beinlinge  —  StrQmpfe] 


Berg-  und  Thal versctzer  [Kundenspr.  III  bei 
KI.  S.  424  Benennung  für  die,  die  kein  eigcut- 
lichc^i  Ge::<cliäft  betreiben,  oder  daa  frfiher  erlernte 
versessen  haben] 

Herl  fn er.  der  (anch  Charlottenbni^r,  Potsdamer, 
in  Oesterrt'icli  IJniidi  =  Kanzcn.  Rande,  l)('sondei*s 
von  den  Schmieden  iji  Ocsterr.  gebraucht)  |Kun- 
denspr.  II  bei  Kl.  S.  422  „Felleisen",-  III  «Reise- 
bündcl-,  dort  S.  4'J4:  IV  dort  S.  430  =  gewöhn- 
licher Ausdruck  für  ilaudgepäck  jeder  Art;  Krä- 
merapr.  VI  —  Baosen  S.  4S5  dort] 


Beachaskert  (vgl.  beachmort  [Deecke  bei  A.  L. 

Bd.  8,  S.  250  schassgcncn  —  trinken  ;  ClirA  siander 
dort  Bd.  3.  S.  405  schasgen  ebenso;  desgl.  Isl2 
dort  Bd.  4.  S.  2Ui  schassgenen  und  Fr.  Gl. :  schaj*- 
kenen,Bcba8kelen;  li>2üc  uei  Ki.  S.  349:  liekaskert 
—  besoffen,  betrunken,  alto  Spradie  beachöchert; 
A.  L.  aui^sdiasiijcnon  =  austrinken,  auszechen, 
bckaskcrt  -  betrunken;  Kundenspr.  III  bei  Kl. 
8.  424  beeehaskert,  Krämerspr.  11  dort  S.43S  be- 
schassnet  =  botninken;  Krämerspr.  III  sciiaskera 
triukcD  dort  S.  447;  Ableitung  aus  dem  Jü- 
dischen vgl.  bei  A.  L. 

Bcechmort  (v^l.  beblubbert,  beschaskert.  be- 
schwabbelt, Blasen  an  den  Füsseu,  duhu,  fett,  zu 
schwer  geladen,  .schicker,  solig,  im  Tritt)  [ebenao 
Kundenspr.  UI  bei  Kl.  S.  424.J 

besch wabbelt  (vgl.  bcsdimort)  [ebenso  Kunden- 

Iii  Itci  Kl.  S.  42S1 
b  e  s  e  i  b  e  1  u  i\'gl.  kaspern) 

bezupfen  (vgl.  angän,  arbeiten,  gampfen,  klauen, 

klemmen,  mausen.  iiKiu'cIn.  nioggeln,  mopsen, 
stippen,  zotteln»  [l.')H^  zupfen  ==  stehlen,  zugreiffen 
bei  Kl.  Uli:  \:\Ki  dort  S.  271  ^-  nehmen;  1820 
bei  A.  L.  Bd.  4,  &.  233,  243  bezopfen  —  ans- 
pl&ndom,  stehlen;  lS20c  bei  Kl.  S.  853  zuppen — 
sieh  jemanden  zum  Beischl.nfer  nehmen;  ls2*«  dort 
&  3t>3  zoppen  »  sidi  in  die  Häuser  schleichen 
und  stehlen :  FV.  Gl.  zopfcn  herausziehen,  heim- 
lich nohnu'ii.  erwischen,  entwenden  ;  .V.L.  zupfen, 
zuppcu,  zoupeu  »=  ziehen,  hi>suiuU>rs  aus  der  Ta.schc 
atMuen;  Kundenspr.  II  bei  Kl.  s.  4*24  —  zupfen 
stehlen;  Kranicrspr.  I  dort  Zoiifoin)  =  Brot 
dort  8.  437;  Krimei-spr.  VI  zopfon  =  >telilen  dort 
8.  4bH,  aber  dort  S.  4ST  —  verhaften;  (ir.:  zupfen 
«  ziehen,  zerren,  aus  der  Tasche  stehlen] 


auf  der  Bank  schlafen ;  be- 
sonders im  Aufonthalts- 
local,  das  nicht  eigentlich 
Schlafrauffl  ist,  nach  An- 
dern allgemein. 

betninken. 

Hose  (andere  kenueu  die- 
sen Ausdruck  nicht, dritte 
brauchen  Beinlinge  für 
T'nter- .  Weitliuge  für 
Obcrhoso). 

s.  Wolkenacbiebor. 


jedes  Packet  nicht  nur  die 

ursprünglich  so  genannte 
Wachstuchhülle.  «Ber- 
liner'' soll  das  Ursprüng- 
liclio  sein,  die  ül)rigcn 
AuMlincke  sollen  mehr 
für  klfiüc  l'ackete  und 
Bündel  aller  Art  ge- 
braucht werden, 
betranken. 


betrunken. 


betmnken. 


betrugen. 

stehlen  (nur  vom  Leichen- 
fleddererl. 


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64 


V.  ScHüns 


Bielefelder,  der  (vgl.  Gipsverband) 


Bienen  lanch  RisinaiTkkafer,  Kirnnadeln  oder  bloss 
Nadeln,  .Müllcrflölio,  Heichsküfer  —  »ehr  allgc- 
tucin  ,  Satkiatteu,  Trichioen,  —  nach  Kunden- 
Glauben  lialu'u  einif^e  ein  schwar/.os  Krctiz  auf  dem 
Kucken,  den  sogenannten  „Sattel",  andire  einen 
flehwarzen  Fledt  tm  Kopf,  den  „MaulkorVi".  Da- 
nach scheidet  man  sie  in  „Pommern"  und  ,Bran- 
donburger")  [Kundenspr.  litBienclien;  III  und  lY: 
Biene  -  Uns  bei  KL  S.  422, 424, 480| 


bienen  oder  nachbienen 


Bienenkammer,  ^e 


Bisniarckkafer,  der  (vgl.  Bioiuii) 
Blasen  au  den  Füssen  (v^'l.  bischinortt 
Blaue,  der  (vgl.  Interne  —  bi'souders  in  Württem- 
berg — ,  Putz,  Putsch,  Schmiere)  [in  der  euglisdicn 
Gaunerspr.  findet  sich  nach  Bauniann,  Londunismen 
15  ebenfalls  „bhie"  =-=  Polizist] 
Bloch,  das  (vgl.  Asche)  JTL  v.  Blech  blaphart, 
Bledilein  —  krentzer:  B.  O. :  bleek     ein  mathier, 
bleklin==kortlin$;;  IS2nd  bei  Kl.  S.854:  Pleoh  — 
«roschen;  Fr.  Gl.  Blech  —  Geldl 
Blei,  das  (vgl.  Dittchen) 

Blei  er,  der  [ISSf.  bei  Kl.  S.  41.'):  Dufter  Bl.  =  ^uter 
Gruschen,  oder  süddeutscher  Sechser,  linker  Bl.  = 
sQddentBcber  (Müschen  oder  Silborgroschen ;  Kun- 
densprachen II,  III,  iV  bei  KL  S.  422, 424,  430  — 
Zehnpfennigstück] 

Blind,  z.B.  blinde  Zahlstelle 


Blitz,  der  (vgl.  Knast,  Rems) 
Blitzableiter,  der —  selten  blanker  August, 

weisser,  gelber,  Fusslatscher,  Klempners  Karl, 


Vorhemd,  Kragen  u.  dgl. 
weisse  Wüsche,  beson- 
ders wenn  von  Leinen, 
aber  aocli  von  Papier. 

Ungeziefer  befwinders  ISimc 
aoer  nicht  Flühe,  die  zuli- 
len  nicht  mit,  während 
bezeichnender  Weise 
.schon  die  Kriinierspra- 
chon  eine  Reihe  von  Aus- 
drücken für  den  F'loh 
haben,  so  Kr.  III  bei  Kl. 
S.441  llü[ierlinge,  V  dort 
S.  449  Gncks,  VI  dort 
S.  48t:  Hase,  Schwarz- 
pfitzing,  Hupferling, 
Spitzvogel  und  sogar  den 
althergebrachten  Namen 
für  l*aus:  , Walter"*,  in 
dieser  Form  und  als 
„Walterle"  für  .Floh* 
verwendet.  Die  Benen- 
nung nach  Nationen  fin- 
det sich  auch  in  der  eng- 
lischen Gaunerspradic: 
Sootdi-greys,  cigendich 
=  schottische  Kavallerie 
in  grauer  Uniform  für 
«Lmse'^  gebraucht  Bao- 
niann,  LondcMtismen. 

S.  197. 

auf  Behüiebkelt,  d.  h.  Un- 
geriefer  untersuchen,  be- 
sonders die  Staude. 

Abthcil  iu  der  Herberge, 
wo  die  LäusevertiUdi- 
tigen  schlafen. 

Läuse. 

betrunlictt. 

Polizist 


Geld. 


2^hnpfcnnig8tQck. 
Zehnpfennigstück. 


unbrauchbar,  wu's  nichts 
giebt,  z.  B.  Unterst&t» 
zungßsteiie  fOr  die  man 

schon  auf  der  vorigen 
vorausl»ekonunen  hat 

Stadtverweis,  Urtheil. 
Genadaim  allgemein. 


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Was  ist  heute  noch  von  der  Gsnnenpfsdie  im  praktisdien  Gebnrach?  65 


Schocker,  Schie»,  Spitzkopf,  Teckel)  [ebenso  A.L.;  ] 
Kundensäprache  III  oei  Kl,  8.424:  Krämerepr.  IV  I 
lilitzabiciterkcn  —  fJensdanu  dort  S.  442;  (ir.l 
Bohren  (vgl.  anhauen,  fechten)  L^r.  Gl.:  «atechcn' 
im  selben  Sinn] 


Brandenburger,  der  (vgl.  Bieueu) 


Brennen,  (licStt  inp,  [anders  A.  L.  Bd.  4,  S.  i'iT  = 
berennen,  ansprechen,  fordern  oder  —  gefangen 
■ilzen  und  Lindenbei|^  1891 «  Erpressen  der  Ver- 
brecher unter  einander,  wenn  einer  von  ihnen  Beute 
gemacht  hat,  „brennen^  ihn  die  andern.  Kunden- 
spr.  IT,  Jedoch  bei  Kl.  S.  430  hat  auch:  Die  Steine 
brennen  —  es  ist  \  iel  Polizei  am  Ort,  und  jeder 
Haiuhverksburschc  wird  arretirt] 

Bretz el ,  die (Vffl.  Acht) (A. L.  Bd.  4.  S.  527 Bretzen 
—  Uandflcheilienl 

Brodfafarer,  der 

Brotl  fahrt,  auf  die  B.  jyehen 

Bruch,  der,  besonders  schwerer,  ursprilnglicli  öster- 
reichisch, wird  mit  allem  zusammengesetzt,  ist  im 
Norden  neben  ..Palla»"  einfredrnnpren  (vfrl.  Jichie- 
bongen)  iKuiulenspr.  III  bei  Kl.  S.  424:  Bruch  sein, 
im  «  in  Kleidung  herabgekommon  sein) 

Bruch  bind  er.  der  (vgl.  iUeisterheni^} 

Bruchd ru L'ke r ,  der 

Buddel,  die  (auch  Finne,  Katline,  Kilometerstein, 

Thermometer.  Unke,  Verbandsbuch,  W^weiser) 
Bade,  die  (vgl.  Sduistalmde) 

Charlottenburger, der (vergl.  Berliner) [ Kunden- 
8pr.  III  l)ei  Kl.  s«.  424  «—  Uninäugeta^clie 

Chausseegrabentapuzierer.dcr  iKundenspr.Ill 
bei  KL  SC  4M     Belg-  und  Thalversetzer] 

Dachhase,  der  11804a  bei  RLS. 278:  Dachhafo«« 
Katzei 

Daehstubenkranter,  der  (vgL  Krauter) 


Dallas  ilS4T  bei  Kl.  S.  375  Dalles  —  Geldmangel, 
Annuth:  Fr.  (M.  =  FnjrliU-k,  (Jaraus;  Kundenspr. 
IV  bei  Kl.  S.  43i)  im  Dalle»  s«ein  abju'erissen, 
zerlumpt  sein;  Lindenberg  1S91  Dalles  =  Geld- 
mangel, Ableitung  aus  dem  jadischen  bei  A.  L. 
unter  Dal] 

Dallasbruder,  der  (Bnielibruder)  [Kundins)ii.  II 
bei  KL ä. 422  «> schlecht  gekleidet;  III  dort ä.  424 
ebenso,  auch  Dallaskribner,  Dallas  u.  Ko.1 

Dallaf<>bud e,  die  (Bruchbude) 

Dampf  .schieben  (vgl.  Kohl  schiebeu)  (KrUmer- 
>pr.  VI  bei  Kl.  S.  4S2  Dampf  —  Hunger)  I 

Ditti  heu,  das,  s.  Dittsdien  J 

▲lehiT  (flr  KiiBiMÜanthiopoiogte.  XII. 


Meister  oder  Gesellen,  die 
nidit  recht  geben  wollen, 
hsrtniddg  bitten,  dass 
sie  das  Oeselienk  geben ; 
na<'h  anderen  allgemein 
für  aufdrincli'"'!  betteln. 

Liluse  mit  tjclnvar/cin  FUrk 
an  den  Freeswerkzeugeu, 
dem  sogenannten  Maul« 
korb. 

es  ist  sehr  hdss,  TgL  dort 


Uandschellen. 

Brodbeuteldieb. 

Br<»dbeutel  stehlen. 

Es  ist  sehlecht  bestellt, z.B. 
mit  Schuhweiic,  schwerer 
Bruch  auf  den  Trittchen, 
Wetter,  Herberge,  Polizei 
u.  dgl. 

Buebbinder. 

Buchdrucker. 

Branntwelnflasehe. 

Weikstitte,  Geeehlft. 


BOndeL 

8.  Wülkensehieber. 
Dadidecfc«r. 

Meister,  der  ohne  GkeellcD 

arbeitet  oder  bescheiden 
oben  in  der  Mansarde. 

In  gleicher  Weise  wie  Brach 
zu  Zusammensetzungen 
aller  Art  benutzt,  um  den 
Begriff  von  unglücklich, 
schlecht,  verkommen  u* 
dgl.  zu  geben. 

zerinmpter  Kunde. 

liederliche  Werfcsatte. 

hungern. 

Zehnpfennigstiick. 
5 


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66 


V.  ScaCnB. 


Dittschcn,  das  (vgl. Blei.  Bleior).  In  der  Weichael- 
nlederang,  Qet^a  von  Danzig,  Direchaa,  Marien- 

hurg  j;el»rau(  !ilii-1i,  docli  w oliI  nur  !ioi  den  Acltcrcn; 
auch  in  ^)l'atM•hru^.sl;uul  ausserhalb  dt-r  Kunden- 
kreise bekannt 

Dohle,  die  (vgl.  Koppeschale,  KQlp,  Obermann)  iGr. : 
Dohle  »  FrcudcnuiSdchcn] 

Doktor,  der  (Vgl.  Andikiatsor)  iKondenapr.IVbd 
Kl.  S  433  ebcnaol 

Donnergott,  der 

Draht,  (Tor  (vgl.  Asche)  Kuudensiir.  II  bei  Kl.  S.  122 
Drat;  III  dort  S.  425  Draht:  Kränierhpr.  V  dort 
8.  451  Droht,  VI  dortS  181  Ditt,  DrOt:  lebendes 
Kotbwolscli  dort  S.  492  drat;  Lindenoeqf  1891 
Draht  —  üeldl 

Der  Draht  wird  gedehnt 


Drecksch  walbe,  die  (vgl.  Malör.  Malva-sieri  il*^2i» 
bei  A.  L.  Bd  4,  S.  244  I>rock8cbwalm  *  Töpfer; 
Fr.  61.,  das  rSchand«BRoth,8dnnntB,  Dredc*  bringt, 

nennt  den  .Maurer:  Scliunilsohwalbc;  Kundcnspr. 
III,  IV  bei  Ki.  S.  425, 434:  Drockachwalbe«  Maurerl 

Dnft  (1788  bei  Kl  8.  201  DofT,  17S7  dort  S.  252 
tof:  ITOn  dort  S  271  tov  —  gut ;  l'^2nc  dort  S.  349 
Duft  gut,  recht,  richtig;  Fr.  Gl.  Doft,  Duf,  Duff, 
Duft  gut,  angenehm,  !*chön;  1847a  bei  Kl. 
b-391  Düff  — fein  pfiffig;  dort  8. 396  ebenso 
lind  —  gut;  A.  L.  tof  =  gut,  tüchtig,  lustigu.i*.  w. ; 
Kundcnspr.  III  bei  Kl.  S. -l'iö  J  »uft  —  gut,  gewiegt 
u.  8.  w.;  krämerspr. II  dort  ö.  437  döf,  töf  «-gut; 
III  Doff  i-  gut  dort  8.  439:  VI  dort  S.  481  Ddf 
=  gut.  S.  4Sß  .-  sschön;  Vi!  dort  S.  \'M)  doft  = 
gilt;  lebendes Kothwclsch  dort  b.  492  duft gut; 
Gr.:  Duft  •=  zünftiger  Vagabund,  sicher  zn  eng, 
denn  .Duff*  wird  für  alles  mögliche  gebraucht, 
z.B.  dufte  Penne,  dufter  Tirach.  Ableitung  aus 
dem  Judisclicu  b^  A.  L.  unter  „tctf*) 

Dufter  Kunde 


Dnhn  (vgl.  besdunort) 

Element,  da»  (vgl.  Pnparsch,  Stoff) 

Blementenfärbor.  (icr  (auch  Kunst-  und  EIc- 
nientenfärber,  bpezeli  , Kundcnspr  II,  III  bei  Kl. 
S  422,  425  ebenso, 

Ellcnreiter,  der  (vgl.  Lauf  mann,  Ueringabändiger, 
buchcr,  iSuchcr) 

Erbsen  kochen  (vgl  raepehi,  iMgea) 

fackein  (vgl.  folunom)  icbouso  lbl2  bciA.L.Bd.4, 
8.  204;  tm  dort  Bd.  4,  8.  226;  1820  dort  Bd.  4, 

S.  212;  lS20r  bei  KI.  Ö.  34!»:  1S2S  dort  S.  362; 
Fr.  Gl.;  \<>l  bei  Kl.  S.  3!»7  fachein;  .\.  L.;  Kun- 
dcnspr. II  \h  \  Kl.  S.  422  fackeln:  ebenso  HI  dort 
S.425;  IV  dort  S.  4:<0;  Krämerspr.  Vi  dort  8.486 
faekelen;  Gr.  fackeln  scIi reiben! 
Fack  1er,  der  A.  L. ;  Knn  len^pr.  I\  bei  Kl.  S.  434  => 
Öchreiber:  Gr.  -■äGhreiber,dei'  falsche  biege!  besitzt] 


ZehnpfennigatQclc 


jcd*>r  steife  Hut,  nicht  nnr 

ftchwai7.e. 
Barbier. 

Amtuiehter. 
Geld. 


Das  Geld  wiixl  doicfage. 

bracht,  besonders  Ter. 

trunken 
Maler,  nach  Andern  auch 

iOr  Maurer,  nach  Dritten 

nur  für  Mnttrer. 


gut,  ^rcschiekt  (dasselbe  wie 
„zünftig-,  nur  noch  etwas 
auerkennenden. 


guter  Kamerad .  gewiegter 
Landstreicher,  einer  der 
sich  übernU  m  helfen 
weiss. 

betranken. 

Lageibior. 
Biei'bnutO'. 


Zengkaufi 
schnarchen. 

schreiben  (nach  liegen  be- 
sonders von  BenSrden, 

na<li  Alldem  >((«ts  mit 
Beigeschmack  des  1*^- 
schens). 

Schreiber,  auch  Flladier. 


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Wm  iit  heute  noeh  von  der  Gaiinei^pxadie  im  pnJcdachen  Gebiancbf  67 


Fdsdimünzer 


Fahrt,  auf  die  F.  ^rchon  oder  8teif;on  iv^'l.  feclitcn) 
iKundenäpr.  II  bei  Kl.  S-  422:  auf  dio  Falirt  steigen 
»  losgehen  zum  Bettehi;  III  dort  S.  425  »  die 
Bettelei  anfangen;  IV  (lort  8.  430  —  betteln  {fehenl 

Faule,  der  (vgl.  (nluiiner.  Greifer,  Kundenfänger, 
Verdeckter) 

fehniern  (vgl.  fackeln)  durch's  ganze  Ueich,  wie 
auch  in  Oesterreich  und  Ungarn  verbreitet  |1»)»*7 
bei  A.L.  Bd.  4,  S.  93  Föhme  —  Hand;  1T!»3  (h)rt 
Bd.  4,  &  162  Feme  —  Uand;  lbl2  feberen  1814 
fibem  —  flcÄreiben,  1813  Fehme,  1814  Vefann  — 
Hand  dort  Bd.  4,  S.  2i)4  ;  ls20  dort  Bd.  4,  8.  242; 
febeni;  lb20c  bei  Kl.  8.340  feniem  «  achreiben; 
FV.  Gl.  verfebern  ■=  venichreibeu,  vorfebem  — ■ 
vorsohn'ihcn  :  l'^f"  hei  Kl.  S.  377  fehineni;  l^^öl 
d(»rt  ."V.tT  tehnien»  und  felbera:  A.  L.  l'fhnicm, 
febcru.  febbeni,  felbem  schreiben.  (Jr. :  IVhm 
=  Hand,  Fehmer  —  Schreiber,  ausfehmem  voll- 
enden, fertig  schreiben;  Krämerspr.  II  bei  Kl.  8.487 
ff'were;  VI  dort  8.  486  pfebereu,  fäeben'n,  fiOiercn 
—  schreiben:  lebendes  Kothwelsch  dort  8.  4U2 
fehme  Hand.  —  AndemadtB  Kondenspr.  III  bei 
Kl.  S.  4  J.'):  fcmcni  kochen  seitens  der  Kunden. 
Die  Ableitung  A.  L.'s  aus  Fem  »  die  Hand,  her- 
stammend vom  schwedischen  und  dlni^chen  ^fem^ 
.'),  di'irfte  auch  für  fehiticni  —  selbst  k<K'lien 
iuaa».sj?el>eud  sein,  zumal  daa  \V(»rt  in  dieseuHie- 
brauch  durch  alle  deutsch  sprechenden  Gebiete 
verbreitet  ist,  in  denen  mau  grosstentheils  sicher 
keine  Ahnung  von  den  Fehraamer  Verhältnissen 
hat.  I 'niiiö','lich  jedoch  ist  die  juir  von  den  Kun- 
den g^ebcue  Ableitung  auch  nicht,  da  Femalim 
ihr  geÜbtee  Land  ist,  nnd  sie  wemet  durch  aile 
Welt  wandernd,  Hedensaitea  und  Qebiftndie  einer 
vom  andern  lenienl 

fehmern  oder  ausfehmern  besonders  im  Norden. 
Auch  dieser  (ichrauch  spriclit  wieder  dafür,  dass 
„fehmeni-  auf  den  Be^rifl  „llamh  zurückgeht  und 
alle  möglichen  ilandthätigkeiten  ausdrückt  Fani  » 
Uand  fmdec  sich  übrigens  auch  in  der  engli.  Gau- 
nersprache. Vel.  Baumann,  Londonismen  unter  fam 

f  ee  h  t  en  (vgl.anTiauen,  arhi'iten,  i>uhren.  auf  die  Fahrt 

fchen  od.'8teigen.  klappern,  iviiuken  putzen,  kloppen, 
iommandofldiieben,  Laden  stcM8en,8diaben,8chmal 
machen. st< »sscn, talfen . tirachen, Zinseneiidn ilcni.  In 
Uesterrcieli  angeblich  fast  au!äÄchlies9lich,l)ei  uns  im 
2(orden  in  neuerer  Zeit  sehrhäufig,nichtgebräuchlieh 
in  büddeutschland  und  Elsass.  |  IS  13a  bei  Kl.  8. 311 
nnd  Kundenspr.  III  dort  ä.  425  fechten  —  bettclul 
fett,  z.B.  fett  äein  bis  zur Sdiaiide(v|^bcaeiiiiiort) 

iA.  L.  fett  <=>  reich] 
FettlSppchen,  das(ygl.Dlppchen)  iKundenspr.  III 
und  IV  hei  KL  0.42.')  und  434,  >owie  Gr.  ebenso 
Fini,  der  (vgLScfaabau;  verdorbuu  aus  spiritus  viui 


die  in  den  dumpfigen  feuch- 
ten KeUem  einiger  Ar^ 
bdtshäuser — mi  r  be«*on- 
d&n  von  Glückatadt  be- 
riditet  —  als  Kartoffel- 
sehller  0.  dgl.  arbeiten- 
den alten,  sieelien  Ijente. 

betteln,  aber  auch  über- 
haupt auf  „Arbeit''  ge- 
hen ;  auch  als  VerbreelMr' 
au.-idmck  ^braoolit. 

Geheimpolizist 

1.  schreiben,  z.  B.  nach 
Hause  fehmern,  in  dieser 
Bedeutung  niirMDrgaBS 
ausnahmsweise  statt 
nfadceln'*  begegnet;  da- 
gegen allgemein  bekannt. 

2.  selbst  kochen  (Kunden- 
erklärung :  wen  die  Leute 
die  im  iSommer  nach 
Fehmarn  in  die  Enite 
gehen  in  eigenem  Ge- 
schirr selber  Koche&K 


ausbrennen,  auärauchem, 
besonders  dii-  Kleider 
von  Ungeziefer. 


bettehi. 


betrunken. 
Tuchmacher. 

Schnaps. 


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68 


V.  ScHersB 


Fin  n    die  (rri.  Bnddell  bcBondere  in  Snddeutschland 

u.Oesterrcicii.  A. I,.  Kinne  =»I\aiiten. r>t)sc.  Futteral: 
Gr.  Lade,  Karten ;  Kunilenspr.  Ii  u.  IV  bei  Kl.  S.  422, 
481  =^  Sdinapsflasche,  III  dort  S.  425  »» Flasciiel 

Flaciis,  der  (vgl.  Meter)  [ebenso  Gr.;  Kunrleiispr. 
11,  m,  IV  bei  Kl.  S.  422,  425,  430;  Kriunerspr. 
VI  dort  8.  4841 

Flamme,  die  (vgl.  Kalle) 

Flammer  oder  Firimnicr  (vgl.  Spitzflammc)  [1S1& 
bei  A.  L.  Bd.4.  S.  220  Flaimnert:  1S20  dortBd.4, 
S.  242  Flanunerer;  Fr.  Gl.  ebenso:  A.  L.  und  Gr.: 
Flftmmert:  Ktmdenspr.  I,  III,  IV,  lebendee  Rothw. 
l)ei  KI.  S.  421,  425. 4.M4,  492  Hammer  ischmied] 

Fleppe,  die  [1793  bei  A.  L.  Bd.4,  S.  ISl  Fleppe  — 
Brief:  1812  Fieppen  Pass,  Arrest  dort  Bd.  4, 
S.  205:  ISIS  dort  Bd.  4.  S.  ■22»;  F!el»l)e  =  Pass; 
1S20  dort  Bd.4,  ürillH  Fleppe  Attestat;  lb20c 
bei  Kl.  S.  »49  Flebbe  Pass;  182(id  dort  S.  854 
Flöpeu  —  Reisepass:  1S2I  dort  S.  355  ebenso; 
1S2S  Flepn  —  Pass,  Papier:  Fr.  Gl.  Fleppe,  Fieppen 
=  Brief,  Pa.'js,  Schrift,  Urkunde;  A.  L  Fleppe  = 
jeder  besondere,  \or/rigiich  schriftliche  Ausweis. 
Urkunde,  Pass,  Zeupiiss  n.  e.  w.:  ebenso  Gr.  tmd 
Roscher  in  Gross,  Archiv  Bd.  3,  S.  278:  Kunden- 
spr.  I  bei  Kl.  b.  421  Fleppe  Wandorbueh;  II 
Flebbe  -  Pass,  Papiere,  dort  S.422;  III  dort  8.425 
Lejritinintionspapier;  IV  dort  S.  430 :  Wanderbnch 
Arbcitsschoin  oder  sonstige  Legitimationspapiere; 
Krfimerspr.  I  dort  Ö.435  ficpp  =  Papiere  zum  Aus- 
weis ;  II  flebbe,  fleber  =  Legitimation  dort  S.  437 : 
VI  dort  S.  484  Flebb  «  Papier  zum  Ausweis, Pass; 
Lindenbei^  1891  Flebbe  offizielle  Zeitung,  ancli 
andere  offizielle  Papiere  and  Zeugnisse 

linice  Fleppe  [1812  beiA.lA  Bd  4,  8.205  linker 
Fieppen;  IMS  dort  Bd.  4,  S.  22(;  linke  I-Ieppe; 
182ÜC  bei  Kl.  S.  349  blinde  Flebbe,  b.  M")«»  linke 
flebbe  falscher  Pass;  1S2S  dort  S.  :ui3  Link- 
fleppen  falsche  Papiere;  Fr.  Gl.  und  Gr.:  linke 
Fleppe  —  fiUacher  PassJ 

Die  Fleppe  verendeln 


f  1  eppen ,  [1753,5  bei  Kl.  S. 23fi -=  liebkosen ;Kundcn- 
sur.  II  bei  Kl.  S.  422  flebben  =  Pass  abverlangen; 
Iii  dort  S.  425  geflebbt  werden  —  Papiere  dem 
Gensdanii  vor/ei^en  müssen;  IV  dortS.  431  flebben 
»  Papiere  re\idiren;  Koscher  bei  Gross.  Archiv 
Bd.  3  S.  278  Heppen  —  bei  Beriiion  nach  Aos- 
weispapieren  fragen] 

Flepperei,  die  (vergl.  Kassive) 


linke  Flepperei 

fldssern  [1450  bei  Kl.  S.  lö  flosseln  =  mögen; 
1.  V.  floslen  —  Itnintzeu;  B.  U.  floslen  bitten; 
174.'>  bei  A.  L.  Bd.  4  8.  153   gefloseelt  das 

Wasser  al)gesehlaj;rn :  —  KnnutMisjir.  III  bei 
Kl.  55.  425  flossern      Waesertiinken;  Khimerspr. 


Scbnapeflasdie 


das  Markatack. 


.Mädchen,  Geliebte,  Braut 

Schmied. 


Ausweispapier  (besonders 
aber  nicht  anssdilieBslidi 
für  falsche,  nach  .\ndem 
sogar  im  Gegensatz  zur 
linken  Fleppe). 


falacfaea  Pa[^er. 


das  Papier  unbrauchbar 

machen,  z.  B.  ein  zum 
Erschwindeln  vonReise- 
untersriitzun^'-  bestimm- 
tes durdi  iuiutrag,  dass 
solche  erdiellt  wi 
Wenn  der  Gensdann  die 
Papiere  untersucht,  sagt 
man:  ^er  fleppt**;  der» 
dem  er  <<ie  untennchtr 
„wird  gefleppf. 


Papiere,  besonders  behörd- 
lich beglaubigte  Aibeita- 
scheine. 

faledie  Zeugnisse. 

bettnassen  (aber  nicht  ans 
Krankheit,  sondem  aus 
Betmnkenliett). 


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Wi8  iit  heute  noch  von  der  Gaunerapnehe  im  praktischen  Oebnnfili?  69 


V  S.  45S  Flossen  —  sein  Wasser  abscblsKcn; 
VT  S.  484  flOsslen  —  mindere,  flfisseren  —  Weinen 

S.  issi 

Flöte,  die  (vergl.  Winde)  [Kundenspr.  II  bei  Kl. 
S.  422      G^ningnifls,  Knnkenhans;  III  dort  8. 

422  =  Arbeitshaus] 
Frachtbrief,  der  (vcrgl.  Koller,  Todtcuäcüeiu> 


fremd  bckomiueu 
fremd  macheu 

Fnehs,  der  fvorgl.  rothe  Asche)  [1652  bd  Kl.  8. 

159  —  Dukaten;  IT '7  (Imt  S.  205  —  Gold; 
1737  dort  S.  214  ebenso:  1745  bei  A.  L.  Bd.  4 
8.  153  —  Geld,  Keller,  GewOIb;  1753/5  bei  Kl. 
S.  236  —  Rüster  oder  Gold:  1755  dort  S.  240 
ebenso.  S.  23S  —  ein  Küssen:  1807  dort  S.  285  — 
(ioldmünzen ;  lJ>20c  dort  S.  349  =Geld;  1S47  dort 
S.  .577  =  1.:  Friedrichöd'or.,  Goldstück,  2.:  Ma- 
öcliiMc ,  auf  der  körperliche  Züchtifrtmgen  ertheilt 
werden;  isöl  dort  6.  MUT  —  Culd] 

Ffichae.  die  ivetgl.  Acht)  nur  Mehrzahl,  besonders 
fisterreicblsch 

F u  >  >  1  :i  ]>  p  e n .  die  (vergl.  Quadratlatsdien)  [Konden- 
spr.  Iii  bei  Kl.  ä.  425  ebeuso] 

Fusslatscber,  der  (vergl. Mtnbleitnr  [Kandenspr. 
III  bei  KL  S.  425  ebenso] 


Cralg^enposamentier,  der  [Kundenspr.  I,  11,  HI, 
IV  bei  Kl.  8.  421,  422,  425,  434  gleichfalls] 

Qaliacb  auch  schwarzer  Gensilarm  11450  bei 
KL  S.  14  Galatten  ^  falsche  Priester  als  Bettler; 
1475  dort  8.  26:  Gfaitten  —  ebenso;  1.  v.  galch  — 
pfaff;  B.  O.  f^lch  —  i)3p;  Deecke  bei  A.  L.  Bd. 
3  S.  253  Gallach  =  Priester;  15U3  bei  Kl.  Ö.  118 
nlch;  1597  dort  S.  115  Galle  —  sacerdos;  1620 
dort  S.  134  (iallach  —  Ral>l)iner,  b.  136  Galch  — 
l'faff;  1714  dort  S.  177  (iallach  =  Geistlicher; 
1738  dort  S.  2Ü(»  Galach  —  ebenso;  1745  bei  A. 
L.  Bd.  4  S.  153  Gallach  —  Pfarrer;  1747  bei  Kl. 
S.  214  Galla  —  Priester;  1753  5  dort  S.  2.%  Gal- 
lach ebenso:  1769  dort  S.  247  ebenso;  1791 
und  1812  bei  A.  L.  Bd.  4  Ö.  16b  und  206  ebenso; 
1820  dort  Bd.  4  8.  241  Kolladi;  Fr.  61.  Gallscb  — 
Pfarrer,  Piistor;  lS47a  bei  Kl.  S.  391  Gnlach  =. 
Geistliclier;  1^51  Gallach  Pfarrer,  Prediger  dort 
S.  397;  A.  L.  —  der  Geschorene,  dann  christ- 
licher (Jeistlicher  überhaupt;  Kundenspr.  1  bei 
Kl.  S.  421  Gallach;  II  dort  8.  422  Galach;  Iii 
dort  425  Gallach;  IV  dort  S.  4:U  Galla;  KrÄ- 
merspr.  III  dort  ä.  440  Gallak  -  Pfarrer;  VI  dort 
8.  4S3  Gallach  —  Kaufmann! 
schorene,  katlioliacher  Priester, 
dem  Jüdischen  bei  A.  L.] 

gampf  en  (vergl.  bezupfen)  (I.  von  1510  bei  Kl. 
S.  53  ^jenffen  =  stellen;  B.  0.  von  1510  dort  8. 
7»;  genffeu  —  stelcu;  1597  dort  ^.  115  Genffeu  — 
furari ;  1598  genffeu  —  zugrdfen,  Stelen,  dort  8.1 16 ; 
liadenbeig  1891  gaofen  oder  gumewen  stehlenj 


Gr.:      der  Ge- 
Ablmtaiig  aus 


Arbeitshaus. 


Entla.ssunj,'sschein  aus  Ar- 
beitshaus oder  Gefilnff- 
nisfii  mit  Heisevorschrifr. 

aus  der  Arbeit  entlassen 
werden. 

aas  Arbeic  treten. 

GoMslftck. 


Handschellen. 

WeisskohL 

Fusgeosdann. 

Seiler. 
Pastor. 


stdden. 


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70 


V«  ScbOtsb 


Geheim  er,  der  [Kundcnspr.  III  bei  K].  S.  426  ^  .  Geheimpolizist  (vj^LFauler.) 
Krinittalpolizist,  Schntananii  in  Civil;  Lfndenberg  ' 

1*^01  :  Heimlicher-  ebcnsni  ! 

&eladca.  zu  schwer  (vergl.  beschniurt) 
Sps verband,  der  (veifl.^el«f eider) 


Greifer,  der  (vergl.  Fanlon  |Kimdenspr.  II  bei 
KI,  S.  426  —  (M'ht  iiiK  I ;  Lindenberg  Isfll  — 
KriminalpoÜziat:  vergl.  im  englischen  olang:  cop- 
per  »  Fanger,  (Miemipoliiiit  Del  Bamnann ,  Lon- 

donisnicn] 

0 rü tzkiist en ,  der  (auch  Theewinde>  ^Kandenspr. 

III  bei  Kl.  S.  425  =  Krankenhaofll 
Gurken,  die  (vergl.  Teppe) 


ha  eh  ein  (vergl.  picken)  (I.  v.  ebenso  1620  bei  Kl. 

S.  134  acheln:  1723  bei  A.  L.  Bd.  4  8.  105acholn; 
1733  bei  Kl.  S.  200  acheln ;  1737  dort  S.  206  achelu; 
1T50  bei  A.  L.  Bd.4  S.  135;  1764  bei  Kl.  S.  347; 
(  lirvsnnder  bei  A.  L.  Bd.  8  S.  4(I4  chonso;  1798 
dort  Bd.  4  S.  180  acheln;  1812  dort  IM.  4  S.  199 
acheln;  1S20  dort  Bd.  4  S.  236;  lS20c  bei  Kl. 
S.  34S:  1^17  dort  S.  373;  1S51  dort  S.  3!M).  A.  L.; 
Kundenspr.  II  u.  III  dort  S.  422  bezw.  424  ebenso; 
Krämerspr.  11  dort  S.  437  achile;  III.  IV  und 
lebendes  Bothwelach  dort  S.  439,  442,  491  sowie 
Lindenberg  1891  tmd  Gr.:  achebi  ^  eeaen.  Ab« 
leitung  au.s  dem  Jtldischen  bei  A.  L.  unter  acheln 
II  ach  ei  ei,  die  (vergl.  Piclcus) 

Haifisch,  (vergl .  Schnelderkarpfen,  Schwimmling, 

Seekadett,  Soesoldat» 
Hanf,  der  (vergl.  Legum,  Torf,  Twisti  [so  auch 
Kundenspr.  II  und  UI  bei  Kl.  8.  422,  426] 

Hämererc  apse;  von  Juden  den  Ausdnu  k  frehört, 
Ivergi.  im  Wörterbuch  des  Constanzer  Uans  von 
1791  bei  A.  L.  Bd.  4  8.  172:  Hamore  —  die 

Händler;  1*^12  dort  Bd.  4.  S.  207  Ilaniorr  Händel, 
Streit,  Lärmen;  Gr.:  Hamor  «  Lärm,  lläudell 

hammern  (vergl.  picken) 

Harke,  die  (auch  Liiuscharke) 

Hasen  macheu  vergl.  thUnnen,  pohlischen  Urlaub 
nehmen) 

Helligkeit,  die  (vergl.  Ileimath) 

Heimath,  die  (ver^l.  Hcilitrkciti  lautet  der  Name 
„zur  Heimath'',  nicht  „Herberge  zur  Ileimath'*. 
gdlört  de  also  nicht  diettem  V  erband  an,  so  nennt 
man  sie  eine  «wilde  Heimath* 

Heiss,  es  ist  iver;rl.  brennen)  1S56  bei  Kl.  S.  416 
CS  ist  nicht  sicher  wegen  strenger  Polizei; 
Kundenspr.  II  dort  S.  422  —  beschwerlich;  eben- 
so III  dort  S.  426;  IV  dort  S.  431  —  es  ist  nicht 

?:anz  so  gefährlich  als  wenn  „die  Steine  hrenueu'*; 
{oscher In  Gross,  Archiv,  Bd.  8  S.  27^:  ^^heisser 
Boden  h  wenn  sdiarfe  Vigilans  auf  Kuppelei  ans- 


betnmken. 

Vorhemd,  Kragen  u.dergl. 


weisse    Wä.'*clio.  stets 
wenn  aus  Gummi,  zu- 
weilen aneb,  wenn  ans 
Papier. 
Gehemipolizist 


Krankenhaus. 

zerrissene  Stiefel  u.  Schuhe, 
besonders  wenn  alt  imd 
aofgebogen* 


Das  Essen  (die  Thätigkeit, 

nicht  das  Gericht). 
Hering» 

Brod  (nach  den  Meisten 
allgemein,  nach  einigen 
nur  Gefängnissbrod). 

JndennntenättiangBkaaae. 


essen. 

K:imm. 
weglaufen. 

Herberge  zur  Heimat 
Herben^  zur  Heimat 


die  Potfani  paaet  scharf  anf. 


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Was  i&t  heute  noch  von  der  (iaoncrsprache  im  praktitichen  Gebraiidi?  71 


feQbt  wird"  ist  vid  wa  eng  gefinat,  kamt  nnr  als 
eiüpicl,  ni(  lit  ;iiHorschftpfaideBegriffsbeatIimDaDg 

in  Betraclit  koinmcnl 

Herlngshäiidige  r,  der  (vergl.  EUenrcitcri  iKun- 
denspr.  III  Ix  i  Kl.  8.  42«)  -=  Kaufmann;  IV  dort 
8.  131  =  KaufleutP,  alle  ohne  l  ntersdiicd! 

HobelhenK**t,  (Um  ivgl.  Holzworm) 

Hobeloffizier,  der  [auch  Kondentpr.  III  und  IV 
bei  Kl.  8.  426,  4341 

hoch  fliegen  (vgl.  hochgehen) 

boehgehen  (vgC  hocbflicgen,  krachen  geben,  ver« 
kradien,  verschütt  gehen)  iKundenspr.  II  bei  Kl. 
S.  422  =  crwigcht  werden  beim  Fechten;  |II  dort 
S.  426  arretirt  werden  | 

hochoehmen,  jemanden  (vgl.  Tenehütten)  [Kim- 
denspr.  III  bei  Kl.  S.  426  —  zum  Auageben  ver- 
anlassen] 

H  ocbsch&tz,  der  (vgl.  Kiappencfaütz,  Lehmscbutz, 
Osebfitz,  Roller) 

lloizwurm  (vcrgl.  Ilobellionfrsti 
llundcfängcr,dcr  (vgl.  Kundenfäogcr,  Schlepper) 

Hasch flts,  der 

Kadett,  der 
alter  Kadett 


Kaff,  das  [1620  bei  Kl.  S.  37  gfar,  li^4i)  dort  153 
Ofar;  ir,.i2  dort  S.  156  und  1747  dort  21 J  Ge- 
fahr: 1704  dort  S.  247  Kfahr;  lSit4a  doit  S.  27S 
und  lS20c  dort  S.  :i4'.»  (»efahr.  letztere»  auch  Gfar; 
182Ud  dort  8.354  Gifar;  li>21  dort  S.  853  Gisar. 
Kundenspr.  II  dort  8.  422  Kaf,  lU,  IV  dort  S.  426 
und  431  Kuff.  KräiiuM-^iiir.  II  d<»rt  S.  4<.s  kfAr; 
VI  dort  S.  4bU  Gefar:  VII  dort  ä.  4U0  gefOr:  leben- 
des Rotwelsch  dort  S.  492,  A.  L.  und  Gr.  Kaff  — 
letztere  beide  unter  Kcfar  —  —  Dorf.  Ableitung 
ans  dem  .Indischen  l)ei  A.  L.  unter  KefarJ 

Kaff  er,  der  |Deecke  bei  A.  L.  Bd.  8  S.  251  Käfer; 
1723  dort  Bd.  4  S.  105  Kaffer  ==  Bauer;  17:<:<  bei 
Kl.  S.  201  Kaffer  =  Mann;  1745  bei  A.  L.  Bd.  4 
S.  152  L'affer  —  Mann  oder  Bauer;  1747  l»ei  Kl. 
S.  214  Gaffers  —  Bauern;  175.«/5  dort  S.  23(i  Kaffer 
«Bauer;  1793  dort  S.  271  Gaver— Mann;  1^14 
bei  A.  L.  Bd.  l  S.  Jos  Kaffer  —  Mann;  Isis  dort 
Bd.  4  S.  227  Kaffcr  —  Bauer;  lb2U  dort  Bd.  4 
&  240  Käfer  —  Man;  1820c bei  Kl.  S.  890  Kaffer, 
1820 d  dort  S.  354  Kliaffcr;  1^2^  dort  S.  3f',3  Kaffer 
Bauer:  lb47  dort  S.  3mi  K.iffer  =  dummer 
Mensch;  1851  doitS.  4oo  —  B  auer,  .Mensch,  Mann ; 
A.  I>.  unter  Kefar:  Kaffer  =  lianer.  Mann,  Keil, 
Einfaltspinsel .  der  zu  Ijestchlemlc  oder  zu  betrü- 
gende .Mensch;  Kundcnspr.  I,  U,  III,  IV  bei  Kl. 
S.  421,  422,  426,  431.  Krämcrspr.  VI  dort  S.  471»; 
Lindeoberg  1891:  Kaff  er  —  Bauer;  Gr.:  Kaff  er  = 


Kaufmann ,  wandernder, 
ganx  allgemein  für  alle 
Zweige  dieses  Bemfes. 

Tischler, 

Xiactiler. 

verhaftet  werden, 
verhaftet  werden. 


1.  festnehmen  (paasiT  ^ 

hochgehen  u. ».  w. ; 

2.  jemandem  auf  der  Her- 
berge das  Geld  abnebmco. 

Winamüller. 

Tischler. 

Zuf&hrer  de«  btellcnver- 
mitüers. 

Wass^ermüller  (Ruf  des 
Meisters,  wenn  da.^  Wehr 
heruntergelassen  werden 
soll:  ,Ha,  acbütz''). 

jnngw  Handwerksbnncb, 

etwa  Aeffcben. 
alt^verkomraenerStromw 

der  nie  etwas  Brandl- 
bares  gewesen  ist. 
Dorf. 


alles  was  auf  dem  Lande 
wohnt  <]!auer.  Tagelöh- 
ner u.  dergl.,  mänulicb 
und  A\  (ibHcn  obneVnter» 
Bcliied). 


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72 


V«  ScrDtxb 


Dorfbewuhner:  Ableitung  «u  dem  Jttdiachen  bei 

A.  L.  unter  Kofar] 

Kailoff,  (1er  |Dm-ke  bei  A.  L.  Bd.  a  S.  2:>1  Kellef : 
1714  Kieloff  bei  Kl.  S.  177;  1733  bei  A.  I,.  M.  4 
S.  106  Kilof;  1733  bei  KI.  S.  201  Kulilurf;  1745 
bei  A.  L  Bd.  4  ö.  154  Kiluff;  1791  und  17'j;i  dort 
BcL  4  &  167  und  190  Kohluf:  181S  bei  KL  Ö.  SOb 
Kalf,  Kiluf;  1820  bei  A.  L.  Bd.  4  8.  2S7  Gilof — 
der  IIuinl;  Kr.  (II.  keilof,  der  =  Kutte  zum  Fang- 
hunilubi  icliteu,  kelaf  =  der  Iluud;  Fr.  (i.  Gl.  klaifa 
w  Hündin.  Stierches  Kelof  =  Hflhnerhund;  A. 
L.  Kalf,  Kelef,  Keilef,  Kolev,  Kalef.  Klobe,  Globe; 
Kuiid(MK>*pr.  III  bei  Kl.  S.  42»)  Kailoff;  KriUuerapr. 
11  dort  s.  43S  kNuf;  III  dort  S.  441  Kailaf;  VI 
dort  S.  4S2  Kailuf:  Gr.:  Kalf  und  Koluf  —  Hund. 
Ableitungaus  dem  Jüdischen  s.bei  A.L.  unter  Kelef] 

Kaiserin,  die  (bavriscln 

Kalle,  die  {vgl.  I-^liuumo,  Schickse,  Spritzbüchse, 
Trine)  {Deecke  bei  A.  L.  Bd.  8  &  254  Kalla  — 

Braut;  1753  5  Calle  bei  Kl.  S  236;  1764  dort  S.  247 
Kallo  —  Braut;  iso'a  dort  S.  2'>S  Kalle  — 
Schläge  oder  Pnlpel;  1S12  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  20S 
Kalle  -=  Messe;  Fr.  (il.  Calle,  Kallo.  Kallach  — 
Braut;  1S47  bei  Kl.  S.  SSO  Kalle  —  Braut;  IS.'il 
dort  8.  400  ebenso;  1SS6  dort  S.  417  Verlobte; 
Kiindenspr.  IH  dort  S.  426  —  Wirthstochter;  Krä- 
nierspr.  III  dort  S.  440  —  Braut;  A.L.  und  Gr.: 
Kallo  für  alle  Schattirungen  von  Braut  bisDime. 
Ableitung  aus  dem  JQdiachen  bei  A.  L. 

Kaltseblachter,  der(Tgl.Maficliaiin)beeond.  In  Ost- 
preussen,  doch  schwerlich  spoc.  Kundenausdnuk 

Kahn,  der  (vgl.  Klappen,  Säuftcbou,  Öäuftliug, 
Senftling)  (A.  L.  Kaan  oder  Kahn  m  Gefllngnim; 
Gr.:  Kaan»  GefTingnisa] 

kapores  gehen  (vgl.  paikern)  1723  bei  A.L.  Bd.  4 
s  10.)  kapores  =  morden;  1739  caporen  «  m9r^ 
dem  bei  Kl.  S.  201,  kaporen  go  —  sterben  mflssen, 
exequirct  worden  202;  lS20d  bei  KI.  S.  854  Ita- 

1)oren  •=  sterben ;  1 S2 1  dort  r>.35()  kanom  =»  ebenso; 
r>.  Gl.  kapores  »  tot ;  l'r.  G.  61.  kaporen  tot; 
195t  dort  S.  40A  Ktippore  »  Vorderben;  A.  L. 
kapores  =-  tut  unter  Kappore;  (h:  hat  nur  das 
Hauptwort  Kappore  «  Keinigung;,  Tod  und  einige 
Zusammensetzungen.  Ableitnng  aus  dem  Jüdischen 
bei  A.  L.  unter  Kappore' 
Karline,  die  (vgl.  Buddel)  iKundeiispr.  II  bei  Kl. 

8. 422  Karolinc  ="  Schnapsflaschel 
KSppchen,  das  (vgl.  Katzhoff)  in  Süd*,  nach  an- 

dem  auch  in  Norddeutschland 
kaspern  (vgl.  beseibeln,  mogeln)  [17I.'j  bei  A.  L. 
Bd.  4  S.  1)2  —  einen  schlagen;  17Ö5  bei  Kl.  S.  240 
caspem  —  ausfragen;  1798  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  1S1 
kas])em  einen  betrügen;  ISTi  dort  Bd.  4  S  •>()'• 
ebenso  1!>13  bei  Kl.  S.  30S  caspern  —  schlagen, 
cascfapem  —  ausfragen,  betrügen ;  lS13a  dort  8.  31 1 
kaspern  betrügerisches  Projibczoien ;  1  '>20c  dort 
g.  —  auf  dem  Laude  umlieigelien  und  die 
Bauern  betrügen;  1847  dort  S.  379  —  unerlaubter 
Verkehr  der  Gefangenen  mit  der  Aussenwelt; 
1S51  dort  S.  400  kasspcm  ebenso  und  »  heimlich 
reden,  sich  besprechen;  Fr.  (üi.  aufkaspem  *  ver- 


runde  Semmel. 
Mädchen,  Geliebte. 


FVohaer. 
Bett. 

sterben. 


Brannt  Weinflasche. 

Schlachter. 

betrOgen. 


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Was  ist  heate  nodi  von  der  Gaimerqinadie  im  praktiacliea  Gebrauch?  78 


f&hren ;  A.  L.  caspem  schlafen ,  in  der  Scliin- 
dt'i-spi-achc  =  mit  Sympathie  behandeln,  datier  ^ 
betrügen j  kaspern  heucheln,  täuschen;  Linden» 
berjf  1691  kaspeni  —  der  mranaiibte  Vencdir  der 

Gefangenen  nnter  einander,  auch  durch  Klopf- 
sprache u.  s.  w.  Ableitung  aus  dem  Jüdischen  bei 
A.  L.  unter  Kaspern  | 
Kassive,  die  (vgl.  Flepitcroii  [ISI  l  bei  A.  L.  Bd.  4 
S.  205  (iasibe  =  Pas.s,  Arrest;  Fr.  ü.  Gl.  Gasibe 
—  Pass;  1S47  Kasiber  =  Verstfindigunj^zettel  im 
Gefängnias  bei  Kl.  ä.  S79,  Kaaaiwer  »  Kundschaft, 
Fbsb  9.  S79:  1851  bei  Kl.  8.  400  Kassiwer  — 
Schleifljrii'f  im  (Jcfängniss,  Kafi.>ii^\  e  Pa.**»,  Reise- 
docuDient;  dort  S.  415  Kursiwa  — ■  Pius,  Pa- 
piere fiberhaupt;  A.  L.  luter  kaswenen^  Kakiwe, 
Kasiwer.  Kasiber,  Ksiwe,  Ksiwerl  =  Brief,  Zettel, 
Schleifbrief  in  und  aus  Gefängnissen.  Pa.ss,  Kund- 
.«chaft;  Kundenspr.  III  bei  Kl.  S.  42t3  Ka>»siber  — 
Brief;  Liiidenbcr*,''  ISOl  ™  die  zur  Vei-ständigung 
der  Gefangenen  dienenden  Zeltelclien  u.  s.  w.;  Gr.: 
Kassiwer  -=  heimlicher  Brief,  Ka.ssiber  —  Brief, 
besonders  in  und  au»  Geföngnisson  geschmuggelt 
Ableitung  aiu  dem  JQdiscnen  bei  A.  L.  unter 
kaswenenl 

Nach  anderen  Kassiveu,  die,  nur  Mohraahl,  be- 
sonders in  Osterrridi,  Rheinianden  nnd  Sftd- 

deutschland 

linke  Kufisiven  lA.  L.  unti-r  kaswi-nen:  linke 
Ksiwe  =  falscher  Pass' 

Katzenkopf,  der  [so  auch  Kundcnspr.  II  bei  Kl. 
S.  422  und  IV  S.  434;  III  S.  42(5  dort  Katzeukupp; 
Gr. :  Katzenkopf  Schlo.sser, 

Katzhoff,  der  (vsL  Käppchen)  11799  bei  KL  S.  201 
Eatzanfr;  ITM  dort  S.  24T  Katzof;  1781  bei  A.L. 
Bd.  4  S.  171  Kiizuf,  ebenso  dort  Bd.  3  S.  187  1798; 
1S12  Kaznf,  lsi4  Katzef  doit  Bd.  4  S.  209;  1820 
dort  Bd.  4  8.  240  Kaznf;  lS20c  Katzoff,  alte 
Sprache:  Bockhartfet/oi  bei  Kl.  S.  «50;  Fr.  (i.  Gl,: 
Katzof,  Katzef;  A.  L.  Kazuw,  Katzhoff;  Kun<lons*pr. 
II,  HI,  IV  bei  Kl.  S.  422,  426,  433  4:  Katzoff; 
Krämerspr.  II  dort  S.  43S  katzuff ;  III  dort  S.  440 
katzof;  IV  dort  S.  442  katzoff :  VI  dort  S.  484 
Katzuff:  Gr.:  K;i/,ev  und  Kazuf  =  iMctzger.  Schläch- 
ter, Fleischer,  A.  JU  auch  —  Fleiscbh&ndler.  Ab- 
leitung ans  dem  Jfidisdieii  s.  bd  A.  L.  tmter 
Kazow; 

Kenn!,  oft  auch  kenn  Mathilde,  ;1n20c  bei  Kl. 
S.  350  Kenn  —  ja;  1h28  dort  S.  nG3  k&nn,  Matthes 
(ja  Bruder)  P)cjalinn;;  auf  die  Fi:age  Kunde?,  1856 
aort  S  415  kenn  -=  Bejahung;  Kundenspr.  II  dort 
8,422  kiCn«>  ja,  ich  versteh'^:  III  kenn  Kunde» 
Kimdengruse  oeim  Erkennen  dort  S.  Ii'«'.:  IV  doit 
S.  4SI  kenn  —  ja  (bei  den  Schlächtern  ^^-bräuch- 
lich  -  sicher  zu  eng  — ;  Kriimei"spr.  11  <loit  S.  4.SS 
kent  —  ja;  Iii  dort  S.  439  Ken,  S.  441  kenn  —  ja; 
VI  kam  —  ja ,  kemi  Mathilde  grtlss  Gott  dort 
S.  482  nnd  4SI;  Kr.  VIT  kenn  =  ja,  duit  S.  491. 
Ableitung  aus  dem  Jüdischen  bei  A.  L  unter 
Ken.   Vgl.  Gr.] 

Kiennadeln,  die  (vgl  Bienen) 


P^ers»  Arbeitsscbeine. 


Papiere  allgemein. 

falsche  Papiere. 
Sciilosaer. 

Schlächter. 


Kundcugruss :  ^Kenn 
oder ^ Kunde .\ntwoit. 
Avenn  bejahend,  dissancli 
der  Gefragte  Kunde  ist : 
„Kenn!"  oder:  ,,keini 
Slathildc".  Letzteres  auch 
ganz  allgemein  ^  „ich 
hab's  verstanden"  bei 
Fragen  aller  Art. 


l'njxeziefer    (al>er  nicht 
Flöhe  I. 


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74 


V.  äcHüm 


Kies,  der  (vgri.  Asche)  11714  bei  Kl.  S.  ITT  Keeoff 

«=  Silber;  1733tlort  2i)2  Kofoff:  1737  dortS.  205 
Käsoff;  1745  Kisoff  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  154:  1747 
bei  Kl.  8.  214  Eisow;  1T.).15  dort  S.  236  Kisoff 

—  Silber;  1755  Kis  =  Beutel  <lort  S.  24(i;  1764 
dort  S.  247  ebenso;  171»  1  bei  A.  L.  Bd.  1  S.  16S 
Kies  —  Silber;  1793  dort  Bd.  4  S.  1*^0  Kis  —  Beu- 
tel, Geld,  Keeav—  Silber;  1S12  dort  Bd.  4  8.  209 
Kies  —  Silberpeid ;  ebendort  1^12  und  1814,  Kiss 
=*  Sack,  Beutel;  l'^ls  dort  Bd.  l  S.  226  Kis^clien 

—  Geld  in  Menge,  Schau ;  lb2U  dort  Bd.  4  S.  236 
Kiss  —  Geld ;  1820e  bei  Kl.  S.  850  Kisof ;  182(id 
dort  S.  Khisow;  1S47  dort  S.  380,  3S1  Kies; 
Kiehsoff  =  Silber:  Fr.  (Jl.  Kis  —  Geld;  1^51  bei 
Kl.  S.  4111  Kicss  =  (ield;  A.  L.  und  Gr.:  Kis, 
Kies,  Kis.H  -«  Beutel,  besonders  Geldbeutel,  Geld; 
l*>Sfi  bei  Kl.  8.417  Kiew  —  Cield;  ebenso  Kun- 
densnr.  II  und  III  bei  Kl.  S.  422.  42»i;  Kramerspr. 
VI  Kis  — Geld  bei  Kl.  S.  481;  LindenberK  1S91 
Kies  —  Geld.  Ableitung  aas  dem  Jüdischen  bei 
A.  L.  unter  Kisl 

Der  Kies  wird  verschmort 

Kilonietorstein,  der  fv^l.  Buddd) 

Kitt,  der  (vgl.  Aschei  sTuhsi-^ch 

Kittchen,  das  |16S7  Kutte  IIaus.s  bei  A.  L. 
Bd.  4  S.  95;  \''^•^  bei  Kl.  S.  2"o  Kitt  =  Bauern- 
huuss;  1750  bei  A.  L.  Hil.  4  S.  1 IK  Kitte,  Kittgeu 

—  Zuchthaus;  lSt)4a  bei  Kl.  S.  277  Kflttchen  — 
Zuchthaus;  Ii»  14  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  200  Kitt  — 
Haus;  ebenso  1812  dort  fid.  4  S.209;  1818  dort 
Bd.  4  S. -J-'T  Kitte  =  Gefangmiss;  lv20c  bei  Kl. 
8.  850  Kittchen  ~  Gefangenhaus;  1S47  dort  S.  3i>l 
ebenso;  18&6  dort  ^.415  desgl.;  A.  L.  Kitt  = 
Sessel,  Tbronsesael,  Dach,  Haus  und  dann  für  alle 
ni«">^lichen  .\i'ten  von  Haus,  so  auch  Zuchthaus; 
Kundenspr.  II  bei  Kl.  8.  422  Kittoheo  —  Arrest; 
III  dort  8.  42t)  ~  (irf.ün^'-niss:  Knlinerspr.  II  kittche 
dort  8.  4.'!^;  VI  Kittie,  Kitt  dort.  8.47!»;  VII  kit- 
chen dort  S. 49u;  Lindenberg  iy»l  Kittchen  =  (Je- 
fSugniss;  Gr.:  Kittchen  —  Gefängnisszcllc.  Ab- 
leitung aus  dem  Jüdischen  s.  bei  A.  L.  unter  Kitt 
Vgl.  die  enoplische  Gaunoi-sprache  bei  Baumann, 
Londinismeu  kiddcu,  iiidlccu  —  Herberge ,  Schule 
für  junge  Diebe;  thieres  Kitcfaen  »  DiebeekQdie 
braucht  femer  der  Volksniund  für  den  ..Tity  Athe- 
naeuni  Club",  in  dem  die  Finanzwelt  der  City  sich 
trifft  Der  Ausdmdc  ist  dort  also  in  weitere 
Kreise  ^redrunpen, 

Kittchenpos,  der  Kiiiulcnspr.  III  bei  Kl.  8.  426 
Kittchenboos  —  GefanfreuwSrterl 

Klappen,  die  (vgl.  Kahn,  Sänftling  [Klappe  — 
IHebskneipe ,  Lindenberg  1891,  ist  wohl  ta  eng, 
doi  li  ilüiftc  Gr.:  Klappe  =  ordinilre  Kneipe,  derge- 
wöhuiichere  Gebraucli  sein.  Ich  habe  ihn  allerdings 
im  mfindlichen  Verkehr  nicht  feststellen  kfinnen 

klappern  i^ffl.  fechten i 

Klappersch  ütz,  der  (vgl.  Hochschfltz)  lbl4  bei 
A.  L.  Bd.  4  S.  215  Klapper-Isch  MFdler;  ebenso 
A.  L.  unter  Klapper;  KuiHlt  iispr.  IV  bei  KL  S.  484 
Klappcn^eliütz  —  Wasseruiüilerl 


Geld. 


Das  Geld  wird  verthan, 

veri>racht 
ßranntweinflaadie. 

Geld. 


(^efangenwärter. 
Schlechte  Betten. 


betteln. 
WinduiüUer. 


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Was  ist  beute  noch  von  der  GAimerqmidie  im  praktischen  Gebraucli?  76 


klaven  (vgl.  bezapfen) 

klemmen  (vgl.  bozupfcn)  [so  aucli  in  der  englischen 
tiannenpraoie  —  Baamann,  Loadonismen  —  pinch 

—  klemmen  für  stehlenl 

Klempners  Karl,  der  {vjrl.  Blitzableiter)  iKunden- 
spracho  III  und  IV  bei  Kl.  8.  42f..  430  —  Gens- 
dium;  Gr.:  ===  Polizist.  Die  englische  (jiaiuierq>nM!he 
nennt  den  Polizisten:  Charifly  —  s.  Banmann,  Lon* 
dinismen) 

Kleist crhengst,  der  (vgl.  Bruchbinder) 
Klinkenpatzen  (vgl«  fechten)  IGr.:  Tbärklinken- 

pntser  Betllerf 
kloppen  (vgl.  fechten)  (Kiimen|ir.  VI  bei  Kl.  8.479 

klopfen  =■  betteln] 
Kluft,  die  (gleich  Schale,  vgl.  Walmusch)  [1450  bei 
Kl.  S.  lf>  klabot  —  Kleider;  1.  v.  Claffot  —  cleidt. 
B.  0.  ebenso!  1.507  bei  Kl.  S.  114  Claffot  «=  ves- 
tis;  1652  Klaffet  dort  S.  157;  1738  dort  8. '»Ol 
Klufftie;  17  r.  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  154  Kiufft  — 
Rock;  Fr.  Gl  Kluft  oder  Kluft  —  Rock,  Kamisol, 
Kleid;  Fr.  G.  Gl.  Claffot  —  Kleid,  Kock;  1^4ii 
bei  l!Ü.  S.  372  Kluft «  Kieidunsi  lb4T  dort  ä. 3b0 
ebenso;  1851  Khift  Book.  Kleid  jeder  Gattnn« 
dort  S.  401;  A.  L.  bei  Kelef:  Kluft  =  Oberkleid, 
Kleid  allgemein,  Mannsrock,  Fraueurock;  issti  bei 
Kl.  8.417  Kluft*  Kleid,  Kundenspr.  IT,  III,  IV 
dort  S,  422,  426,  431  Kluft  =  Anzug:  Krämerspr.I 
dort  S.  435  KUftle  =  Kleid,  Anzug;  VI  dort  S.  483 
Kluft «  Kleid;  lebendes  liothwelsch  dort  4<)2  kluft 

—  Kleider:  Lindenberg  1891  Kluft  =  Kleidung, 
auch  gestohlene  Kleidung;  Gr.:  Kluft  —  Kleider. 

Ableitong  nos  dem  Jfldisolien  bei  A.  L.  unter 
KelefJ 

Knast,  der  [1620 e  bei  Kl.  8.  850.  Knast«  8trare; 

Fr.  C.  Gl.  KnasB  —  Urtheil,  Strare;  1^51  bei  Kl. 
S.  tili  KnaÄS,  Knast «—  Criminalstrafe;  A.  L.  Knas, 
Knast  =  Strafe,  Straf  urtheil,  Geldstrafe;  Kunden- 
spr. III  bei  Kl.  S.  42(5  Knast  kriegen  =:  Uitheil 
empfangen;  IV  dort  S.  431  Knast  GeHinguiss- 
»trafe;  lebendes  Rothwelsch  dort  S.  492  knast  ■= 
Strafe;  Lindenbeiig  1S91  Knast,  Knass  —  Krimi- 
nalstrafe; Gr.  Knas,  Knast  ■*  harte  Strafe:  Ab- 
leitung aus  dem  .TadiBdM»  bci  A.  L.  unter  KnasI 
Knast,  schwerer 

sehweren  Knast  aehieben  [Roscher  in  Gross, 
Archiv  BrI.    s.  27S:  Knast  sddeben  —  Geling- 

niss  bekommen; 
K  iiai  kerivgl.  Baiikarbeit)  machen  | Kundenspr.  III 
bei  KI.     426:  Knacker     Schlaf  auf  Bank,  l  isch, 
blankem  Fossboden;  IV  dort  S.  431  Bankarbeitj 

Knopf,  der  (vgl.  ZwUling)  I182üa  bei  Kl.  8. 346  — 
Kreozer,  ebenso  bei  A.!*,  Knndenapr.  II  bei  Kl« 
8. 422  »  Pf ennicl 

Kober,  der  (vgl.  Kranter) 

K ohlhase,  der 

Kohl,  der  (vgl.  Kolildaniiif) 

Kohldampf  oder  Kohlendampf  (beides  ist  in 
Gebraneh,  vgl.  Dampf,  Kohl)  sehioben  il7',»3  bei 
A.  L.  Bd.  4  S.  Ibi  Koler       Hunger,  kolerig  = 


stehlen, 
stehlen. 


Beitgenadaim. 


Buchbinder, 
betteüi. 

betteln. 

Zeug,  Anzug. 


üitheU. 


Zochthans. 

adiwen  Strafe,  beaondem 
Zuehtiians  haben. 

auf  der  Bank  schlafen,  be> 
sonders  in  der  Bienen- 
kammer, aber  auch  sonst 
in  zum  Schlafen  bestimm- 
ten Räumen. 

zwei  Pfennig  (weil  grösser 
als  Tupf). 

Meister,  Prindpal. 

Gärtner. 
Hunger. 

Der  nungv,  hungeni. 


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76 


hanferig; 
K<dlaamp 


1^21)  dort  lid.  4  S.  23T  Kolter;  Fr.  Gl. 
läampf,  Koller  —  Hun/fcr;  Kundcnspr.  II  bei 
Kl.  S.  422  Kohldampf  schieben  —  Hanger  leiden; 
Kiiamspr.  II  dort  S.  4SS  dstnpf  —  Hnnfrer;  VI 
dort  S.  l'^2  oboiiso;  (ir.:  Kolildiuiinfsrliithor 
HniMCer.  Koscher  bei  Gross,  Archiv  Bd.  '.i  8.  277: 
Kohldampf  schieben  —  .wenn  der  Zuhälter  ohne 
Fmuonzimmor  ist,  daher  kein  Geld  hftt^  ist  Mkt- 
»chii'den  viel  zu  eng  gefasst] 
Kohl  ri'ibeu,  macheu,  pflanzen  (österrciehisch: 
Pflanz  machen,  vgl.dort(lS12  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  210 
kohlen  —  erzählen;  1820  dort  Bd.  4  S.  236  kohlen 
—  erailhlcu,  essen ;  Fr.  Gl.  kohlen  -»  erzählen,  lügen, 
»cherzen,  spaaeeo:  kohlreisaen  —  Lügen  an- 
hangen, Spaas  machen;  A.L.  Kohl  reiflaen  —  be* 
trugen,  täuschen  unter  Kol  — ;  Kundenspr.  II 
Cohl  reisseu  —  Lügen  auftischen,  Witze  reisseu 
bei  Kl.  S.  422 ;  III  dort  S.  4M  >  anlügen .  vor- 
schwindeln; IV  Kohl  machen  =  tinnutlii^-o  Worte 
machen,  den  Leuten  lieiui  Fechten  Krankheiten. 
Unglücksfälle  u.  s  w.  voiBcfawindeln,  dort  S.  4SI; 
Krmnervpr.  VI  Kohl  reissen  —  Ifigen  dort  S.  483. 
Ableitung  aus  dem  .Indischen  hei  A.  L.  unter  Kol! 
Kohl  si  Ineben  (Koliltlami)f  .schieben  v^l.i 
Kommando  schieben  (vgL  fechten)  [Knndenspr 
II  bei  Kl.  8. 422  betxeln,  von  einem  Ort  ans 
abwechselnd  in  der  Umgegend ;  IV  dOTt  S.  430  — 
aus  der  Stadt,  wo  man  zugewandert  ist.  nach 
den  nächsten  Dörfern  gehen,  diese  abbettem  und 
in  dieselbe  Stadt  nufiokkehren] 


Kommandoschieber,  der  'Kundenspr.  III  bei  KI. 
S.  424:  Kommandobrüder,  Kommandoschieber 
Kunden,  die  monatelang  auf  einer  Penne  liegen 
and  die  D<Orfer  ringsum  nach  und  nach  abkloppen] 
Kommerzienrath,  der  (vgl.  Kegierungsrath) 
Kopf  scbuster,  der  [ebenso  Kundenspr.  IV  bei  Kl. 
S.  4341 

Koppeschale,  die  (vgl.  Düble,  Obermann) 
kraenen  gehen  (vgl.  hodigdien)  (Kundenspr.  III 

bei  Kl.  b.  42(5  =  arretirt  werden' 

Krauter,  der  (vgl.  Kober)  ll!>20c  bei  Kl.  S.  350 
»  Spinnmoister,  Kundenspr.  II,  Hl  und  IV  bei  KL 
S.  422,  426,  in  =  Meister; 

Kreuzspanne,  die  i,l*».5ij  bei  Kl.  S.  415  Kreuz- 
spann; A.  L  Kreuzspanne;  Kundenspr.  II,  III,  IV 
bei  Kl.  S.  422.  42ti,  431  ebenso;  Krämerspr.  II  dort 
8.  4SS  Kreuzspann,  Spanner  und  Kreuzspanner  -» 
We>ti'' 

Krune,  die  Ii.  v.  Kronerin  «  efraw;  B.  (J.  kröne- 
rin  —  efrow;  154T  bei  Kl.  8.  93  Kronle  een 

wiif;  l.iO'i  dort  8.112  Krencrin;  i:-'.>T  Kröner  — 
vir  dort  S.  115;  1020  dort  b.  130  iüönerin— Weib; 


auf8chneiden,lQgen,8cfawfai- 
dein .  unter  enogenen 
rn)!<tänileii  betteln,  be- 
sonders auch  erlogenen 
Jammerbiief  schidcen, 
anf  Gnmd  deesen  man 
dann  n.nchstons  selber 
vorsprechen  und  die  Ga- 
ben abholen  will. 


hungern. 

Leute,  die  in  einer  Stadt 
oder  einem  Dorf  Ihr 

St:ind()uartier  lialK-n  .  in 
das  sie  Abends  oder 
Nachts  regelmJUsig  zu« 
röckkehren,  und  die  plan- 
mäsäig,  oft  zu  mehreren, 
in  groeeen  Kreisen  von 
da  die  ganze  Umjg^end 
abfeehten.  Geschieht  be- 
soii(li'r>.  wenn  sie  in  der 
Stadt  etwas  auf  dem 
Kerbhob  haben,  bia  das 
^^  ieder  in  VeigeMenheit 
geradien  ist 


Schneider. 
Hutmacher. 

Ilut«  Kopfbedeckung, 
verhaftet  werden. 


Meister,  Priiuipal. 


Weste  (ganz  allgemeia). 


Meisterin,  Hausfrau,  Frau. 


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Was  ist  heute  noch  ▼om  der  Gsnnerspradie  im  pnktisdieii  Gelmuidi?  77 


1T55  dort  S.  240  Kröueriii,  auch  Krone  —  Ehefrau; 
1S51  dort  S.  402  Krone  —  Gattin,  Geliebte.  A.  L. 
unter  KrGne:  Krone  —  Frau  und  Kreutzer;  18&6 
dort  8.417  Krone  —  Geliebte;  Kundcnspr.  TU 
dort  S.  42r.  Krone  =  Wirthsfrau :  IV  dort  S.  I.U 
Krone  jode  Frau,  ob  die  eine»  Knechtes  oder 
die  «taiee  Orafen  iet  gieichgfiltig-;  lebendes  Roth- 
welsch dort  S.  492  Krone  —  Mädchen.  Gclicbto, 
Braut,  Frau:  Gr.:  Krone  — >  Frau,  Gattiu.  Ab« 
leitunic  ans  dem  JAdlschen  s.  bei  A.  L.  unter 
Krnnel 

Kiilp.  die  (v^l.  Dohle)  [englische  Gaunersprache 
hat  kelp  =  Ilut,  s.  Baumann,  Londinismen] 

Kunde,  der  [IS2S  bei  Kl.  S.  363  —  Stromer:  Kon- 
denspr.  II  dort  S.  422  —  Handwerk»bur»cn ;  III 
dort  S.  42fi  Reisender;  IV  dort  S.  4.'il:  , Kunde 
ist  man,  wenn  man  zum  zweiten  Mal  in  demselben 
Strich  reist*,  ist  so  eof  und  hnrdYUurend] 


Kunde?  lAutwort  .Kenn"  oder  „Kenn  Mathilde", 
jetzt  auch  oft  ..servns",  letzteres  in  Oesterreich 
aligemein.  [Ableitung  aus  dem  Jadiscben  bei  A* 
L.  miter  Ken] 

kündigen  (vgl.  schärfen,  verkündigen)  [1.  v.  kim- 
mem;  B.  0.  Kümmern ;  1616  bei  Kl.  S.  130  kimmer; 
1630  dort  8. 187  k&mmem;  1733  dort  8.  201  kS- 
nigen;  1753/5  dort  S.  286  kundigen;  1704  dort 
247  kaune  königen;  1793  dort  i'.  271  konigen; 
Fr.  Gl.  kindigen,  Icftadigcn;  Decckc  bei  A.  L. 
Bd.  8  S.  249  kingenen:  Chrysander  dort  Bd.  8  S.  4i)5 
kinjcn;  1S20  dort  Bd.  4  S.  23S  kininiern;  A.  L. 
unter  Kone:  kanjen,  kangen,  kinjcnon.  königen, 
kone  sein;  Knndenspr.  IV  bei  ivl.  b.  432  kündigen; 
Lindenbei^  1891  hangen ;  Gr.:  kfimmem  kaufen, 
erwcrhcn.  Nur  Gr.  bringt  ..kinjonen''  für  ver- 
kaufen, was  kaum  zutreffen  dürfte.  Ableitung  aus 
dem  Jüdischen  bei  A.  L.  unter  Kone] 

K  u  n  d  e  n  f  fto  g  er ,  der  (vgl.  Fauler»  aber  auch  flnnde- 
fäoger) 

Kunst,  die  (z.B.  Kunst  kriegen) 
Kunst-  und  Elementenfärber,  auch  bloe  £le> 
mentenfiteber,  der  (vgi.  Bpeiel) 

Laden  stossen  (vgl.  fechten)  [Kundenspr.  bei  KI. 
427  -rnur  in  Liden  (offenen  Geschtftskiealen) 

l>ettfhaj 

LaugschBfter,   der  (andi  PaiqMnh^er,  vgl. 

Teppe) 

Läppchen,  das  (vgl.  Fettlappchen)  ^Kundenspr.  III 
bei  Kl.  S.  427  —  Berg-  und  Tnalversetzer,  ui-sprüng- 
lich  gewiss  unrichtig,  seit  Verdrängung  der  üand- 
weberei  dnrch  die  Maschine  aber  vieDddit  dann 
un<l  wann  als  gleichl>cdi'utoiid  gebraucht] 

Laterne,  die  (vgl.  Blaue)  alt,  besonders  in  Württem- 
berg gebraucht,  im  Norden  selten,  hier  dag^n 
häufig  Blauer.  Putz,  Schmiere  A.  L.;  Gr.:  ebenso] 

Laufmann,  der  (vgl.  Ellenreiter) 


Hut. 

jeder  „wandernde  Hand- 
werksbursch*  ganz  all- 
gemein ,  auch  wenn  or 
nie  ein  Handwerk  getrie- 
ben hat,  also  die  ganze 
Bevölkerung  unserer 
Landstrassen  und  Her- 
bergen ohne  Untersdried 
von  gut  uml  liTiso. 

lUs  fragender  Kundeugiiiss 
gebraneht. 


kaufen  (besonders  vnni 
Brodfahrer  u.dgl.L>euteu, 
aber  auch  von  jeder  Hei^ 
bergsvei-steigcrung  und 
sonstigem  Handel. 


Geheimpolizist  (nach  ande- 
ren auch  Zuführer  der 
Stellen  vermitder). 

Arbeit. 

Bierbrauer. 


nur  bei  Kauflenten  bettehi 
(um  Geld  oder  Waan). 

SchaftstiefeL 

Weber. 

Polizei. 
Kaufmann. 


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78 


V.  ScHcize 


Laaseharke,  die  febenao  Kimdcnspr.  m  uiid  IV  | 

bei  Kl.  S.  427.  4311 

1  c  (1  e  r n  [  Kundenspr.  II  auBbcuten,  an  der  Nase  führen 
bei  KI.  S.  422 ;  III  dort  427  —  elmn  aohlafenden 
Kunden  oder  Pernon  bei^tohleii] 

Le^'uui,  (ioseliUM'ht?  (vjjl.  Hanf)  ;l4.')<i  l)t'i  Kl.  S.  15 
Lem  =  brott;  UUi)  dort  S.  20  lecheni  =«  brott ;  1.  v. 
Lehern— Brot;  Dcccke  bei A.L.Bd.8.  S.250  lechem ; 
1620  Lehern  — Brodt  von  Lediem  bei  Kl.  S.  1.34; 
1637  dort  S.  151  Lehern:  U)52  dort  S.  156  Lechem; 
1687  bei  A.  L.  Bd.  4,  S.  »4  Löben;  1722  dort 
Bd.  4,  8. 114  ebenso;  17SS  bei  Kl  8.200  Leehnin, 
Lehm;  1747  dort  S.  214  Leehem ;  1755  dort  S.  240 
Lagum— Lechem;  1791  bei  A.  L.  Bd.  4,  S.  Hiy. 
ham;  1798  dort  Bd.  4,  S.  18u;  i^DTa  bei  Kl.  S  2^9 
Leben;  1S12  Lea^m,  lsi4  LUchein  Itei  A.  L. 
Bd.  4,  S.  211;  1^20  dort  Bd.  4.  S.  2;<4  Lächuni; 
1S20  bei  Kl.  S.  854  Lechem  —  Brod;  Fr.  Gl.: 
Leben  (der  spargraue)  —  verschimmelte  Brot, 
Lechem,  der  —  schwarze  Brot,  Lochum  »  das 
schwarze  Brot,  der  Jude;  1851  bei  Kl.  S.  402 
Lochern  •»  Brot;  A.  L.  u.  ür.  Lechem,  L<^em,  Le- 
sum, L^m,  A.  L.  andi  Löhm-BBrot;  Knodenspr. 
II  bei  Kl.  S.  423  Li{riuin;  III  dort  R.  427  Lcfnira  = 
Brod;  I\'  dort  S.  432  Legum  trockenes  Hrod; 
Krämerspr.  II  dort  S.  43S  lechem,  leagem:  III  dort 
S.  4"iM  Liachnion.  S.  411  Lcrhniann,  Lechnien.  T.aik- 
wen;  IV  dort  8.  442  U  ( licui ;  VI  dort  S.  4!jU  i/m, 
Lechem;  VII  dort  8.  490  löm,  lem  — Brot  Ablei- 
tung auf  dem  Judischen  bei  A.  L.l 

Leicnenfledderer,  der  Cbezupft*^  den  Betrun- 
kenen) iKundenspr.  III  bei  Kl.  S.  427  —  Beniuber 
einer  eingeschhifenen  Person;  allgemeiner  Gr.] 

Lehm  er,  der  <gebr8nchlicher  als  Teigaffe,  auch 
Leobschütz)  11750  bei  A.  L.  Bd.  4.  S.  IM!  Loirum  = 
Schupfer,  Löben  —  Schütz  ^  Beck;  175;;  5  hei  Kl. 
S.  286  Lechemschleber  =  Becker:  ls20  bei  A.L. 
Bd.  4,  S.  284  Lenior;  lH2tic  bei  Kl.  S.  351  Lehnier, 
Lecheiuschieber;  Fr.  (iL  Lcbenjjflänzer,  Lcbeu- 
schieber;  A.  L.  Lechenischieber;  Kundcnspr.  II  bei 
KL  S.  423  Lehmer;  lU  dort  &  427  und  iV  dort 
S.  488  ebenso;  lebendes  RoihwelBdi  dort  8.  492 
li'^'^niiisohieber;  Gr.:  Lechenischieber  —  Backeri 

Lehmschütz,  der  (vgl.  iiochschütz,  aber  auch 
Lefamer) 


Link  ibcsi)n(lci->i:  linker  KiiihIc)  1755  bei  KI.  S.  240 
-=  fal;*cli;  1M2  und  1^11  bti  A.L.  lid.  4,  S.  212, 
sowie  1S20  dort  Bd.  4,  S.  236  ^  falsch;  l'!i20c  bei 
KL  S.  351  link  -  die  LQge;  Fr.  GL  link  »  falsch, 
schlecht,  dnmm.  wild;  1851  bei  Kl.  8.  402  —  falsch, 
verfSlscIit.  n;irli;,'eniaclit,  unecht:  A.L.  alles, 
was  nicht  ivcht,  nicht  richtig  ist;  Kundcnspr.  11 
bd  KL  S.  428  ungeschickt,  schlecht,  falsch ;  III  dort 
S.  427  =  falsch  ;  lebendes  RothM  cIsch  dort  S.  492 
■-dunm):  Lin<lenberg  IblM  =  alles.  \\  :is  verdächtig, 
falsch,  nachgeahmt  ist;  (ii  :  =  nllcs,  was  falsch 
ist.  Im  Kufrlischen  ist  der  Ausdruck  „link"  zwar 
nicht  in  die  Gauner-  wohl  über  in  die  Juden- 


Kamm. 

rupfen,  sein  Spiel  treibeu 
mit  Jenumd«a. 

Brod. 


der  den  Betmnkenen  oder 

Schliifcndcii   (icld  ond 
Sachen  abnimmt. 
Bleker. 


mir  mehrfach  für  >IQiler, 
beeondm  Windmüller 
angeffpben.  nach  Obifreni 
unter  Lchmcr  aber  wohl 
eigentlich  ■>  Bicken 

6egen.satz  von  dnft  (z.  B. 
schlechter  Kamerad  und 
dergl.i,  schlecht,  falsch, 
vermischt,  plump,  unge- 
aefalckt 


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Was  ist  heate  noch  von  der  Owuunpradie  im  praktisdieii  Oehnndi?  79 


spräche  überfycfjangen :  link  — •  nicht  recht,  ver- 
kehrt, uicht  fn)nini  —  Baumnnn,  Londonismen 
Linkniichfl,  der  iKundenapr.  II  bei  KI.  S.  423  =— 
Einfalt-sninsel;  III  dort  S.  427  —  schlechter  Ka- 
merad; Iv  dort  S.  432  —  junger  Handwerksbursche, 
der  den  Fecbt-  und  Tippolkommoat  noch  nicht 
kennt;  Qr.  —  beginnender,  nngeedilekter  Vaga- 
bnnd' 

links  wachen,  z.  B.  die  blande 

Loorchen,  diu<  (vgl.  Kaiserini  Kundcnspr.  III  bei 
KI,  S.  427  —  Kaffeebrödclien ;  IV.  dorr  S.  432  — 
Semmel  au  2— 3  Pf.;  Gr.  liat  Lurchen  und  Lerchen] 

los,  etwas  loa  haben»  s.B.  Geld 

Lnftschiff bremser,  der 
machen  nach 

HalOr,  der  (vgL  DradESchwaUw)  nach  einigen  im 
Sommer  ^laler,  Im  Winter  Maldr,  wohl  veraorben 
ans  malhenr 

Malv&sier»  der  (vgl  Dreoksdiwalbe) 


M:in>clietten.  die  (vf.^!.  Acht) 
Mascharus,  der  (vgL  Kalt«diiäcbter,  Maachnms, 
Meeeh<npeB) 

Maschnrns  (vgl.  Maschanis) 

Mcfschores  (vgl.  Maschanis)  wohl  das  richtige. 
iDeccke  bei  A.  L.  Bd.  :i.  S.  249  M^hores  — 
Diener;  1737  bei  Kl.  S.  2ü7  ebenso;  1750  bei  A 
L.  Bd.  4,  S.  134  und  1S(I7  ebendort  S.  IbO  desgl.; 
1S13  bei  Kl.  S.  309  Mascliur.  .Me-^chores—»  dienender 
Abdecker;  1823  dort  b.  3bu  Meachores  »■  Knecht, 
Bedienter;  Fr.  6.  Gl.  Maschoree  and  Meschoree 
=r.  Knocht.  HaiiskiH'clit,  Diener;  A.  L.  Miischur  und 
Mcscborefi  Abdeckerkuecht,  Diener,  Knecht  und 
ihnl.:  Knndenspr.  III  bei  Kl.  S.  427  Maschoree  « 
Anstaltsauf  seh  er;  Knlmerspr.  II  bei  Kl.  S.  4.H8 
ina-Hchores  «  Knecht:  Gr.:  Moschurcü  Dionor. 
Ableitung  aas  dem  Jfldiseheo  bei  A.  L.  unter  1I»> 
schurl 

Mattine,  die  (vgl.  Tippelei)  |17^T  bei  Kl.  S.  2.*)2 
Martine  —  Land;  17«»3  dort  S.  271  und  1M2  bei 
A.  Li.  Bd. 4,  S.2i2  ebenso:  lSi4  ebendort  Mattine; 
1818  Merthie  LandMrame,  Wahdine  •>  platte 
Lnii.l  ilnit  Bd.  4.  S.  227;  1^20  dort  Bd.  4  S.  J^O 
Martini  <->  Land;  lä2Uc  bei  KL  S.  351  Meithiuo: 
anf  der  Merthlne  geben  —  auf  der  Landstrasse 
umhergehen,  um  zu  stehlen  —  zu  eng  — ;  1*^23 
Matina  dort  S.  360;  IMO  Martine,  .Medine  S,  ytiS 
dort;  Fr.  G.  Gl.  .Medine,  Medino,  Mcdina  — Land 
A.  L.  und  Gr.:  Medine,  Martine,  Mattinc,  A.  L. 
auch  Mfirtine  «=  Gerichtsliezirk,  I.Kind;  Knndenspr. 
IV  bei  Kl.  S.  432  Matioiir  =  Wanderschaft;  Krä- 
mersur. III  dort  S.  440  Mardvine  —  Welt,  £>.  441 
attf  die  Mardahie  gehen  —  auf  den  Handel  gehen. 
A))leitung  ans  dem  Jftdiachen  hA  A.  L.  unter 
Medimcl 


etwa  linker  Kunde,  vgl. 
bei  link;  schlechter  Ka- 
merad ,  unbeholfener, 
simpler,  onbranchbaFW 
Mensph. 

um  kehren,  z.  B.  das  Uunid. 
Semmd,  Rnndstack. 


etwas  los  sein,  dnndige* 

bracht  haben, 
s.  Wolkenachiebcr. 
wandern  nach. 
Maler. 


Maurer,  da  die  sich  bei  der 
Arbeit  viel  Zeit  lassen 
und  der  theure  .Mulvasier 
nach  Kuudensage  aus 
ihren  Schweisstropfen 
desHIiirt  wird. 

Ilaiul-clicilen. 

Frohner. 

Frohner. 
Frohner. 


Wandei"sichalt. 


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80 


V.  SuuCnB 


mausen  (vgl.  bezupfen)  aber  nicht  allein  Kunden- 
ausdruck 

Mesumme,  die  imd  niesuimmcs,  das iDeecko  bei 
A.  L.  Bd.  S,  8. 3S8  Hesninnien  —  Oold;  176S  dort 

Bd.  1,S.  n:.  Mnniine,Mees==(;oId:  1745  dort  Bd.  4, 
S.  Mocs  —  Geld:  1753/5  bei  Kl.  Js.  236  Mesum: 
17.55  dort  S.  2S8  ebenso:  1S07  bei  A.  L.Bd.4, 
S.  is<»  Mcssumuic;  Fr.  G.  (U.  Massuuinic  1^47  bei 
Kl.S.  3*?;i  Metiumme:  1*»51  Meftsuninie;  dort  S.  405: 
A.  L.  Mesumme;  Krämerspr.  II  massumes)  durt 
8. 4Sb;  Iii  dort  S.  4S9  Maschummen;  Gr.  Meeumme 
—  Geld;  Ableitung  aus  dem  Jfldisehen  bd  A.  L. 
unter  Mosiiimiu'ni 

Meter,  der  (v^l.  Flachs)  nicht  allein  Kuadenaus- 
druck.  iKuDUenKpr.n  und  Krimerspr.  V I  bei  Ri. 
b.  V2?i.  4*« 4  ebenso  I 

mogeln  oder  nioggeln  bezupfeu  und  kaspern) 
mogeln  betrügen  kennt  auch  unsere  Studenten- 
sprache. Vgl.  nn»gul  -=»  bemogeln,  begaunern,  be- 
schwindeln in  d(>r  (>nglischcn  Sportsprache  bei 
Baumann,  Londoninmenj 

Monnce,  das  (vgl  Asche) 

Moos,  das  (Vgl.  Asche)  (1753/5  bd  Kl.  S.  2S6  ebenso; 

ISIS  bei  A.  K  V.i\.  4.  S.  227  —  r.dd  oder  Ccldes- 
werth;  I82()c  bei  Kl.  b.  .H51  Moos  =  Geld,  alto 
Sprache  Mess.  Ebenso  1820  d  dort  S.  1821 
dort  S.  3.50;  1S47  dort  S.  3*^:1  und  Fr.  (  J.  (JI.  1851 
bei  Kl.  S  405  Moos«:  I85ti  Moos  bei  Kl.  8.  417. 
Ebenso  A.  L.  1886  dort  8.417.  Kundenspr.  II  bei 
Kl.  S.  423  und  Krämerspr.  VI  dort  8.  4SI.  Ab- 
leitung aus  dem  Judischen  bei  A.  L.  unter  Moot. 
Die  englische  Gauneniprache  hat  niop»isiH)e8  asd 
moea^Geld,  s.  Baumann,  Londouismeni 
mopsen  (vgl.  becupfen)  iso  audi  Ktmdenspr.  III  bei 

Kl.  S.  427' 
Mülierflohe,  die  (vgl.  Bieueu) 
Mnesspritze,  die 

Mutter  Grün,  bei  M.  ü.  schlafen  (vgl.  Platte 
reissen)  [desgl.  Kundenspr.  III  bei  KI.  427] 


Dach  bleuen  (vel.  bienen)  [Kundenspr.  III  bei  Kl. 
427  ebenso;  IV  dort  8.480:  der  Vater  bient— er 
revidirt  vor  dem  Scldafengdieil,  ob  jemand  Un- 
geziefer oder  Krätze  hat] 

Nadeln,  die  (vei^^l.  Bienen) 

Nassauer,  der  ivergl.  A.  L.  unter  Nass;  1*»t7  iM'i 
Kl.  S.  .(SM  =  Liebhaber,  der  niclit  zahlt  —  zu 
eng  ~ 

Naturforscher,  der  [Kundenspr.  III  bei  Kl.  8. 
427  «  Lumpensammler] 


steiilen. 
Geld. 


Nuntius,  der 


Markstäcic. 


stehlen,  auch  betrügen,  be- 
•enden  beim  Sj^eL 


Geld. 
Geld. 


stehlen. 

Läuse. 

Regenschirm. 

im  Freien  nfichdgen. 


auf  Ungeziefer  untersuchen. 


Läuse. 

Regen,  andi  Scfamarotser. 


Jemand,  derdieMQllhaufen 
und  die  vor  die  Thflren 

Sesetzten  Mülleimer 
urchsuebt  nach  irgend- 
wie yerweithberem  Abo 

fall. 

Gerichtsdiener. 


Obermann,  der  (vcrgl.  Dohle,  Koppeschale)  [1087  i  Kopfbedeckung,  Hut. 
bei  A.  L.  Bd.  4  S.  93  —  Hut;  ebenso  1722  dort  < 


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Was  ist  heute  noch  von  der  Gatmetspiache  Im  praktischen  Gebrauch?  81 


Oschütz,  der  (vergl.  HochschfltE)  wird  allgemein 
gebraucht  wie  Roller] 


H<l.  4  S.  IlG:  1738  bei  KI.  S.  201  =  wüllener 
(»der  von  Stroh  — ;  1745  —  Hut  oder  Haufbuden 
bei  .\.  L.  Bd.  4.  S.  15«;  175?'.  ö  bei  KI.  S.  236 
«  Hut;  lb04a  dort  S.  27s  =  Hut,  Mütze;  1812 
und  1S14  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  214  =  Hut;  ebenso 
mb  dort  Bd.  4  S.  226;  1^20  dort  B<L  4  b.  239 
Obcrma  —  Hut;  1820c  bei  Kl.  S.  851  nnd  1847 
dort  S.  8S4  Ubennann  —  Hut;  Fr.  Hl.  (»hcnnann 
»  Speicher,  Boden,  Bühne;  1856  bei  Kl.  S.  415 
—  HQtte;  A.  L.  —  Hat  oder  Boden ;  KmidenRpr. 
II  und  III  bei  Kl.  S.  423,  427  —  Hut;  IV  dort 
S.  432  —  Kopfbedeckung;  Krämerspr.  VI  dort 
8.  Ahl  und  IJndenbeig  1891  »  Hut;  Or.  «  Hot 
oder  Roden 1 

Ochsen  köpf,  der  [1847  bei  Kl.  S.  37b  — -  Arbeitu- 
haus  allgemein,  das  trifft  für  den  heutigen  Ge>  i 
brauch  sicher  nicht  zu] 


Nur  in  Berlhi  gebräuchlich 
für  Arbeitshaus  und  zwar 
jetzt  nur  noch  für  Rum- 
melsburg. Der  alte 
^Ochsenkopf^  soll  auf 
dem  AiexaaUerplatz  ge- 
standen nnd  seinen  Na- 
men  auf  Hummdsbuig 
vorerbt  haben. 

Hflller. 


Pachulke,  der  [1847  bei  Kl.  =  Hausarbeiter  im 
Gefängniss;  A.  L.  ebenso;  Kuodenspr.  IV  Haua- 
knech^  in  der  Regel  ein  dter  Knude,  der  diesen 
Dienst  in  der  Ponno  nbomimmt  bei  Kl.  S.  432; 
Lindenberg  IbUl  -=  Kalefactor  im  (tcfangnias,  d.h. 
Stnfgefangener,  der  den  andern  Gefangenen  Spei- 
f«en ,  Wasser  zum  IteinifJi^on  der  Zellen  u.  s.  w. 
bringt;  Gr.  —  Hausarbeiter  im  Gefängnit«*.  Ab- 
leitung vom  böhmischen  Pacholjk  bei  A.  L. 

paikern  (veigL  k^K>rea  gehen)  [1764  bei  Kl.  S. 
248  pegem  —  verrecken  1799  dort  S.  271  Beger 
—  Tod;  lb07a  dort  S.  2'^!>  pegem  —  umbriu'rcn; 
1818  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  22b  päkern  —  morden; 
iMO  dort  S.  249  M«ret  gestorben,  bikeren  — 
sterben;  lS20c  bei  Kl.  S.  .'552  pckem  —  morden; 
Fr.  ül.  begeren,  pekcreu.  pegem,  pejem  —  sterben, 
tödten,  umbringen,  beger  nnd  beknr  »  Tod; 
1S51  bei  Kl.  S.  4i)6  peigem  —  sterben,  crepieren, 
eigentlich  aber  crepieren  machen,  vergiften,  be- 
sonders von  Hunden,  auch  umbringen  (von  .Men- 
schen); A.  L.  unter  Peger  pegem,  peigem  — 
sterben,  sterben  machen,  vergiften;  eben«o  Gr.; 
Kiiii<lt  iis[)r.  III  bei  Kl,  S.  127  nciikiin  sterben; 
Krämerspr.  III  bei  Kl.  L.  S.  442  i'e^'^^i  ru  «  sterben ; 
IV  dort  487  b(>kercn  ebens«*  Ableitung  aus 
dorn  .lüdiHcheu  bei  A.  L.  unter  l'egerl 

Pappenheimer,  der  (vergl.  Laugschüf tcr ,  auch 
Tfeppe) 

Parngraphenmeister,  der  (vergl.  Spioss) 
Pariser,  (Ue  (auch  ausserhalb  der  Kundenkreise, 
besonder«  in  der  ZnaanuneuBetsung  »Füzpariser'^ 

goVirruiclilifli. 
Aiciuv  für  KriiDuuüaikUiropologie.  XII. 


Knecht,  unffcbildeter,  or- 
dinärer Mensch. 


sterben. 


Schaf  tstiefoi. 

Staat.H-  bezAv. 
Filzschuhe. 


Amtsanwalt 


6 


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82 


V.  SchCtke 


Pech,  das  f1840  bei  Kl.  S.  S69  Plcii  —  Silber; 

l^^tT  dort  S.  :?s4  olionso  und  Pcoli  =  rnfflöek; 
l^öl  Pech  =  l'ngiüek,  Pich,  Picht  =■  Geld,  dort 
S.  406:  issfi  dort  S.  417  Pich  —  Geld,  Pech  — 
Un{jh"i('k  ;  Kiindonsiir.  II  dort  S.  423  Pech  =  Un- 
glück; Krämei'si)r.  11  dt»rt  S.  4i{!>  poch  =»  Geld; 
VI  dort  8.  481  Bich,  Pich  -r  Geld 

Penne,  die  (verj<l.  wilde  Penne)  ISB  bei  A.  L. 
Bd.  4  S.  227  —  Gasthau»;  lS2<)c  bei  Kl.  S.  352 
—  Haus;  1^17  dort  S.  384  —  Herberge,  Nacht- 
quartier, Kneipe;  A.  L.  —  Verkebrehaua,  Wirths- 
hau8,  Schlupf  Winkel;  Kandenspr.  I  bei  KI.  ti.421 
Piinunc  =■  Herberge;  II  iloiT  S.  12.1  Penne  — 
Kneipe;  III  »lort  S.  427  —  Herberge;  IV  dort  S. 
432  jede  Herberge,  Dorfschenke  u.  s.  w.,  in  der 
Handwerksbnrsclien  ilher  Nacht  bleilten.  Ableitung 
aus  dem  Jiidi.Hclien  bei  A,  L.  unter  Penne 

Pennepoos, der,  oder  Penneboosoder  Penne- 
poost,  aacb  Po  est  [1  v.  Bo^i8  »  haus;  Fr.  Gl.: 
Bo9,  Boos  =  Herberge,  (Quartier;  1S56  bei  Kl.  S. 
415  Penneboss  —  Wirtli  ili  i  Penne;  Kundonspr. 
I  dort  8.  421  Bos  —  Horbeif^svater;  III  dort  8. 
4^  PeimebooB  nnd  IV  dort  8.  482  Penne-Poost  — 
Herberp-svater;  Lindenberg  1891  B08t  —  ScUtf- 
wirth  des  Diebes  —  zu  engl 

pennen 


pfeifen;  verpfeifen,  jemanden  (vergl.  zinken) 
11783  bei  Kl.  8.  200  pfeifen  —  angeben;  1807  bei 
A.  L.  Bd.  4  8.  is'.t  pfeifen  bekennen;  1847  dort 
S.  SS5  '  einräameo,  gestoben;  A.  L.  »  bekennen: 
Kondenspr.  III  dortb.  427  ebenso  nnd  verpfeifen 
vcrrathen;  Liniloubcri:  I'^'M  jtfeifen  «  einge- 
stehen,  veri)feifen  =  venathen;  Gr.:  pfeifen  •» 
^esthebcn,  einen  Andern  hineinbrini;en :  Rosdier 
m  Gross,  Archiv  Bd.  3.  8.  278  pidfen  »  ver- 
rathenl 

I'f( nleschuster,  der  [so  andi  Knndenq[»r.  n  b« 

Kl.  iS.  4231 

Pflanz,  die  (österreichisch)  jvergl.  A.  L.  unter 
Pflanzen:  der  Pflanz       die  Lü^rc,  der  Vurwandl 

Pflanzen,  auch  Pflanz  machen,  letzteres  an- 
geblich Ssterreidiisch  «vergl.  Kohl  reiben  |A.  L. 
untrr  ITIaiizeii:  einen  Pflanz  sotsen  «  Jemand 
etwa."*  v»)rlü;,'eu,  weissniaehen] 

Pflanzer,  der  \  er;;!,  A.  L.  unter  Pflanzen :  dieser 
wie  Gr,  und  alle  frülien-ii  kennen  das  Wdrt  nur 
in  der  allfjenieiiien  Bedeutung  —  Verlerti^'^er.  Ar- 
beiter in  ZusamniensetsungWi.  8o  1<>S7  bei  A. 
L.  Bd.  4  S.  81)  Trittling»-,  Kluft  -  Pflantzer  für 
Schuster,  Schneider;  Fr.  Gl.  der  moröblische  Pflan- 
zer ( Jell»j;ie>s*er.  In  der  Kunden-«praclicjedocli  bat 
CS  sich  zu  der  feststehenden  äunderbedeutung: 
Sdiahmacher  heransgebilctet,  wie  sich  anch  daraus 
erfficbt.  dass  es  so  in  allen  J?anindiingeu  der- 
selben, abi-r  auch  ntir  in  dieMii  auftritt.  Vergl. 
Kondensor.  I.  II,  III,  IV  bei  Kl.  &  421,  423,  427, 
Itl,  an  diet^er  letzten  Stelle  ^Flanzer^  gmcbriebenj 

Pfriciuer,  der 


UngUck:  mm  Geld,  habe  ich 
es  niur  in  der  Zusammen- 
Setzung  „Schlommer^ 
pech"  leststellen  kOnnen. 


UerbeiKe* 


HeibeigBvatMr. 


Herberge  —  besonders  zom 
Naelittjuartier  —  be- 
ziehen. 

verrathen,  gestehen. 


Sattler. 

Schwindel,  LQgerel. 

aufschneiden,  lügen.  l)esnn- 
ders  wenn  man  erst  spater 
(wenn  die  8ttt  aufge- 
laufen i  daraufhin  Oafioi 
holen  will. 

Sdiahmacher. 


Schuhmacher. 


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Wm  ist  heute  nodi  von  der  Gannenprech«  im  imktischen  Qebianch?  88 


Pf  und,  halbes  (veivl.  SancCns)  iKnndenspr.  III  | 

bei  KI.  S.  427  » j  Pfund  =  gros»,  Olas  St-hnaps' 

Piccu»  oder  Pickua,  der  (vergl.  Hachelei)  11S47 
bei  Kl.  S.  3S4  PickuB  »  Enen;  Kundenspr.  II 
und  III  dort  S.  423,  427  ebenso;  IV  dort  S.  432 
warmes  Essen ;  Kriimerspr.  VI  Bickus  und 
Bickerei  *  Essen,  dort  S.  480;  Gr.:  Pickus 
Enen.  Vergl.  B.  0.  pig  gflt  ~  ein  deff;  A.  L. 
unter  Bicken] 

picken  (ver^l.  hachcln,  haniraem.  spachtclm  !IS14 
bei  A.  L.  Bd.  4.  S.  19»  bicken  essen ;  Fr.  Gl. 
bieken,  pieken;  1847  bei  Kl.  S.  SM  pieken:  A.  L. 
bidcen  und  picken  =  essen,  sjjcis^cn,  fressen.  },'e- 
nieesen,  nehmen,  coii\>;  Kundcnspr.  III  bei  Kl.  S. 
427  pieken  essen;  Krünierspr.  II  dort  S.  A'i' 
bicke  =  essen;  V  dort  S.  4.'»i)  Pickert  =  Gabel, 
8.  45b  picken  <->  nähen;  VI  bieken  ■»  essen, 
dort  S.  450;  Lindonbew  1891  pieken  »  eeaen; 
Gr.:  bicken,  picken,  pecKen  eeeen] 

Piependreber,  der  Kundcnapr.  Iii  bei  Kl.  8. 427 
ebenso ;  IV  doit  Sw  498  Pfelfendrelier  —  Zigairen- 
macber] 

Piepe nmaker,  der 

Pilger,  der 


Pinn  er,  der  (vergl.  Zeilenpinner) 
Platte  machon,  reissen,  wichsen  (veigl. 
Hntter  Grfin  nnd  platt  machen)  [1818  l>d  A.  L. 

Bd.  4  S.  228  Platte  Penne  mac  In  n  —  unter  freiem 
Himmel  Nachtquartier  machen;  ebenso  A.  L.  unter 
Platt;  Knndenspr.  III  l>el  Kl.  8.  427  Platte  relseen 

■=  im  Freien  schlafen^ 

Plattfuss,  iler  |1723  bei  A.  L.  iki.  4  S.  lou  l'lat- 
voet;  1T4.T  dort  Bd.  4  S.  151  Blatte:  17 ö  l>ei 
Kl.  S.  236  Plattfusß,  lS14und  181S  bei  A.  L.  Bd.  4 
S.  20t)  und  227  Plattfuss:  Fr  (iL  ebenso:  Fr.  G. 
Gl.  und  Gr.:  Bl.atte  Gans,  die  sonst  viel- 
fach Breitfuss  heisst,  so  1450  bei  El.  S.  15  breit- 
fnsB  «  Gans;  1.  v.  und  B.  0.  sowie  1687  bd  A. 
L.  Bd.  4  S.  DI  chcn.so  =  (ians  und  1755  bei  Kl. 
S.  239  kleine  Breitfuss  —  Ente;  lbl2a  dort  ä. 
292  ;  298  Bndtffissel  ->  Gänse,  wShrend  Fr.  Gl. 
Breitfufts— Ente  oder  Stadttlior  u.  1745  bei  A.  L. 
Bd.  4  S.  151  nur  Stadttlior  braucht ;  1S51  end- 
licli  bi  i  Kl.  S.  350  bringt  Breitfuss  und  Knnden- 
spr. III  dort  S.  427  Plattfuss  —  Gans  oder  Ente] 

platt  uiaclien,  reissen  (vergl.  Mutter  (Jinin, 
Platte  machen,  rt'isst'ii ,  wichsen)  [Kundenspr.  II 
und  IV  bei  KL  S.  423,  432  ^  im  Freiem  kam* 
piren,  übernachten;  Lindenberg  1S91  »sidi  ohne 
G!i(l:n-li  liommtreiben ;  Gr.  =*  im  I'rcieu  schlafen] 

Polente,  die  [1.  v.  Poleuder  Schlots,  Burg;  B. 
0.  ebenso;  1620  bei  Kl.  8.  IST  Polender 
Schloss;  1652  Polender  b.i  Kl.  S.  157; 
1733  dort  S.  200  Bollcnt  =  Klo^tor;  1750  bei  A. 
L.  Bd.  4  S.  139  Pollent  -=  Schlos.s;  1^12  dort  Bd.  4 
S.  201  Bolent  =-  Kloster,  1S20  dort  Bd.  4  Ji.  2:JS 
ebeuso,  S.  243  aber  Bolleut  -  btadt;  Fr.  Gl. 


Schnaps  inriereckigerbrei- 

ter  Flaschf  zu  ^\  Liter. 


Essen  (die  öueisen, 
die  Thitigkeit). 


nicht 


Clgarrenmacher. 


Cigarrenmacher. 

schwerer  Junge  (angeblich 
einer,  der  sesshaft  ist, 
höchstens  noch  Rom- 
mando  schiebt,  beson- 
dere in  (Trossstiidteui. 

Setzer. 

im  Freien  tuunpirm. 


im  Freien  kumpiren. 


Polizeibureau. 


6* 


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84 


V»  Schütze 


Polender  —  Edelhof,  Pallast,  Schloss;  l*>56  bei 
Kl.  S.  41  ">  Bdlente  =  iNiIizci;  A.  L.  unter  Polenk 
^  Polente  Polizei:  KuDdenoir.  Ii  und  IV  bei 
Kl.  8.  429,  4S2  PoHende,  III  dort  8.  437  Polente 
=-  Polizeiamt,  Ortsbehonlc :  LindenluM},'  l'^'tl  nnd 
Gr.:  Polente  —  Polizei.  Einen  Vereuch  der  Ab- 
leitung 8.  bei  A.  L.  a.  a.  0.| 

Pollzeifinpcr;  der  [Fr.  G.  Gl.  verpl.  Galgennagel 
—  firelbe  Möhre;  Kundenspr.  III  bei  Kl.  S.  427: 
Polizeifinger  =  geschnittene  Carotte] 

poiniacben  Urlaub  nehmen  (v^.Uaflen machen) 

Pommern,  die  (v^  Bleuen) 


P  o  8  e  h  e  r .  der  (vgl.  schwarze  Asche,  Heichsdeutscber, 
Tiipfi  (Deeke  od  A.  L.  Bd.  S  8.  219  Poechut  — 

I  Pfennig;  lTr)0  dort  Bd.  4  S  138  I'osth  eheiiüio; 
16ö4  bei  Kl.  ä.  24b  Poscbut  dgl ,  ebenfalls  iä47  dort 
8.  986 Poechen;  femer  ¥V.  6. Ol.  Bobchet,  Boecfaet 
nnd  A.  L.  unter  Poschut:  Poschcr,  Pasche  =  Pfen- 
nig. Ebenso  Kunden»pr.  I  bei  Kl.  S.  421  Bauscher; 

II  dort  S.  423  Poscher;  III  durt  S.  427  Polscher, 
Purscher;  IV  dort  S.  4.S2  Pooscher;  Krümerspr.  1 
dort  S.  484  bÖHcher;  II  dort  S.  487  bünche;  VI 
dort  S.  is.'}  Böschet  oder  Boscher;  lebendes  Roth- 
welsch  dort  S.  492  boosfh  Pfennig.  Ableitung 
aus  dem  Jfldi.Hchen  bei  A.  L.  unter  Poschut  In 
der  englischen  Gaunersprache  bedeutet  poeh  » 
Geld  —  vgl.  Baumann,  Londonismen] 

Potsdamer,  der  (vgl.  Berliner).  [Nach  Gr.  ■» 
Dummer,  der  geprellt  werden  soll) 

Pracher,  der  cvgL  Öchnuner)  Llb47  bei  Kl.  8.364 
und  Lindenbeif  1891  —  Bettler] 

Pulle,  die  (vgl.  Buddeil  besonders  Beriiniech  [eben- 
so Kundenspr.  III  bei  Kl.  ä.  427J 

Pulver,  das  [vf^.  Asche) 

Paparsch,  der  (vgL  Element) 

Putsch,  der  (vgl.  Blauer) 

Putz,  der,  s.  Putsch  (174.->  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  156 
—  Bettel vogt;  1S20  dort  Bd.  4  S.  TSf»  Butz  — 
Bettelvogt;  lS2Üd  bei  Kl.  S.  354  Putz  —  zam 
Schein;  1*^47  dort  S.  3S5  —  Ausrede,  Ausflucht; 
Fr.  Gl.  i'utz  -=  Bettelvügt,  Wüchter,  Genuss;  Fr. 
G.  Gl.  —  Spiessmann;  1S51  bei  Kl.  S.  807  Putz— . 
Ausrede,  Auaflucht;  1S56  dort  S.  415  Butz  —  Po- 
lizeidiener; A.  L.  Putz  BT  Bettelvogt;  Kundenspr. 
bei  Kl.  S.  421  Butz  =  Bettel vogt;  II  dort  S.  422  — 
Polizeidiener;  III  dort  ö.  427  Putz  «<*  Polizist, 
Schutzmann;  KrSmerspr.  II  dort  S.  487  bftta 
Polizist;  III  dort  S.  140  Putz  =  l'olizei;  IV  dort 
8.442  putz  —  Geubdarm;  VI  doit  b  4^'>  Butz  •» 
Polizist;  VII  butz  ~  Polizei,  dort  S.  490 ;  Linden- 
berg  1^91  Putz  M  Ausrede,  Anseht;  Gr.:  Pntz 
Bettel  vogt] 


Quadratlatschen,  der  (vgL  Fuselappen) 


Mohrrttben,  rotiie  Wuseln. 


weglaufen,  besonden*  vom 
Wehrdienst,  desertiren. 

Linse,  mit  einem  schwar- 
zen Kreuz  auf  dem 
Rucken,  deui  sogenann- 
ten Sattel. 

1  Hennig,  wohl  das  Kich- 
tige,  nach  andern  Kupfer- 
geld allgemein,  nach 
dritten  Zehnpfennig- 
stfick. 


Bündel,  besond.  kleineres. 

Schnurrer,  Bettler,  besitz- 

loaer  Mensch. 
Flasche,  Scfanapsflaache; 

Geld. 

dnnkel  Bier  weileaBlIb- 

nn^en  auslö»t). 

P()lizi8t. 

Polizist. 


WdsekohL 


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Was  bt  heute  noch  von  der  Otuneispndie  im  pitktiadieD  Oebimuch?  86 


Bad,  das  [Deecke  bei  A.  L.  Bd.  4  8.243  Rat  « 
Thaler;  1733  hei  Kl.  S.  202  llatt:  1750  hei  A.  L. 
Bd.  4  &  141  Kaue;  mi  dort  Bd.  4  S.  m  lim; 
ebenso  1812,  1S14,  1880  dort  Bd.  4  8.215,  215. 
248:  Vt.  Gl.  (ioddnit,  der;  1«>17  boi  Kl.  S.  .HS5 
Rad;  A.L.  Rat;  KundensOT.  II,  III,  IV  bei  Kl. 
&  423,  428,  432  ebenso;  KrSmerspr.  II  bei  Ki. 
S.  438  ratt;  III  dort  S.  440  ebenso;  Gr.:  Rad  — 
Tbaler.  Ableitung;:  s.  bei  A.  L.  unter  Rat.  Die 
engUsdie  OaunersDrache  —  Bauinann,  Londonis- 
mon  —  hnt  coa(■h^vlleell  — >  groft»e  SilbenaOiue  and 
cart  whecl  —  FimfäcliUlingstück] 

Bamech ,  der,  elneii  guten  machen;  vgL  Zottelbeigw 
machen. 

Rande,  die  (vj^l.  Berliner)  besonders  von  Sehmie- 
den  gebnuu'ht,  und 

Bandi,  der,  angeblich  ustecmchiach.  Ii.  v.  Kautz 
V  sank :  B.  0.  ^enso;  1620  bei  Kl.  8.  IST  Hamm, 
1793  dort  S.  271  Rande  =  Sack;  ls20  bei  A.  I.. 
Bd.  4  S.  2S5.  24U  Bande  —  Bündel,  Pack;  Fr.  CiL 
Bande,  Rand!  —  Padc,  Sack,  Tasche;  Knndenspr. 
rV  bei  Kl.  S.  432  Rande  —  Berliner  BQndel,  Keiso- 
tasohc  u.  w.;  Kniinerspr.  I  dort  S.  437  raude 
Portemonnaie;  VI  S.  485,  4b7  Bande  Banaen 
Tasche;  Gr.:  Rande  Sack] 

Raspeln  (vgl.  Erbsen  koclien) 

BauBchen,Ran8ehcr  machen  [14r)0  hei  Kl.  S.  Ii? 
rauschert  —  strowsa^rk ;  1.  v.  Rjmst  luTt  =  Stroh- 
sack; B.  f».  rawschart  —  j^troc  sack ;  lt>20  bei  KI. 
S.  141  Rauschart  «=  Strosark;  ir)52  dort  Ö.  15ti 
Bauschert;  1745  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  15ö  Raoachert 
~  Stroh;  1755  bei  Kl.  8.  288  Raschert  »  Stroh, 
Strohsack;  1793  dort  S.  271  Rauscher  =  Ütroh; 
1807  a  Rausch  —  Stroh,  dort  S.  289;  1812  Baoscber, 
Bauaehert,  1814  Banschlinr  i-i  Stroh  bei  A.  L. 
Bd.  4  8.215;  l<i20  dort  Bcf  4  8.  243  Rauschet  = 
Stroh:  1840  bei  Kl.  S.  3ü9  Rauscher  —  Schiesskugel ; 
Fr.  Ol.  BMBchert,  der  -=  Stroh ;  A.  L.  Raaschert, 
Rausohling  —  Stroh,  in  der  Fiescisprachc;  Rau- 
schert  Papier;  Kundensnr.  11  bei  KL  S.  428 
Baascher  ^  Schiesskugcl;  III  dort  8. 428  Stroh- 
lager ;  IV  dort  S.  I'!2  Rauscher  machen  =  auf 
Stroh  schlafen ;  Kränici-spr.  III  ilort  S.  441  liusper» 
—  Stroh;  V  dort  S.  451  Ruschert;  VI  dort  S.4S7 
Banschert  Stroh;  Gru  Rauachert,  Ranachling  » 
Strohdach,  Papier] 

Regierungsrath,  dcnvfjl.  Konimerzienrath,  Stieh- 
ler) L1615  bei  Ki.  S.  130  Regimenter— Stricke,  da- 
mit sie  jhre  Hfiner  fangen ;  1T45  bei  A.  L.  Bd.  4, 
S.  156 Regierung  =  Strick;  1793  hei  KI.  S.  271  regie- 
ren —  binden;  1851  dort  S.  407  liegierune  —  Strick 
zum  Binden  der  Hansbewohner  bei  nSehtltehem  Ein- 

bnieh;  Fr.  Gl.  Regieruug-=  Sclnnir,  Seil.  Strick;  A. 
L.  Begierang=-Seil,  Strick,  S<  Imur  /.um  Binden  und 
knebefai;  Knndenspr.  III  bei  Kl.  S.  42S  Rcgiemngs- 
rath  ==  Schneider;  ebenso  IV  dort  S.  434] 

Reich^hudeu.  mit  einem  Fuss  auf  deut- 
schem Reichsboden  gehen 

Reichsdeutscher,  ein,  allgemein  gebräuchlich, 
(VgL  Pobclier) 


Thaler. 


einen    guten  geglüdtteu 

Diel)stah]  madien. 
Packet,  Bündel. 

Packet,  Bündel 


sehuai'chen. 

auf  dem  Dorf  hleiben,  auf 
Stroh  schlafen. 


Sehneidw. 


Stiefel  mir  dua'hgelaufeuen 

Sohlen  haben, 
ein  Pfennig. 


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86 


V.  SchCtkb 


Keichskäfer,  der  (vgl.  Bienen) 

Reüfirion,  die  (ebenso  Kundenspr.  II,  III,  IV  bei 

KI.  S.  423,  42S,  432;  GrJ 
K  i'  ni  s ,  der  (vgl.  Blitz) 

Rittmeister,  der  (vgl.  Sanktns)  [Kundenspr.  III 
bei  Kl.  S.i2^:  Rittinoister  »  12  Wachtmeistera 

d.  h.  —  12  grosse  (ilus  Schnaps) 
Roller,  der  (▼ffi*  Hochsohutzi  [1.  v.  Roll  >=  muU, 
BoUfetzor  -»  miillor)  B.  O.  roll  =  unill,  rollvetzer 

—  mfillor:  KisT  bi-i  A.  L.  Btl.  4  S.  %  Holler  — 
einer,  der  Gold  aus  der  Ficke  zieht;  1745  dort 
Bd.  4  8.  156  u.  1750  dort  8.  13S  Roller  —  Müller; 
1753/5  bei  Kl.  S.  236  Rolle  —  Mrdile.  RollBchfltz 
=  Muller;  1804 a  dort  S.  277  Roller:  holen  den 
Leuten  de»  NaclitB  auf  der  Streu  das  Geld  aus  der 
Tasclie tmd  machen  rieh  fort;  1807a  RoU  —  Mtthle, 
dort  S.  200;  1S12  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  21S  Roller»- 
Malier:  1818  dort  Bd.  4,  8.228  Rollo:  1820  dort 
Bd.  4,  B.  MO  Rotler;  1820a  bei  Kl.  8. 852  Rollo, 
alte  Siimchc:  Rollfetzer;  Fr.  Gl.  Roller,  Rollen-r; 
Fr.  (i.  Gl.  Rollfetzer,  Rüll»chütz  —  MiUler;  isol 
Roller  —  Karren,  besonders  Sehiebkarren  bei  Kl. 
8.407;  A.  L.  Roll,  Roller,  Rollschütz Müller; 
Kundenspr.  II  bei  Kl.  S.  123  Roller  =  Müller; 
III  dort  S.  42S  ebenso;  IV  dort  S.  434  Roller  — 
Windmüller;  Kniinenipr.  VI  Roller  =»  Apfel  oder 
Müller,  dort  S.  479,  4S4;  Gr.:  Roller  =  Muller  oder 
Wagen  1 

Roller,  der,  (vgl.  Frachtbrief)  [da  mit  Eisenbahu- 
beforderung  .verbunden,  soll  österreichisch  »ein; 
fJegensatz:  Todtenschein) 

Rosenkranz,  der  (vgl.  die  Acht)  11818  bei  A.  1* 
Bd.  4  8.  238  »  Fnaakettej  A.  L.  —  Hand-  and 
Fussseh  llen;  KoiideiiaiNr.  III  bei  Kl.  8.  428«- 
Kette,  Schellen] 

Rumtreiber,  der  febenso  Kundenrar.  III  und  IV 
bei  Kl.  S.  42S,  433;  nach  Gr.  «  Bicker.  Viel- 
leicht ein  Missverstiindiiiss?] 

Rundchen,  das  [Kundenspr.  III  bei  Kl.  8.  42> 
ebenso;  IV  dort  S.  432  Rundling  -=  Pellkartoffel; 
Krämersur.  IV  Rundling  —  Wurst,  dort  8. 4SS; 
die  eDf lucbe  Gaunersprache  hat  roiidem  —  Knopf 

—  B.  manaam,  LondoniamenJ 


Sackratten,  die  (vgl.  Bienen) 

sagen  (vgl.  Erbsen  koehem 

8änftchen,  das  (vgl.  Kahn) 

SSnftling,  der  (vgl.  Kahn)  [1450  senfteridi  Bette 
bei  Kl.  S.  15;  1.  v.  Senfftrich  —  beth;  1620  bei 
Kl.  S.  141  8enfstrich  —  Beth;  1652  8enfftrich 
dort  8. 156;  16ST  bei  A.  L.  Bd.  4  8.  95  und  1722 
doii  Bd.  4  S.  113  Senfftlingc  —  Betten;  1745  dort 
Bd.  4  8.  15S  Senffte;  1747  bei  Kl.  b.  214  8enftlin; 
1753  5  dort  8.  246  Sänftling;  lS04a  dort  278 
Senf;  lS07a  dort  S.  290  Senft;  \<20  hei  A.  L 
Bd.  4,  8.  234  Sanft,  lS20e  bei  Kl.  353  Jjenft 
und  Senftlinge  Bett;  1S47  dcwt  8.8S7  Senftling 
=  Bett,  auch  Strohsack  der  ( it  fangenen ;  Fr.  Gl. 8enft, 
8enfte,  die  —  Bett,  äeuiüiuj^',  der  —  Kopfkusseu; 


Ungeziefer,  Laus. 
Handwerk. 

Stadt-  und  Landver\^'cis. 
Sdhnapa,  aehr  grosser  zu 
20  oder  25  Pfennigen. 

mnndinniler,  f&r  Backer 
nur,  wenn  er  gleichzeitig 
auch  Müller  ist,  wird 
al>er  auch  allgemeiii  fftr 
MQiler  gebraucht 


EnUassungsehein  mit  Ab- 
»chuhl)Cf:leituug. 

Handschellen. 


BSttcher,  vom  Henungehcn 
um 's  F.-iss  beim  Reifen- 
auftreiben. 

Kartoffel. 


Flfadänse. 

schnarchen. 

Bett,  besonders  wenn  gut. 
Bett,  beeondecB  wenn  gut. 


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Was  ist  heute  noch  von  der  Gauoenprache  im  praktischen  Gebrauch?  87 


1S51  bei  KI.  S.  407  Si-nftliu^',  der  =  ein  Stück  Bett, 
Mehrzahl  —  Bettstuckc,  Betten;  1S56  dort  S  llö 
ßänftling—  Bett;  A.  L.  Siinft,  S-änftling,  bänftrieh 
—  Bett;  Kundenspr.  II  und  IV  l)ei  Kl.  S.  423.  432 
Sänftling  —  Bett;  Kränierenr.  VI  hei  KI.  S.  4S«» 
Sooft,  baunft,  ^änftel.  ScnftiiDg;  Lindcnberg  isui 
sinfte  M  Bett,  Gr.:  t«lnft,  SSnfUing  ->  Bett,  »opha, 
SenftlinfT  =  Bett] 

SanktUB  aulgiessen,  Jemandem  einen  (vul. 
Sdiabaul  adion  in  Bayern  nldit  mehr  reeht  m- 
f^ejren  im  katholit^ohen  Oesterreicli.  da  dort  an- 
geblich viel  reiner  Spiritus  getmnkeu  wirdj  Pa- 
rodie auf  Spiritus  sanctus.  (Krlmerepr.  V  bei  Kl. 
S.  449  SanktU8  «  Wein' 

Schabau.  der,  jüdisch,  bet^onders  in  Süddeutsoh- 
land.  (Vgl.  Fini,  halbes  Pfund,  Rittmeister,  Sfauk- 
tufi.  Soroff,  Unteroffizier,  Wachtmeiater)  [ISiQ  bei 
Kl.  ä.  415  hcliabuu  BierJ 

aebaben  (ygL  feehtoi) 


Schaber,  der  (vgl.  AxBchkntzer)  [Kondoiapr.  IV 

bei  Kl.  S.  433  ebenso] 
achaffen  (vgl.  schenigelni 

ächale,  die  (vgl.  Walniusrli)  Fr.  Ol.  =  Kiste,  Truhe; 
1851  bei  Kl.  J*.  410  «  Kleidungj  A.  L.  Kleid, 
Kleidang;  lbS6  bei  Kl.  8.417  —  Kleidung;  Kun- 
denspr.  III  bei  Kl.  «.  42S  und  Lindenbere  IbOl 
ebeufio;  Gr.:  -=  Frage,  Knt.'ieheiduiig,  Kleidung. 
Nach  A.  L.  -»  Rückübersetzung;  aus  dem  jüdischen 
Kelef,  Kluft,  das  vom  hebnli.>*clien  K elaph  ^  Rinde, 
Schale  stammt;  wohl  zu  gekiinstelt| 

Schalleru  (ISOTa  bei  Kl.  S.  2S9  ebenso;  1S12  bei 
A.  L.  Bd.  4  S.  216  schajüen,  schallen;  ISU  schallen 
ebendort  und  lS2ü  dort  Bd.  4  S.  24H,  sowie  Fr. 
Gl.  sehallern  singen:  iS51  bei  Kl.  S.  HO  schal- 
len —  läuten,  singen;  Fr.  6.  sch allem  =  singen; 
ebenso  Kundenspr.  II  bei  Kl.  S.  423  und  III  dort 
S.  \2^  :  A.  L.  schallen  (unter  fcfchalh  ri  -  singen: 

achärf  00,  verscharfen  (vffL  kündigen,  verkündigen) 
(1807  bei  Kl.  8. 284  flcnarfen  »  gestohlene  Sadien 
den  Dieben  verkaufen;  l'»47  dort  S.  :>~  gestnblene 
oder  erschwindelte  Sachen  kaufen:  Fr.  Gl.  schärfen 
w  adittldiff  bleiben,  aufschreiben  lassen,  Schulden 
machen;  rr.  G.  Gl.  schärfen  =  mit  dini  Ankauf 
und  Verkauf  fjestohlener  Sachen  sich  abgeben, 
kaufen ;  1S.51  bei  KI.  S.  410  gestohlenes  Gut  wuaent- 
lich  ankaufen;  A.  L.  und  (^r.:  schärfen  —  gestoh- 
lene Sachen  in  Baubch  und  Bogen  ankaufen 
und  einzeln  wieder  verkaufen.  A.  L.  nennt  dies 
Verkaufen:  verschärfen,  Gr.  will  scheinbar  beide 
gleich  brauchen;  Limknlierg  l^lU  schärfen  —  ge-  > 
stohlene  oder  anders  ergaunerte  Sachen  kaufen, 
versdiärfen  sie  verkamen.  Ableitung  bei  A.  L.  i 
nnter  schSrfen]  | 

Schfirfer,  der  (alter  Verbrechcrausdruck)  [vgl.  1S07  j 
bei  A.  L.  Bd.  4  S.  1 85  bchärfenspieler  *-*  dcnenitfe, 
der  den  Dieben  gestohlene  Sachen  abkauft;  Fr.  | 
G*  61.:  Schärfcii^-pirltT  und  Schärfer       der  g(!- 
stohlene  Sachen  kauft  und  verkauft,  Käui'cr,  A.  L. 
and  Gr.  SdiSrfenaplder  «■  der  Tertraote,  gewerfoa- 


idchnaps  einschenken  beew. 
verabfolgen. 


Branntwein,  Schnaps. 


b^tein  (allgemein,  ohne 
Beigeschmack  einer  ^e- 
ciaiität). 

Barbier. 

aibriten* 

Zeug,  Anzog  *  KIofL 


singen. 


statt  kündigen  und  ver* 
kfindigon,  inderelgent* 

liehen  Verbrecher-  im 
Gegensatz  zur  Kunden- 
spiidie. 


Jude  oder  dgl..  der  un- 
rechtes Gut  kauft,  Hehler, 
besonders  der  vorher 
bestellte. 


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88 


V.  Schütze 


iniissi^e  Ankaufergestohlencr  Sachen.  V>rl. auch  A.  L. 
Bil.  1  S.  XI  Anm.  1,  wonach  schon  in  den  Capitula- 
rien  die  Juden  als  Schärf enspieler  bei  der  beämlichen 
VeriuMerang  von  KirchenscbStzen  hervortreten  1 
Schaum ritter,  der  (v^;!.  Arschk nitzer) 
Scheerouschleifer,  der  [Ibil  bei  Kl.  S.  3^7: 
Sehewe  raadien  den  zweiten  nnd  dritten  Finger 
der  rechten  Hand  Diebstahls  haliK-r  in  t  ino  I'aaclie 
stecken:  Lindenber^  ib9i  eine  gewisse  Aus» 
fibung  des  Tascheudiebatahb;  Gr.  —  mit  i  fingern 
die  Geldtasche  ziehenl 


Bchenigeln  (vf?!.  schaffen)  isoTa  bei  Kl.  S.  290 
schiualln:  lsl2  bei  A.  I*  Bd.  4,  S.  217  »chineglen; 
1S20  dort  Bd.  4,  S.  233  schinegeln  «=  arbeiten,  aber 
S.  236  dort  schinegelo  auch  •=»  Faullcnzer!  Fr.  Gl. 
schinageln  und  schinalen  arbeiten,  werken;  Kun- 
denspr.  U  bei  Kl.  S.  423.  III  8. 42b  und  IV  S.  432 
Bdienigeln;  KiftnerBpr.  I  dort  8.  4S6  sdienr-geln); 
Kriiiiiorsnr.  II  dort  S.  408  schenigio;  VI  dort  S.  479 
scUeuigelen,  scliinegelen  <—  airbeiten.  Ableitung 
am  dem  Jfldiadieii  s.  bei  A.  L.  onter  Schlnl 

auf's  Büb  scheaigeln 

schicker,  besonders  in  Schlesien  (vgl.  beechmort) 
[1755  bei  Kl.  S.  241  schicker  =  betmnken;  1S47 
dort  S.  3S7  schikkcni  trinken;  isöO  dort  S. 415 
besehickcrt  ^  betrunken;  Kundenspr.  I  schicker 
—  betrunken  dort  S.  421;  Lindenberg  ls?tl  schickem 
M  trinken,  .-'ich  bes.chickeru  =»  sich  betrinken] 

Schickse,  die  (vgl.  Kalle)  [1723  bei  A,  L.  Bd.  4, 
S.  10()  Schicksgen  =>  Frau -Mensch;  1742  bei  Kl. 
S.  2()9  Schickserle  ^  puclla;  1745  bei  A.  L.  Bd.  4. 

i:)7  Schixle,  Schixen  =  Magd;  1753/5  bei  Kl. 55.236 
Schickse!  —  Jungfer;  1791  bei  A.  L.  Bd.  4,  S.  171 
Scfalekae  —  Hägdldn;  1793  dort  Bd.  4,  8.  191 
Schickse— Mädchen,  Bryschläferin;  lsl2  d(.ii  I?d.4, 
8.217  Sohickse,  Schick»gen,  Öchiuksel^^iMädcbon, 
1818  dort  Bd.  4,  8. 22S  ebenso;  1820  dort  Bd.  4, 
b.  289  Schi.\  Mildchen;  1820c  bei  Kl,  S.  f{.V2 
Scliickse  =  Mädchen :  Fr.  Gl.Schix  ^  Beischläferin, 
Hure, Konkubine;  Iböl  bei  Kl.  S.  411  Schickse-» 
Christenniädchen  niederen  Standes;  A.  L.  unter 
Schekez :  Schickse,  Schicksei,  Schicks  -»  .Mädchen, 
Grisette,  Dirne,  liederliche  Dirne,  auch  die  Frau, 
VViithin.  Aufwärterin;  issB  bei  Kl.  S.  417  Schickse 
Christeuniridclien  niederen  Standes.  Schieksel  =• 
Mädchen,  das  nebenbei  Pm.stitution  treibt;  Kun- 
denspr. 11  Sdiicks  »  Mädctien,  männlicher  Kunde 
bei  Kl.  8.  423 ;  III  dort  S.  42S  Schickse  —  Frauen- 
zimmer :uif  Wandei-schaft,  Schicks»'!  erwachsene« 
Mädchen ;  Krämerspr.  III  dort  S.  440  Schixchcn » 
MIdchen;  IV  dort  8.  442  ixscha  =^  ebenso;  VI 
dort  S.  4*^.'!  S<lii\  -=  Mädchen:  (Jr.  unter  Schckez: 
ßchicksü,  Schieksel  =  Dirne,  Grisette,  Frau,  Wir- 
tiiin.  Ableitung  ans  dem  Jfidischai  bei  A.L.  unter 
Schek(  /  .  Vgl.  im  Englischen  als  (':int:  shicksa, 
shicksier,  bhika  =  M&dchen,  Weibsbild  bei  Bau- 
mann,  Londonismen 


Barbier. 

Taschendieb  (w^eu  der 
sdieereoartii^eu  Fincer* 

haltung  beim  Stehlen 
In  der  englischen  Gau- 
sprache  heisst  der  Ta- 
schendieb aus  frleichem 
Grunde  fork,  Mittel-  und 
Zeigefinger  forks  ^Ban- 
mann,  I^ndonismen. 
arbeiten  (in  seinem  Beruf). 


arbeiten  (aber  nicht  in  sei- 
nem Fach  oder  Beruf), 
betnmken. 


MSddien(mitBeigesduiiaek 
des  Liederüchen). 


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Was  iBt  heute  nodi  von  der  GMuenpiadie  im  praktiadieii  Gebnndi?  89 


Schiebungen,  besonders 

schwere  Schlebnngen,  die  (vgl.  Bmch)  fKnn- 
denspr.  IV  bei  Kl.  S.  432  Schiebung  =  ii^nMid  eine 
Sendung  an  Geld,  Kleidern  u.  s.  w.,  die  der  Hand- 
weriubiuBehe  am  der  Reise  nachgeschiclct  be- 
kommt' 

Schlepper,  der  ^v^l.  Ilundefäiigeri  |1.  v.  HottUr  für 
erlogene  Kirchen :  B.  O.  ebenso ;  1 .')«»'!  bei  Kl.  S.  1 13 ; 
1620  bei  Kl.  S.  139  verlauffeu  l'faff;  1S4T  dort 
8.  386  — ■  gewerbsmuHsiger  Zuhält<?r  zum  Spiel ;  A. 
L.  allgemein  Zuführer  der  Gauner;  Kundenspr. 
III  bei  Kl.  S.  428  ^  Zahälter  cum  Spiel;  Lindon- 
beig  1891  Helfershelfer  des  Gauners,  der  ihm 
die  Opfer  zuführt;  viel  zu  cnj^  auch  jedcnfallä 
Boeoher  in  Groee,  Archiv  Bd.  3,  S.  278  —  ^der 
das  Aeffcben  sacht  und  fai  die  Wiraschaft  schleppt*. 
Diese  und  die  mir  mitgcthoiltc  Amreadmigd Anten 
nur  Beispiele  duzuateUen  haben] 

Seh Ittmm erkies,  dar  [Koodenspr.  II  bei  Kl.  8. 428 
—  Schlaf?cl<I;  III  dort  S.  42^  rbciiso! 

Schluuimci  pech,  das  [I6b7  bei  A.  L.  Bd.  4,  S.  <J6 
Schlunimerpicht  «  Schlafgeld;  vgl.  auch  1722  bei 
A.  L.  Bd.  4.  S.  119;  Kundenspr.  III  und  IV  bei 
Kl.  S.  42h.  432  Schlummerpech  —  Schlafgeld  I 

scbmalniachen  (vgl.  fechten)  |Kunden»pr.  III  —  in 
Gastwirthschaften  oder  auf  der  Stras.^ie  betteln  bei 
Kl.  8.  42S;  IV  dort  8.  432  —  auf  der  rn.nienade 
die  Spaziergänger  oder  in  den  Localen  die  Gäste 
anbetteüi;  Lindenberg  1891  Sohmalmacher 
Bettler 


Schmiere,  die  (vgl.  Blaue)  [1714  bei  KI.  S.  177, 
17S  Schmiere,  Schmere  Wadie;  1753  5  dort 
S.  236  Schmiere;  1764  dort  S.  24S  Schmirr:  IT'.t.'i 
dort  S.  271  Schmier:  1S04  dort  S.  27.")  Schmier 
ebenso;  1S07  bei  A.  L.  Bd.  4,  8.  1S«>  Scheraire  — 
Schildwacht,  Posten;  1S12  Schmier,  1814  Schmiere. 
Butter  =  Schildwache  dort  Bd.  4,  S.  217;  l'>47 
Schmiere  bei  Kl.  S.  3S6;  Fr.  Gl.  Schnner.  die 
Ausspähe,  Ufllfe,  LAuer,  Spähe,  Wache,  Wächter: 
1851  bei  Kl.  8.  411  Schmier,  Schmiere  —  Wache: 
A.  Ij.  unter  Schammer:  Seliniire,  Sdiemire.  Schmir, 
bchmiere  Wache,  Soldat,  Üiebswache,  Wacht- 
gebäade  nnd  Ihn!.:  1886  Schmiere  —  Wlciifeer; 
Kramerspr.  VI  Si  hmtr  —  Polizei ,  bei  Kl.  S.  4*».'i. 
Ableitung  aus  dem  JQdiachun  bei  A.  L.  unter 
Schammer 

Schmiere  jitehen  (1714  bei  Kl.  S.  177  Sclmielire 
stehen  Wache  stehen;  17 Ui  dort  S.  17s  Schmiere 
stehen  ebenso;  1847  dort  S.  386  und  1S51  dort 
S.  III  ebenso;  l^^^i;  ,|ort  S  417  Schmiere  stehen 
^  aufpassen;  Kundenspr.  II  bei  Kl.  S.  423  und 
III  dort  8.  42S  Schmier  stehen  —  W^ache  stehen; 
Lindenberg  1^91  =  Scinniere  stehen  =  aufpassen 
yrShr^d  eines  Diebstahls,  Wache  stehen;  ebenso 


Schwierigkeiten ,  Uuan- 
annebmlichkeften  haben, 

z.  B.  viel  Regen  beim 
Wandoni.  Abweisungen, 
Gefahr  beim  Gesdienk- 
fonlem  u.  dgl. 
Zuführer  des  Stellen ver^ 
mittleis. 


SeUafgeld. 

Schlafgeld. 


bei  den  arbeitenden  Ge- 
sellen, nicht  Meistern, 
um  L'ntei"stützung  bitten 
in  Werkstätten  und  be- 
sonders auf  Versamm- 
lungen.  Nach  Anderen 
auf  öffentlichen  Platzen. 
Promenaden  u.  dgl.  Je- 
manden ansprechen  nnd 
sich  «lahei  ., klein",  be- 
scheiden stellen ,  sich 
dnrch's  Pablicom  sehttn- 
?eln. 

Polizei. 


Wache  stehen. 


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90 


Gr.:  beim  Stclilcn  Wacla-  .stellen.  l»as  iut  ffirden 
houtigen  Gebrauch  ohne  Frage  zu  eng.  Wenigatent 
bei  uns  im  Norden  wird  es  für  das  Anfpawen  der 
Helfershelfer  bei  jeder  »tran)arin  Handlung  ge- 
braucht ,  liesondeis  z.  B.  beim  Bettehi.  Ganz  all- 
guuein  daher  z.  B.  auch  A.  L.  unter  Schammer: 
Schmiere  stehen,  halten  ^  Wache  halten,  auf- 
passen 

Schmier  topf,  der  (vgl.  Schmiere)  lA.  L.  unter 
Schammer  brancht  Schmiere  aach  für  Wachtge- 

bäudel 

schmusen  iClirysauder  bei  A.  L.  Bd.  3,  S.  4Ü7  — 
reden;  1788  bei  Kl.  S.  200  angeben;  1798  dort 
S.  272  =  sagen:  1^12  bei  A.  L.  Bd.  4.  S.  217 
schmusteu  -=  sprechen,  plaudern,  sagen,  reden; 
1S14  dort  Bd.  4,  201  schmusen  ^  scbwataen; 
\<iy)  dort  Hd.  4,  S.  233  bezw.  24!^  »chnuison 
aussagen  Itezw.  s[)nH>hen;  l'^2^)d  hei  Kl.  b«.  i)ö4 
und  1^21  dnrt  S.  :; 5»)  scliraosen  —  plaudern;  Kun- 
denspr.  IV  bei  Kl.  432  schmusen  —  in  der  Knn- 
densprache  »prochen;  Krämerspr.  VI  dort  Ö.  491 
=  sa^'eti .  Lindenberg  1891  ^  reden,  plandem; 
Gr.  —  reden,  erzählen] 

Schmnserei,  die 

Selmauzenschlager,  der  (vgl.  Arsehkratzeri 
ächuüidorkarpfea,  der  (vgl.  üaifutch)  Iso  auch 
A.  L.  unter  bdineide  nnd  w.  für  ir«BAl>«n®n 

Heringl 

Schmeidling,  der,  auch  Schnittliug  ;Kunden- 
sp.  n,  m,  IV  bei  Kl.  S.  423,  42S.  KX\  ehenso; 
Krämerspr.  I  schneiderlo  dort  S.  \'M\:  \'l  dort 
S.  4S4  Hehneidling  «=-  Messer;  s.  auch  A.  L.  unter 
tichnoide  ächeere;  ebenso  Gr.;  Schnittling  hat 
Gr.  für  Haar] 

Schnurren  (vgl.  fechten)  I1S2h  bei  Kl.  S.  860 
schnurren«  betteln  1^47  <lort  S.  .1S<!  ebenso  und 
schnorren;  Krämerspr.  VI  dort  S.  479  schnurren! 

Schnurrer,  der  (vgl  Pracher)  11787  bei  Kl.  S.  207 
— •  Betteliude) 

Schrabiner,  die  [1745  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  157 
Sehrazien  »  Kind;  1814  dort  Bd.  4  8.  208  Ch»> 
rnzir  Kinder;  A.  L.  Sehrabben.  Schrappen, 
öchrauuueu  »  Krabben,  Kinder;  ebenso  Gr.,  der 
der  noch  Sehraz,  Sdirazen  fflr  Kinder  nnd  Schrapfen 

-  kleine  Kinder  hat.  Kunden?pr.  III  bei  KI. 
Ö.  42S  Schrabbiner  —  Kinder.  Krämerspr.  VI  dort 
S.  4S3  Sehrawener  •=  Kinder,  lebendes  Rothweiach 
!»ehr:ij)pehens      Kinder,  dort  S.  492! 

Sehn  btrei  her,  der  (vgl.  Schuck  er),  angeblich  öster- 
reichisch 

achuckt  ii  lUM'cke  bei  A.  L.  Bd..!  S.  24!»:  Schuck 
»  1  Mark;  A.  L.  ebenso  und  sehucken  ™  kosten, 
wert  sein,  zu  stehen  kommen,  unter  Schuck,  wo 
Ableitung  aus  dem  JQdischen  zu  vgl.  Kundeuspr. 
III  bei  Kl.  S.  42S  sehucken  -»  bezanlen ;  Krämer- 
spr. II  (h)it  S.  4H9  schin  kcii  sein 

Öch ucker,  der  (vgl.  Schubtreiber)  ilä2ü  bei  A.  L. 
Bd.  4  H.  294  Tsdragger  Bettelrogt;  Fr.  O.  Ol. 
Schurkei-  —  Landdragoner,  Gens  d'annes.  Polizei- 
soidat.  i'olizeidiener;  .Kundcnspr.  II  bei  Kl.  S.  423 

—  Polizadiener;  m  dort  8. 428  —  Polizist,  Scfauts- 


Poüzeigewahrsam. 


erzälilen,  onterhalten,  bc- 
sonders  auf  Herbergen, 
wenn  jemand  sich  an 
einenAuderuheraumacht, 
der  etwas  ausgeben  solL 


ünterhaltang,  GesprSdi. 

Bai!ii.'f. 

Ueriug  allgemein ,  nicht 
nur  gesauaier. 

Messer. 


betteln. 


besitzlose  Mensch,  Bettler. 

die  Kinder,  nach  oiuer  mir 
neoerdings  gewordeneii 
ven-inzelrcii  Mittheilung 
eines  (Jstpreusseu :  das 
Schrappen««^  Kind,Mehr^ 
zahl  —  Schrabiner. 


Polizeidiencr ,    der  den 

Schub  besorgt, 
geben ,  z.  B.  er  hat  mir 

fünf  l'osclier  geechuckt. 


Pollxeidiener,  der 
Scfanb  besorgt 


den 


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Was  ist  heute  noch  von  der  Ganneraprache  Un  praktlfichen  Gebiancb?  91 


mann,  GenBdaim;  Krftmerepr.  VI  dort  8. 4i>3  — 
Landjiger;  Gr.  *  Gensdannl 
Sehnppe,  die 

Seh« Sterbade,  die  (vgl.  Bode) 


schw&chen  (1608  bei  KI.  8. 128,  124  sohwechon; 

1620  dort  S.  13S  scliweohen  =  sauffen;  1052  dort 
8.160  sdiwächcn;  1703  dort  S.  271  —  triukcu; 
l**07a  dort  S.  2SS  scliwaclia  =  trinkt-n;  ebenso 
1S14  bei  A.  L.  Bd.  l  S.  216  schwächen;  1^2»)  dort 
Bd.  4  S.  233,  240  schwächen  =  saufen,  aussiaufen; 
IS30  bei  Kl.  S.  365  schwacha;  1S51  dort  S.  412 
schwächen  »  tnnkcn;  1656  dort  b.  415  schmächen 
—  trinken;  A.  L.  unter  Sewachen:  schwächen 
ninktii:  l^^ü  hri  Kl.  S.  418  schwaichen  =  trinken; 
Kundeuspr.  II  bei  Ki.  b.  42S  schwächen  »  saufen: 
in  dort  s.  429  ebenso  —  trinken ;  fRrihnenor.  VI 

dort  S.4^T  "irhwärlu'n,  VlI  ddit  IMl  -( liwuciien  = 
trinken :  Gr.  ebenso.  Ableitung  aus  dem  Jüdischen 
bei  A.  L.  nnter  sewachen) 

schwarz  sein,  fulircii.  tigern  flS51  bei  KI. 
S.  405  schwarz  oline  Geld-  ebenso  A.  L.  und 
Gr.  diese  Bedeutung  habe  icn  nicht  bestätigt  er- 
halten, nebenstehende,  die  sich  auch  in  Kunden- 
spr.  III  bei  Kl.  S.  42b :  „schwarz  gehen  —  ohne 
Papiere  rriaen"  findet,  dagegen  vielfach  gehiSrtl. 

Schwarzer,  Schwarzkünstler,  der  [Schwarz- 
künstler Schornsteinfeger  auch  in  Kundenspr. 
III  und  IV  bei  Kl,  S.  42S,  4341 

Schwarzer  Gensdarro  (vgl.  Gallach)  [die  englische 
Gaunersprache  hat  den  Ausdruck  black  brigade 
floistlichkeit) 

Schwein,  das  (kein  spedeiler  Kundenausdruck) 

schwer  (z.  B.  die  Trittdien  sind  schwer,  sdiwer  im 
Bruch  i 

Sch wimmling,  der  (vgl. Haifisch) [Fr.  (iL  Sdiwim- 
merling  —  Usch;  Kundenspr.  III  und  17  bei  KL 

S.  42S.  43.*l  —  Ileringl 
Seelenverkäufer,  der 

selig  (vgl.  beschmort),  nirht  nor  Kondensosdnick. 

Seekadctt,  der,  vgl.  Haifisch 

Seesoldat,  der,  (vgl.  Haifisch) 

benftchen,  das  (vgl.  Kahm 

Silvesterpauke,  aie  (in  Berlin  besonders) 

Söcher,  der  (vgl.  Ellenreiter)  [Deecke  bei  A.  L. 
Bd.  :<  S.  219  Zaucher  1  Kaufmann;  1745  dort 
Bd.  4  S.  15!)  Sogcr;  1753/5  bei  KL  S.  246  Soocher; 
1755  dort  8.  23S  Schoocher ;  1764  dort  9.  248  Socher ; 
1791  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  ir.',4  Socliter;  17it3  dort 
Bd.  4  S.  Ibl  ebensoj  1S12  dort  Bd.  4  S.  21U  Socher, 
Soehter» Kaufmann;  Fr.  GL  Gsochner»  Krämer, 
Markteierant,  Gsochncr  (der  (Jrimmige)  —  Handels- 
mann, Ivaufmauu,  Sochner  =  Kaufmann,  Krümer; 
Fr.  G.  GL  baucher,  Mehrzahl  Sanehrin  ebenso;  A. 
I,.  ^^m  her,  ."^aucher,  Socherer  unter  Sachern;  Knii- 
deospr.  II  bei  KL  S-  42S  Soger;  Kräiuerspr.  II  dort 
8. 489  söcher;  Lindenberg  1S91  Zocher  —  Kauf- 
mann; Gr.:  Soger  ebenso.  Ableitung  aus  dem 
Jüditicheu  bei  A.  L.  imtcr  Sachemi 


altes,  silliernes  Zwaniig>> 

nfennigstück. 
schlechte  ArbeitBSteUe,  a.  B. 

die  weniger  Lohn  j^ebt 

als  Verbandssatz, 
trinlmi« 


ohne  Papiere  »ein,  reisen 
müssen,  z.B.  „er  tigert 
seliwan*. 


Sdionisteinfeger. 
Pfairer. 


Gifick. 

zu  Ende,  kaput ;  ancb  allge- 
meines VentirlrangBWort 

Heiing. 


Stellenvermitiler. 
betrunken. 

Hering. 
Hering. 
Bett. 

CHliuderhut 
wandernder  Kaufmann. 


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I 


92 


y.  ScaüizB 


Souueab rüder,  der  [Gr.      der  im  Fi-eieu  über- 
Dachtet] 


SonncriHclimicd,  der  [»o  auch Kundeoapr. III  und 

IV  bei  Kl.  S.  42S,  434] 
Soroff ,  der  (vgl.  Sehabau)  (Deecke  bei  A.  L.  Bd.  3 

S.  250  Jajen  Zoref  =  Brandwein;  1747  bei  KI. 

8.214  Suroff;  1753  5  dort  S.  236  Soref;  1755  dort 

S.  240;  1*^12  Jain  Sorf,  lhl4  Jajem  Soref  bei  A.  L. 

B.  4  &  208;  1020  dort  Bd.  4  Ö.235  Sorof;  Fr.  6. 

Ol.  Bonrff;  1851  bei  Kl.  8. 410  Ssoref  oder  Snnrf : 

Kundenspr.  II  dort  S.  423  =  Branntwein ;  III  dort 

8.42b  Soroff  »  Schnaps;  IV  dort  S.  433  Soruff; 

KribneiBpr.  II  dort  8. 489  tOraf ;  ID  JenneMumm, 

SOniin    sonif,  dort  S.  441;  IV  dort  S.  442  sorof; 

lebendes  lioth welsch  dort  S.       Zorf  ~  Schn^; 

Gr.:  aorof,  seraf,  suruf,  soref,  surof  mit  und  ofiue 

jahin  —  Branntwein.  .Tudiach] 
spachteln  (vgl.  picken) 

epannen,  jemaaden  [1750  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  142  nach 
einem  spannen  =  verfolgen;  lSi)7a  bei  KI.  S. 
spanna  —  schauen;  lh2Ue  doit  ö.  353  spannen  — 
fidiren;  Fr.  61.  »  sehen,  schauen,  spähen,  an- 
qMUinen  —  ansehen,  bespannen  =  beobachten, 
aäianen;  A.  L.  spannen  »  lauem,  belauem;  Kun- 
denspr.  III  bei  Kl.  S.  42U  —  erblicken;  IV  dort 
8. 433  »  etwas  scharf  besehen;  Krämenpr.  I  dort 
8.  486  spanne,  spannen  «  sehen,  beobachten;  IV 
dort  S. 442  iäpanncn  =  sehen;  VI  dort  S.  ebenso; 
lebendes  Kothwelsch  dort  S.  493  —  scharf  beob- 
achten; lindeoberg  1891  ^^«nner  Bchmier- 
steher] 

Spazierbülzer,  die 

SpeekjSger,  der 


Sperling,  Suats^der  (Fr. 6.,  A. L. tmd  Gr.:  8per^ 

liug  KnebelJ 
Spezer,  der,  nach  andern  Spezel  (vgl.  Elementen- 

färber) 
Spielzeug,  das 

Spless,  der  {rgL  BHlzabldter,  Paragraphenmeister) 
lA.  L.  unter  Oapee,  Spies.s  —  Gaunerwirth;  Kun- 
denspr.  I  bei  KL  8.  421  —  Sechser;  III  dort  S.  249 
—  FOnfpfennigstück] 

apinnen 


8pitzf lamme,  die  (vgl.  Flammer) 

Spitzkopf,  der  (vgl.  BUtzableiterj  Kunden^r.  III 


Bummler,  besonders  Stadt- 
bnmmler,  der  afcb  anf 
Banken  und  Gelindem 
<ler  öffentlichen  Anlagen 
hemmtfdbt 

Klempner. 

Branntwein. 


essen. 

erblicken,  sehen  nach  Je* 
nandem. 


Beine. 

alte,  besonders  orts-  und 
personcnkundifre  Nah- 
rungf*niittelbettler  auf 
dem  Lande,  nehmen  aber 
nuch  Geld,  arb^ten  nie, 
saufen  alle. 

Flei^lcll,  aber  nur  das  im 
Gefäogniss  Terabfolgte. 

Bierbrauer. 

liandwerkwerätb. 
StaatBanwaIt(nadiAnderai 
Genadaim). 


Länn  machen,  fnrtw.nhrend 
i-edeu,  besonders  in  Folge 
von  Betrunkenheit;  da 
fa»t  alle  alten  Kunden 
dies  au  sich  haben,  und 
da  es  schliesslicb  meist  zu 
Krakehl  führt,  sind  sie 
bei  den  Jungen  oft  nicht 
gern  gesehen. 

Nagclschmied. 

Gensdann 


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Was  ist  heate  noch  von  der  Gaonenprache  im  praktiaclien  Oebraach?  93 


bei  Kl.  S.  429  Spitzkopp  —  Gensdarm ;  Gr.:  Spitz 
koi)f  =  Polizist] 
äpitziing,  der,  besonders  in  Süddeutschland  von  Hafer, 
fahrend«!  KflnsÜem  n.  dgl.,  die  IQr  ihr  Waj^- 

pferd  fi'clitcn.  [1.  V.  — ■  habem;  B.  0.  ^  haucm; 
1652  bei  Kl.  S.  156  Spitzling  ^  Hafer;  1687  dort 
S.  168  Spitzlinge  Nähnadeln;  1722  bd  A.  L. 
Bd.  4,  S.  IIH  i^pitzlin^  Alo  oder  Pfriem;  1783 
bei  Kl,  S.  201  Spitzlig  =  Haberen;  1755  dort S. 238 
Spitzlin«?  Hafer;  1820  bei  A.  L.  Bd.  4,  8.237 
Sj.itzgrib  =  Habor;  Fr.  Gl.:  Spitzling  «=  Nagel, 
Hafer,  Getreide,  Messer,  vorschüssige  Spitzling  = 
LTus^e  Messer,  groiae  StUet;  A.  L.  Spitzling  = 
Hafer,  Nagel;  Krämerepr.  VI  bei  Kl.  S.  tsl  Spitz 
und  Spitzling  =»  Hafer,  S.  4SS  —  WciUinbuuuj; 
Gr. :  ^Spitzling     Hafer,  Nagel] 

Spritzbüchse,  die  (vgl.  Schickse)  Mädchen. 

Stande,  die  [1.  v,  Hanfstaudl;  B.  0.  Hempstnd;  1()20  Hemd, 
bei  Kl.  S.  138  Hanfstauden;  1H52  dort  S.  15rt 
ebenso;  1750  bei  A.L.  Bd.  4,  S.  136  Hanf-Staude; 
1828  bei  Kl.  S.  868  Stande;  1880  dort  8. 865  eben- 
so; 1^47  dort  S.  :ir.s  cl.cn«.;  IV.  Gl.  Hanfstiiud, 
der,  Uaufätauden  liuuöfätauden,  die;  Fr.  G.  Gl. 
Standen:  1851  bei  Kl.  8.  408  ebenso;  A.  L.  Staude; 
18S6  bei  Kl.  S.  418  Stauden:  Kundenspr.  II,  III, 

IV  bei  Kl.  S.  423,  429,  43.H  Staude  Krämerspr.  III 
dort  S. 441  Staudehe;  IV  dort  S.  442  »taussem;  VI 
dortS.4S2  Hanfstaude, Stand;  Gr.:  Stande  =  Hemd) 

St  e uzen,  der  Ii r.  Gl.:  Stenz  —  Kock,  f  lock,  Stange;  Stock. 
ISf)!  bei  KI.  8.  408  —  Stock,  Prügel;  1856  dort 
S.  llö  Stcnze,  die  —  Stock;  A.  L.  und  Gr.:  Stenz 
—  Stock,  Stecken,  Prügel:  Kundenspr.  II,  III,  IV 
bei  Kl.  S.  423,  429,  4.H3  Stenz»  Stab;  Krämerspr. 

V  dort  S.  450  Stines;  VI  dort  S.  487  und  lebendes 
Rothwelsch  dort  8.  492  stenz  »  Stock] 

Stiehl  er,  der  ( v«:!.  KoninKivienrath,  Regierungsrath)  Sdineidar. 
il753t&  bei  KL  S.  236  Stichlings-Malochner;  1807  a 
dort  S.  290  Stichler;  1812  iL  1120  bei  A.  L.  Bd.  4, 
S.  220  bezw.  212.  lS20c  bei  KI.  S.35S  ebenso;  1S47 
bei  Ki.  S.  38t>  Sticliliugsuielocher:  Fr.  Gl.  Stichler, 
Stichlein;  Kundenspr.  I,  U,  III,  IV  bei  Kl.  S.  421, 
423,  429.  434  Stichler Schneider;  dagegen  Krä- 
merspr. I  und  VI  bei  Kl.  S.  436  und  4S4  Stichler 
■=»  Metzger] 

Stichliug.  der  (vgl.  Zahnstocher)  [l'^öi)  bei  A.  L.  ZaanpfahL 
Bd.  4,  S.  139  Stichling  ■=  Sclmcider;  ebenso  1745 
dort  Bd.  4,  8.  Ib5  und  (Jr.;  Fr.  Gl.  dagegen  —  Na- 
del. Diese  Bedeutung  ist  auch  mir  ente«^nge- 
treten,  doch  habe  ich  sie  nicht  mit  Sicherheit  fest- 
stellen können.    Stichling     Schnt  ider  wurde  all- 

ruein  lebhaft  bestritten].  iKrämerspr.  U  bei  Kl. 
489  hat  StiehUng  =  Messer;  VI  dort  S.  481  — 
Gabel.  Der  Gebrauch  scheint  also  nach  Zeit  und 
Bevölkeruneskreisen  aelu:  zu  schwanken  und  für 
aUea  mSgUene  wa»  q^ta  ist,  in  Betracht  «a  kom- 
men 

Stift ,  der  [1687  bei  A.  L.  Bd.  4,  S.  94:  Ein  Kuiib-  Lehrling, 
gen  —  Ein  Stifftgen;  ebenso  1722  dortBd.4,  S.  117 
und  1750  dort  lid.  4,  S.  137,  sowie  1S14  dort  Bd.  4, 
S.  219  Stiftcbe.  A.L.  unter  stabelu :  Stift  »Knabe, 
Bmehe»  Hmdwericsbnnehe;  Kundenspr.  I  bd  KL 


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94 


V.  SklHÜTZE 


S.  421  uud  II  dort  S.  423  Stift  =  Lehijunge; 
lebendes  Kotlnvelftch  dort  S.  493  «=•  Jand^l 
stippen  (vcr^I.  bezupfen»  (l()S7  bei  Kl.  S.  2<*1 
Stippri  =  Diebe,  die  beim  (leldwecliseln  stehlen; 
lb2Ua  atippen  —  plündern  der  Caasen  in  den 
KanflSden  venBittelst  einer  Leimrothe  dort  8.  374; 
]^2^  ff.  Stippor  =  Dil  l»,  der  mit  Leimruthen  aus 
den  Lösunffskästen  der  Kaufleute  u.  s.  w.  stiehlt, 
dort  S.  866:  1847  dort  8.  386  ebenso ;  gl^clifalls 
1851  dort  8.  408;  Fr.  Gl.  aus  Losuufrsfreldl<3aton 
stehlen;  A.  L.  stehlen  durch  heimliches  Zu  » 
Hineinlanfjen ;  KrfimerRpr.  VI  bei  Kl.  stibben  » 
betrt'lii:  Lindenl)er^'  1*^^M  stippen  =  das  Geld  mit 
Leina  utheu  aus  den  Kasten  Htehlen;  Gr.  Stehlen 
kleiner  O^genatinde  mit  Leimruthen.  Die  eng- 
lische Gaunerspraclie  —  Baumnuu .  Londonittnen 
—  hat  divo  •=  aus  den  Taschen  stehlen] 


8toff ,  d«r  (Tergl.  Element) 

Stessen  fverg:!.  fechten)  1350  bei  Kl.  S.  2  Stosscr 
«=•  furcs  reruni  venalium  in  fon) ;  Fr.  stossen 
—  stehlen,  nehmen;  1S.'>1  bei  Kl.  ö.  409  =  ge- 
stohlenes Gut  wis.Hentlieh  ankaufen:  Kundenspr. 
III  dort  S.  429  Winden  stosscn  —  einzehie  gute 
Häuser  aufj^iu-hen;  Gr.  —  wissentlieh  Gefitohlenes 
ankaufen,  auch  -«  stehlen;  mir  vielfacli,  aber 
nur  für  Betteln  genannt] 

Strassburgcr,  der.  rheinllindisch ,  nach  anderen 
aUgemein  gebräuchlich;  Kundenspr.  III  bei  Kl.  S. 
439  —  aus  aufgelesenen  Zigarrenstummeln  ge- 
scfanittener  TabakJ 

8 1  r  aas  e  n  g  r  a  b  en  t  ap  ez  i  er  e  n  — Bayem,Wflrtteni* 

berg,  Baden  — 

Straasengrabentapezier er,  der 

Streifllng,  der  |1.  v.  Streifling  —  Hosen;  B.  0. 
ebenso:  1652  bei  Kl.  S  158  Streiffling;  mi  bei 
A.  L  Bd.  4  S.  93  Streiflinge  -=  Strörapfe;  1722 
dort  Bd.  4  S.  120  Streif Imge  =  Stmrapfe;  1723 
d<trt  Bd.  4  S.  106  Stroffling  =  Stnimpf;  1745  dort 
Bd.  4  S.  l-js  Streffling  Strümpfe:  1717  bei  Kl. 
8.  214  Streifling  -  Strümpfe;  17.-.;;  dort  S.  286 
Strefling  ebenso;  1791  bei  A.  L  Bd.  I  S.  \rs 
Streifling  —  ein  Paar  Strümpf:  lso4a  l)ei  Kl.  S. 
27S  Strciflinge;  1^)7  a  dort  ».  el>enso;  1S12 
bei  A.  L.  Bd.  4  S.  220  und  lb20c  bei  Kl.  8.  353 
desgl.;  so  auch  Kundenspr.  II  und  III  bei  Kl.  S. 
423  und  429;  IV  dort  S.  lü.'!  hat  Streiflinge  oder 
Beinüngc  Suünipfe;  Krämei-spr.  III  und  VI 
Streifling  =  Strumpf  bei  Kl.  8.  441,  4871 

Stromer,  der  [IsMI  bei  Kl.  S.  4]^  ilu-nso;  Kunden- 
spr. I.  dort  S.  421  Stromer  votierender  uud 
bettelnder  HandwerLsbui^elie;  II  dort  S.  423  Stro- 
mer —  Hat,  aueh  —  Kunde;  IV  dort  8.  433  — 


stehlen  (als  Taschendieb, 
in  dieser  Be<leutung  ganz 
allgemein  Hblich;  da 
Stippen  mit  Lehnradien 
bei  der  modernen  Aen- 
derun^;  der  Ladenkasaen 
wenigstens  in  protestan- 
tischen Landen,  wo  man 
Opferstöcke  fast  nur 
innmfaalb  der  aoaser  dem 
Gottesdienst  nicht  ge- 
öffneten Kirchen  hat, 
nicht  mehr  in  Uebung  ist 
und  daher  hier  .wenig- 
stens auch  der  Ausdruck 
datfOr  in  Vergessenheit 
gerathen  zu  sein  scheint, 
kann  man  mit  Sicher- 
heit auf  Taschendieijstahl 
schlicss^,  wenn  man  liier 
im  Tasehenbaeh  oder 
Brief\ve<'lisel  emes  Vaga- 
bunden von  stippen  liest- 

Lagert>ier. 

betteln  (allgemelii). 


auf  der  Strasse  gesammelte 
Cigarrcnstummel,  die 
mdst  geschnitten  und 
dann  aus  der  Pfeife  ge> 
raucht  werden. 

an  der  Landstrasse  im 
Gras  liegen. 

s.  Wolkenschieber. 

Strumpf. 


Tagabnnd. 


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Waa  ist  heute  noch  von  der  Gaaneispriche  im  praktischen  Gebrauch?  96 


landl&urifrer  Ansdmck  für  alle  Handwerksgoselleu, 
die  nicht  mehr  arbeiten  können  und  im  Leben 
nur  durch  Fechten  friatenj 
studieren 

Sucher,  der  «  Socher  (vergl.  EUeiuetter) 


halfen,  z.  B.  Le^uui  talfen  fverpl.  feclitein  17(')4 
hv\  Kl.  S.  247  dalfenon  bettehi ;  ITH.t  T.iIch.T, 
JalttT  —  Landstreicher.  Jlialefer  =  _vi»nielinier"' 
Bettler  dort  S.  273,  (  Jross  Thalfer  —  Hochstappier 
S.  274;  IWO  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  232  Dalvcn  — 
abbetteln:  lS20cbei  Kl.  S.  35»  talften  =  betteln; 
1S47  dort  S.  it75  dalfen  =  betteln;  Fr.  i'A.  ebensio; 
IS&l  bei  Kl.  S.  3%  dalfen  arm,  dalfouen  » 
liettehij  A.  L.  dalfen  — •  betteln;  Knndenspr.  I 
und  III  bei  Kl.  S.  421  und  425  dalven;  II  und  IV 
durt  S.  423  und  433  talfeu  betteln,  fechten; 
Krihnerspr.  VI  dalfen  —  betteln,  dort  S.  479; 
lebende?*  Kothwelsch  dalfen  f»tehl(>n  dort  S. 
493 ;  Lindenberg  1S91  dalfen  —  betteln ;  Gr.  ebenso. 
Ableitung  ans  dem  JAdischen  bei  A.  L.  unter 
dalfen 

t  a  p  p  rt  e u ,  selir  allgemein  gebräuchlich,  (vergl.  tigeni. 
tippeln,  tunnen) 

Teckel,  der  (vergl.  Fusalatscher)  [Kundenspr.  II 
bei  Kl.  S.  422  Deckel,  Deckal  =  berittener  Gens- 
darm; III  dort  425,  42!»  Teckel  und  Deckel: 
lY  dort  S.  430  Deckel  —  Genadann;  Krämerapr. 
I  bei  Kl.  8.  435  und  VI  dort  8.  483  Deckel  ~ 
l-mdjrlger;  Gr.:  Teckel  =■  Dachs,  Dachs-Hund, 
iieuauarm.  Das  tec  und  teck  der  engliachen  Gauner- 
sprache —  G^^mpoHzist  dürfte  ^e  Ableitong 
vom  dctectiv  sein  und  mit  unserem  „Teckeh  nicht 
soaammenhringen,  Bauuiaun,  Londunismenl 

Teppe,  die,  —  besonders  in  Brandenburg,  Berlin 
vergl.  Trittcheu,  Trittling,  aoch  Gurken,  Lang- 
»ch:"ifter,  Pappcnheimeri 

'Theewinde,  die  (auch  Grfitzkasten)  iKnndenapr. 
III  bei  Kl.  S.  12!»  ebenso' 

Teigaffe,  der  (uieist  Lehmer,  uui  Ii  Leobschütz) 

Thermometer,  da»  (vgl.  Buddel) 

im  Thran  sein  (vgl.  beschmort  sein)  iKundenspr. 
III  bei  Kl.  S.  429  ebenso) 

tigern  (vgl.  tappseni  [Kundenspr.  III  beiKI.  8.429 
—  grosse  Strecken  schnell  zurücklegeol 

tippeln  (vgl.  tappsen)  [Chrvaander  bd  A.  L.  Bd.  9 
Ö.  405  tij)j»eln  =  fallen;  Is'lS  doit  Bd.  4  S.  22^ 

Sehen;  lb2Uc  bei  KI.  S.  353  ebenso:  lb4t>  dort  | 
.  972  —  entspringen ;  FV.  Ol.  —  gehen ,  heran- 
kommen, schleichen:  1S51  bei  Kl.  S.  412  =  gehen, 
kommen;  A.  L.  unter  tiupeu:  tippeln,  dappeln  - 
mit  behenden  Schritten  hin-  unr!  hergehen,  rasch 
drdiiiiu'i'hen,  schlüpfen:  Kundenspr.  II  bei  Kl.  422 

aieln,  dappeln  wandern;  Iii  doit  S.  429  tip- 
-=  gehen,  reisen,  wandern;  IV  dort  S.  438» 
inistrolchen ;  Kninierspr.  W  doit  8.  442  dipi>eln 
»  gehen:  lebendes  liothwclseh  dort  5.  493  tippeln 
•■triiqpeln;  Lindenbeq;  1S91  dsbbeln,  da|q;ieln«- 


venetzt.  \-crpfandet  Min 

(von  Stachen). 
Kaufmann. 


betteln. 


wanileni. 

(ü-nsdarm  (zu  Fuss  und  zo 
l'ferd,  für  beides). 


Stiefel  oder  Schuh. 

Krankenhaus. 

Backer. 

Branntweinflaschei 
betranken  wia. 

wandern, 
wandern. 


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96 


Y.  ScHÜTsm 


wandern;  Gr.:  dipeln  —  lanfen ;  Uppen,  tippeln, 
(lappoln^  loirht  anstos^on.  beltSteOi  OOire] 

Tippelei.  die  (vgl.  Mattino) 

Tljbperseiilekse,  die  (Knndenspr.  II  bdi  KL  8.432 

i/q>pels(liuks  —  Mädrlicn  auf  Wuiulcrechaft ;  IV 
Tippt'löchickst'l  jüdisches  lüderliches  Frauenzim- 
mer, das  mit  Handw(»'ksbnn»chen  wandert,  dort 
S.  —  „jüdisch''  als  Befrriffsincikmal  ist  zweifel- 
los verkehrt  — ;  A.  L.  ranpelHelucksc,  Dappel- 
sehickse  =  Metze ,  voiv.fig-licn  die  auf  den  obich 
gehende:  (Jr. ;  Tiiipelschickse  =  Betth^rin' 

Tirach,  der,  z.  Ji.  Mecklenl)nrfj  ist  ein  dufter  Tirach. 
(1818  bei  A.  L.  Bd.  4  S  22»,  Diraeh  =  Teufel ; 
nnaer  Tirach  hängt  aber  wohl  mit  Tei  ich  Land 
zusammen,  dass  sich  schon  friih  findet.  So  1450 
bei  KI.  S.  15  terieh  =  Land;  1.  v.;  B.  Ü;  1513  bei 
la  i«.  83;  1620  dort  8.  134:  1691  dort  S.  173  hat 
DInicli  —  calcens;  1758/5  dort  S.  2S6  Dirach  ^ 
Weg;  ls04  dort  S.  27 r.  Dirach  =  Laudstrasse; 
£unden»pr.  III  bei  Kl.  S.  429  Thienach  »  Land- 
strich ;  vgl.  auch  das  angeblieb  zigeunerische  nTf- 
rach"  im  waldheimer  rothwelschen  Lexikon  von 
1722  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  119  Schuhe  und  das 
hebrUsche  Deredi 

ti rächen  (vf^l.  fechten) 

Torf,  der  ivgi.  Uanf).  Nach  A.  L.  Beute,  Sneise, 
vom  hebrüflchen  tem;  Lindenbeig  1891m  Geld; 
Gr.  =  das  Zeniaaene.  nadi  BeeeitCste;  Beatel,  ge> 

heime  Tasche] 
Todtcnschoin,  der  (vgl.  FrachtbrieOi  da  mit  Rficlc- 

kelnverbot  verbunden,  allgemein  gebräuchlich. 

iKundeu.spr.  II  bei  Kl.  S.  423  Todtenschein  — 

Marschroute  in  die  lleimathl 
Todtenacbein  sterben  lassen 

Tretmfthle,  die,  jemanden  anf  ^  TretmOhle 

nehmen 

Trichinen,  die  (v;Lrl.  Bienen) 
Trine,  die  (vgl.  Kalle) 
im  Tritt  (vgl.  be»chmort) 
Tritteben,  das  (vgl.  Teppe) 

Trittling,  der  (vgl.  Teppe)  Ii.  v.  Dritling  =  schuh; 
B.O.  ebenso:  IffiN»  befKI.  S.  185  Dritling;  1652 
dort  S.  156  Trietling;  16ST  bei  A.  L.  Bd.  4  S.  93 
Trittlinge  —  ein  Paar  äcliuhc;  1722  dort  Bd.  4 
S.  119  ebenso;  1745  dort  Bd.  4  S.  15S,  159  Stritt- 
schcn.  Tritt liug  Schuhe;  1747  bei  Kl.  214 
TrittJing  —  Schuh ,  1798  dort  S.  271  Trittling  =- 
Fuss;  lS04a  bei  Kl.  S.  278  Trittschen  =  Schuhe; 
l>«7a  Trittling  Fuss,  dort  S.  288;  ebenso  1S12 
bei  A.  L.  Bd.  4  S.  220  Trittling;  1814  aber  wieder 
I  rittling  Stiefel  dort  Bd.  4  S.  2ül;  1820  dort 
Bd.  4  b.  421  IVittling  «-  Schenkel,  S.  242  ~ Schah; 
1820  c  bei  Kl.  8.353  Trittling  —  Schuhwerk ;  Fr. 
(Jl.  Trittling  =  Fuss,  Selmli  Stiefel;  Fr.  (t.  (41.  == 
Stiefel;  1851  bei  Kl.  S.  396  Dritthug  ^  Jb  uss,  Schuh, 
ebenso  8.412  dort  Trittling;  1856  dort  8.415 
Trittliiige  =  Seliulie;  A.  L.  unter  Trettcr:  Tritt- 
ling, Trittcheu  ^  Sciiuh ,  Stiefel,  Fuss,  Treppe; 
Kondenapr.  II  und  III  bei  KL  8. 423  mid  429 


Wanderschaft. 
wcibKcber  Kunde. 


Bettelbezirk. 


betteln. 
Schwaizbrod. 


Entlaasnngsschein  mit  Rei- 
sevorschrift, aber  olme 
Schubbegleitung. 

Keisovorschrift  nicht  inne 
halten. 

Jemandem  schwerzusetzen 
mit  Worten,  schimpfen. 
LSuse,  Ungeziefer. 
MSdchen. 
betrunken. 

Sdiaftstiefel,  naeh  Andeien 

uueh  Stiereletten»8dmhe. 
8.  Trittchen. 


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Was  ist  heute  nodh  7011  der  Oannenpiadie  im  piaktiscben  Gebisnch?  97 


TrittGhen,  Trittling  ^  Stiefel;  IV  dort  8.  4S8  — 
Schnhwei^;  Rrfimerspr.  I  dort  H.  436  trittling  -» 
Srimh.  Stiefel,  Fuss:  III  doit  S.  441  Trittclior  -= 
äcbuh,  Stiefel;  VI  dort  ä.  4bl  und  4bt>  ThttlinK 
» Ftm  und  Hcbnh;  M>endee  Rothwehdi  dort 
S.  49H  trittchens  -=  Schuhe .  Stiefel :  Lindenbem 
lb91  Trittlinge  ^  Stiefel.  Mir  sind  Trittchen  und 
TnVMatf  mur «  8<diiihwerit  begegnet],  j^g^ische 
c;:iinuTspraclie:  etampers  —  8ehiihe,Baaiiiaiui,Loii« 
duuiäuien. 
Tupf,  der  iv^l.  Po«dier) 

türmen  (\  <rl.  Hasen  machen^!  !1687  bei  A.L.  Bd.  4 
S.  '.IV  tliiiniitn  schaffen;  1722  dort  Bd.  4  S.  119 
elieiiso;  lS47abei  Kl.  S.390  Dumia,  s.  391  Duanna 
«  Erde;  Kundcnspr.  III  bei  Kl.  S.  427  k»8tharnicn 
grosse  Strecken  schnell  znrQcklegcn;  A.  L.  unter 
donnen:  durmen.  tliiinnen  ^  schlafen,  schlummern. 
Bei  dem  völlig  enlgegengeeetzteo  äinn,  iu  dem 
idi  das  Wort  keiiiien  frdemt  habe,  tmd  der  von 
Roscher  (Gross,  Archiv  Bd.  3  S.  27>>):  thünni  ii 
oder  einen  Hasen  machen  =  ausrücken,  wenn  An- 
zeige erstattet  mid  Veihaftong  zu  gewärtigen  ist, 
sowie  Kundcnspr.  III  bestStigt  wirtf,  ist  kaum  an- 
zunehmen, dass  es  mit  dem  alten  thünuen  iden- 
tisch und  von  dormen  abzuleiten  ist,  nia>;  auch 
die  nebenstehende  tinter  den  Kunden  vcrbreilete 
Ableitung  ebenfalls  nicht  einwandfrei  »ein] 

Turmspitzenvergolder,  der  [Kundenspr.  II  bei 
Kl.  b.  423  =  Bauer;  III  dort  &  429  ~  Bus-  und 
Thalversctzer; 

Twist,  der  (neben  Hanf,  Lcgum  in  Hambuis  go- 
brftnchlich)  [Fr.  ti.  GL:  Twiat -»  sweiter,  andere]. 

Unke,  die  (Vgl.  Buddel) 

Unteroffizier,  der  (vgL  Scbabau) 

Unvernunft,  die  (1SS6  bei  Kl.  S.  415  Unvernunft 
oder  Därmen  Wurst:  III  dort  S.  429;  IV  dort 
&  489  Unvemonft-«  Wunt;  ebenso  Qr.} 

Vater,  der  (vgl.  l'euuepos) 
Verbandsbnoh,  das  (v^  Buddel) 
Terblitsen 

Verdeckter,  der  (vgl.  Fauler) 
Verdonnern  (Kundenspr.  III  verdonnert  werden 
mm  das  Urtheil  empfangen,  Kl.  S.  429) 


verkaboren  (vgl.  versenken)  [1T55  bei  Kl.  8. 240 
kabem  ^  verstecken,  beirren,  ^rrabcn ;  1S20c  dort 
K.  353  vorkabbem  —  verbergen,  verstecken;  lb47 
dort  8. 8T9  verkabohren  eine  Sadie  dcher  unter- 
bringen, verstecken;  Lindenberg  1891  Terkabbem 
—  tticli  verstecken  1 

verkohlen,  Jemanden 

verk  r:i  <■  Ii  cn  (vgl.  hochgehen) 

v e  r  k  ii  n  d  i  g e n  (vgl.  kündigen)  ,1.  v.  verkimiueru ; 
B.  0.  verkümmern;  1722  bei  A.  !>.  Bd.  4  S.  120  ver- 
kingt;  1753/5  bei  Kl.  S. 236  vcrkßndigen:  1764  ver- 
köuigen,  dort  S.  247;  Fr.  Gl.  verkündigen;  Chry- 

xn. 


1  Pfennig. 

weglaufen ,  weite  Sätze, 
grosse  Schritte  machen. 
(Alte  Landstreicherr^l 
ist:  die  Höhe  eines  Tur- 
mes zu  messen,  messe 
ich  nur  gegen  Mittjig 
durch  Abadueiten  seinen 
Schatten  iinildpttsfradee» 
seil  Llinge  mit  3  und 
siehe  eine  Manneslange 
5Vt  Fte  ab;  daher 
tuniH-n  a  Tumiadiatten 
ablaufen. 


8.  Wdkflnadileber. 
Brod. 


Branntweinflasche, 
kleiner  Schnaps  (zu  fünf 

Pfennig). 
Wnnt 


Herbergs  wirth. 

Branntwoinflasche. 

Venirtheilen  nach  Unter- 
suchung durch  (iericht. 

Geheimpolizist. 

vemrtheilen  allgemein,  be- 
sonders ohne  grosse  Un- 
tersuchung &ah  die 
PoiizeL 


Jemandem  etwas  aufbinden 

verhaftet  werden. 

Ausbieten  der  ge«tolilenen 
Waare  durch  den  Brod- 
fahrer u.  dgl.  Leute .  aber 
auch  verkaufen aügeinein. 
7 


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98 


V.  BouC'i'su 


«ander  bei  A.  L.  Bd.  3  S.  40«  verkinffpn;  lS5t;  bei 
Kl.  S. 415  verkündipeii :  A.  L.  untn  Koiie:  ver- 
kinienen;  Kundonspr.  II  und  IV  hv\  Kl.  S.  422 
und  433;  Gr.  vcrkinjenen  verkaufen;  1820  bei 
A.  L.  Bd.  4  8.  233  verkimmem  °=  aaliieteD;  Kan- 
dcnspr.  III  bei  Kl.  S.  429  verkündigen  —  eroettel- 
tes  Zeug  verkaafen.  Ableitung  aus  dem  Jüdischen 
bei  A.  L.  unter  Kone.  An  andern  Zusammen- 
setzuDgen  vgl  z.  B.  Fr.  Gl.  abkinjen,  abkönigen; 
A.  L.  abkinjenen ,  abkingen ,  abkonigen ;  Gr.  ab- 
kinjen =  abknufcn :  Fr.  dakundi^'-cn,  erkim- 
mem  —  erkaufen,  einkündigen  elniiaufen] 

verpfeifen  (vgl.  pfeifen)  (Gr.:  IfltBchnldige  ein- 
gestehen, verrathen  überhaupt] 

Verpflichtung  nehmen,  jemand  verhaften,  des- 
sen Papiere  für  verdächtig  oder  nidit  g^Qgend 
befunden  und  vom  (Sensdann  abgenommen  werden 

ve^^icharfeu  (vgl.  schärfen)  [1847  hei  Kl.  8.  HS"  = 
gestohlene  oder  erschwindelte  Saelien  verkaufen; 
ls.'>6  dort  S  415  «  verkaufen;  Kundenspr.  III  bei 
Kl.  S.  12it  Gestohlenes  beim  Hehler  verkaufen; 
landenberg  1891  —  das  gestohlene  Gut  verkaufen 

verschmieren,  s.  B.  jemandem  die  Fleppe  yer> 
schmieren 


Yerschöncrungsrath,  der  (vgl.  Arschkratzer) 
veraehfitten  (vgl.  hochnehmen)  [1812a  bei  Kl. 

S.  2f  2  verschitten  gefangen ;  S.  2fl4  vorsclifitten 
gefangen  werden;  1S14  l>ei  A.  L.  Bd.  4  !S.  203  ver- 
schütten —  gefangen:  isis  dort  Bd.  4  S.  229 
verhaften;  lS20d  l>ei  Kl.  .'554  verschüppet  «=  arre- 
tirt;  A.  L.  und  Gr.  verschütten  gefangen  neh- 
men beaw*  einmMnen.  Fr.  Gl.  dagegen  einver^ 
Btehen,  verarmen,  verderben] 

Verachütt  gehen  (vgl.  hochgehen)  'lS4fi  bei  Kl. 
&872  ==  verhaftet  werden;  1S47  dort  S.  .{Sit  ebenso; 
deB^1851  dort  6.413  und  .  L.  Kundenspr.  11 
bei  Kl.  ö.  424  veradiltt  gehen  =^  gefangen  wer^ 
den:  III  dort  8.  420  verschütt  gehen  ■=  airrtnt 
werden;  IV  dort  8.  433  »  beim  Betteln  abgefasst  ; 
und  aixetirt  werden;  Lindenbei^  1891  —  verhaftet  I 
werden;  ebenso  Gr.' 

Versenken  (vgl.  verkaboren)  z.  B.  einen  linken 
Zinken  im  Schlips  versenken  [1.  v.  versenken 
versetten;  1597  bei  Kl  S.  113  versenken  ebenso; 
HVli)  dort  iS.  142  verscnkelu  ebenso;  1652  dort 
S.  lös  verpnnden;  1856  dort  S.  415  —  ver- 
graben) 

Vicibus,  der,  allgemein  gebraucht.  [Kundensiir.  III 
bei  Kl.  8. 428  Vicebooe  —  Hanaknecht  der  Fenne] 

Wachtmeister,  der  (vgl.  Schabau)  (Kundenspr. 
III  bei  Kl.  S.  IJO  —  ^Tosses  Glas  hclinaj»si 

Walmusch,  der  (vergi.  lüuft)  [1747  bei  Kl.  S.  214 
Malbnsch  —  Kleid:  1T58/5  dort  S.  236  Malnscfa  — 
Rock:  1755  dort  S.  240  Malbosch  und  Mainisch; 
1764  Malbusch  dort  &  247;  1791  bei  A.  L.  Bd.  4, 
8. 168  Hahlboech;  1798  dort  Bd.  4,  8. 180  Mal- 


verrathen. 

in  der  Veipf legungBstatioQ 
einkehren. 

gestohlenes  oder  sonst  un- 
recht erlanglea  Out  yer> 
kaofeo. 


Jemand  verhaften,  dessen 
Papiere  für  verdächtig 
oder  nicht  genügend  be- 
funden und  vom  tiena- 
darm  abgenommco  wer- 
den. 

Barbier. 

verhaften  lassen. 


verhaftet,  festgenommen 
werden. 


verstecken,  verschwinden 
lassen,  z.  B.  falschen 
Stempel  im  Sblips  ver- 
stecken. 


Hansarbeiter  des  Uerbcrgs- 
vaters. 

Schnaps,  grosser  an  10  Pf. 
Bock. 


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Wm  ist  heute  noeh  tod  der  ChMinenpnidie  im  pnktiMbeii  Gebrraoli?  99 


boBch;  1812  dort  Bd.  4,  S.  212  ebenso«--  Rock: 
1851  Malbisch  bei  Kl.  S.  404  *  Rock ,  jede  Art 
Kleidungsstücke:  A.  L.  Wallmuf^cli,  Mrdorben  aus 
dem  Jüdiscben  Malbuscb  ->  Uock,  ivleidung;  Kim- 
denspr.  n  bei  KL  S.  424  Wahniseli :  m  dort  8. 429 
Walmusch.  IV  dort  S.  m  ebenso  =- Kork :  Kni- 
merepr.  II  dort  Ö.  48b/4.'iy  nialebüsch  und  wall- 
mQsch  «  Anzug,  Rock:  VI  dort  S.  4S5  Walrausch 
—  Rock;  Lindenberg  ISfll  Wallniuscli  -  Rock; 
Gr.:  Wjillmusch  —  Kock.  Kleidung,  Hut  Ablci- 
tiiiijr  aiif*  dem  .Indischen  8.  A.  L,  a.  a.  0.] 

Walze  lit  sonder^  _aiif  der  W.  liegen*  [Kundon- 
spr.  111  und  IV  bei  Kl.  8.  42!»,  4:W  —  Wan<ler- 
Bchaft,  Reise] 

walzen  {Kundenspr.  III  bei  Kl.  &  429  —  gehen, 
reisen,  wandern] 

Walzi  nbruder,  der  [KimdenqMr.  ni  bei  KL  S.420 
Wanderbursche] 

W erweiser,  der  (vfrl*  Baddel) 

Weidlinge.  die  (vgl.  Weiteben)  ;iß2i)beiKI.  S.1.'5S 
Weidling:  16b7  bei  A.  L.  Bd.  4,  b.93  Weiüingc; 
1722  dort  Bd.  4,  B.  116  Weidlinge:  1745  dort  Bd.  4, 
8. 159  Weitling!  1747  ebenso  bei  Kl.  S.  214;  Fr. 
ü.  Gl.  Weideling:  Kundenspr.  II  bei  Kl.  S.  424 
Weitlinger;  III  dort  .8.  42«.}  Weiteb.n:  IV  dort 
S.  4.'?3  ebenso;  A.  L.  und  Gr.:  Weitling  aHose] 

Weissling,  der  [Gr. —  Milch,  Silbenstiieki 

Weitchen,  die  (vgl.  Weidlinge)  [Gr.  ebenso  j 

wilden  Mann  machen  Kundenspr.  III  bei  Kl. 
S.  429  —  in  der  Betrunkenbeic  be^uidal  aiitauguu]. 

wilde  Penne,  die 


Winde,  die  (vgl.  FI5te,  Theewinde,  Winselwinde) 

n^.iP.  ])ei  Kl.  S.  41.')  ^  Hans;  II  dort  S.424  ebenso; 
Iii  dort  ä.  42U  ebenso  und  —  Arbeitsiiaus) 


Winselwinde,  die  (vgl.  Kundenspr.  III  bei  Kl. 
S.  42S  Sehmeichdwinde  »  Kirchel 

W'>lk  fiisrbiebc  r.  der  (v;;!.  Chausi»eegnd)cn- 
tapczirer)  tKundcuspr.  II  bei  Kl.  Ü.  424  — Bauer; 
DI  dort  8.4S0*«B«ig^  nnd  Thalvenetier] 


Landstraase,  Wandersebaft. 

auf    den    I^nd  Strassen 

benindiegen. 
wandern,  iandstreichen. 


Sduiapaflaaehe. 
Hoee. 


Fünfpfennigstiiek. 
Hose. 

Geiateekrankheit  hencheln. 

Herberge,  die  nicht  zum 
Verband  der  Herbergen 
zur  Heimath  gehört,  also 
besonders  keine  Andach* 
ten  hat 

Arbeitshaus ,  aber  auch 
Haus  filM'rbanpt .  /.  B. 
das  ist  eine  gute  Winde" 
heisst:  ^das  ist  Hans, 
in  dem  der  Kettler  gut 
was  erhält".  In  dieser 
Wendung  liegt  wold  ein 
Rest  des  nrspriingliehen 
Gelnauelis  von  Winde  — 
Thür.  Vgl.  1^20  beiA. 
L.  Bd.  4.  S.  243  Winde 
—  Thür:  Fr.  Gl.  «  Thor, 
Pforte,  Thöre;  A.  L.  =» 
Thär,  besonders  der  be- 
wegliche ThfirflBsel;  Gr. 
^  I  hflre,  ThftrflBgel. 

Kirche. 

I>eute,  die  fiberhanpr  kein 
Geschäft  oder  Handwerk 
gelernt  haben  (^Arbei- 
ter*) und  zur  Zeit  ,anf 
Wanderschaft  sind,  meist 
mit  dem  Beigesehmack 
des  Bummlers,  der  auch 
keine  Arbeit  sucht. 

7* 


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100      V.  ScHßu»  Was  lat  heate  noch  von  d«r  GaanenpfMlie  im  Gebraach? 


Z  I Koscher  in  (iros«,  Aix-hiv  Bd.  S,  S.  278  Z  — 

Zuchthaus  bekommenl 
Zaster,  ilor  (vf;!.  Awlio»  ' Ichcndcs  Rothwcisch  bei 

Kl.  8.493,  ebenso;  Gr.:  Sastor uud Zauter  Eiaen]. 

Vielleicht  von  »extarius  ? 
Zcileupinner,  der  (auch  Pinnar) 
Zeil  cnreitor,  der 
Zinimt,  der  A»cho) 

Zinken,  der  [1122  bei  A.  L.  Bd.  4,  8.  It8  —  Petl- 
Mshaft:  179S  dort  Bd.  4,  8. 182  —  Name,  Zeichen; 

1^12  Zinke,  1814  Zink  dort  Bd.  4,  JS.  221  eben>«o: 
181»  dort  Bd.  4,  S.  22»  Zinke  —  Pettscbaft,  Wink : 
184T  bei  Kl.  8. 389  Zinken  —  Zeichen:  185t  dort 

S.  413  Zinken  oder  Zink  =>  Wink,  Zeichen.  Be- 
zeichnung: A.  L.  und  Gr.:  Zink  =  jede  jfeheirae 
VetBiTindifrunf!:.  A.  L.  auch  =  Siegel,  Wappen, 
Stempel;  Fr.  Gl.  Zinken  und  Zinke Name,  Sie- 
gel, \Vappen,  Kun<lenspr.  II  und  III  bei  Kl.  S>.  424 
und  480  Zinken  —  Stemiiel ;  IV  <lort  S.  433  —  amt- 
liche» Siegel,  btempel;  Lindenberg  1891  Zinken  — 
Zeichen  1 

zinken  i  vgl.  iifeifeni  174.')  bei  A.  L.  Bd.  4,  8.  151 
bezinkt  werden»  venathen  wentoi;  Kundenspr.  III 
bd  Kl.  S.4S0:  etwas  alnlten » etwas  zeigen] 

Zinsen .  die  (vjjl.  Asche) 

Zinsen  einholen  (vgl.  Fechten)  i£benso  Knnden- 

apr.  in  bei  KL  8.480:  Zinan  holen) 
Zinaen  verbringen 

Zosehen  (vgl.Zo8ken)  [1722  bei  A.  L.  Bd.  4,  8. 118 

Znssgen:  174.5  dort  Bd.  4.  S.  l'iS  Sössgen :  1747 
bei  Kl.  S.  214  S<.s4*en;  l'ö.J  j  dort  S.  237  Zoffen 
oder  Zos.sen:  1791  bei  A.  L.  Bd.  4,  S.  1H7  Zuneni; 
1793  d<»rt  Bd.  4,  B.  I*«!»  Zusini;  1812  dort  Hd  4. 
S.  221  Zuöcm:  lS12a  l>ei  KJ.  8.  292,  2ya  Zurj^cn, 
Süssgen;  1813  dort  Ö.  810  Zoffen,  S.  809  Solchen : 
1818  bei  A.  L.  Bd.  4,  S.  229  Zoskcn :  1820  dort 
Bd.  4,  8.241  Sasem:  1820c  bei  KJ.  8.353  Zosse: 
A.  T>.  Snschen  (verdarben  aus  sus),  Zossen  (huh); 
Kondenspr.  III  Zoaschen  hei  Kl.  8.  430 :  Krämer- 
q)r.  n  snssem,  soisem.  zosemn  dort  8.  499:  III  dmt 
}?.  III  Süsse,  Husseni,  Sus-schen;  lebendes  Roth- 
welsdi  dort  8.  439;  Gr.:  Zossen  —  Pferd] 

Zosken  (vgl.  Zöschen)  Geeebleeht  habe  ich  nidit 
feststellen  können. 

Zoskcnpeikcr,  der.  Peiker  wird  scheinbar  nur 
in  dieser  Zusiunmensctzung  gebraucht.  ,Kunden- 
spr.  III  bei  Kl.  S.  480  Zosschen  * Peuker;  IV  dort 
8.  434  Zoäkenpüiker  ebenso! 

Zottel.  Zottefbrader,  der 

Zotte  Iberger,  der»  einen  Z.  (oder  guten  Bamach) 
maclion. 

zotteln  ivgl.  bezupfen)  [Kundeoapr.  II  und  III  bei 
Kl.  8. 424  und  430  ebenso;  IV  dort  8.  433  coddeb 
—  fltehlmi:  zottclen,  zottele  ErSmcrspr.  I  bei  Kl. 
S.  437;  \l  doi  f  S.  J^C,  /ottelen -=  stehlen! 

Zwilling,  der  (\ßl.  Knopf),  schwäbisch  und  bsy- 
riecb.  |Naeh  A.  L.  beim  Lotto  fttr  Zahlen  wie  11, 
22,  33  u.  8.  w. :  eVienso  Gr.,  der  den  Ausdruck  aber 
auch  für  „Auge"  braucht.  Kundenspr.  I  bei  Ki. 
8. 421  Zwidcel  — 3  Pfennig 


Zuchthaus. 
Geld. 


Schriftflotzer. 

Zeitongssetzcr. 

Geld. 

Stempelabdruck,  echter  wie 


vanathen,  auch  ein  fal- 
adiaa  Zeognias  stempehi. 

Geld, 
bettehi. 

Geld  durchbringen,  beson- 
ders vertrinken. 

Pf erdefleisoh ,  auch  Pferd 
und  PfeidascUachter. 


Pferdefleisch,  auch  Pferd 

und  PferdeschlachtW. 
Pferdeschlachter. 


Dieb. 

einen   guten  geglückten 

Diebstahl  machen. 
Stehlen. 


Zweipfennigstück. 


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VI. 

Ueber  Daktyloskopie  'J. 

Von 

Camillo  Windt, 

k,  k.  Poliieirath  In  Wien. 

(Mit  17  Abbildungen.) 

Die  Innenseite  der  Hand  wiid  nach  allen  Biehtnngen  von  ▼e^ 
aehiedoien  Linien  dniohqnot 

Bekannt  dnd  die  Fnrehen  in  der  HandflSche^  jene  tiefen  Eln- 
keibnngen  in  der  Han^  welche  durch  das  Sofaliessen  der  Hand  ent- 
stehen und  bei  dem  Znsammenziehen  der  Finger  besonden  denflich 
wahndimbar  werden. 

Bei  genanerer  Betrachtung  sieht  man  jedoch  andere,  zahhreiche 
sonst  unbeachtete  Linien  sof  der  Hand. 

Es  sind  dies  die  sogenannten  Papillarlinien,  die  zarten  Linien^ 
welche  der  Hautoberfläche  in  der  Hohlhand  das  Aussehen  eines  frisch 
gepflügten  Feldes  geben  mit  seinen  Streifen  und  Furchen,  oder  des 
Sandes,  den  das  Meer  beim  Zurückweichen^  bei  der  Ebbe  rippi 

Die  Hypothesen  näher anseinandeRaselEen,  welche  Bestimmung 
diese  Papillarlinien  haben,  würde  uns  zu  sehr  ablenken  und  sei  nur 
kurz  erwähnt,  dass  nach  Ansicht  hervorragender  Physiologen  die  mit 
mikroskopischen  Poren  bosetzten  Papillarlinien  das  Ausscheiden  des 
Sehweisses  erleichtem  und  möglicher  Weise  irgendwie  den  Tastsinn 
unterstützen  sollen. 

Letzteres  wird  dadurch  bekräftigt,  dass  sich  Papillarlinien  auch 
an  den  Händen  der  Alfen  und  sogar  an  dem  nackten  inneren  Theile 

1)  Vor  EnrEflm  hidt  6w  mit  der  Leitung  dM  EricenDongsdienstee  bei  der 
k.  k.  PoUieidinetioii  In  Wien  betnnte  PoUseiiBtk  Windt  in  der  Wiener  Anduo- 
polo(^8chen  Gesellschaft  einen  Vortrag  «Heber  das  Erkennen  von  Menschen  an 
den  Abdrücken  der  Fingerspitzen,  die  sogenannte  DaktyloHkopio'-.  den  wir  hier 
ausführlich  und  in  seineu  markantesten  Stelleu  wörtlich  wiedergeben  unter  Bei» 
fOgung  einiger  der  vom  Vortragenden  demonstrirteu  Bilder. 

Anhiv  fit  griaiBdMthroioi^Bl»  ZH.  8 


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102 : 


VI.  Wl.NPT 


des  Greifschwanzes  des  Ileulaffen  vorfinden,  der  diesem  als  fünfte 
Hand  dient  und  mit  welchem  er  sich  an  den  Zweigen  festhält. 

Die  nachfolgende  Figur  Nr.  1  zeigt  sowohl  die  Furchen,  die  durch 
das  Schliessen  der  Hand  deutlicher  sichtbar  werden,  als  auch  die  eben 
erwähnten  Papillarlinien.  Wir  entnehmen  diesem  schematischen  Bilde 
dass  die  Papillären  in  ziemlich  ])arallelen  Linien  quer  über  die  Finger 
bis  zum  letzten  Gelenk  laufen.  Die  Linien  würden  offenbar,  wenn  der 
Fingernagel  nicht  wäre,  bis  zur  Fingerspitze  parallel  sein.  Aber 
das  Vorhandensein  des  Nagels  —  dies  dürfte  die  populärste,  leichteste 


Fig.  1.  Fig.  2. 


Erklärungsart  sein  —  stört  diesen  Parallelismus  und  drängt  die 
Papillarlinien  theils  nach  aufwärts,  theils  nach  abwärts,  sodass  eine 
Unterbrechung,  ein  Zwischenraum  entsteht 

In  diesen  Zwischenraum,  der  sich  auf  dem  Punkte  an  den 
Fingern  befindet,  wo  das  Tastgefühl  am  stärksten  ist,  an  den  soge- 
nannten Beeren  der  Finger,  ist  nun  eingeschoben  ein  System  von 
Papillarlinien,  ein  von  diesen  gebildetes  ^Muster". 

Dieses  Muster  ist  sehr  klar  und  einfach. 

Es  ist  bekannt,  dass  ein  Türke,  der  des  Schreibens  unkundig  ist, 
eine  Urkunde  nicht  mit  den  bei  uns  üblichen  Kreuzzeichen  versieht. 

Er  trägt  bei  sich  eine  Blechkapsel  oder  Holzkapsel,  enthaltend 
einen  mit  Sepiafarbe  oder  Tinte  benetzten  Schwamm. 

Hat  er  etwas  zu  unterschreiben,  so  berührt  er  mit  dem  Zeige- 


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Ueber  Daktyloskopie. 


103 


finger  der  rechten  Iland  diesen  Schwamm  und  druckt  sodann  den 
dadurch  braun  oder  schwarz  g:emachten  Finger  auf  der  Urkunde  ab. 

Und  80  wie  wir  unsere  Unterschrift  zu  ajsrnosciren  in  der  I-ag:e 
sind,  80  ist  auch  der  Türke  im  Stande  seinen  Fingerabdruck  wann 
immer  wieder  zu  erkennen,  ihn  von  Abdrücken  des  Fingers  eines 
Anderen  zu  unterscheiden. 

Folgen  wir  dem  Beispiele  deB  Tflrken  und  drucken  wir  einen 
Finger  auf  dnem  Blatt  Papier  ab. 

Die  Figur  2  ist  die  Photographie  eines  derartigen  Finger- 
abdmckee. 

Suchen  wir  nun  auf  dieser  Figur  das  intereesiiende  Muster. 


Die  Figur  zeigt  uns  zunächst  die  oberwähnten  Papillarlinien.  Ver- 
folgen wir  dieselben  vom  unteren  Theile  dos  Hildes  gegen  olion  hin, 
so  sehen  wir,  dass  die  Linien  bis  zu  dem  Punkte j  der  auf  unserer 
Figur  mit  einem  Kreis  umgeben  ist,  ziemlich  parallel  (fast  horizontal) 
laufen.  An  diesem  Punkte  tlieilt  (gabelt)  sieh  eine  Uinie  in  zwei 
TIkmIo.  Der  eine  Arm  der  gegabelten  Linie  läuft  weiter  horizontal, 
dt.T  andere  Arm  zeigt  eine  Wcilbung  nach  aufwärts.  In  dem  von 
diesen  zwei  Armen  der  gegabelten  Linie  umschriebenen  Kaunie  {Fig.  3) 
befindet  sieh  das  .,Muster''. 

Der  Punkt,  in  welchem  die  Gabelung  eintritt,  nennt  man  den 
äusseren  Terminus  des  Musters,  die  Formation  der  gespalteneu  Linie 
nennt  man  das  Delta. 

Das  in  diesem  Zwischenräume  befindliche  Muster  bat  im  vor- 
liegenden Abdrucke  folgendes  Aussehen  (Fig.  4): 

Man  sieht  hier  ein  System  von  UnieDt  die  sämmtlich  von  reehts 
nach  tinks  anfwirts  lanfeu,  auf  dem  hdcbsten  Punkte  eine  Art  mnder 


Fig.  8. 


P!g.  4. 


8* 


104 


VL  WlKDT 


Kuppe  bilden  und  sodann  nach  der  Ausgangsseite  wieder  zurück- 
kehren. 

Dieses  Muster  sieht  aus  wie  eine  Anzahl  von  in  einander  gelegten 
gewöhnlichen  Haarnadeln  verschiedener  Grösse,  von  welchen  die 
kleinste  innen  sich  befindet  und  die  grösste  aussen,  oder  auch  eine 

Anzahl  concentrisch  gelagerter  S|>agat- 
sch  1  ingen,  die  zum  Aufhängen  von 
Gegenständen  an  die  Wand  verwen- 
det werden. 

Mit  Rücksicht  auf  diese  Aehn- 
lichkeit   nennen    wir    das  Muster 
Schlinge". 

Bei  dem  eben  besprochenen 
Schlingenmuster  war  von  der  Thei- 
lung  (Gabelung)  nur  Einer  Linie 
auf  Einer  Seite  des  Abdruckes 
die  Rede. 

Es  kommt  jedoch  vor,  dass  auf 
beiden  Seiten  des  Abdruckes  je  eine 
Linie  sich  spaltet  (Fig.  5), 

Fig.  5. 


Fig.  ö.  Fig.  7. 


Dadurch  entsteht  ein  wesentlich  anders  gestalteter  Papillarlinien- 
zwischenrauni  (Fig.  6).  Das  Muster  in  einem  derartigen  Zwischenräume 
hat  auch  ein  ganz  anderes  Aussehen,  als  das  früher  beschriebene 
Schlingenmuster. 

In  dem  vorliegenden  Fingerabdrucke  (Fig.  5)  sieht  es  folgender- 
maassen  aus  (Fig.  7): 

Es  zeigt  uns  das  Bild  einer  Schnecke,  bezw.  das  Bild,  welches 


^        I  Google 


Ueber  Daktyloskopie.  105 

wir  am  Wasserspiegel  nach  Einwurf  eines  Steinchens  sehen,  —  das 
Bild  eines  Wirbels. 

Dieses  Muster  nennt  man  daher  ^  Wirbel 


Fig.  10, 


Fig.  11. 


Eine  dritte  Kategorie  von  Mustern  wird  mit  dem  Sammelnamen 
„Zusammengesetzte  Muster*^  bezeichnet 

Es  sind  dies  Muster,  welche  aus  zwei  der  vorbeschriebenen  Muster 


106  VI.  WnmT 

zusammengesetzt  sind  nnd  theils  die  Kriterien  von  Schlingen,  theib 
jene  der  Wirbel  aufweisen^ 

Das  Maater  Fig.  8  ist  eine  Oombinatioa  von  Schlinge  und  Wirbel 

IMe  MnBter  Fig.  9  and  10  sind  Oombinationen  zwder  Sohlingen. 

Den  zosammengeBetzten  Mastern  reihen  sich  die  sufilligen 
Master  an,  welche  mit  diesen  in  die  gleiche  Kategorie  eingetheilt 
werden. 

Der  Abdrack  Fig.  11  zeigt  ein  lafiUliges  Master,  ein  Bild  nnans- 
gesprochenen  Ohaiakters. 

Eine  weitere  (vierte)  Kategorie  von  Abdrücken  zeigt  die  Be- 
sonderheit» dass  die  Linien  Ton  einer  Seite  der  Zeichnung  znr  anderen 


laufen,  oiinc  dass  aucb  nur  eine  Linie  nach  derselben  Seite  zurück- 
kehrt. 

Die  Linien  silien  so  aus,  wie  die  Indianerlioiren,  die  Bogen, 
welche  die  Kinder  zum  Abschiessen  von  Pfeilen  benützen. 

Der  Abdruck  Fi{^^  12  zeigt  ein  solches  Boprenmuster: 

Eine  Abart  des  Bog:enma8ter8  ist  der  zeltartige  Bogen  (Fig.  13). 
In  diesem  Cluster  stei^'t  in  der  Mitte  eine  Papillarlinie  mehr  oder 
weniger  steil  aufwärts.  Diese  Linie  bildet  die  Achse  des  Musters, 
an  welche  sich  die  anderen  schräg'  verlaufenden  Pa])illarlinien  unter 
spitzen  Winkeln  anlehnen.  Ueber  dieser  zeltartifren  Zeichnung' 
w  <"i]b(>n  sich  sodann  die  übrigen  rapillarlinieu  in  steil  aufsteigenden 
Bügen. 


Digitizeü  by  Liüü^t 


Ueber  Daktyloskopie. 


107 


Jeder  J'ingerabdruck  lässt  sich  in  Eine  dieser  vier  gezeigten 
Kategorien  einreihen. 

Er  ist  entweder:  ein  Bogen  oder  eine  Schlinge,  oder  ein  Wirbel 
oder  ein  zusammengesetztes  Muster  und  kann  bei  einiger  Uebung 
niemals  ein  Zweifel  entstehen,  in  welche  dieser  vier  Classen  ein  Finger- 
abdruck einzutheüen  ist. 

Die  auf  Menschenalter   sich  erstreckenden  Forschungen  von 


Vig.  14. 


Purkyn«',  Herschel^  Galton  u.  A.  haben  ergeben,  dass  die  Einzel- 
heiten der  t*apillarlinien ,  welche  die  vorangeführten  Muster  bilden, 
durch  das  ganze  Leben  des  ^lenschen  constant  bleiben  und  —  wie 
sie  an  den  Fingern  des  neugeborenen  Kindes  gefunden  werden  — 
an  den  Fingern  derselben  Person  auch  noch  im  späten  Alter  verfolgt 
werden  können. 

Die  Dimensionen  der  Papillarlinien  ändern  sich  selbstredend  mit 


108 


VI.  WiyuT 


1 


dem  Wachstbum  des  Menschen;  aber  die  Zeichnung,  das  Dessin  des 
Musters  bleibt  immer  dasselbe,  so  lange  das  Individuum  lebt 

Ja  die  Haut  wächst  sogar  mit  demselben  Muster  nach,  wenn 
die  Papillarlinien  etwa  absichtlich  oder  zufällig  beseitigt  wurden. 
Selbst  an  Leichen,  sogar  an  solchen,  die  wochenlang  im  Wasser 

gelegen  sind,  lassen  sich  die  Papillar- 
linienmuster noch  vollkommen  deutlich 
feststellen,  wie  dies  zahlreiche  Versuche 
ergeben  haben. 

Die  obenstehende  photographische 
Abbildung  von  vier  Fingern  einer  Mumie, 
die  sich  im  Besitze  des  k.  k.  naturhisto- 
rischen Hofmuseums  in  Wien  befindet 
(Fig.  14)  zeigt,  dass  die  Papillarlinien 
eventuell  auch  noch  nach  tausenden 
Jahren  wahrgenommen  werden  können. 

An  dem  Zeigefinger  auf  dieser 
Abbildung  ist  das  Schlingenmuster  ganz 
deutlich  zu  sehen. 

Die  Papillarlinien  verwischen  sich 
erst  dann,  wenn  nach  dem  Tode  des 
Individuums  die  Zersetzung  der  Haut 
erfolgt. 

Die  ünveränderlichkeit  der  Haulzeichnungen  an  den  Fingerspitzen 
das  ganze  Leben  hindurch,  sowie  die  vorbeschriebene  leichte  Eintheil- 
barkeit  der  Muster  in  nur  vier  Classen  (Bogen,  Schlingen,  Wirbel  und 
zusammengesetzte  Muster)  machen  es  möglich,  die  Papillarlinien  zur 
Erkennung  (Identificirung)  von  Personen  zu  verwenden.  Man  macht 
in  der  sofort  näher  zu  besprechenden  Weise,  ähnlich  wie  es  der  türkische 
Analphabet  thut,  der  sein  Handzeichen  auf  eine  Urkunde  setzt,  einen 
Abdruck  der  Fingerspitzen  auf  einem  Blatte  Papier,  auf  einer  Karte 
ersichtlich. 

Die  gewonnene  Fingerabdruckskarte  wird  nun  dahin  classificirt, 
welcher  der  obigen  vier  Kategorien  die  Abdrücke  des  Daumens,  des 
Zeigefingers,  des  Mittelfingers,  des  Ringfingers,  des  Kleinfingers  zunächst 
der  rechten  Hand,  dann  jeden  Fingers  der  linken  Hand  angehören. 

Die  Karte  wird  darauf  in  der  eigenen  daktj'loskopischen  Karten- 
Registratur  an  der  ihr  auf  Grund  der  Classification  arithmetisch  ge- 
bührenden Stelle  eingelegt. 

Befindet  sich  an  derselben  Stelle  der  Registratur  bereits  eine  Karte 
mit  demselben  Muster,  so  ist  die  dakt^'loskopirte  Person  identificirt» 


Flg.  15. 


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üeber  Daktyloakoiiiei 


109 


Im  Detail  isl  der  Voigang  lolgender: 
Um  einen  zu  RegistrinmgBiweeken  vollkommen  geeigneten  Finger» 
abdrnck  henostellen,  giebt  man  anf  eine  MeteUplatte  eine  etwa  lineen- 


-  aMtfedttcntA  «»■Will 
RMftWlMlItf. 

■VV 

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M>  •>*•*•  m*  t*  1— ■  1  a^- 
>»*  lll»»»»!»!»»'»»^*«— 
»»Iwofcl  in i»>iii -<M 

1 

M  K 

•  ■      %  •  « 

• 

LInkp  Hund. 

r 

RfChU  Hand. 

% 

"s  r«* 

f  -> 

Flg.  16. 

grosse  Menge  gewöhnlicher  Druckerschwärze  und  vcrtheilt  dieselbe 
mit  einer  ganz  einfachen  Walze  derart,  dass  sich  auf  der  Platte  eine 
gleicbmässige,  nicht  zn  dicke  Schichte  der  Farbe  befindet 


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110 


VI.  Wnmr 


Auf  der  so  gesell  würzten  Platte  wird  nun  der  Fing:er  mit  dem 
vom  Nagel  unbedeckten  Theile  des  obersten  Fingergliedes  von  einer 
Nagelkante  zur  anderen  gerollt. 

Der  so  geschwärzte  Fingertheil  wird  sodann  in  derselben  Weise 
leicht  auf  eineui  Blatte  weiäseu  Tapieres  gerollt  und  der  Abdruck 
iBt  fertig. 

Man  bat  nur  darauf  zu  achten,  dass  der  Finger  weder  aof  die 
gesehwSnste  Platte  noch  auf  das  Papier  zu  schwer  drückt,  da  sonst 
der  Abdrnek  yerwiBeht  imd  nndenllksfa  wird. 

Bei  uns  gelangen  FormularieQ  Yon  Fingenbdraokakarten  naeh 
Art  der  in  Fig.  16  enichtliehen  in  FoIiogrOsse  zar  Verwendnngi  anf 
welchen  in  der  ersten,  in  5  Spalten  eingetheilten  Reihe  die  Abdrücke 
der  finger  der  rechten  Hand  in  der  Reihenfolge  Tom  Danmen  nun 
Kleinfinger,  in  der  zweiten,  ebenso  eingetheilten  Reihe  die  Abdrücke 
der  5  Finger  der  linken  Hand  in  derselben  Reihenfolge  eingesetzt 
werden. 

Unter  diesen  zwei  Reihen  befindet  sieh  an  zwdgetheilter  Raom, 
welcher  dazn  dient,  zn  der  später  zn  beschreibenden  Ck>ntrole  links 

den  gleichzeitigen,  einfachen  Fingerabdruck  vom  Zeige-,  Mittel-,  Ring- 
und  Kleinfinger  der  linken  Hand  und  rechts  denselben  Abdruck  eben- 
derselben Finger  der  rechten  Hand  aufzunehmen. 

Bevor  zur  Beschreibung  auch  der  R^strirmethoden  der  herge- 
steilten Fingerabdnickskarten  übergegangen  wird,  erscheint  es  noth- 
wendig,  yorUUifig  Uber  die  Möglichkeit  der  UnterabtheUung  der 
Sobiingenmuster  zu  sprechen. 

Bei  Beschreibung  des  Schlingenmusters  wurde  hervorgehoben, 
dass  sich  bei  diesem  Muster  eine  Papillarlinie  gabelt  und  dass  zwischen 
den  beiden  Armen  der  gegabelten  Linie  ein  freier  Baum  entsteht, 
in  welelieni  das  vSclilinireninnster  oingebettet  ist. 

Je  nach  der  Fin;::i  rs»'ite,  an  welcher  sich  dieser  Gabelungspunkt 
befind(^t,  den  man  auch  als  äusseren  Terminus  bezeichnet,  theilt  man 
nun  die  Schlingen  in  Iladial-  und  in  Ulnar-Schlingen  ein. 

Als  Radialschlingen  werden  diejenigen  bezeichnet,  bei  welchen  der 
(Tabelungspunkt  im  der  dem  Kleinfinger  zugekehrten  Seite  des  Fingers 
gelegen  i.st,  sodass  die  Sehlinge  die  Richtung  gegen  denjenigen  Unter- 
arraknochen hat,  welcher  Radius  genannt  wird,  während  diejenigen 
Schlingen  als  Ulnarschlingen  bezeichnet  werden,  bei  welchen  der 
Gabelungspuükt  sieh  auf  der  dem  Daumen  zugekehrten  Fingerseite 
befindet,  daher  die  Schlinge  ihre  Richtung  gegen  den  Ulna  genannten 
Knochen  nimmt. 

Für  die  einzelnen  Muster  bedient  man  sich  folgender  Abkürzungen: 


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Ueber  Dak^loskopie. 


III 


Bogen  A  (Arcus) 

Zeltartiger  Bogen  T  (Tectum) 

Schlinge  L  fT>a.sso) 

Ulnarschlinge  V  (dem  T'lnarknochen  zugekehrt) 
Radiais cblinge  K  (dem  Kadialknocben  zugekehrt) 
Wirbel  W. 

Das  Vorkommen  von  Bogen,  zeltartigen  Bogen,  L  Inai'-  und  Radial- 
schlingen in  den  beiden  Zeigefingern  wird  mit  grossen  Buch- 
staben, in  den  übrigen  Fingern  mit  kleinen  Buchstaben  ausgedrückt 

Sollen  aufgenommene  Fingerabdruckskarten  in  die  daktylo- 
skopische Registratur  eingelegt,  oder  soll  in  dieser  Registratur 
nach  einem  Prius  gesucht  werden,  so  ist  folgender  Vorgang  einzu- 
halten '): 

Die  Karte  wird  vorerst  controliirt,  d.  h.  es  werden  die  gerollten 
Fingerabdrücke  mit  den  gleichzeitig  abgegebenen  „eüifachen"  Finger- 
abdrücken der  4  Finger  (Zeige-,  Mittel-^  Bing-  and  Kleinfinger)  der 
entepreohraden  Hand  dabin  Teii^ben,  ob  Bimmdiche  gerollten  Finger- 
abdrucke in  den  ibnen  ankommenden  Bnbriken  sieb  befinden.  Hier- 
auf werden  die  einzelnen  Fingerabdrucke  daenficirt,  d.  h.  es  wird 
nnter  jedem  Fingerabdruck  mit  Torangeffibrlen  Abkfinnngen  (Bnoh- 
Stäben  A,  T,  L  n.  s.  w.)  notirt,  welcber  der  aafgcKäblten  Arten  nnd 
Unterarten  der  Abdruck  angebQrt 

Ana  diesem  Materiale  wird  nun  eme  ans  aritbmetiBcben  und 
algebnuaoben  Zahlen  zusammengesetzte  Formel  gebildet,  auf  Grund 
welcber  die  Karte  nacb  den  Begeln  der  arithmetiscben  Permntation 
in  die  daktyloekopiscbe  Begistratur  einzulegen  kommt  FOr  die  Begt- 
fltrirung  bestehen  yerschiedene  Systeme,  von  denen  sich  das  System 
▼on  £.  K.  Henry  in  London  fttr  grossere  Begistraturen  als  das 
praktischeste  erweist 

Die  Formel  kommt  nach  dem  System  von  Henry  in  folgender 
Weise  zu  Stande: 

Die  früher  beschriebenen  Abdrackmuster  werden  zunächst  in  zwei 
Gruppen  eingetheilt  und  zwar  in  die  Gruppe  L,  enthaltend  alle 
Schlingen,  Bogen  und  zeltartige  Bogen,  und  in  die  Gruppe  W,  ent- 
haltend Wirbel,  zusammengesetzte  und  zufällige  Muster. 

Die  für  die  Muster  auf  den  10  Fingern  nach  ol)iger  Vorschrift 
zu  setzenden  Zi  iclien  werden  nun  in  folgender  Beibenfolge  und 
Weise  niedergeschrieben: 

1)  Es  werden  an  dit  >»  i  Stelle  nur  die  Gniiulzüge  kurz  angcdeiiti  t.  Ein 
demn.'ich^t  vom  Polizoirath  Windt  iromeiriHam  mit  Ma^iistrats-Sfkicrär  Kmlir  ck 
heiaabKUgebendee  Lehrbuch  über  Daktyloskopie  wird  die  geuaueu  Details  brlugen. 


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118 


VL  WWDT 


Daumen  rechter  Hand  Zeig:efingcr  rechter  Iland 

MittelfinfTPr  rechter  Hand '  Ringfinger  rechter  Hand  ' 

Kleinfinger  rechter  Hand  ZeijLcefinirer  linker  Hand  Kingfinger  linker  Hand 
Daumen  linker  Hand  '  Mittelfinger  Unker  Hand'  KleinfingerlinkerHand. 

Nachdem  für  diese  Classification  nur  zwei  Muster  angenommen 
werden,  so  ergeben  sich  für  sämmtliche  5  Zähler  zusammen  32  Varia- 
tionen. Dieselbe  Anzahl  von  Variationen  ergiebt  sich  auch  für  die 
5  Nenner.  Aus  der  Combination  der  32  möglichen  Variationen  in  den 
Zählern  mit  den  32  möglichen  Variationen  in  den  Nennern  entstehen 
für  diese  5  Brüche  resp.  für  die  10  Finger  beider  Hände  32  x  32  » 
1024  Combinationen. 

An  Stelle  der  Zähler  und  Nenner  der  früher  bezeichneten  5  Brüche 
setze  man  nun  das  Zeichen  für  das  auf  dem  betreffenden  Finger 
Yorkommende  Muster,  also  entweder  ein  L  oder  ein  W.  Dsuranfhin 
wird  das  L  sowohl  im  Zähler  ala  auch  im  Nenner  überaU  mit  Null  bo« 
werliiel,  wihrmd  die  in  den  Brllelien  ▼oik<mimend«n  W  und  zwar 
sowohl  im  Zlhler,  ab  muh  im  ITeBner  als  Ziffemwetüi  im  eiBten 
Brnflih  die  Zahl  16  eihalten,  im  zwmten  Bnieh  die  Zahl  8>  im  dritten 
die  Zahl  4,  im  vierlen  die  Zahl  2  und  im  fünften  die  Zahl  1.  Bodami 
werden  die  ZShler  addiit  Es  wiid  darauf  1  hinzngesShIt  nnd  die  so 
gewonnene  Summe  ab  Nenner  eines  nenentstandenen  Bmchee  angeselst 

Die  Snmme  der  Nenner  der  5  Brflobe  plus  1  ergiebt  den  ZShler 
des  nenentstandenen  Bmehes. 

Dieser  Bmeh  beseiehnet  diejenige  der  1024  Ck>mbinatiDnen,  sa 
weloher  die  ebssifizirte  Karte  gehört 

Die  Torbesehriebene  Formel  nnd  die  Beihenfolge  der  einzelnen 
Combinationen  entwickelte  sich  ans  einer  nrsprtln^ch  praktizirten 
Deponirung  der  Abdrackskarten  in  einem  Kasten  mit  32  Horizontal- 
filoherreihen  ä  32  FKeher  auf  Grund  des  SchlOsseb 


L 

L 

L 

W 

W 

W 

L 

w 

Zum  besseren  VerslSndnisse  sei  hier  ein  Beispiel  angeführt 

L    L    W   W   W         ^  *     ^    L  y 

L'  W'  L'  W*  L    "    0*  8'  0'  2'  0    —  8' 

Diese  Classification  zerlegt  die  Registratur  nur  in  1021  Theile 
und  entfällt  auf  die  einzelneu  Theile  eine  sehr  ungleichmäasige  Anzahl 
von  Ahdniekskarton. 

Hieraus  resultirt  die  Nothweudigkeit  der  Untertbeilung  der  ein- 
zelnen Classen. 


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Ueber  Daktyloakopie. 


113 


Bei  der  ersten  Classification  wurden  Ulnarschlingen,  Radialschlingen, 
Bogen  und  zeltartige  Bogen  unter  der  Sammelbezeichnung  L  subsumirt 

Unter  allen  diesen  Mustern  kommen  die  Ulnarschlingen  nahezu 
regelmässig,  die  anderen  Muster  nur  ausnahmsweise  vor. 

Das  Vorkonunen  dieser  selteneren  Muster  bildet  die  Grundlage  für 
die  erste  Untertheilung  derjenigen  Ciassen,  welche  vorwiegend 
IrMoster  enthalten. 

Durch  diese  Untertheilnng  kann,  wie  später  bei  Besprochung  des 
Einlegens  in  die  Begistntnr  nSher  ausgeftthit  wird,  jede  der  TOibe- 
leichneteii  CUunen  in  576  üntenbtheilungen  zerlegt  werden. 

Die  üntenUlieilungen,  die  keine  der  Torbezeichneton  AnBBfthmeii 
aufweisen  oder  die  noefa  immer  eine  giOesere  Anaahl  yon  Karten  enft- 
bfllten,  werden  dnreh  ZShlen  der  Papillarlinien  weiter  nntergetheÜt 
Man  zftblt  die  Linien  swiechen  dem  Delta  und  dem  Mittelpunkte  der 
Schlioge^  n.  B.  in  den  beiden  Zeige-  und  Mittelfingern. 

Sehlingen  mit  weniger  als  9  Papillarlinien  im  Zeigefinger  und 
weniger  als  10  Papillarlinien  im  Mittelfinger  werden  mit  i,  Sehlingen  mit 
mehr  ala  den  Torbeseiehnelen  PapiUarfinien  werden  mit  o  bezeiehnet 
Die  Oombination  dieser  4  ZählungsreeuUate  ergiebt  16  Unterdasaen. 

Erforderlichen  Falles  bietet  noch  die  Anzahl  der  Papillarlinien, 
welehe  die  Schlinge  im  Kieinfinger  der  rechten  Hand  bilden,  ein 
weiteres  HOlfsmittel  su  einer  nenerliehea  Untertheilnng  der  einzehien 
Cnterabtheilungen. 

Bei  den  Wirbelmustem,  den  zusammengesetzten  Mustern  und  den 
zufälligen  Mustern  wurde  bereits  als  charakteristisch  hervorgehoben,  dl^^ft 
de  auf  jeder  Seite  der  Musters  je  eine  gegabelte  Linie  (Delta)  haben. 

Wird  der  untere  Arm  des  linken  Deltas  verfolgt,  so  kann  man 
bestimmen,  ob  er  oberhalb  oder  unterhalb  des  unteren  Armes  des 
rechten  Deltas  verläuft  oder  direct  in  diesen  unteren  Arm  einmündet 
Das  Verfahren  zur  Ausmittelung  dieser  Eigenschaft  der  W-MuBter 
wird  „Nachfahren'^  genannt 


Unkes  Delta 


linke»  Delta 


Z 


rechtes  Delta 


rechtes  Delta 


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114 


VL  WnoT 


linkes  Delta 


rechtes  Delta 


Das  Verlaufen  des  unteren  Armes  des  linken  Delta  oberliall)  des 
unteren  Armes  des  rechten  Delta  wird  mit  i,  das  \  erlaufen  unterhall)  des 
Unterarmes  des  rechten  Delta  mit  o  und  das  Einmünden  in  den  Unter- 
arm  des  rechten  Delta  mit  m  bezeichnet. 

Dieses  V'erhältniss  der  beiden  Delta  wird  in  den  beiden  Zeip;e-  und 
Mittelfing:ern  berücksichtigt  und  dient  zur  Untertlieilung  jener  Ciassen, 
welche  aus  vorwiegend  W-Mustem  gebildet  sind. 

Das  Vorkommen  je  einer  dieser  drei  Formen  in  den  vorbezeich- 
setoii  vier  Fmgem  ergiebt  81  Combinationen.  Die  Anzahl  dieser  Com- 
binatioDeD  UM  sich ,  wenn  nSting,  dadurdi  vonrielfachen,  dass  eio 
weiteres  Fingerpaar  in  Oombination  gezogen  wird. 

Bei  der  ersten  Glaanfication  würden  Wirbelmnster,  znsammeD- 
geeelzte  nnd  znfiUlige  Muster  unter  der  SammdbeEeicfanuDg  W  zur 
CHassifieation  verwendet 

Es  kann  daher  das  ausnahmsweise  Vorkommen  von  susammen^ 
geseteten  und  sufiQligen  Mustern  neben  den  eigenlUdien  Wirbelmustem 
auch  zur  Untertheilung  der  Olassen,  die  vorzugsweise  W-Muster  ent- 
halten benutzt  werden. 

FQr  Olass^i  in  welehen  sieh  grossere  Ansammlungen  ergeben 
und  die  nahezu  gleichviel  Söhlingen-  und  Wirbelmuster  aufweisen, 
kann  das  Ergebniss  des  Zählens  der  Papillarlinien  und  des  Naeh> 
fithrens  zum  Zwecke  der  Untertheilung  oombinirt  werden. 

Karten,  bei  denen  betreffe  des  Musters  der  geringste  Zweifel  en^ 
stehen  könnte,  werden  in  zweifacher  Ausfertigung  hergestellt  Die 
eine  Karte  wird  unter  Annahme  des  einen  Musters,  die  andere  unter 
Annahme  des  anderen  Musters  classificirt  und  auf  beiden  Karten  auf 
die  zweite  Classification  hingewiesen. 

Für  das  Einlej^en  in  die  RejL'istratur  und  für  das  Nach- 
suchen nach  einem  bereits  einheilenden  Prius  bestehen  folgende  Rejreln: 

In  der  Registratur  erlieiren  die  Karten  nach  der  in  der  obener- 
wähnten Art  iivw  onnenen  riassifieationsfurmel.  Sie  sind  zunächst 
nach  den  Zählern  der  an  der  Sjtitze  der  Formel  befindliehen  mit 
arabischen  Ziffern  geschriebenen  iirüche  in  Gruppen  arithmetisch  von 
1 — 32  f^eordnet. 

Innerhalb  jeder  Zählergrujipe  sind  die  Karten  wieder  nach  den 


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Ueber  Daktyloskopie. 


116 


Nennern  desselben  Bruches  in  gleicher  Weise  geordnet  Die  Keihen- 
folge  ist  also  folgende: 

-r»  Ä-'  T   bfa  k>  »odanu  folgt  l,  ^,       u.  s.  w.,  den  Schluss  bildet 

1      Z     9  92  1     2     8  82 

Innerhalb  dieser  Classen  liegen  die  Karten  wieder  nntergetheilt 
nach  den  Mustern  in  den  beiden  Zeigefingern: 

Diese  ünterclassen  sind: 
A    A    A    R    R    R    ü    r    U  ,       -  . 

A'  R'  X^'  ä'  k'  T'  a.'  R'  u'       ®  Keinenfolge  der  registnrten 

Karten  ist  die  Reihenfolfxe  dieser  9  algebraischen  Brüche  res.  das  Ali)liabet. 

Jede  der  eben  genannten  9  Unterclassen  ist  auf  Grund  des  Vor- 
koniniens  von  Bogenmustern  in  einem  Finger  oder  in  mehreren  Fiugern, 
mit  Ausschluss  der  beiden  Zeigefinger  in  64  Untertheilungen  zerlegt 

Die  Reihenfolge  der  Karten  in  der  Registratur  im  Hinblick  auf 
das  Zählen  der  Papillarlinien  in  Zeige-  und  Mittelfinger  beider  Hände  ist 

H    ii    ii    tt   io  io  io  k)  ol   Ol   oi   oi  00  OD  00  00 
io  M  00   u    io   oi  00   u    io   oi  oo   ii    lo   oi  oo 

Bei  Einbeziehung  eines  dritten  Fingerpaares  in  diese  ünterelassi- 
lieation  w&re  die  Reihenfolge  der  Karten  folgende: 

iii  iii  iii  iii  iii  iii     iii  iii 

iii '  iio  ioi  oii  it»o  oio'  ooi'  ooo' 

110  no  iio  iio  üo  iio  iio  iio 
m*  iio'  Ioi'  W  ioo'  oiö*  oöi*  Soo* 
ioi  ioi  ioi  ioi  ioi  ioi  ioi  ioi 

111  UO      101      OU      ioo     OIU     OOl  UDO 

oii  oii  oii  oii  oii  uii  oii  oii 

iii'  iio'  ioi  oii'  ioo'  oio'  ooi  ooo 

ioo  100  ioo  ioo  ioo  ioo  ioo  ioo 

IB'  iio'  ioi'  oü'  ioo'  oio'  ÖB'  ooo' 

oio  oio  oio  oio  oio  oio  oio  oio 

in  HO  101  Oll  lon  oio  ooi  ooo 

ooi  ooi  ooi  ooi  ooi  ooi  ooi  ooi 

•v.  >  t; — >     .   .  >       ..  >     .      »       .1  ^.1    •     •  I 

III  110  101  011  loo  010  001  ooo 
ooo  ooo  000  000  000  ooo  ooo  ooo 
iii  '  iio '  ioi '  oii '  ioo'  oio'  ooi'  ooo' 
Die  Reihenfolge  der  registrirten  Karten  unter  Berücksichtigung 

der  I^e  der  beiden  Deltas  in  den  beiden  Zeige-  and  Mittelfingern 

ist  folgende: 


•  • 

11 

ii 

ii 

ii 

■  • 

11 

ii 

ii 

ii 

ii 

ii 

im  ' 

mi 

mm 

io  ' 

Ol 

mo' 

om 

 > 

oo 

im 

im 

im 

im 

im 

im 

Jm 

im 

im 

IT' 

'fi-' 

mi 

mm' 

TS"' 

"^' 

mo' 

om' 

"33"' 

mi 

"-;.—  » 
11 

mi 

im 

mi  ' 

mi 

iinii 

«si, 

io  * 

JSL 

oi  * 

mi 

nio ' 

mi 

IMIl  ' 

ini^ 

oo 

mm 

mm 

mni 

IllIU 

mm 

mm 

mm 

Dim 

mm 

ii  ' 

im 

mi 

mm 

io' 

oi  ' 

mo' 

nm' 

00' 

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116 


VI.  WlKIW 


10  lo  io    Jo^  Jo^  io    Jo  Jto  ^ 
ii'  Im  *  "mT*  mm'  io  *  "3"*  mo  *  om '  oo ' 

oi     oi  oi      of  oi  oi      oi  oi  oi 

11  im  nn     mm  lo  oi     mo  om  oo 
mo    mo  mo     mo  mo  mo    mo  mo  mo 

— TV-  I    -7  j   r  >     -  -     >      .  -  t     —  .  ■  f  — - »   J   » 

II  im  mi  mm  lo  oi  mo  om  oo 

om  om  om  om  om  om  om  om  om 

U'  im*  nJ'  mm'  io '  "ÖT'  iiö'  om'  oo' 

oo  oo  oo  oo  00  00  00  00  oo 

ii  '  im  '  mi  '  mm'  io  '  oi  mo '  om '  oo ' 

Wild  ein  drittes  Fingerpaar  zur  Bildung  dieser  UnterabtheUungen 
zugezogen,  so  stellt  aicb  die  Beihenfolge  der  Zähler  der  Karten  wie 
folgt  dar: 

iii,  iini,  imi,  mii,  imni,  mim,  mmi,  nimm,  iio,  ioi,  oü,  ioo,  oio 
ooi,  mmo,  mom,  omm,  moo,  omo,  oom,  imo,  iom,  mio,  moi,  oim 
omi,  000. 

Jeder  dieser  27  Zähler  kann  dieselbe  dreiziffrige  algebraische 
Zahl  und  zwar  in  obij^er  Reihenfolge  zum  Nenner  erhalten. 
Auf  diese  Weise  ergeben  sich  27x27  —  729  Unterclassen. 

In  allen  Classen,  in  denen  im  Kleinfinger  der  rechten  Hand  ein 
Schlingenmuster  enthalten  ist,  werden  die  Abdruckskarten  innerhalb 
der  einzelnen  Uuteral)theilungen  noch  nach  der  wirklichea  Anzahl 
der  Papillarlinien,  die  diese  Schlinge  bilden,  unterabgetheilt. 

Die  Karten  mit  der  geringsten  Anzahl  dieser  Papillarlinien  iictren 
an  erster  Stelle,  diesen  folgen  sodann  die  übrigen  Karten  in  arith- 
metischer Reihenfolge. 

Das  Naclisuehen  nach  einem  Prius  (Identificirung)  in 
dieser  Registratur  erfol^'t  in  folgender  Weise. 

Von  der  zu  identificirenden  Person  wird  eine  Fingerabdnickskarte 
hergestellt.  Dieselbe  wird  nach  der  vorliesebriebenon  Methode  classificirt. 

Auf  Grund  der  Classificationsformel  wird  die  Registrirung  dieser 
Karte  eingeleitet. 

Befindet  sich  in  der  Registratur  bereits  eine  Abdruckskarte  mit 
derselben  Formel,  so  werden  die  Details  in  sämmtlichen  Finger- 
abdriicken  iler  neu  ein^'eie^^ten  und  der  alten  Karte  miteinander  ver- 
glichen. Diese  Details  sind  in  jedem  Fingerabdrucke  sehr  zahlreich, 
siehe  Fig.  17. 

Gabelungen  bei:  1,  2,  4,  5,  7,  9,  13,  18,  20,  21,  23,  24,  28,  29, 
30,  33,  34,  35,  37,  38,  40,  41,  42,  43,  44,  45,  46,  48. 

Plötzlicher  Beginn  oder  ])lr)tzliches  Enden  einer  Linie:  3,  6,  8, 
10,  16,  17,  19,  22,  25,  31,  32,  30,  39,  47. 

Einlagerung  von  Linien:  11  —  15  und  12—14,  26  und  27. 


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Ucbcr  Dakty  loskopie. 


117 


Stimmen  auch  Details  überein,  dann  ist  die  Identificirung  ge- 
lungen. 

Selbst  wenn  ein  oder  mehrere  Finger  fehlen,  durch  Arbeit  oder 
absichtlich  abgewetzt  sind,  ist  die  Möglichkeit  vorhanden,  die  Finger- 
abdruckkarten nach  diesem  System  einzureihen  und  zu  classifizircn. 


IS      19      20  21 
11 12 13  14  15    16  17    •        ,         ,  22 


Fig.  17 


Als  Grundsatz  hierfür  wurde  aufgestellt:  1.  Fehlt  ein  Finger 
oder  ist  das  Muster  absolut  unleserlich,  so  wird  angenommen,  dass  dieser 
Finger  dasselbe  Muster  hat,  wie  der  correspondirende  Finger  der 
anderen  Hand.  2.  Fehlen  dieselben  Finger  an  beiden  Uänden,  werden 
beide  Finger  so  behandelt,  als  hätten  sie  W-Muster  und  werden,  falls 
sie  Zeige-  oder  Mittelfinger  sind,  in  die  Kategorie  m  eingereiht. 

Archir  (ür  Kriminaluitiiropolofpe.  XJI.  U 


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118 


VL  Wniiw 


Die  Daktyloskopie  wird  praktisch  schon  in  mehreren  Ländern  mit 
Erfolp:  zu  Identificirungen  verschiedener  Art  verwendet. 

In  Indien  kam  es,  wie  aus  amtlichen  Berichten  hervorgeht,  vor, 
dass  für  Pensionisten,  die  schon  längst  todt  waren,  die  Ruhegehälter 
noch  weiter  bezogen  wurden,  indem  sich  Freunde  oder  Verwandte 
für  dieselben  ausgaben. 

Dermalen  werden  von  allen  Militär-  und  Civil-PensioniBten  Finger- 
abdrücke  verlangt  und  diese  Vorsiohtsmassregel  verhindert  den  Betrug. 

In  allen  Kotariats-Aemtem  (Registrahm-Aemteni)  der  FiOYinz 
Bengalen  werden  Peraonen,  die  nm  Legalisirung  von  Docomenlen 
ansaeheo,  genOtfaigt,  ihre  Untereohrifl  dnroh  Beigetenng  des  Abdniekes 
des  Danmens  der  linken  Hand  an!  dem  Docomente  und  in  eb 
Begister,  das  sn  diesem  Zwecke  gefühlt  wird,  zn  authentifieiren. 
Wenn  Jemand  später  seine  Unterschrift  yerl^ignet,  was  in  diesem 
Lande  nieht  selten  voikomml^  dann  kann  ihn  das  Gericht  anffoidern, 
sdnen  Danmenabdrook  in  .Offendicher  Yerhandlnng  zn  geben  nnd 
wird  dann  dieser  Abdruck  mit  dem  Abdruck  im  Bcgister  Tergtichea, 
wodoreh  der  Streit  gelQst  ist 

Vom  Opinmdepartement  in  Bengal  werden  den  Hohnbanem  durch 
Mittelspersonen  Vorschüsse  auf  die  künftige  Ernte  gegeben.  Nach- 
dem die  Vermittler  und  die  Bauern  hie  und  da  ihre  Unterschrift 
verleugneten,  oder  die  Vermittler  eine  falsche  Unterschrift  für 
die  des  Mohncoitivators  ausgaben,  werden  jetzt  die  Fingerabdrücke 
des  Geldnehmers  gefordert  und  hat  dies  einen  Wandel  herbeigeführt, 
den  sowohl  Bauern  als  Vermittler  würdigen. 

Bei  grossen  staatlichen  Unternehmungen  in  Indien  wird  diese 
Methode  dazu  benützt,  um  die  Wiederbeschäftigung  von  Personen 
hintanzuhalten,  die  strafweise  des  Dienstes  enthoben  wurden. 

Die  Daumenabdrücke  der  Angestellten  werden  registrirt  und  bei 
strafweiser  Entlassung  eines  Angestellten  wnrd  allen  Werkführem  eine 
Photo-Zinkographie  seines  Abdruckes  zugeschickt. 

Hierdurch  wird  verhindert,  dass  der  Betreffende  unter  einem 
anderen  Namen  Aufnahme  finde. 

Seit  April  1S99  wird  das  System  von  dem  Gtneialdirector  der 
Postanstalten  in  Indien  liei  allen  unteren  Hülfsorganeu,  die  nach 
Tausenden  zählen,  angewendet. 

In  Bengal  wird  auf  stiiatsärztlichen  Zeugnissen  der  Daumenab- 
dmck  der  ärztlich  untersuchten  Person  beigesetzt,  was  sich  namentlich 
bei  den  Vorkehrungen  gegen  die  Verbreitung  der  Pest  durch  die 
Mekka-Pilger  als-  sehr  vortheilhaft  erweist. 

Auch  die  zu  Staatsprüfungen  erscheinenden  OancBdaften  in  Indien 


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Ueber  Daktyloskopie. 


119 


müssen  Fini^^erabdrücke  geben,  um  Betrügereien  durch  Stellvertretungen 

zu  verhindern. 

In  China  werden  Fingerabdrüclie  in  iieisepässe  beigedruckt  und 
hat  der  Inhaber  bei  Zweifel  an  seiner  Personsidentität  den  Finger- 
abdruck an  einer  anderen  Stelle  des  Passes  neuerlich  beizusetzen. 

In  Argentina,  Egj'pten  und  in  England  werden  von  den  zur  Haft 
gebrachten  Individuen  gewisser  Kategorien  Fingerabdrücke  genommen, 
um  späterhin  solche,  die  ihren  Namen  und  ihre  Vorstrafen  yerheim- 
liehen  wollen,  identificiren  zu  können. 

Die  für  England  seit  1.  Juli  1902  geltenden  Vorschriften  sind  im 
Detail  folgende:  Es  werden  durch  Abnahme  ihrer  Fingerabdrücke 
r^gistrirt  alle  Indiyiduen,  welehe  Ton  einem  Gerielitaliofe  m.  mindestens 
einmonatlidiein  GefifaigmaB  wegen  folgender  Deliele  venixlfaeilt  wo^ 
den  and: 

1.  Eircbeniaub, 

2.  Niehüicfaer  EinbrnoludielMtahl, 

3.  Haufleinbracby 

4.  Embmeh  in  Uden,  Waaienhinser  n.  s. 

5.  VeiBnehter  Einbrooh  in  HSnser,  lAden,  WavenhSnser  n.  8.  w., 

6.  Eindringen  mit  yerbrocherieelier  Abeiclity 

7.  Benti  von  £tnbreehe^WericzeQgen, 

8.  Banb  nnd  Angriff  mit  zftnberiBeher  Absiebt^ 

9.  Erpresenng  durch  Androhung  der  Anzeige  w^gen  Veibreebeos, 

10.  Erpressung  durch  andere  Drohungen, 

11.  Diebstahl  von  Pferden,  Bindvieh  oder  Schafen, 

12.  Diebstahl  von  Personen, 

13.  Hausdiebstähle  nnter  5  Pfand,  oder  mit  Drobang, 

14.  Diebstahl,  begangen  Ton  Dienetboten, 

15.  Veruntreuung, 

16.  Unterschlagung  von  Postbriefen, 

17.  Andere  schwere  Diebstähle  mit  Strafsanction  lebeDsläoglicher 

Zwangsarbeit  oder  hh  zu  14  Jahren, 

18.  Einfacher  Diebstahl  und  ^'erinfrere  Diebstähle, 

19.  Entlockung  von  Eigenthum  durcli  falsche  Angaben, 

20.  Betrügereien  von  Banquit  rs,  Agenten,  Directoren  u.  8.  w., 

21.  Fälschung  von  Rechnungen, 

22.  Andere  Betrügereien, 

23.  Hehlerei, 

24.  Vergehen  in  Verbindung  mit  Bankerott, 

25.  Mordbrennerei, 

26.  Brandstiftung  von  Anj)flanzuageu,  Feldern  u.  s.  w., 

9» 


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120 


VI.  Wnror 


27.  Tödtung  oder  Verstümmelung  von  Rindvieh, 

28.  Boshafter  Gebrauch,  Anfertigung  oder  Besitz  von  Explosivstoffen, 

29.  Boshafte  Beschädigung  von  Schiffen, 

30.  Boshafte  Beschädigung  von  Eisenbahnen, 

31.  Boshafte  Beschädigung  von  Bäumen  und  Gebüschen, 

32.  Andere  boshafte  Besohädigungen, 

33.  BankEOtenfiUschung  und  Vemugabniig  (Veibieeben), 

34.  Fälschung  (Vergehen), 

35.  MfinzverfiUschimg, 

3(^  VenHugaben  oder  BesUz  von  oachgemaehteD  Mfinzen. 

Die  Abnahme  der  FingeiabdrQcke  gesefaiebt  in  der  Stnifiuislal^ 
welche  die  Fingersbdraekstarten  an  die  Oeatrale  in  London  einsohiekt 

In  der  Centrale  erfolgt  die  dasBifieation  nnd  die  Registrirong  der 
Karten. 

Wenn  eine  Polizeibehörde  den  Namen  eines  Inbaf  tirten  oder  dessen 
Vorleben  feststellen  will,  so  wendet  sie  sich  an  das  Gerichtsgefangnisa» 
in  welchem  der  Häftling  internirt  ist,  mit  dem  Ersuchen,  seine  Finger- 
abdrucke an  die  Centrale  in  [x)ndon  einzusenden. 

Die  Centrale  schläft  in  ihrer  Kartenregistratur  nach  nnd  ?erstän- 
digt  die  anfragende  Behörde  von  dem  Kesultate  direct  — 

Ebenso  wie  in  Indien,  Egypten,  Argentinien  und  in  England,  könnte 
dieses  System,  welches  von  uns  in  Wien  bereits  in  vielen  tausinden 
Fällen  erprobt  wurde,  auf  den  \ erschiedensten  Gebieten  auch  in 
anderen  Staaten  Anwendung  linden. 

Die  Vortlit'ile  ^ind  einleuchtend: 

Die  Aufnulnnt'  der  KingerabdrUcke  ist  einfach. 

Es  bedarf  hierzu  keiner  besonderen  Vorrichtunp'n.  Eine  Zinkplatte, 
eine  K'aiitsciiukwalze  und  eine  Tube  Druckerschwärze  sind  das  ganze 
Handwerkszeug. 

Die  Aufnahme  der  Jr'in^erulidrücke  ißt  in  nur  wenigen  Augen- 
blicken durchgeführt.  Jeder  Gendarm,  jeder  Polizist,  welche  Sprache 
er  auch  immer  spricht,  kann  die  Fingerabdrucke  herstellen,  ohne  be- 
sondere Vorbereitungen,  in  der  Amtsstube,  wie  im  freien  Breide.  Eine 
halbstündige  Uebung  in  der  Mannscbaftsschule  ist  ausretdiend.  Die 
ganze  Arbeit  besteht  dariui  10  flnger  an!  ttust  Platte  zn  schwärzen  nnd 
sodann  die  geschwärzten  SteUen  auf  einem  Blatte  Papier  abzudrücken. 

Nicht  nnr  die  Aufnahme  der  Fingerabdrücke,  sondern  anch  die 
Identificimng  auf  Grund  derselben,  welche  letztere  Arbeit  übrigens, 
wie  schon  erwähnt,  immer  nur  von  £iner  Centralstelle  zu  er> 
folgen  haben  wird,  bietet  keine  besonderen  Schwierigkeiten. 


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üebar  Daklyloftkopie. 


121 


Die  zu  behördlichen  Identificirungszwecken  seit  einigen  Jahren 
Tern'endete  Anthropometrie  ist  zweifellos  ein  untrügliobeSy  ausgezeiob- 

netes  Mittel  zur  Idontificiriincr  von  Personen. 

Das  geschilderte  neue  daktyloskopische  Verfahren  bietet  aber  bei 
gleicher  Verlässlichkeit  versohiedene  [grosse  Yortheile  gegenüber  der 
Anthropometrie. 

Es  werden  leider  viele  schwere  Verbrechen  von  jugendlichen 
Personen  verübt. 

Die  jugendlichen  Abgestraften  bilden  den  Grundstock  des  gewerbs- 
mäi^sigen  Verbrecherthums  und  es  gehört  nicht  zur  Seltenheit,  dass 
so  ein  Kniqjs  durch  Wochen  hartnäckig  seinen  Namen  der  Behörde 
zu  verschweigen  trachtet 

Für  jugendliche  Personen  ist  jedoch  die  Anthropometrie  schwer 
anwendbar,  da  das  menschliche  Skelett  bekannthch  erst  vom  21.  Le- 
benqahie  an  in  seinen  Dimensionen  ziemlich  unveränderlich  ist 

Hier  und  da  ereignet  es  sieb,  dass  minder  feinfübfige  Personen 
ein  TeiblOdetes  Kind,  einen  taubstummen  Analpbabeten  oder  einen  er^ 
waebsenen  Idioten,  nm  die  Kosten  seiner  Erhaltung  zn  ersparen, 
naefa  einer  anderen  Ortsehaft  bringen  und  ihn  dann  mitton  auf  der 
Strssse  yeilassen,  so  dass  er,  da  er  nieht  in  der  Lage  ist  Angaben 
Aber  seine  Herkimft  sn  nuudien,  der  An^^eifangsgememde  zur  Last 
Mt 

FBr  die  rorbeEeiebneten  nnglttekKoben  GesehQpfe  ist  die  Anthro- 
pometrie nieht  zn  gebranehen,  weil  man  an  ihnen  nur  sehwer  mit 
Messinstrumenten  manipnliien  kann. 

Weiter  ist  auch  bei  Franenspersonen  die  Handhabung  der  Anthro- 
pometrie, besonders  dort,  wo  keine  weiblichen  Messorgane  zur  Yer» 
fQgung  stehen,  schwer  durchführbar  und  können  femer  Leichen  nur 
mit  besondmi  Sehwierigkeiteu  der  anthiopometrisohen  Behandlung 
unterzogen  werden. 

Es  wird  allseits  angestrebt,  dass  die  Insassen  der  Oivil-  und 
Militärstrafanstalten  der  anthropometrisohen  Behandlung  unterzogen 
werden. 

Nachdem  die  Anthropomotrio  die  Schulung  des  Personals  an 
einer  Centraistelle  zur  Voraussetzung  hat,  die  Absendung  von  Amts- 
organen der  Strafanstalten  zu  dieser  Ausbildung,  sowie  die  Beistellung 
von  Messinstrumenten  und  Messgeräthen  mit  Kosten  verbunden  i^;t, 
scheitert  die  allgemein  als  nothwendig  anerkannte  Bertillonirimg 
dieser  Individuen  an  dem  Kostenpunkte. 

Der  Verwendung  der  Daktyloskopie  zu  allen  diesen  Zwecken 
stehen  solche  Hindemisse  nicht  entgegen. 


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122 


VI.  Wnmr 


Bei  den  bisherigen  Ausführungen  wurde  immer  nur  an  absicht- 
lich zu  einem  beBtimmten  Zwecke  aufgenommene  Fingeiabdrücke 
gedacht. 

In  Folgendem  soll  noch  angedeutet  werden,  welche  Dienste  zu- 
weilen die  Daktjioskopie  zu  leisten  berufen  sein  kann,  wenn  sich 
irgendwo  zufällig  hergestellte  Fingerabdrücke  vorfinden. 

Es  kommt  nicht  selten  vor,  dass  man  auf  dem  Thatorte  eines  Mordes, 
eines  Todtschlages  auf  den  Bettüberzügen  oder  an  den  Kleidern  einen 
gewiss  nicht  absichtlich  zurückgelassenen  Abdruck  eines  oder  mehrerer 
Finger  oder  auch  der  ganzen  Hand  sieht,  die  mit  Blut  in  Berührung 
kamen  und  daTon  rotbgefSrbt  wurden.  Hier  und  da  findet  man 
FingeraMraeke  emea  Eänaebleiehers,  eines  Einbreeben,  eines  HSiden 
auf  MMshgeBiriehenen  Fenaleibrettem,  Thilren  nnd  Möbeln;  aof  be- 
staubten FeastOBobeiben,  Glavierplatten  nnd  Tischtaldn,  auf  beiasen 
LampengUsem  n.  a  w. 

Diese  Abdrttcke  sind  oft  so  dentiidi,  wie  dn  Petsebaftabdrack 
im  Si^^eUadc 

Dnrdb  Anwendung  leiebt  erbiltficber  Hittel,{wie  Giapbitstanb^  In- 
digo, Tinte,  Wascbblan,  Anilin,  Sebwefelantimon,  Kreide,  Tannin, 
Salpeterdlmpfe,  OaminmsSnre,  Bnuriltitni  Sudan  u.  äbnl.  ist  ee^  wie  wir 
dnreb  viele  Experimente  erprobten,  möglich  FingerabdrQcke  auf  Glas, 

Papier  und  verßchiedenen  Stötten  unter  entsprechenden  Umstanden 
selbst  dort  deotlich  nachzuweisen,  wo  sie  sonst  mit  freiem  Auge  nicht 
wahrnehmbar  waren.  Die  Wichtigkeit  anch  dieser  Seite  der  Daktylos- 
kopie ist  einleuchtend. 

Wenn  einmal  decretirt  sein  wird,  dass  alle  Verbrecher  gewisser 
Kategorien,  die  in  Strafanstalten,  Zwangsarbeits-  oder  Besserungs- 
anstalten intemirt  sind,  Fingerabdrücke  geben  müssen,  dann  wird  es 
nicht  nur  möglich  sein,  einen  im  Gewahrsam  der  Behörde  befind- 
lichen Verbrecher,  der  über  seinen  Namen  und  sein  Vorleben  nichts 
aussagen  will,  sofort  zu  erkennen,  sondern  es  wird  auch  vielleicht 
das  eine  oder  anderenial  einem  geschulten  seine  kleine,  aus  etwa 
2(»  UOü  Karten  bestehende  daktyloskopische  Registratur  bequem  mit 
sich  führenden  Daktyloskopen  möglich  sein,  wenn  er  der  Tliatbestands- 
auf nähme  bei  einem  Mord,  einem  Bonibenattentat,  einem  Cassen- 
einbruch  u.  s.  w.  beigezogen  wird,  s:ogleicb  zu  sa^^en: 

Dieses  Fenster,  dieses  Fensterbrett',  diesen  Tisch  hat  der  Ver- 
brecher berührt,  diese  Brieftasche  hat  er  durchstöbert,  diese  für  ihn 
unvenverthbaren  Papiere  hat  er  weggeworfen. 

Auf  allen  diesen  Objecten  hat  der  Verbrecher  nämlich  sein  nur  ihn 
und  einzig  ihn  individuell  charakterisirendet*,  bei  keinem  zweiten  Menschen 


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Ueber  Daktyloskopie. 


128 


in  allen  diesen  Details  wiederkehrendes  Papillarlinienniuster  —  oder  um 
es  so  zu  nennen  —  seine  daktyloskopische  Photographie  zurück- 
gelassen. 

Ganz  dieselben  Fingerabdrucke  finden  sich  in  unserer  daktylo- 
skopischen Registratur  in  der  Hauptabtheilung  N.  so  und  soviel  und 
in  der  Unterabtheilung  X.  so  und  soviel  vor. 

„Der  Verbrecher  ist  inhaltlich  der  dört  erliegenden  daktylo- 
skopischen Karte  in  der  Person  des  X.  Y.  zu  suchen.  Derselbe  ist  im 

Jahre  18  .  .  zu  geboren,  nach  zuständig  und  hat 

zur  Zeit  seiner  daktyloskopischen  Aufnahme,  d.  i.  am  

19  . .  dort  und  dort  gewohnt".  — 

Schon  in  allernächster  Zeit  ist  ein  Kampf  auf  Leben  und  Tod 
zwischen  der  Anthropomethe  und  der  geschilderten  Daktyloskopie  zu 
gewärtigen  nnd  es  dürfte  aller  Vemneneht  dmIi  die  Letiteie  «Der- 
orten  ab  Siegerin  ans  diesem  Kampfe  herrorgeheD« 

DasB  Bessere  ist  eben  der  Feind  des  Guten. 


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VII 


Sichtbarmacben  latenter  Finger-  nnd  FnsBabdrficke« 

Von 

Friedrich  Paul, 
k.  k.  Gerich tuecretlr  in  Olmiitz. 

Francis  Galton  hat  in  seinem ,  bei  MacmiUan,  And  &  Oomp. 
in  London  verlegten  Werke  nachgewiesen,  dass  zwei  Fingerabdrucke, 
sobald  sie  eine  gewisse  Anzahl  von  Vergleichspunkten  gememsam 
haben,  identisch,  also  von  demselben  Finger  henrahrend,  bezeichnet 
werden  müssen,  weil  jeder  Mensch  sein  eigenes  Muster  an  den  Finger- 
spitzen trägt,  das  sich  nie  verändert  Dr.  Forgeot  behauptet  insbe- 
sondere mit  Recht,  dass  wir  Personen  nach  den  GeBicbtern  vollkommen 
verlässlich  unterscheiden,  ohne  dass  wir  im  Stande  wären,  dea  Einzelnen 
Gesicht  so  zu  bescbreil)en,  dass  wir  einen  Zweiten  in  die  Lage  ver- 
setzen könnten,  die  bescbriebene  rerson  zu  erkennen.  Mit  der  Zunahme 
der  Uebereinstimmungen  der  Abdrücke  potenzirt  sich  die  Wahrschein- 
lichkeit der  Identität,  die  schliesslich  bis  in  Hunderte  von  Millionen 
w^ächst  und  uns  ^M  stattet,  zu  behaupten,  dass  bei  einer  grösseren  Zahl 
von  üebereinstimmungcn  sclutn  vollständige  Identität  vorlianden  ist- 
Das  Nähere  im  bezogenen  Werke  Galton's,  insbesondere  auf  S.  III 
und  folgende.  Oalton  liat  nun  überdies  in  seinem  Werke  ,,Deci- 
pherment  of  blured  Finger.  Prints,  London  1893"  gezeigt,  in  welcher 
^Veise  erfolgreich,  selbst  mehr  oder  weniger  undeutUche  Abdrücke 
identificirt  werden  können. 

Nachdem  einem  aufmerksamen  Kriminalisten  der  Umstand  nie  ent- 
gehen wird,  dass  Fingerabdrücke  sich  häufig  an  dem  Thatorte  oder  an 
Objecten  finden,  die  der  muthmaaßsliche  Thäter  berührt  haben  konnte, 
erschien  wohl  seit  jeher  der  Wunsch  gerechtfertigt,  Mittel  nnd  Wege  zn 
finden  I  nm  diese  Abdrücke  m  ?erwerthen.  Ick  beziehe  mich  Tor 
Allem  auf  das  Handbuch  von  Gross,  S.  549  und  482,  III.  Auflage, 
femer  auf  mein  Handbuch  der  kriminalistischen  Photographie  S.  64. 

Fälle  der  Anwendung  derartiger  Fingerabdrucke  sind  durch  die 
Zeitung  des  öfteren  bekannt  geworden  und  hat  msbesondere  Hark 


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Sichtbamiachen  latenter  Finger-  und  Fnsaabdrilcke. 


125 


Twain  die  Tkatsache  der  beweismachendea  Knit  der  Fiiigefabdrücke 
m  einem  spannenden  Roman  verarbeitet. 

Als  vor  2  Jabren  in  Olmütz  in  einem  Cafö  ein  Einbrucb  verübt 
wurde,  wurde  von  der  Polizei  auf  dem  Spiegel  der  Credenz  der  Ab- 
druck einer  rechten  Hand  gefunden,  welcher  in  milchig  trüben  Linien 
die  Formen  der  Papillarlinien  mühelos  erkennen  liess.  Der  Spiegel 
wurde  über  anerkennenswerthe  Intervention  der  Polizei  photographirt 
und  wurden  mir  die  Photogramme  eingehändigt  mit  dem  £r8ucheii| 
geeignete  Versuche  anzustellen. 

leb  hatte  auch  Gelegenheit,  den  Spiegel  zu  sehen  und  seine 
Muster  zu  studiren,  leider  wurde  derselbe  aber  in  seinem  Zustande 
nicht  belassen.  Die  Photographien  waren  recht  gelungen  und  ge- 
statteten bei  einiger  Mühe  und  Sachkenntniss  eine  Xaeliprüfung  der 
Linien.  Ich  Hess  also  vorerst  von  allen,  im  Gelegenheitsverhältnisse 
befindlichen  Personen  Fingerabdrücke  der  rechten  Hand  abnehmen 
ood  konnte  sofort  sagen,  dass  keine  dieser  Personen  Fingerabdrücke 
zeigte,  deren  Muster  denen  am  Spiegel  anch  nur  filinlieh  gewesen  wären. 
Diese  Thatsadie  bedeutete  sebon  einen  grossen  Erfolg,  da  nacb  den  üm- 
BtBnden  mir  eine  Person  in  Verdaoht  kommen  konnte,  die  mit  den 
Ränmlicbkeiten  Tollkommen  Tertnnt  war. 

Endtieh  Terdicbteten  sich  die  Verdacbtsmomente  derart,  dass  em 
gewisser  E.,  ein  ebanaliger  Bediensteter  des  Caf6,  der  auf  äbniiebe 
Weise  sebon  canen  EÜnbmcb  dort  begangen,  als  TbSter  in  Befanusbt 
kam.  Derselbe  wnrde  ausgeforscht  und  die  anf  der  Messkarte  vor- 
findlicfaen  Fingerabdrucke  genftgten,  am  mich  za  flberzengen,  dass 
onr  E.  die  Hand  abgedrückt  haben  konnte. 

Meine  Uebenengong  wnchs  snr  Gewissheit,  als  der  Mann  einge- 
liefert wnrde,  vnd  ich  in  die  Lage  kam,  anoh  die  Uanea  der  Hand- 
fläche zu  prflfen. 

Ich  erinnere  mich  hier  eines  Aufsatzes  des  Anthropologen  Welker, 
welcher  im  Anthropologischen  Archiv  pro  1898  Bd.  3  die  Abdrücke 
Beines  Handtellers  aus  dem  Jahre  1856  und  1S97  zam  Abdmcke 
brachte,  welche  volle  Uebereinstimmung  der  Papillarlinien  erkennen 
la.ssen.  Allerdings  sind  die  Handtcller-Abdrücke  nicht  Gegenstand 
von  Untersuchungen  geworden,  zuvörderst  wohl  deshalb,  weil  sie 
weniger  differente  Formen  zeigen  als  die  Fingerbeeren. 

Als  K.  zur  Hauptverhandlung  kam,  gelang  es  mir  ni<'lit,  die 
Richter  von  dem  Umstände  zu  überzeugen,  dass  der  Ueberein.stinnming 
der  Papillarlinien  zwingende  Beweiskraft  innewohne,  leb  muss  diese 
Tbatsacbe  auf  den  Umstand  zurückführen,  dass  in  richterlichen  Kreisen 
die  Nützlichkeit  der  kriminalistischen  Kenntnisse  noch  immer  nicht 


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126 


vn.  pavl 


genügend  gewürdigt  wird,  ja  dass  z.  B.  selbst  die  wenigsten  von 
dem  Wesen  der  Anthroponietrie  und  selbst  von  deren  Bestand  in 
Oesterreich  Kenntniss  haben.  Es  ist  dies  um  so  bedauerlicher,  als 
dadurch  nicht  nur  dem  Einzelnen  Erfolge  entgehen,  die  spielend  er- 
rungen werden  könnten,  sondern  hauptsächlich  wesentliche  Abkürzungen 
der  Unterisuchungen  also  auch  der  Haft  durch  rechtzeitige  Benützung 
der  Anthroponietrie  eintreten  würde. 

Der  erwähnte  Fall  des  K.  gab  mir  Veranlassung,  mich  uüt  dem 
Sichtbamiachen  von  Fingerabdrücken  zu  befassen. 

Die  Anregung  hierzu  bot  mir  insbesondere  bald  darauf  ein  zweiter 
Fall,  der  kurz  auf  den  ersten  sich  ereignete. 

Die  Polisd  biwshte  eme  (durohflicbtige)  Glasscheibei  auf  welelie 
der  unbekannte  ThXtor  beim  Be8treb«i|  sie  anazubieohen,  Fingerab- 
drftcke  zurückgelanea  hatte.  Die  abgenommene  Photographie  war 
miBshingen,  die  B&dudte  des  Glases  hatte  dureh  Spiegelung  neue 
Linien  in  die  vorhandenen  geworfen  und  die  Photographie  war  des- 
halb nnbranohbar.  loh  begann  meine  Arbeiten  damit,  dass  ich  znerat 
die  Erfahrungen  Dr.  Forgeots  in  Ansprueh  nahm  und  TeiBUohte» 
ma»  Experimente  zu  wiederiiolen.  loh  stellte  mich  hierbei  auf  den 
Standpunkt^  dasa  die  einfachsten  Yorschrifken  am  ehesten  zu  Erfolgen 
führen  mttssten.  Ich  Tersnchte  also,  in  der  von  Dr.  Forgeot  ge- 
wShlten  Beihenfolge  Fingerabdrucke  sichtbar  zu  machen. 

Vor  Allem  Tcnudtte  ich  Jod  und  muss  das  Verfahren  mit  Jod 
als  das  einfachste  und  sicherste  bezeichnen.  Es  ist  gamicht  nOthig, 
wie  Dr.  Forgeot  angiebt,  Joddämpfe  zu  erzeugen,  es  genügt,  wenn 
man  das  zu  untersuchende  Papier  mit  der  Seite,  wo  ein  Abdruck  ver- 
muthet  wird,  ftber  ein  offenes  Gefäss  mit  Jod  (etwa  in  der  Apotlieke) 
legt  und  es  mit  einer  Glasplatte  bedeckt,  um  in  Kürze  eine  schöne 
braune  Färbung  der  Papillarlinien  zu  erhalten.  Ist  die  zu  unter- 
suchende Fläche  grösser,  dann  wählt  man  eine  Glaswanne,  in  weicher 
man  Jod  aufstreut. 

Forgeot  beklagt  sich,  dass  die  Abdrücke  wieder  verschwinden, 
aber  ich  habe  gefunden,  dass  man  sie  mit  Calomel  einstäuben  kann, 
welches  sodann  durch  Schwefelwasserstoffdämpfe  oder  Dämpfe  von 
Schwefelanimouium  den  Abdruck  in  schöner  schwarzer  Farbe  er- 
scheinen lässt 

Silhernitrat  gab  in  Sproc.  Lösuntr  recht  gute  Resultate.  Das 
Papier  wird  mit  einem  Pinsel  mit  der  Lüsiing  bestrichen  und  kommt 
der  Abdruck,  sobald  das  Papier  dem  Lichte  ausgesetzt  w  ird,  in  schöner 
braunschwarzer  Farlje  zum  Vorschein.  Ich  habe  diese  Abdrücke  nun- 
mehr mit  lOproc.  Lösung  von  Natrium  hyposulphericum  behandelt, 


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SicbtbwmacheD  latenter  Floger-  and  FmubdrOcke.  127 

gat  gewaschen  in  2  proo.  Losung  Ton  Quecksilberchlorid  und  sodann 
in  eine  wä8serig:e  Lösung  von  Ammoniak  getaucht  und  siemlich  dunkle 
und  haltbare  Abdrücke  erhalten. 

Ein  sehr  erfolgreiches,  aber  nicht  immer  anwendbares  Verfahren 
ist  das  mit  Tinte.  Forgeot  streicht  nämlich  die  zu  untersuchende 
Fläche  mit  einem  Pinsel  mit  Tinte  ein,  worauf  in  einem  lichteren 
Tintenfleck  die  Linien  des  Abdruckes  in  dunklerer  Farbe  sich  zeiijen. 
Ich  habe  die  besten  Resultate  mit  jenen  Tinten  erzielt,  welche  als 
Eiaengallustinten  bezeichnet  werden. 

Ich  nahm  zwei  ca.  6  cm  lange  und  3  cm  breite  Glasstreifen,  legte 
auf  einen  rechts  und  links  längs  der  Längsseiten  je  einen  ''2  cm 
breiten  Glasstreifen,  legte  die  zweite  Glasplatte  darüber  und  kittete  die 
aufeinander  liegenden  Platten  mit  dickem  Schellack,  in  Spiritus  gelöst, 
zusammen.  Es  entstand  so  eine  viereckige  Röhre.  In  die  Oeffnung 
wurde  ein  ebenso  breiter  als  langer  Flanellstreifen  eingeführt,  nach- 
dem man  ihn  zuvor  in  Wasser  getaucht  und  gut  ausgedrückt  hatte. 
An  einem  Ende  zieht  man  nun  den  Streifen  so  hervor,  dass  er  um 
3—4  mm  heransragt.  FQhrt  man  nun  mit  einem  Tropf enzihler  oder 
einem  Federkiel  oboi  in  die  Oeffiiung  Tiule  ein  ao  kamt  man  bald 
mit  dem  henromgenden  Flaneflatrnfen  die  zu  unterenohenden  Fliehen 
beetTNcben,  auf  wdohem  alabald  die  Abdrucke  zum  Voncbein  kommen. 

Etwas  Uebung  ISsst  das  richtige  anzuwendende  Quantum  von 
Tinte  bald  erkennen  und  ist  cb  nützlich  die  Fttche  sofort  mit  einem 
LOechblatt  abzutrocknen.  Es  ist  selbstrerstBudlich,  dass  nicht  jedes 
Painer  mit  jeder  Methode  gute  Resultate  giebt,  allein  man  ist  in  der 
Lage  dnige  Methoden  nach  einander  zuyersnchen  und  kann  schUess- 
fidi  mit  Hlllfe  der  Photographie  den  onmal  sichtbar  gemachten  Ab- 
druck und  sone  Umgebung  für  immer  fiziren. 

Der  eingangs  erwähnte  Fall  regte  mich  an  zu  versuchen,  ob 
nicht  am  fetten  Abdrucke  des  Fingers  Farbstoffe  haften  blieben,  um 
so  eine  deutliche  Photographie  zn  ermöglichen.  Ich  hatte  nämlich 
bei  meinem  Raseur  zufällig  einen  Reismehlzerstäuber  yenncht  und 
den  Spiegel  bestaubt,  auf  welchem  sich  auf  einmal  in  einem  grSsseren 
weissen  Fleck  in  dichterer  Lage  ein  früher  dort  gemachter  Finger* 
abdruck  zeigte.  Ich  versuchte  nun  mit  Hülfe  eines  Bläsers,  wie 
solcher  zur  Vertilgung  von  lästigen  Insecten  benützt  wird,  die  Ab- 
drücke einzustauben,  jedoch  ohne  Erfolg,  da  der  feine  Farbstoff  Uberall 
an  der  aus  der  Luft  niedergeschlagenen  Fettschicht  des  Glases  an 
dem  Abdruck  aber  zu  wenig  haften  blieb. 

Erst  als  das  zufälliire  Verschütten  des  Farbstoffes  mich  belehrte 
dass  ein  blosses  Aufstreuen  genügte,  begann  ich  Versuche  mit  allerlei 


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128 


YIL  Paul 


Farbstoffen  zu  machen  und  zwar  mit  dem  Ijesteni  Erfolg.  Man  streut 
eine  genügende  Menge  eher  mehr  als  weniger  auf  die  zu  unter- 
suchende Fläche  und  es  erscheint  bald  der  Abdruck  an  dessen  Linien 
der  Fari)stoff  haften  blieb. 

Ich  habe  die  Wahrnehmung  gemacht,  dass  es  dem  Erfolge  nicht 
günstig  ist,  wenn  ein  zu  fein  pulverisirter  Stoff  verwendet  wird. 
Insbesondere  giebt  Calomel,  welches  in  der  Pharmakopoe  fein  pul- 
verisirt  zum  Einstauben  und  gröber  zum  Einnehmen  vorgeschrieben 
ist,  nur  in  letzter  Form  gute  Resultate. 

Diese  Verenche  sind  so  einftusher  Natur,  dass  sie  in  jedem  Ge- 
birgsdoiie  von  jedem  Gensdann  wiedeiliolt  weidea  kOmieo.  leh  be- 
nnlze  also  Wasehblan,  wie  es  jede  Wiseherin  verwendet,  Boss  s.  B. 
den  Boss  von  einem  Petroleunlampeneylinder,  CSsrmin,  Zinobeff  Anylin- 
Isiben  aller  Arten,  alles  in  Palveifonn,  Sehwefelantimon  nnd  yiele 
andere  Stoffe^  mit  bestem  Erfolg  Bisen  in  Palyerfoim,  wie  es  in  jeder 
Apotheke  eilifiltlich  ist 

leb  babe  aber  andh  einen  Stoff  gef&nden,  der  sehr  enifsefa  sn 
behandeln  ist,  sieh  flbeiall  findet  nnd  danerhafte  Besoltale  giebt,  es 
.  ist  dies  das  bekannte  flbennangansanre  Kali,  wie  es  nun  Zähne- 
wasefaen  verwendet  wird  und  in  jeder  Apotheke  oder  Droguerie  er- 
bältlich ist.  Man  streut  die  Stelle  des  vermutheten  Abdruckes  mit 
dem  nieht  sn  fein  pulverisirten  Stoff  ein,  lässt  das  Gemisch  eine  Zeit- 
lang lagern  und  fährt  dann  mit  einem  buschigen  Pinsel,  nachdem 
man  das  überschüssige  Polver  abgeseb&ttet,  über  das  Papier,  worauf 
die  Abdrttoke  in  fein  rosa  und  immer  mehr  nachdunkelnden  Tönen 
sichtbar  werden.  Dr.  Protiwensky-Prag  theiU  mir  mit,  dass  er  mit 
Eiweiss  sehr  gute  Resultate  erzielt  habe. 

Schliesslich  wendete  ich  mich  auch,  wie  Forgeot,  den  Versacben 
mit  Abdrücken  auf  Glas  zu. 

Hokanntlich  bedecken  die  (ilasätzer  die  zu  ätzenden  Glasflächen 
mit  einer  Fettschichte,  in  welche  sie  sodann  die  Zeichnung  und  zwar 
bis  auf  das  Glas  eingraviren. 

Hier  dient  die  Fett.schichte  des  Abdruckes  umgekelirt  dazu,  die 
Linien,  der  im  Abdruck  am  Glase  (z.  B.  Trinkglas)  sich  befindet,  zu 
bedecken.  Die  Glasützor  setzen  die  so  vorbereitete  Platte  den  Dämpfen 
von  Fluorwasserstoffsäure  aus,  welche  an  den  vom  Fette  nicht  be- 
deckten Stellen  das  Glas  angreift  und  so  die  Zeichnung  im  Glase 
eingeiitzt,  zum  Vorschein  bringt. 

Das  Verfahren  ist  einfach,  bedarf  aber  besonderer  Vorsieht  und 
ist  wohl  nur  Jenen  zu  empfehlen,  welche  in  solchen  Dingen  Uebung 
haben. 


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Sichtbaimachen  latenter  Finger*  nnd  Fiueabdrfldie. 


189 


Man  nimmt  eine  3 — 4  mm  starke  Bleiplatte,  klopft  sie  mit  einem 
Holzhaniiiier  über  einer  metallenen  Mörserkeule  zu  einer  halbrunden 
Schale,  die  oben  mit  einer  Feile  eine  ebene  Handfläche  erhält.  Nun 
nimmt  man  käuflichen  Flussspat  in  Pulverform,  rührt  ihn  mit  concen- 
trirter  Schwefelsäure  zu  einem  Brei  und  erhitzt  nun  die  Schale  im 
Wasserbad,  zweckmässig;  im  Freien,  we^en  der  schädlichen  Dämpfe. 
Das  Glas  bedeckt  man  am  besten  mit  Unschlitt  oder  dünnen  Speck- 
streifen dergestalt,  dass  nur  ein  kleiner,  am  besten  viereckiger  liaum 
um  den  Abdrack  freibleibt  und  setzt  nun  diese  Fläche  so  lange  den 
Dämpfen  ans,  bis  em  genügend  tieles  fielief  entstanden  ist,  es  er- 
sdielnen  dann  die  Papillailüilen  ab  Bchmale  liniea  and  zwar  dnrdH 
gichtig,  während  ihre  geätzten  Zwisclienrämne  matt  sieh  darstellen. 

Ich  yeiBnchte  nun  diese  linien,  die  man  nnr  bei  gewisser  Anf* 
merksamkeit  genan  Terfolgen  kann,  dauernd  in  Farbe  sichtbar  zn 
machen  nnd  anob  dieses  gelang  mir.  Ich  benutzte  nämlich  eine 
Walze  ans  Bnzbanmholzy  die  eine  sdir  glatte  Obeifläche  haben  mnss, 
nnd  walze  dieselbe  anf  einem  Gelatineblook  mit  Druckerschwätze  ein. 

Die  Walze  muss  so  lang  sein,  dass  sie  Uber  jenen  Baum  hinaus- 
ragt der  um  den  zu  ätzenden  Abdruck  frei  bleiben  muss. 

Wird  nun  die  Walze  (in  ihrem  Gestell  in  dem  sie  hierbei  sich 
in  bekannter  Art  um  ihre  Achse  dreht)  leicht  üb»  den  geätzten 
Abdruck  hinweg^eführt,  so  setzt  sie  an  den  nicht  geätzten  Linien  des 
Abdruckes  Druckerschwärze  ab,  sodass  der  Abdruck  sich  in  schwarzer 
Farbe,  dir  hald  eintrockne^  repräsentirt.  Gelingt  dies  nicht,  wird  zu- 
viel Farbe  abgesetzt,  dann  wäscht  man  das  Glas  mit  Terpentin  ab, 
legt  rechts  und  links  vom  Abdruck  so  lange  einen  dünnen  Streifen 
Papier,  bis  nach  noclimaligem  Walzen  der  erwünschte  Erfolg  eintritt. 

Bei  Trinkgläsern  muss  selbstredend  das  Einwalzen  dergestalt 
vorgenommen  werden,  dass  die  Walze  parallel  mit  der  Achse  des 
Cj'linders  über  die  Fläclien  bewegt  wird. 

Ich  vertiffentliche  meine  Versuche,  soweit  sie  abgeschlossen  sind 
und  hoffe  in  Kürze  noch  Weiteres  zu  bringen.  Nur  eines  möchte  ich 
hinzufügen,  so  überraschend  es  für  den  I^iien  sein  mag,  einen  nicht 
sichtbaren  Abdruck  in  jeder  gewünschten  Farbe  sichtbar  gemacht  zu 
sehen,  so  skeptisch  stehen  wir  der  Sache  entgegen.  Es  ist  kein  Zweifel, 
da-ss  die  Versuche  manchmal,  vielleicht  oft  nach  einander  Erfolge 
bringen;  nlhin  das  sind  Zufälligkeiten,  die  uns  zu  grossen  Hoffnungen 
nicht  berLclitigen.  Der  Zufall  spielt  aber  im  Strafverfahren  eine 
grosse  Rolle  und  deshalb  ist  es  unsere  Aufgabe,  ihm  Gelegenheit  zu 
geben,  seine  Kraft  zu  bethätigen  und  ihn  zu  suchen,  im  gegebenen 
Falle  wissen  wir  dann  zum  Mindesten,  wie  wir  uns  zu  Terhalten  haben. 


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vin. 


Das  Befonnatorifun  von  Blmira. 

Mitgetheilt  von 

Dr.  Witry  in  Bambeiig. 

Die  „Bewe  de  PHypnotbrne*^  YwOffendidit  unter  dieeem  Titd 
folgenden  Artikel: 

Sind  die  Yearbrecher  mebt  einfooh  Knuike?  Diese  Enge  wird 
seit  Langem  erörtert.  Aber  die  Amerikaner  allon  scheinen  sie  in 
affirmatirem  Sinne  b^aht  sn  haben.  Dr.  Augnst  Lnling  hat 
nftnlieh  wlhrrad  einer  Bease  dnreh  Nordamerika  Gelegenheit  gehabt, 
eines  der  grOssten  PSnitentiarien  der  Welt  zn  besiebtigen.  Die  Be- 
handlnngsweise  der  Ge&mgenen  daselbst  basirt  einzig  und  allein  anf 
der  Idee,  dass  der  Mensch,  welcher  Böses  thnt,  ein  Kranker  ist,  der 
in  den  meisten  Fällen  geheilt  werden  kann.  Dr.  Luling  scbrdbt 
darüber:  In  meiner  Eigenschaft  als  Arzt  interessirte  mich  dieser 
Versuch  des  Staates  New-York  besonders.  Ich  nahm  mit  grosser 
Freude  die  Erlaubniss  des  Directors  für  Gefängnisswesen  en^cgen, 
die  Strafanstalt  besichtigen  zu  dürfen,  wo  die  Gefangenen  „gepflegt 
nnd  gebeilt"  werden.  Man  hat  ihr  den  symbolischen  Namen  „Re- 
forraatorium"  gegeben  und  es  ist  wirklich  ein  Werk  der  „Refor- 
mation" welches  der  Staat  New-York  hier  unternommen  bat 

Man  erreicht  Elmira  von  New-York  aus  in  11  Stunden  Schnell- 
zugsfahrt Ich  verliess  den  Zug  um  8  Uhr  Morc^ens  am  Fusse  des 
Htiprels,  auf  dem  das  riesiij^e,  luxuriös  ausgestattete  Gebäude  liegt 
Hätte  ich  nicht  auf  den  Ringmauern  eine  Keilie  von  Schildwachen 
mit  dem  Gewehr  im  Arm  gesellen,  so  hätte  ich  eher  geglaubt,  icli 
träte  in  ein  Scbloss,  denn  in  ein  Gefängniss  ein.  Ein  riesiger  Pförtner 

Anmerkiing  des  Herausji^ebers.  —  Ich yerUfentliche  diese  interessante 
Mitthcilnng,  obwohl  wir  durch  deutsche  Arbeiten  (namentlich  die  venlienstvolle 
von  Ilintrafrer.  vgl.  diese;*  Aichiv  H.  Bd.  S.  359),  schon  längst  wissen,  wie 
übcrtriobeu  die  Ergebaisae  der  iiefurmaturies  angegeben  worden.  In  Frankreich 
flcbeint  man  noch  Inmier  an  das  EvangeUum  von  Elmira  zn  glanben.   H.  Gross. 


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Das  Refonnatorium  von  Elmin. 


131 


führte  mich  in  das  Cabinett  des  Anstaltsdirectors,  dem  ich  meinen 
Emi)fehlung:sbrief  aus  New-York  überreichte.  Ich  stand  einem  jungen 
kaum  3(>jährigen  Manne  gegenüber,  dessen  intelÜLrente  Physiognomie 
einen  wohlthuenden  Ausdruck  von  Sanftheit  und  Güte  zeigte.  Er  ist 
selber  Arzt  und  widmet  sich  seiner  Mission  mit  heissester  Ueberzeu- 
gung.  Er  glaubt,  dass  die  üebelthäter  Kranke  sind  und  dass  es  von 
grösserem  Vortheile  ffir  die  Gesellschaft  ist  sie  zu  heilen,  statt  sie  zu 
bestrafen.  Ich  bedcbtigte  in  seiner  Begleitang  und  in  jener  des  Chef- 
antes  wihrend  5  Stunden  die  yeneldedenen  Tkeile  des  Beformnlo- 
rinms.  leb  TeilieBB  dasselbe  voll  Bewnndenug  für  die  rabige  Kühn- 
heit mit  der  die  Amerikaner  an  die  anscheinend  paradoxesten  Pro- 
bleme herantreten  und  ffir  die  praktische  nnd  ingeniöse  LOsung  der- 
selben,  die  ihnen  in  manchen  ÜUen  gelingt 

Vor  Allem  darf  niemals  das  Wort  „Gefängniss**  oder  „GeEsagener** 
angewandt  werden.  Es  ist  nnr  das  „Beformatorinm"  mit  seinen  „Be- 
wohnern'*. Es  werden  nnr  MSnner  aufgenommen,  nngefittur  1500. 
Sie  kdnnen  nnr  im  Alter  von  16 — 30  Jahren  eintreten  nnter  der  Be- 
dingung, dass  sie  noeh  kerne  Strafe  erlitten  haben,  die  über  20  Jahre 
Zuchthaus  beträgt  Dem  freien  Ermessen  jedes  Richters  ist  es  an- 
heimgestellt  einen  Yerurtheilten  nach  Elmira  zn  schicken.  Wir  wollen 
nnn  einen  Menschen,  der  eine  Gefängnissstrafe  von  20  Jahren  sn  Ter- 
bSssen  hat  nnd  im  „Reformatorium"  ankommt,  begleiten. 

Nachdem  er  ein  Bad  erhalten  nnd  desinficirt  worden  ist,  zieht 
er  die  Uniform  des  Hansea  an  die  von  ^neutraler  Farbe"  ist  Sie 
ist  schwarz.  Der  neue  „Bewohner"  wird  dann  dem  Arzte  vorgeführt 
Wenn  er  jung  ist  und  der  Arzt  sieht  seine  Constitution  als  nicht  ge- 
nügend stark  an,  um  andauernde  Muskelthätigkeit  zu  ertragen,  dann 
wird  er  auf  kürzere  oder  länjrere  Zeit  —  der  Arzt  allein  ist  hierin 
maassgebend  —  in  die  Turnschule  geschickt.  Die  Turnschule,  die 
ca.  150  ni  lang  ist,  wird  während  des  Winters  genügend  geheizt,  dass 
jeder  in  leichter  Kleidung  darin  turnen  kann.  Sie  hat  die  allerbesten 
Turn-,  Bewegungs-  und  Uebungsapparate.  Der  „Bewohner"  bekommt 
desgleichen  alle  Tage  eine  Schwimmstunde  in  einem  grossen  Bassin 
mit  lauem  Wasser  und  wird  darnach  massirt.  Bei  Fettleibigen  werden 
mechanotherapeutische  Entfettungskuren  angewandt  Kurzum,  man 
macht  aus  dem  Betreffenden  einen  widerstandsfähigen  Menschen. 
Wenn  der  Arzt  die  Ueberzeugung  gewonnen  hat,  dass  er  arbeiten 
kann,  dann  schickt  er  ihn  zum  Direetor,  der  ihn  fragt,  ob  er  eine 
Vorliebe  für  irgend  ein  Ilandwerk  habe.  Wenn  er  z.  B.  Lust  zum 
Haurerhandwerk  bat,  dann  kommt  er  in  die  Maurerriege  und  arbeitet 
darin  mit  Es  werden  alle  mdgliehen  Bauten  an^iefQbrt,  aber  gleich 


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132 


VIIL  Wott 


nach  ihrer  Vollendung;:  wieder  niedergerissen,  weil  man  der  Privat- 
indubtrie  keine  Coneurrenz  machen  will.  Das  gilt  auch  für  die  an- 
deren Berufszweige  des  Hauses.  Wenn  der  „Bewohner*  das  Maurer- 
handwerk ausgelernt  liat,  dann  kommt  er  in  die  Riege  der  Zininier- 
leute,  der  Scbremer,  der  Metalldreher,  der  Anstreicher,  der  Fläschner, 
der  Blechschmiede,  der  Decoiateure,  Polsterer  u.  s.  w. 

Wenn  fleine  Fähigkeiten  und  Keigangen  ihm  erlauben  sich  Bohwie- 
rigeren  nnd  delikateren  Arbeiten  zn  widmen^  dann  ist  ihm  Gelegen- 
heit geboten,  die  Stenographie,  dieScbriftselzerei,  die  Schreibmaschine^ 
Buchbinderei  n.  s.  w.  zn  erlemen.  Knrz  man  giebt  ihm  alle  Ifitlel 
zur  Hand  um  aus  sich  dnen  brauchbaren  regenerirten  Menschen  zu 
machen.  Es  sei  hier  bemerkt,  dass  85  Proc.  aller  «Bewohner^  dea 
Beformatoriums  Ton  Elmira  bei  ihrem  Anstritt  leicht  Stellang  und 
Beschäftigung  finden. 

Das  ist  die  professioneUe  Seite  der  „Beformation**  der  Ver- 
urtheilten.  Sehen  wir  nun  was  die  Amerikaner  zur  Hebung  ihrea 
monüisdien  Bewusstseins  eidadit  haben.  Unser  „Bewohner"  bat, 
wie  gesagt,  bd  semem  Emtritt  eine  schwarze  Uniform  bekommen. 
Er  wird  dann  zur  Finanzcommission  geführt  und  dort  wird  ihm  im 
grossen  Hauptbuch  der  Anstalt  ein  eii^'enes  Bhitt  eröffnet.  Seme  täg- 
liche Arbeit  wird  auf  2  Mk.  eingeschätzt  nnd  am  Ende  jedes  Monats 
erhält  er  einen  Auszug  ans  seinem  laufenden  Posten.  Wenn  er  sich 
gut  führt,  so  erhält  er  nach  6  Monaten  statt  der  schwarzen  Kleider 
blane.  Das  ist  die  Farbe  der  Privilegirten.  Sie  giebt  ihm  das  fiecbt 
im  Bestaurant,  das  sich  in  der  Anstalt  befindet,  auf  eigene  Rechnung 
zu  speisen,  sieh  dort  zu  bestellen,  was  er  für  den  anderen  Tag  wünscht, 
seine  Mahlzeiten  an  einem  weissgedeckten  Tische  einzunehmen  und 
sich  mit  den  Mitspeisenden  zu  unterlialten.  Natürlich  niuss  er  dabei 
Acht  haben,  dass  er  sein  Rudi:::et  nieiit  überschreitet;  ai)er  selbst  im 
Falle  eines  Deficits  schneidet  man  ihm  die  Lebensmittel  nicht  ab. 
Der  Direetor  liisst  ihn  rufen,  macht  ilin  darauf  aufmerksam,  dass 
»ein  Scluildenmaclien  ihm  schade,  weil  jeder  schuldige  L)ollar  einen 
Tag  läni^eren  Aufentiialt  im  lieforiiiatorium  vorstellt.  P'ast  immer 
folgt  auf  diese  Mahnung  eine  andauernde  ^{»arsainkeit.  Es  ist  nicht 
selten,  dass  ein  sparsamer  ..liewoliner*'  mit  10(1(1—1200  Mk.  Ersi)artem 
die  Anstalt  verlässt.  Uebrigens  giebt  die  Anstalt  jedem  beim  Aus- 
tritt 50  Dollai:;  mit,  damit  er  zu  lelicn  habe  l)is  er  Arbeit  gefunden  hat. 

Wenn  das  moralische  Bewushtseiii  des  Verurtheiiten  sicli  nicht 
hebt,  wenn  er  sich  nicht  gut  führt,  so  dass  man  ihm  nach  G  Monaten 
das  blaue  Kleid  nicht  geben  kann,  wenn  er  undisciplinirt,  zerstörungs- 
sQchtig,  aggressiv  gegen  das  Personal  ist,  dann  werden  ihm  Strafen 


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Das  RefoinMtorium  von  Elmlra. 


188 


aiifcrlee:t  und  zwar  Cleld strafen.  So  sah  ich  z.  B.  im  Hauptbuche 
eine  Strafrechnung  von  über  1000  Mk.  Wenn  die  Geldstrafen  nichts 
nützen,  dann  bekommt  er  eine  rotho  Uniform,  die  er  6  Monate  trafen 
muss,  ehe  er  wieder  die  „neutrale",  ilas  ist  die  scliwarze,  wieder- 
bekommt. Nach  weiteren  G  Monaten  kann  er  sich  dann  die  blaue 
verdienen.  Es  ist  klar,  dass  die  „rothen"  in  stren^ar  Zucht  gehalten 
werden.  Kein  Besuch  des  Restaurants,  überall  Stillschweigen,  scharfe 
Ueberwachung  u.  s.  w.  Um  aber  auch  diese  nicht  ganz  zu  ent- 
mnthigen,  darf  der  Director  die  sich  jjut  führeuden  am  4.  Juli,  dem 
Nationalfesttage,  begnadigen. 

,Ich  mache  hiervon  den  ansgedehnteslea  Gebrauch^,  sagte  mir 
der  junge  Director. 

Die  KinteD  der  Anstalt  tilgt  der  Staat  New-Toik.  Die  gewSbn- 
tiehen  vom  Staate  besoldeten  Aufeeber  weideo  Ton  den  „Bewobnem", 
besonders  bei  den  Toigesebriebenen  militSriscben  üebnngen,  unter- 
stützt  Es  giebt  so  unier  den  VemrtheUten  einen  Oberst,  Hanptleutei 
lientenants  nnd  ünteroffioiece.  Sie  haben  eine  yoizBgliohe  MilitSr- 
kapetle.  Aber,  nnd  das  ist  dn  Wideisprucb,  der  Staat  weigert  sieb 
dieselben  naeb  der  EnUassong  in  die  Armee  anzunehmen.  leb  maebto 
diese  Bemerkung  dem  Director  gegenfibw  und  konnte  aus  seiner 
stummen  Geste  ersehen,  dass  er  mit  mir  «nverstanden  war. 

Der  ärztliche  Dienst  erschien  mir  yorzttglich  organiflirt  Alle 
Tuberculdsen  sind  isolirt.  Ihre  Wäsche  bat  eine  eigene  Farbe, 
wird  extra  gewaschen  und  die  Bftume  werden  alle  Wochen  gründlich 
desinficirt 

Ausser  der  täglichen  gründlichen  Waschung  muss  jeder  „Be- 
wohner" alle  Woche  ein  Brausebad  nehmen.  Dieselben  werden  mit 
lauem  Wasser  applicirt. 

Auch  sind  die  „  Bewohner'*  nicht  ganz  von  der  Aussenwelt  ab- 
getrennt. Der  Dirccctor  hat  verschiedene  bestimmt,  welche  die  Zei- 
tungen, ilhistrirten  Blätter,  Monatsrevuen  u.  s,  w.  zu  lesen  haben. 
Diese  publiciren  dann  jede  Woche  eine  Zeitung,  welche  die  Haupt- 
ereignisse mittheilt.  Nur  das  was  auf  Verbrechen  und  Diebstahl 
Bezug  hat  wird  weggelassen. 

Und  das  Resultat?  Das  „Reformatoriunr'  giebt  der  (lesellschaft 
75 — So  Proc.  seiner  „Kranken"  als  völlig  geheilt  und  brauchbar  zu- 
rück. 20 — 25  Proc.  der  Eintretenden  sind  uuheilbar.  So  hat  mir  der 
Director  officiell  versichert. 


InUT  fir  KriaiMlamlircgftlml».  XII. 


10 


IX. 

MeinonpdisBonftDzea  der  sachTerständlgeii  Psycliiater. 

Primanunk  Dr.  Josaf  B«rM  in  Wien. 

Gegenstand  der  Enquete  über  die  Voruntersuch un^r  im  Strafver- 
fabien,  welche  während  der  Monate  December  1902  and  Januar  1903 
von  der  „Kulturpolitischen  Gesellschaft  zu  Wien"  veranstaltet  worden 
iety  war  anob  die  Frage:  Wie  erklärt  es  sichf  dass  auf  dem  Gebiete 
einzelner  geistiger  Erkrankungen,  insbesondere  auf  dem  Gebiete  der 
psychopathischen  Minderwerthigkeit,  so  häufig  ein  Zwiespalt  in  den 
Meinungen  der  sachverständigen  Psychiater  zu  Tac:e  tritt?  Sind  es 
Umstände  wissenschaftlicher  oder  auch  praktischer  Xatur,  welche 
einen  Erklilrungsgrund  für  diese  Erscheinung  geben V  Wie  ist  dieser 
Dissonanz  der  Meinun^a^i  abzuhelfen? 

Wie  j^ross  schon  die  Schwierij^ktitLn  rein  wissenschaftlicher 
Natur  sind,  denen  der  Psychiater  bei  der  Abgabe  seiner  Gutachten 
begegnet,  wurde  von  einem  Experten')  in  überzeugender  Weise  aus- 
einandergesetzt, wi'nn  ihm  auch  die  Kürze  der  zur  Verfügung  stehen- 
den Zeit  nicht  gestattete,  auf  alle  in  Betracht  konwnenden  Fälle  näher 
einzugehen.  Ganz  besonders  hob  er  den  Umstand  hervor,  dass  es 
sich  in  der  grossen  Mehrzahl  der  zu  begutachtenden  lälle  um  Zu- 
stände mangelhafter  psychischer  Entwicklung  bandle,  nicht  aber  um 
eigentliche  Krankheiten  der  Psyche,  dass  es  sich  also  zumeist  um  ein 
AbBchJttzen  der  psychischen  CapazitSf  des  betreffenden  Individnnmsy 
nicht  aber  nm  eine  Feststellung  gewisser  psychopathiscber  Symptome 
handle,  dass  somit  subjective  Anschauung  in  vielen  FUlen  im  GuU 
achten  zum  Ausdrucke  kommen  müsse,  womit  schon  eine  ganze 
Menge  von  Meinungsdifferenzen  zur  Genttge  erklärt  sei.  Wesentlich 
vermehrt  werden  die  Differenzen  dann  dadurch,  dass  wir  kein  geoan 
definirbares  und  allgemein  gültiges  Kormalmaass  der  Intelligenz  haben, 
dass  sich  somit  jeder  Sachverständige  das  Normalmaass  vorstellen 
kann,  wie  es  seiner  eigenen  Erfahrung  eben  entspricht 

•  ^ —   « 

1)  l'rof.  Wagner  v.  JaurcKg- 


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MeinniigadiiMMiaiuea  der  sadiTentXndigen  Psychiater.  186 


Auch  bei  den  in  späterer  Lebenszeit  erworbenen  Störungen,  so- 
weit sie  forensisch  in  Betracht  kommen,  handelt  es  sich  häufig  um 
psychische  Schwächezustände,  welche  sich  nicht  durch  bestimmte 
charakteristische  Symptome  vom  gesunden  psychischen  Zustande  in 
leicht  erkennbarer  und  sicher  feststellbarer  Weise  ablieben,  sondern 
nur  durch  ein  gewisses  (juantitatives  Deficit  charakterisirt  sind,  dessen 
Abschätzung  wieder  subjectivem  Ermessen  anheimgegeben  ist.  Wie 
schwer  gestaltet  sich  ferner  die  sichere  Feststellung  der  Anfangsstadien 
verschiedener  psychischer  Krankheiten  und  zwar  auch  solcher,  welche 
im  späteren  Verlaufe  auch  für  den  Laien  leicht  zu  erkennen  sind!  Und 
doch  stellt  sich  oft  schon  in  diesen  Anfangsstadien,  z.  B.  bei  der 
progreBSiTen  PaialTse,  wenn  auch  faftnüg  nur  Torflbeigeliend,  ein  die 
Sianeht  und  die  WAlensbeaftimiDung  schwer  Bohldigender  psychiBoher 
Defeet  ein.  Schwierige,  häufig  sn  MeinniigSTenehiedenhäteii  AnhM 
gebende  VerbSltiiisse  bieten  natugemte  anob  eine  ganze  Menge 
anderer  tranBitorischer  geistiger  StSmngen;  namentlich  die  yerscbiedene 
Bewerthnng  der  Tom  Untersuchten,  Ton  Angehörigen  desselben  oder 
Ton  Zeugen  seuMs  Verhaltens  stammenden  Anamnese  seitens  der 
einzefaien  Saobrerstlndigen  kann  da  leicht  zu  Dissonanzen  führen. 
Ausserordentlich  gross  und  hinfig,  fast  nnfiberwindbar  sind  dann  die 
Schwierigkeiten,  welche  sieh  einer  sicheren  Beurtheilnng  des  Cleistes- 
zustaades  yieler  Neurasthenisch^  Hysterischen,  Epileptischen  in  den 
Weg  stellen,  sei  es,  dass  es  sich  nm  die  dauernden  Veränderongen, 
welche  sich  bei  solchen  Kranken  häufig  einstellen,  sei  es,  dass  es  sich 
nm  episodische  Zustände  handelt  Wie  gross  schliesslich  die  Schw  ierig- 
keiten  sind,  welchen  man  bei  den  sogenannten  psychopathischen  Mindor- 
werthigkeiten  begegnet,  kann  jeder  leicht  selbst  ersehen,  der  folgende 
Leitsätze  Koch 's  berücksichtigt,  die  wohl  nicht  den  Werth  von 
Dogmen  für  uns  haben,  die  Verhältnisse  aber  in  treffendster  Weise 
charakterisiren:  „Die  psychopathischen  Minderwerthigkeiten  —  psy- 
chische Regelwidrigkeiten,  welche  auch  in  schlimmen  Fällen  doch 
keine  Oeisteskrankheiten  darstellen,  welche  aber  die  damit  beschwerten 
Personell  auch  im  günstigsten  Falle  nicht  als  im  Vollbesitze  geistiger 
Kornialität  und  Leistungsfähigkeit  stehend  erscheinen  lassen  —  führen 
allmählich  vJillig  zu  den  Oeisteskranklieiten  hinüber,  wie  sie  auf  der 
anderen  Seite  ganz  allmählich  völlig  in  die  Breite  des  Normalen  sich 
verlieren" 'I. 

Auch  die  wichtige  Frage,  ob  die  Entsclieiduug  ül)er  Zurechnungs- 

1)  Eine  ausführliche  DarsteUnng  der  bei  Beurtheihiiifr  der  Grcnzziistande 
in  Betracht  kommenden  Schwierigkoiten  findet  sich  in  Hoche's  Handbuch  der 
gcrichtUcheu  i'aychiaüie. 

10* 


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136 


DL  Bbbsb 


oder  Unzurechnungsfähigheit  den  Sachverständigen  oder  dem  Richter 
anheimzugeben  sei,  wurde  bei  der  Errirtcrung  der  „Unjstände  wissen- 
schaftlicher Natur"  berührt,  insoferne  der  l)ereits  erwähnte  Experte 
ausführte,  dass  man  den  ärztlichen  Sachvcrständiicen  durch  die  Frage 
nach  der  Zurechnungsfähigkeit  eine  Aufgabe  stelle,  welche  man 
Metapbysikem  stellen  sollte,  wodurch  der  Standpunkt  der  Aerzte, 
welche  auf  oaturwiBsenachaftlicher  Basis  stehen,  noch  mehr  erschwert 
werde;  so  werde  natttrlieb  za  weiteren  MeumngsdiffeEeiizeii  Anlass 
geboten.  Der  Bahmen  der  Enquete  wir  zu  eng,  als  dass  diese 
alte^  hochwichtige  FVage  halbwegs  erschöpfend  hstte  behandelt  werden 
können;  erwähnt  sd  nnr,  dass  von  emem  angesehenen  Joristen  in 
schroftter  Form  ausgeführt  worden  ist,  dass  die  SachysESlindigen 
nnr  den  geistigen  Znstand  des  üntersnchten  sn  beschreiben,  keines- 
wegs aber  anf  die  Fhtge  der  ZniechnnngsflUiigkeit  einzngehen  hstten, 
dass  aber  andererseits  ein  sweiter  psychiatrischer  Experte  0  den  Mnib 
gehabt  bat,  zn  betonen,  dass  es  Terfehlt  wflre,  wenn  man  den  Psychiater 
nnr  über  den  Geistesnistuid  nnd  nicht  auch  dämm,  ob  derselbe  den 
vom  Gesetze  aufgezählten  krankhaften  Geisteszuständen  mit  excul- 
pirender  Wirkung  entspreche,  befragen  wttrde.  Es  ist  hier  nicht  am 
Platze,  alle  die  Gründe^  welche  für  letztere  Forderung  sprechen,  wieder 
zur  Sprsdie  zu  bringen.  Sicher  bleibt  es,  dass  das  Hereinspielen 
mancher  metaphysischen  Frage  in's  Gebiet  der  Psychiataie^  nament- 
lich der  forensischen,  die  Aufgabe  der  Sachverständigen  wesentlich 
erschwert.  Man  sollte  aber  znnächst  meinen,  dass  die  Psychiater 
heute  wenigstens  noch  nicht  berechtigt  sind,  sich  dagegen  aufzulehnen, 
wenn  ihnen  von  juristischer  Seite  Fragen  irestellt  würden,  welche 
das  Gebiet  der  Metaphysik  streifen,  wo  trotz  der  Versicherung  mancher 
Psychiater,  sie  kämen  mit  der  Associations-Psychologie  ohne  meta- 
physische Hypothesen  ganz  gut  aus,  in  psychiatrischen  (Uitachten 
Begriffe  wie  Ajjpereeption,  Selbstbewusstsein,  Wille  u.  s.  w.  noch 
immer  selir  liäufiii:  in  Anwendung  gebracht  werden.  Femer  ist  die 
Frage  nach  der  Zureelinun^'^sfühigkeit  eines  bestimmten  Individuunis 
keineswegs  eine  metaphysische,  wenn  auch  die  Frage  nach  der  Zu- 
rechnungsfähigkeit an  sich  mit  der  metaphysischen  Frage  nach  dem 
freien  Willen  zusammenhängt;  man  fragt  ja  die  psychiatrischen  Sach- 
verständigen nicht  etwa,  ob  wir  einen  freien  Willen  überhaupt  anzu- 
nehmen berechtigt  sind  oder  nicht,  sondern  ob  im  concreten  Falle 
jenes  relative  Maass  von  Willensfreiheit,  welches  wir  beim  Durch- 
Bchnitts-Menschen  zu  finden  pflegen  und  welches  gemeinhin  dem 


1)  Doceut  Dr.  F.  v.  Sölder. 


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Heiiiangsdiitoniiixeii  der  Badiventindigen  Psydiiater.  187 


Bichter  zar  Ännabme  der  Zurechnungsfähigkeit  genügt,  vorbanden  iat 
oder  ob  diese  relative  Willensfrei  lieit  im  concreten  Falle  dorch  geistige 
Hemmung  oder  Stdrang  eine  Beeohiinkniig  erfiShit  und  wie  weit 
etwa  diese  Beschränkung  geht  Diese  Frage  ist  ebensowenig  eine 
metapbysiche  wie  die  Frage  nach  psychischer  Gesundheit  und  Kiank- 
hdt;  die  Schwiwigkeit  Hegt  vielmehr  darin,  dass  wir  ebensowenig  ein 
Maass  für  die  normale  Willensfreiheit  wie  für  die  normale  Intelligenz 
haben  und  dass  die  Uebergänge  von  der  grössten  Unfreiheit  zur 
frrössterreichbaren  Freiheit  ebenso  fliessend  sind,  wie  die  von  den 
tiefsten  zu  den  höchsten  Intelligenzf^raden.  Selbst  dann  aber,  wenn 
die  Psyeliiater  zugeben  raüssten,  dass  Elemente  metaphysischer  Natur 
bei  derartigen  Fragen  mitspielen,  kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  dass 
dort,  wo  es  sich  um  die  Beziehung  metaphysischer  Begriffe  auf  [ab- 
norme Seelen/ iistiinde  handelt,  doch  wieder  nur  der  Psychiater  richtige 
Auskunft  geben  kann.  Wer  mit  dem  Sachverständigen  auf  dem  Ge- 
biete der  Psychiatrie  noch  einigermaassen  concurriren  könnte,  wäre 
der  Sachverständige  auf  dem  Gebiete  der  Metai)hysik ;  ob  der  Richter 
sich  nun  gemeinhin  das  Recht  vindiciren  darf,  als  Sachverständiger  auf 
diesem  Gebiete  zu  gelten,  scheint  mir  zu  mindest  nicht  entschieden 
zu  sein.  Es  scheint  mir  daher  übel  angebrachte  Besclicidenheit  zu  sein, 
wenn  der  Psychiater  in  der  Frage  der  Zurechnungsfähigkeit  psychisch 
abnormer  Individuen  dem  Richter  die  Entscheidung  gleichsam  spontan 
überlassen  wollte,  somal  ja  der  Letztere  ndft  dem  ansf  übrUchsteni  vor- 
lieffliehslai  peychiatrischen  Gutachten  niehts  aazoftuigen  wdss,  wenn 
der  Pqrchiater  nicht  doch  in  nmschriebeoer  Form  seine  Meinung  über 
die  Znrechnungsfähigkeit  der  betreffenden  Person  andeutet  nnd  dem 
Biohter  eigentlich  nichts  Anderes  flberlSsski  als  die  Ueberselznng  des 
in  der  Sprache  der  Psychiatrie  Gesagten  in  die  Sprache,  die  der 
Bichter  sähst  zn  sprechen  gewohnt  bt;  es  ist  aber  doch  kanm  denk- 
bar, dass  der  Psychiater  gleidisam  die  Bolle  des  Prinzen-Eniehers 
nur  zn  dem  Zwecke  Übernehmen  soll,  dass  dem  Biohter  ein  Soayeift- 
nitstsrecht  scheinbar  erhalten  bleibe^  Wenn  daher  auch  metaphysische 
Begriffe  die  Arbeit  der  Pi^chiater  erschweren,  so  sollten  doch  gerade 
die  Psychiater  selbst  diesen  Umstand  nicht  in  den  Vordergrund  schieben, 
zumal  die  Schwierigkeiten,  die  aus  anderen  Verhältnissen  erwachsen, 
80  bedeutend  sind,  dass  der  kleine  Zuwachs,  der  auf  Bechnnng  der 
Metaphysik  kommt,  kaum  in  die  Waagschale  fällt. 

Relativ  wenig  kamen  in  den  Sitzungen  der  Enquete  die  prak> 
tischen  Umstände,  welche  Mdnungsdissonanzen  begründen,  zur 
Sprache,  obwohl  gerade  auf  sie  das  Hauptgewicht  zu  legen  ist  und 
auch  die  Fragestellung  gerade  auf  sie  zu  zielen  scheint 


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188 


IX.  Beb» 


Unter  den  praktischen  Umatänden  ist  gewiss  die  vom  Experten 
von  Sölder  betonte  Tliatsache  anzuführen,  dass  die  strafgesetzlichen 
Bestimmangen  über  die  krankhaften  Geisteszustände  und  betreffs  des 
Begriffes  der  Beraubung  des  Vemunftgebrauches  unklar  sind  und  zn 
von  einander  abweichenden  Auslegungen  Anlass  geben.  Wenn  auch 
die  Schwierigkeiten,  die  sich  aus  diesem  Umstände  ergeben,  den 
Juristen  viel  mehr  berühren  als  den  ])sychiatrischen  Sachverständigen, 
ist  es  gewiss  auch  vom  Standpunkte  des  Letzteren  dringendst  zu 
wünschen,  dass  die  betreffenden  Bestimmungen  eine  klarere,  den  Er- 
gebnissen der  Psychiatrie  mehr  angepasste  Fassung  erfahren  mögen. 

Weit  wichtiger  scheint  mir  aber  ein  anderes,  ich  möchte 
sagen  principielles  Moment  zu  sein:  es  fällt  dem  Sachverständigen, 
angesichts  der  heutigen  Anschauungen  über  die  Competenzen  des 
Richters  und  des  Sachverständigen,  nicht  nur  die  Aufgabe  zu,  den 
Geisteszustand  des  Inculpaten  zu  begutachten,  sondern  auch  die  weit 
schwierigere  Aufgabe,  den  Richter  von  der  Richtigkeit  des  Gut- 
achtens zu  überzeugen.  Was  die  Aufgabe,  einen  I^ien  von  der 
geistigen  Krankheit  eines  Individuums  zu  überzeugen,  in  manchen 
Fällen  bedeutet,  wissen  alle  praktisch  thätigen  Psychiater  nur  zu  gut; 
68  uit  geradezu  stanoenerregend,  wie  vorgeschritten  die  psychische 
Kfinkheit  leiii  kamii  obne  dais  dieaefiien  den  AagehÖrigen  nnd 
der  sonstigen  Umgebung  anfgefoUen  wflie,  mit  weleher  Zftlugkeit 
die  liüen  dem  Ante  gegenüber,  weleher  die  psychopathisehen  Sym- 
ptome betont,  immer  wieder  auf  einaebi^  noch  gana  oder  wenigstens 
theilweiae  erhaltene  psyehisehe  Emotionen  hinweisen  nnd  daims  die 
Ansieht  ableiten,  es  k9nne  sieh  doeh  nnmaglioh  am  Geisteskrankheil^ 
sondern  hMstens  nm  NorvensehwSefae  oder  deigleiofaen  handeln. 
Nieht  Tiel  anders  als  das  LaienpnbÜeam  Überhaupt  verhält  sieh  aber 
aneh  offenbar  die  Mehrzahl  der  Biebtar  gegenüber  den  peyohiatrisehen 
SaohYersiSndigen;  sie  treten  dem  Gutachten  der  Letzteien  mit  der 
grÖBsten  Skepsis  gegenüber,  und  es  kostet  den  Sachverständigen  harte 
Mtthe,  zu  dem  Ende  zu  kommen,  dass  das  saehTerständige  Wort  ^zmn 
inneren  Eigenthume  des  Richters*^  werde  (Gross,  citirt  nach  Naecke: 
Btohter  und  Sachverständiger,  dieses  Archiv  Bd.  III).  Ausserordent- 
lich peinlich  ist  es  für  den  Sachverständigen  aber,  wenn  es  ihm 
Überhaupt  nieht  gelingt,  den  Richter  zu  überzeugen,  und  es  ist  an- 
znndbmen,  dass  mancher  Sachverständige  der  Gefahr,  sich  vom  Richter 
zu  wiederholten  Malen  desavouirt  zu  sehen,  nach  Möglichkeit  aus 
dem  Wege  zu  gehen  trachten  wird.  Die  Folge  davon  ist,  dass  sich 
nicht  selten,  psychiatrisclie  Sachverständige  in  ihrem  Outachten  der  Laien- 
psycbiatrie  bedenklich  nähern,  indem  sie  offenbar  nur  dann  die  Mei- 


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MeinimgsdiaaoiiaiiseD  dor  nehventSndigea  Psychiater.  139 


nnng,  dast»  es  sich  um  ein  psychopathischea  Individuum  bandle,  ver- 
treten, wenn  sie  sicher  sind,  aucli  den  Richter  von  dieser  Ahnung 
überzeugen  zu  können.  Eh  ist  dies  eine  geradezu  selbstverständliche 
Reaction  wenig  selbstständiger,  nachgiebiger  Naturen,  die  es  ja  auch 
unter  den  Sachverständigen  giebt,  auf  die  sonderbare  Eraehemung, 
dass  sich  der  Richter  als  Kritiker  der  psychiatrischen  Sachverst&a- 
digen  in  psychiatriaditti  DingeD  beibätigen  duL  Daas  du  iMdehee 
Beigeben  seitens  der  SAchvenUlndigen  ein  Hindernis  fOr  die  Findung 
der  Wahrheit  seilt,  ist  ohne  Weiteres  einsosehen;  denn  es  giebt 
psychopsthisohe  Znslinde,  von  doren  Bestehen  der  ungläubige 
flbierhaapt  nieht  fibeneogt  werden  kann,  dainnter  solehe,  dnreh  die 
die  Zoiechnnngsfittiigkeit  im  hOehsten  Maasae  bedntiiehtigt,  wenn 
nieht  yOUig  an^sehoben  wird  >).  Andererseits  ist  es  aber  aneh  klai> 
dass  es  ras  diesem  Gmnde  m  Memnngsdüferenzen  swiseben  ein- 
sefaien  SaehTerslindigen  kommen  mnas,  da  den  naehgiebigereD,  peak- 
tisehen  Btteksiohten  zngSnglioheren  Naturen  nnler  ihnen  solche  gegen- 
flbefstehen,  denen  die  Vertretong  der  wissensehaftlichen  Ergebnisse 
unter  allen  Umständen  oberstes  Gesetz  ist. 

Der  bei  Weitem  wichtigste  Grund  für  die  Meinungsdissonanzen  dar 
pqrchiatrischen  Sachverständigen  ist  aber  in  dem  Umstände  zu  suchen, 
dass  das  heute  gültige  Straf  recht  den  psych  opathisch  Minder- 
werthigen  nicht  gerecht  wird  und  dass  der  Staat  seine  Aufgabe, 
die  Gesellschaft  durch  entsprechende  Unterbringung  dieser  Personen  zu 
scbQtzen,  nicht  erfüllt.  Man  wird  nun  freilich  einwenden,  diesen  Um- 
stand habe  der  Sachverständige  gar  nicht  zu  bedenken,  und  beson- 
ders gewisse  conservative  Juristen,  die  dem  Zuge  der  neuen  Zeit  nicht 
mehr  folgen  können,  werden  wieder  darauf  hinweisen,  dass  der  Sach- 
verständige sich  damit  zu  begnügen  habe,  das  Krankhafte  an  dem 
untersuchten  Individuum  nachzuweisen,  unbekümmert  um  die  Con- 
sequenzen,  welche  das  Gutachten  nach  sich  zieht.  Solche  Forderungen 
sind  aber  nur  theoretisch  zu  stellen,  praktisch  kaum  zu  erfüllen. 
Zumindest  wird  man  es  dem  psychiatrischen  Sachverständigen  nicht 
venvehren  können,  sich  eine  Ansicht,  eine  Ueberzeugung  zu  bilden, 
wie  mit  der  Ilauptgruppe  der  psychopathisch  Minderwerthigen  unter 
den  heutigen,  wie  bereits  gesagt,  durchaus  unbefriedigenden  Bedin- 
gungen zu  verfahren  wäre,  welches  Uebel  gleichsam  als  das  lüeinere 
sn  wihlcn  wire;  wo  aber  einmal  eine  Uebeneugung,  also  ein  sab- 
jeeÜTes  Moment,  Eingang  gefunden  hat,  ist  aneh  Memnngsdissonanzen 

1)  Sehr  belicrzigeiiswerthe  AuH^fiilirunj^en  üIkt  tlirsen  (Jegenstand  sind  in 
don  Vortrage  von  Dr.  Siegfried  Türkei:  Irren wesen  und  Ötrafrechtspflege 
enthalten. 


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140 


IX.  BeszE 


Thür  und  Thor  geOffneti  welche  aueh  im  Tenor  der  Gntachten  der 
einzelneii  SachFerständigen  mm  Atudmcke  kommen  müssen. 

Was  die  Psychiater  nach  dem  heutigen  Stande  der  Wissenschaft 
im  Punkte  der  strafrechtlichen  Behandlung  und  der  Unterbringung 
der  gemeingefilhrlichen  pifyohopathisch  Mindervrerthigen  Terlangen 
müssen,  hat  bei  der  Enquete  der  Experte  Begiernngsrath  Director 
Tilkowsky  kun  und  bündig  auseinandergesetzt  Er  ftthrte  unter 
Anderem  aas,  daas  der  Gegensatz  zwischen  Richter  und  Sachverstän- 
digen am  besten  durch  ein  Vorkommniss  charakterisirt  werde,  welches 
sich  Yor  kurzer  Zeit  in  Wien  ereignet  habe :  in  einem  Prooesse  er- 
klärte ein  Sachverständiger^  er  kdnne  den  Untersuchten  weder  ffir 
zurechnungsfähig,  noch  für  unzurechnungsfähig  halten,  er  möchte 
demselben  vielmehr  etwa  eine  50  proc.  Zurechnungsfähi^^kuit  zu- 
schreiben, der  Richter  aber  erwiderte  ihm  einfach,  ein  solches  Gut- 
achten könne  ihm  nicht  gentigen,  weil  er  mit  einer  50  proc.  Zurech - 
nungsfähif^keit  nichts  anfang:en  könne.  Dies  sei  eben  der  Kern  der 
Frage:  der  Richter  muss  sich  mit  diesem  Begriffe  abfinden  können; 
denn  derselbe  ist  keine  theoretische  ( 'onstruction,  sondern  bat  sieb 
uns  aus  der  Praxis  ergeben,  ja  geradezu  aufgedrängt. 

DieGrui)pe  derMinderwerthigen  mit  beiläufig  50  proc.  Zurechnungs- 
fähigkeit kann  nicht  übersehen  werden ;  sie  verlangt  eine  eigene  Behand- 
lung, zumal  die  Differenz  zwischen  der  Behandlung  des  Zurechnungs- 
fähigen und  der  des  Unzurechnungsfähigen  eine  so  grosse  ist  und  es 
nicht  gleichgültig  sein  kann,  ob  der  Halbzurechnung-sfähige  ')  der  einen 
oder  der  anderen  anheimfällt.  Diese  Personen  gehören  weder  in  Straf- 
noch  in  Irrenanstalten,  sondern  in  besondere  Anstalten :  Bewahr-,  Schutz-, 
Besserungsanstalten,  wie  sie  Koch  schon  im  Jahre  1881  gefordert 
hat  In  diese  Anstalten  sollten  sie  nicht  zur  Strafe,  sondern  zur 
bessernden  Behandlung  gebracht  werden.  Die  Daner  der  Detention 
sollte  vom  Erfolge  abhängig  sein,  gegebenen  Falls  daher  die  Dauer  der 
Strafe^  welche  das  IndiTiduum  im  Falle  der  psychischen  YoUwertbig- 
keit  getroffen  hätte^  auch  bedeutend  ttberstdgen. 

Von  alledem,  was  der  genannte  Experte  in  Uebereinstimmung 
mit  der  überwiegenden  Ifehrzahl  der  praktischen  Psychiater  fordert 
haben  wir  heute  noch  gar  nichts  erreicht;  ja  wir  haben,  wenn  man 
den  Ausführungen  einzelner  Juristen,  die  ba  der  Enquete  zu  Worte 
gekommen  sind,  symptomatischen  Werth  beUegen  darf,  nicht  einmal 
noch  erreicht,  dass  die  Juristen  an  die  Berechtigung  unserer  Forde- 

1)  Dem  gewöhnlichen  Gebirauche  folgend  hitte  Seh  hier  Muh:  der  Yenniiideit- 
ZuificfanungefShige  Bageu  können;  doch  halte  ich  dieeen  Begriff  für  einen  weiteren, 
hier  nicht  ganz  paesenden. 


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MdnangMUMOiiaiiaea  der  aadiventBndigea  PfeyobUiter.  141 


rungen  glauben.  Einigermaassen  mag  daran  auch  die  Thatsacbe  schuld 
sein,  dass  der  Begriff  der  psychopathischen  Minderwerthigkeit  ebenso 
wie  der  Begriff  der  verminderten  Zurechnungsfühigkeit  in  quantita- 
liver  Hinsicht  nicht  genau  abgrenzbar,  nicht  mit  einer  mathematischen 
Grösse  vergleichbar  ist  und  von  den  vielen  thatsächlich  zur  Beob- 
achtung kommenden  Graden  der  psychopathiscben  Minderwerthigkeit, 
resp.  der  verminderten  Zurechnungsfähigkeit,  nicht  jeder  in  gleichem 
Maasse  nach  besonderer  Berücksichtigung  schreit,  vielmehr  eben 
geiade  nur  die  beiläufig  in  der  Mitte  zwischen  Zurechnnngsfäbigkeit 
und  UnznrechnongsfiUiigkeit  stehenden  PorBmn  68  sind,  die  unser 
latoreflse  gebieteriBoh  henuuifordern,  den  Jnnsten  aber  die  yendiie- 
densteo  Grade  Tor  Augen  gestellt  werden.  Es  liegt  ja  nahe,  dass  die- 
jenigen Eille  Ton  psychopalfaischer  Hinderwerdiigkät,  welche  nach 
Koch's  Ausdruck  sc^on  „zu  den  Geisteskrankheiten  hinftberfOhien" 
in  die  Irrenanstalt  leidlieh  passen,  dass  andererseits  diejenigen  FlUe, 
weiöhe  sich  schon  «in  die  Breite  des  Normalen  yerlienn**,  dem  Straf- 
gerichte ttbeiantwortet  werden  k9nnen,  ohne  dass  ihnen  besonderes 
Unrecht  widerfflhre;  aber  immer  restirt  dann  noch  eine  Gruppe^  für 
welche  ich  in  diesem  Znsammenbange  eben  am  liebsten  die  Becdchnnng : 
HalbzurecbnuDgsfilhige  festhalten  mOchte. 

Heute  bleibt  auch  fUr  diese  Gruppe  nichts  Anderes  Übrig  als  die 
Irrenanstalt  oder  die  Strafanstalt,  Der  peychiatrische  Sachverständige 
wird  in  die  Zwangslage  yersetst,  aus  dem  Mulatten  entweder  einen 
Weissen  oder  einen  Schwarzen  zu  machen.  Begreiflich  ist  es  nun, 
dass  dort,  wo  Gründe  uud  GegengrUnde  einander  die  Waage  halten, 
Imponderabilien  den  Ausschlag  geben  werden,  und  unter  diesen  als 
das  Wichtigste  die  oben  erwähnte  üeberzeugung  des  Sachverständigen, 
mag  dieselbe  nun  bewusst  oder  unbewusst  zur  Geltung  kommen. 

Mit  dem  Hinweise  darauf,  dass  so  Meinungsdissonanzen  ent- 
stellen müssen,  will  ich  mich  nicht  begnügen,  sondern  auf  die  Ueber- 
legungen,  die  dabei  maassgcl)end  sind,  näher  eingehen  und  auch  kurz 
ausführen,  in  welcher  Richtung  die  Outachten  der  psychiatrischen 
Sachverständigen  von  der  riclitigen  Linie  abweichen,  zumal  gerade 
dieser  Punkt  das  Interesse  der  Juristen  in  einem  höheren  Maasse, 
als  sie  ihm  augenscheinlich  nach  bisher  geschenkt  haben,  heraus- 
fordert. 

Eine  unter  Laien  sehr  verbreitete  Ansicht  ist  es ,  dass  der  Psy- 
chiater jeden  Verbrecher,  der  iiiiii  überantwortet  wird,  für  geistes- 
krank erklärt;  ein  grosser  Theil  der  Richter  theilt,  wie  man  weiss, 
^ese  Ansiebt  Versuchen  wir  einmal  der  Sache  auf  den  Grund  zu 
gehen!  Sind  die  P^chiater  wirklich  unberufene  Yertheidiger? 


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142 


IX.  Bebzb 


SclK'inl»ar  spriclit  manches  für  die  Richtigkeit  der  erwähnten  An- 
sicht. Zunächst  könnte  ja  vielleicht  der  Standes -Egoismus  im 
Spiele  sein;  der  Psychiater  erweitert  gewissermaasson  seine  eigene 
Einflussspbäre  auf  Kosten  der  des  Richteis,  so  oft  er  einen  Incnipaten 
für  geitteBknmk  eridiiti).  Auch  steht  mancher  Sachverständige,  der 
Aber  der  hnaimtk^  Beflchftf tigung  mit  krimmflUeii  Individiifin  seiiien 
nnprOne^iehen  Bemf  mcbt  TergesBen  bat,  dem  peychopaduich  Minder- 
wertbigen  nebenher  aneb  ab  Axst  gegenttber,  in  dem  seSnem  ganzen 
EntwicUnnga-  nnd  BildnngBgange  zu  Folge  die  Tendenz,  dem  Kianken 
zn  helfen,  rege  ist;  es  wire  daher  die  Annahme  nahe  Kegend,  dua 
er  den  p^ehopathiieh  Hinderwerdiigen  lieber  der  BcJiandlwng  als 
der  Strafe  znfflhien  wollte  und  dass  dieeee  Streben,  wenn  er  es  aneb 
in  der  Ahetehf^  objeetiT  zu  nrtheilen,  znrttekdriagen  würde,  dennodi 
nieht  ohne  Einfhua  auf  das  EcgebniaB  aoner  Be<diaohtni^;en  nnd  anf 
lein  Gnlaebten  bliebe.  Femer  wird  der  Psychiater  feinfühliger,  maneher 
vielleicht  sogar  zu  feinfühlig  für  psychische  Defecte,  bewerthet  sie  nn- 
gebührlich  hoch  und  nimmt  daher  eine  berftcksichtigungswürdige 
Schwächung  der  Einsieht  oder  Erschwerung  der  Wiilensthätigkeit 
sehon  in  Fällen  an,  in  denen  der  Laie,  möglicher  Wdse  einmal 
auch  mit  Recht,  noeh  nnverminderte  Zoiechnongafähigkeit  annehmen 
möchte. 

Gewiss  giebt  es  psychiatrische  Sachverständige,  bei  welchen  solche 
und  ähnUche  Momente  einen  gewissen  dominirenden  Einfluss  haben. 
Weit  gefehlt  wäre  es  aber,  wenn  man  annehmen  würde,  die  Gesammtheit 
der  psychiatrischen  Sachverständigen  sei  von  solchen  Ideen  erfüllt; 
dies  ist  eben  nicht  der  Fall,  und  gerade  daraus  erklärt  sich  die  grosse 
Mehrzahl  der  Meinungsdifferenzen  der  Sachverständigen. 

Für  eine  grosse  Gruppe  der  Sachverständigen  sind  nämlich  rein 
praktische  Rücksichten  von  ausschlaggebendem  Einfluss.  Zunächst 
macht  ja  der  Sachverständige,  der  auf  üeber Weisung  des  psycho- 
pathisch Minderwerthigen  in  die  Irrenanstalt  hinarbeitet,  so  zu  sa^^en 
die  Rechnung  ohne  den  Wirth;  der  Sachverständige  kann  es  wohl 
erreichen,  dass  der  psychopathisch  Minderwerthige  in  die  Irrenanstalt 
gebracht  wird,  er  hat  aber  nicht  den  geringsten  Einfluss  darauf,  dass 
derselbe  in  der  Irrenanstalt  zurückgehalten  wird.  Die  Anstaltsärzte 
wehren  sieh  vielmehr,  wie  man  allmfthlich  anzneikennen  beginnt, 
mit  Recht  gegen  die  Znmnthnng,  die  Irrenanstalt  als  Detentionsanstalt 

1)  Tbateachlich  wird  in  den  Motiven  mm  Kntwnrfo  eines  Strafgesetzl)uche8 
ffir  den  Norddeutschen  Bund  den  Irrenärzten  dicHer  V(»r\vurf  gemacht,  und  hat, 
ivio  bekannt,  die  Berliner  medicinisch^psychologische  Gesellschaft  denselben  ent> 
Mfaiede&Bt  zurfiehgewieMii  CSoche's  Bandbach  der  gericfatUcfaen  P^Uatiie). 


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MemungadiasoiMiisAn  der  eaebventibidigen  Flydiiater.  148 

für  gemcin^efiilirliche  Minderwerth  ige  verwenden  zu  lassen.  Es  ist 
für  sie  in  dieser  Hinsicht  namentlich  der  Umstand,  dass  dem  Statute 
der  Anstalten  zu  Folge  die  Zurückhaltung  nicht  eigentlich  geistes- 
kranker, sondern  nur  psychopathisch  minderwerthiger  Personen  gar 
nicht  erlaubt  ist,  und  die  Rücksicht  auf  die  bercchtigtcrmaassen  in 
den  Anstalten  untergebrachten  Geisteskranken  raaassgebend,  indem 
ja  das  Eindringen  von  Elementen,  welche  so  wie  die  Mehrzahl  der 
gemeingefährlichen  Minderwertbigen  quaiificirt  sind,  den  Aufschwung 
der  freien  Behandlnng,  das  Ziel  aller  modernen  Anstalts-Psychiateri 
in  jeder  Bestehnng  anzuhalten  geeignet  ist;  die  Anstaltsdirectionen 
walten  daher  nnr  so  lange  an,  bis  aie  die  Diagnose  ^diert  haben, 
nnd  verfügen  in  dem  Falle,  als  sieh  thatsiohlieh  ergeben  hat,  daas 
nnr  psycbopathisehe  Minderwerthigkeit,  nieht  aber  Pajehose  rorliegt, 
die  EntlasBung  des  snr  Detention  Ueberwiesenen  ans  der  Anstalt 
Darob  oft  grosse  Entrüstung  in  der  OeffentUchknt!  Man  ttberrieht 
eben,  dass  das  Votnm  der  Anstaltsliste  dem  der  Geriehtsfinte  dnroh- 
ans  gleichwevtiiig  ist  nnd  da»  es  nieht  nnr  Beoht,  sondern  aneh 
Pflioht  der  Anstaltsliste  ist,  Personen,  die  nieht  als  ansgesproehen 
geisteskrank  beseiehnet  werden  können,  sofort  sn  endaasen,  dne 
Fflieht,  von  der  abzngehen  ein  Insserst  geföhrliches  Untemehmen 
wire.  Man  sieht  also,  dass  es  der  pqrehiatriBche  Sachverständige 
heute  gar  nicht  in  der  Hand  hat,  pByohopathiseh  Minderwertbige  der 
Behandlung  in  der  Irrenanstalt,  welche  aneh  er  gewiss  nnr  finita  de 
mienx  als  Bewahranstalt  aneersehen  bat,  für  eine  Dauer  zuzuführen, 
in  weleher  sich  ein  bessernder  Einfluss  geltend  machen  könnte;  praktisoh 
ist  somit  dieser  Standpunkt  nicht,  weshalb  er  auch  von  einer  anderen 
Gruppe  von  psychiatrischen  Sachverständigen  nicht  mehr  eingenommen 
wird.  Es  kann  uns  gar  nicht  Wunder  nehmen,  dass  einzelne  Psy- 
chiater vielmehr  angesichts  der  Thatsache,  dass  mit  der  Ueberweisung 
an  die  Irrenanstalten  eine  längere  Detention  der  Minderwertbigen 
nicht  erreicht  werden  kann,  dass  diese  Ueberweisung  vielmehr  einer 
Freilassung  auf  dem  Wege  über  die  Irrenanstalt  gleichkommt,  und 
in  Erwägung  des  weiteren  Umstandes,  dass  eine  längere  Detention 
dieser  oft  im  höchsten  Grade  gemeingefährlichen  Individuen  im  In- 
teresse der  Gesellschaft  dringendst  geboten  ist,  zu  einer  Tendenz  ge- 
langen, die  derjenigen,  welche  die  Laien  bei  der  Gesaramtheit  der 
Psychiater  voraussetzen,  gerade  entgegengesetzt  ist;  da  es  mit  der 
Uebenveisung  an  die  Irrenanstalt  nicht  gehen  will,  versuchen  sie  es 
mit  der  Strafanstalt,  d.  h.  sie  fassen  aucli  Fälle  ziemlich  hochgradiger 
psycbopathisclier  Minderwerth igkeit  nicht  allzu  subtil  an,  um  dem 
Bichter  den  einzigen  Weg,  auf  dem  eine  längere  Detention  mit 


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144 


IX.  Berze 


Sioherheift  erroiobt  weiden  kann,  nieht  eu  Temtnimeln.  DasB  m  dnem 
derartigen  Verfahren  namendioh  einzelne  atlndige  psyohiatiiaohe  Saoh- 
TerstSndige  genügt  und,  lehrt  die  Erfahrnng.  Ob  diese  Sachver- 
ständigen dnrch  die  genauere  Saehkenntnias  nnd  die  eingehendere 
Erwignng  d«r  Folgen,  welehe  ihre  Gntaehten  nach  sieh  aehen,  alkin 
an  dieaem  Verdahren  bewogen  werden,  oder  ob  nicht  anch  der  üm- 
atand,  dass  manche  von  den  ständigen  psychiatrischen  Sachverstän- 
digen in  diesem  Bemle  nahezu  ganz  ansehen  und  so  allmählich  dem 
Inenlpat^  in  einer  ganz  anderen  Weise  gegenüberstehen  als  der  Arzt 
dm  Kranken,  dabei  eine  Bolle  spielt,  soll  hier  niobt  entschieden 
werden ;  doch  soll  hier  heryorgehoben  werden,  dass  ea  unter  den  pej^ 
chiatriscben  Sachverständigen  ebenso  wie  unberufene  Vertheidiger, 
auch  unberufene  Staatsanwälte  giebt,  psychiatrische  Sachverständige, 
die  sich  so  geriren,  wie  wenn  es  ihr  wichtigstes  Amt  wäre,  die  Ge- 
sellschaft vor  gemeinfjefährlichen  Individuen  zu  schützen,  die  in  jedem 
Falle  zunächst  Simulation  voraussetzen  und  von  dieser  Annahme  nur 
dann  abzubringen  sind,  wenn  sich  auch  der  letzte  Schein,  der  für 
Simulation  spricht,  als  absolut  unbegründet  erwiesen  hat,  die  dagegen 
über  Anzeichen  selbst  tiefster  Minderwerthigkeit  spielend  hinweg- 
zugehen verstehen.  Wenn  auch  diese  Sachverstiindigen  f::eradc  so 
wie  die  anderen  im  Bewusstsein  handeln,  von  zwei  Uebeln  das  kleinere 
gewählt  zu  haben,  so  fordert  ihr  V'orgehen  doch  die  schärfste  Kritik 
heraus,  weil  sie  durch  ihr  Gutachten  das  Unrecht  mit  verschulden, 
das  manchem  fast  unzurechnungsfähigen  Inculpaten  durch  die  Ver- 
urtheilung  zugefügt  wird,  und  damit  eine  Schuld  auf  sich  laden,  die 
ihnen  um  so  höher  angerechnet  werden  nmss,  als  sie  sich  mit  ihrer 
Taktik  auf  ein  Gebiet  begeben,  auf  dem  ganz  andere  Factoren  ihre 
Wirksamkeit  in  entfalten  haben.  Dies  sdieint  mir  die  wichtigste 
Gonsequena  der  Thatsaehe  su  sein,  dass  den  Ergebnissen  der  Psy- 
ehiatrie  in  strafreohüioher  Beaiehung  noeh  nieht  Redinung  getragen 
worden  ist,  diejenige  Oonseqnenz,  welcher  die  Juristen  ihre  Auftnerk- 
samkeit  im  hOehsten  Haasse  zuwenden  sollten;  gerade  so  wie  die 
Anstaltsspychiater  es  als  eine  ihrer  obersten  Pfliohten  ansehen  müssen, 
das  Eindringen  der  gemeingelkhrliehen  Minderwerthigen  in  die  Irren- 
anstalten zu  yerfattten,  seheint  es  mur  eine  dßt  oberalen  Pfliohten  der 
Juristen  au  sein,  die  Einlief emng  dieser  in  ihrer  ZnreohnnngsfiUug- 
keit  sehwer  beeinträchtigten  Personen  in  die  Strafanstalt  zu  yerhftten. 
Oonoentrisch  muss  von  Psychiatern  und  Juristen  der  Kampf  gefOhrt 
werden,  der  schliesslich  zu  dem  ersehnten  Ziele :  gerechte  Behandlung 
des  psychopathisch  Minderwerthigen  im  Vereine  mit  zureichendem 
Schutze  der  Gesellschaft,  fahren  muss.   Und  nichts  kann  uns  im  Inter- 


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Meiinmg»<HB>on«i«iii  der  sachTenlindigiNi  Ftoychiatier.  146 

esse  dieses  Kampfes  so  bedauerlich  erscheinen  wie  die  Erscheinung, 
(lass  es  Sachverständige  giebt,  welche  ihren  Einfluss  am  besten  in 
der  Weise  zu  verwenden  glauben,  dass  sie  F«älle  höhergradiger  psy- 
chopathischer Minderwerthigkeit  förmlich  für  den  Gebrauch  des  Straf- 
richters appretiren,  während  es  doch  vielmehr  ihr  Streben  sein  sollte, 
in  jeder  Weise  d;xzu  beizutragen,  dass  diis  Verständniss  für  die  Un- 
zulänglichkeit unseres  Strafreclites  in  Sachen  der  Minderwerthigen 
in  weitere  Kreise  dringe,  was  sie  dadurch  am  besten  erreichen  würden, 
wenn  sie  jeden  einzelnen  Fall  in  seiner  klaren,  eindringlichen  Sprache 
für  den  Zweck  einer  günstigen  LQeong  der  hoehwichtigen  Frage 
agitirai  lienen. 

Mit  diesen  ErÖrternngen  bin  ich  wohl  einigennaaeeen  Yom  Hanpt- 
thema,  das  ich  mir  hier  geeldlt  habe,  abgekommen,  wollte  ich  dooh 
znniehst  nnr  erwiesen  haben,  dass  sich  ans  Blloksiehten  taktischer 
Natnr  Heinungsdifferenxen  der  snobyerstHndigen  P^chiater  ergeben 
mflssen. 

Wie  ist  dieser  Dissonanz  der  Meinungen  absnhelfen?  wüd  weiter 
g^agt  Bevor  ich  auf  diese  Frage  eingehe^  möchte  ich  noch  daianf 
aufmerksam  machen,  dass  es  nidit  einmal  gut  wSie,  wenn  die  so 
▼ieUach  betonten  Meinnngsdissonanzen  nicht  sam  Ansdmok  kftmen. 
Es  mnss  schon  unter  den  heutigen  Verhältnissen  auffallen,  dass  bei 
all'  den  subjectiven  Momenten,  die  bei  der  Begntnditung  des  Geistes- 
zustandes  in  Betracht  kommen,  so  relativ  selten  ein  ZwieqMdt  zu  Tage 
tritt,  wo  doch  die  strafrechtlichen  Fälle  in  der  liegel  von  zwei  Psy- 
chiatern unteiBUcht  werden*  Mit  der  Zweizahl  der  Sachverständigen 
hat  es  eben  seine  eigene  Bewandtniss;  sie  ist  von  der  Untersuchung 
durch  einen  Sachverständigen  nicht  wesentlich  verschieden.  Die 
beiden  Sachverständigen  geben  zumindest  ihr  Gutachten  nicht  un- 
abhängig von  einander  ab.  Sei  es,  dass  sie  den  Fall  jeder  für  sich 
oder  gemeinsam  untersucht  haben,  jedenfalls  nehmen  sie,  namentlich 
wenn  der  Fall  Schwicri^rkeiten  macht,  in  der  Folge  wiederholt  Ge- 
legenheit, sich  über  denselben  zu  besprechen;  zuletzt  giebt  einer  von 
ihnen  ein  ausführliches  Gutachten  ab,  während  sich  der  zweite  mit 
einem  mehr  oder  weniger  belangvollen  Bemerken  demselben  anschliesst. 
Dass  bei  einem  solchen  Verfahren  Beeinflussung  des  einen  Sachver- 
ständigen durch  den  anderen  nicht  ausgeschlossen  ist,  dass  vielmehr 
häufig  im  Gutachten  die  Meinung  des  energischeren,  einflussreicheren, 
kurz  prävalcnten  Sachverständigen  zum  Ausdrucke  kommen  wird,  ist 
leicht  einzusehen.  Häufig  wird  das  Gutachten  gleichsam  ein  Com- 
promissgutachten  sein;  eine  derartige  Entstehung  bringt  eine  gegen- 
seitige  Correctur  allzu  radicaler  Ansichten  mit  sich,  wird  daher  auch 


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146 


IX.  BSBSEB 


im  Ganzen  noch  die  verläaslichsten  Gutachten  liefern.  Relativ  selten 
treten  wirklich  unüberbrückbare  Meinungsdissonanzen  bei  derartigen 
Begutachtungen  durch  ein  .Sachverständigenpaar  zu  Tage:  sie  zeigen 
sich  meist  erst  dann,  wenn  andere  Sachverständige,  unabhängig  von 
denjenigen  Sachverständigen,  welche  das  erste  Gutachten  abgegeben 
haben,  den  Fall  zu  beurtheilen  und  ein  neues  Gutachten  zu  liefern 
haben. 

Wichtiger  und  bedenklidier  noeh  als  das  If  omenfc  der  Abhängig- 
kdt  eines  Saehvefsttiidigen  yom  anderen  und  der  sieh  daians  ttots 
der  Zweisabi  der  SaebTeratSadigen  ergebenden  relatiyen  UnTeilaasliob- 
keit  mancher  Gutachten  ersobeint  mir  aber  noch  der  Umstand,  dass 
die  MQglichkeit  nicht  ansgescblossen  ist,  dass  swet  SaehTeiBtSndige, 
welche  sich  die  gleiche  Anschannng  Uber  das  gegenüber  den  pqrcho- 
pathiscb  Minderweithigen  heute  einsoscblagende  Vef&hren  gebildet 
haben,  zur  Begotachtnng  eines  oder  mehrerer  einschUgiger  FSlle 
berangesogen  werden;  denn  in  solchen  EUlen  kSnnen  Gutachten 
entstehen,  welche  einen  extremen  Standpunkt  yertieten  und  dennodi 
eine  solche  Sicherheit  der  Diction  aufw^n,  dass  der  pqrchiatrisch 
weniger  oder  gar  nicht  geschulte  Richter  gar  keinen  Anlass  zu  irgend- 
welchen Bedenken  findet.  Gerade  solche  au^lige  Consonanzen  sind 
bedenklieb,  bedenklicher  als  manche  Dissonanz!  Namentlich  dann, 
wenn  ein  bestimmtes  Sachverständigen-Paar  auch  in  Fällen,  in  denen 
die  Begutachtung  offenkundigen  Schwierigkeiten  begegnet,  stets  über- 
einstimmt und  der  Tenor  der  Gutachten,  welchen  dieses  Paar  liefert, 
noch  dazu  immer  der  gleiche  ist,  liegt  die  Annahme  nahe,  dass  sich 
zwei  Sachverständige  mit  der  gleichen  subjectiven  Anschauung,  welche 
auf  ihre  Erwägungen  einen  so  richtunggebenden  Einfluss  ausübt,  dass 
kleinere  oder  grössere  wissenschaftliche  Differenzen  gar  nicht  ernstlich 
dissonanzerregend  wirken  können,  jxefiinden  haben.  Man  sollte  es 
niclit  effecthascherischen  Pnblicisten  überlassen,  auf  die  Uel)elstände 
hinzuweisen,  die  sich  daraus  ergeben,  dass  sich  die  extreme  subjective 
Auffassung  i)sychiatischer  Sachverständiger  gelegentlich  ohne  Wider- 
spruch geltend  maclien  kann,  wie  dies  da  und  dort  in  einer  nicht 
nur  objectiv  urtheilenden  Ps^^chiatern ,  sondern  auch  dem  Laien- 
Publicuni  auffälligen  Weise  geschehen  ist.  Bedauerlich  sind  sclion 
die  Consequenzen ,  welche  sich  ergeben,  wenn  die  beiden  Sachver- 
ständigen den  extremen  Standpunkt  einnehmen,  jede  nennenswerthe 
Hinderwolbigkeit  schon  als  excnJpirend  hinzustellen;  doch  bietet  in 
solchen  Fällen  erfahrungsgemSss  häufig  die  Aufbssnng  der  Bichter 
du  mehr  als  zurdchendes  Gegengewicht,  und  ttbt  andereiseitB  die 
oben  erw&hnte  Tendenz  der  Anstaltdlizte  eben  oorrigirenden  fänflnss 


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Kfiinnngsdiisoiuuizeii  der  sacfaveistindigen  Psychiater.  147 


aus.  Weitaus  bedenklicher  sieht  aber  die  Sache  aus,  wenn  die  beiden 
Sacli verständigen  der  sicheren  Ueberzeu^ung  sind,  dass  unter  den 
heutip^n  Uniständen  für  die  Sicherheit  der  Gesellschaft  dadurch  fre- 
sorj^t  werden  müsse,  dass  der  minderwerthi^je  Verbrecher  vernrtiieilt 
werde,  zumal  sie  mit  dieser  Auffassung  gewölinlicU  keinem  Wider- 
spruche seitens  der  Richter  be^e^nen. 

Ebenso  wie  die  auffällige  Uebereinstimmung  mancher  Sachver- 
ständigen in  Fällen,  welche  bei  anderen  Psychiatern  mit  Sicherheit 
Controversen  hervorrufen  würden,  verdient  die  nicht  minder  auffällige 
Sicherheit,  mit  welcher  oft  seitens  der  Sachverständigen  Gutachten 
abgegeben  werden  in  Fällen,  die  sonst  zu  den  zweifelhaftesten  gezählt 
werden,  eine  gewisse  Beleachtung.  Dem  Richter  ist  selbstverständlich 
dn  sioheresy  jeden  Zweifel  aaBschfieaseiides  GntuliteD  erwflniebt;  ein 
Fehler  aber  wire  es,  wenn  der  Blehler  iminar  ein  derartages  Chit* 
aditeo  yerlangen  wMe,  wie  es  andeierBeitB  ein  grober  Fehler  der 
SaehTecstliidigea  wSre^  woin  me  gleichaam  unter  dem  soggeitiTen 
Dm^e  eines  solehen  VeEkngens,  sei  es  dass  dasselbe  thattfehlioh 
Toiliegt  oder  nur  ▼oransgesetzt  wird,  bereehtigte  Zweifel  nnteidrficken 
würden.  Gerade  die  Anateltslnte,  welohe  doeh  Gelegenheit  haben, 
manchen  kriminellen  Psychopathen  viele  Jahre  lang  za  beobachten 
and  oft  doeh  nicht  in  einem  sicher  abschliessenden  Urtheile  gekommen 
smdi  sehen  es  ab  und  zu  mit  Stannen,  wie  klar  diese  HUe  den 
pqrcÄiiatrischen  SachreiBtindigen  liegen;  man  mnss  doch  glauben, 
dass  dabei  der  erwfthnte  suggestive  Druck  und  daneben  yielleicht 
wieder  der  Kichtung  gebende  Einfluss  gewisser  (»aktischen  Anschau- 
ungen mit  im  Spiele  ist. 

Gewisse  Meinungs-Dissonanzen  und,  wie  ich  hinsufügen  möchte, 
gewisse  Unsicherheiten,  die  sich  als  Eolge  der  in  manchem  Falle 
dringend  gebotenen  reservirten  Haltung  der  Sachverständigen  ab  und 
zu  ergeben  müssen,  sind  somit  der  gesunde  Ausdruck  der  thatsäch liehen 
Verhältnisse  und  helciicliten  die  vorhandenen  Schwierigkeiten,  während 
im  entgegengesetzten  Falle  Sicherheit  vorgetäuscht  wird.  Man  sollte 
aber  glauben,  dass  das  ,.inundus  vult  decijii"'  in  einer  so  ernsten 
Frage  nicht  Geltung  haben  sollte.  Es  kann  sich  daher  garnicht  um 
die  Frage  handeln,  wie  die  Dissonanzen  vt  rnneden  werdt.n  könnten, 
sondern  nur  darum,  was  angesichts  der  Verhältnisse,  die  zu  solchen 
Dissonanzen  Veranlassung  geben,  zu  thun  wäre. 

Kadical  könnte,  wie  bereits  ausgeführt,  den  betonten  Missständen 
nur  dadurch  allgeholfen  werden,  dass  man  der  jisychologischen  Eigen- 
heit der  psychojiathisch  Minderwerthigen  in  strafrechtlicher  Beziehung 
Kecbnung  trägt,  also  nach  Professor  v.  Wagners  Ausdruck  „durch 


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148 


IX.  ButzB 


Schaffung  eines  intermediären  Gebietes**,  nach  Prof.  Asehaffenb  u  rg's 
weiterer  Fassung  „durcli  Anpassung  der  socialen  Repression  an  die 
Individualität  des  Rechtsbrechers.'* 

Es  fragt  sich  nur,  ob  wir  Zeit  haben  zu  warten,  bis  diese  Forde- 
rung erfüllt  werden  wird,  und  ob  uns  nicht  die  Möglichkeit  geboten 
ist,  den  ärgsten  Unzukömmlichkeiten  schon  jetzt  vorzubeugen. 

An  erster  Stelle  verdient  da  betont  zu  werden,  dass  es  am  jeden 
Pnifl  ▼erfatttet  werden  mius,  dasB  in  Folge  unzatreffendor  Bemtheihing 
des  GeiBteflznatandeSy  sei  dieselbe  nnn  in  wissenschalttieheii  Schwierif^ 
keiten  oder  in  ungerechtfertigter  Berttcksiohtigung  praktischer  üm* 
stinde  bcgrilndet,  nnznreohnangsOhige  Penonoi  der  StnQnstiz  tct- 
Callen,  obwohl  hiermit  snscheineDd  eine  Triviafititt  ansgesproehen  wird; 
denn  alle  Umstünde  wirken  hente^  wie  oben  anag«fiihrt,in  der  Bichtang 
msammen,  dass  die  SachyerstBndigen  gemdezn  dam  gedrSngt  werden, 
Uber  selbst  schwerwiegende  Bedenken  hinwegzngehen,  wenn  es  sich 
nm  die  Benrtheihmg  des  Geisteszustandes  peiychopathisch  minder- 
werthiger  Verbrecher  handelt,  so  dass  diese,  wenn  auch  ihre  Minder- 
werthigkeit  noch  so  hochgradig  ist  und  noch  so  deutlich  ins  Gebiet 
des  thatsächlieh  Pqrchotischen  spielt,  Gebhr  laufen,  ungerecht  ver- 
urtheilt  zu  werden. 

Selbstrerständlich  ist  es  oberstes  Postulat,  dass  su  Sachverständigen 
nicht  nur  wissenschaftlich  tüchtige,  sondern  auch  von  allen  subjectiven 
praktischen  Anschauungen  möglichst  freie  Psychiater  gewählt  werden 
sollten.  Selbstverständlich  ist  es  auch,  dass  die  Sachverständigen 
nnabhängig  von  einander  ihr  Gutachten  abgeben  sollten.  Wichtig 
scheint  es  mir  auch  zu  sein,  dass  die  Sachverständigen  in  jeder  Hin- 
sicht unabhängig  von  den  ricliterlichen  Funclionären  seien,  und 
empfeiilenswerth  muss  es  mir  daher  erscheinen,  dass  bei  der  Bestellung 
der  Sachverständigen  jeder  Einllass  des  einzelnen  Richters  in  Wegfall 
gebracht  werde. 

Ausserdem  sollte  aber  eine  Einrichtung  bestehen,  welche  es  in 
dem  Falle,  als  dennucli  die  siihjective  Anschauung  eines  oder  des 
anderen  Sachverständigen  allziicrass  zum  Durchbruche  gelangen  sollte, 
ermöglichen  würde,  dass  auch  die  Einwände  gegen  diese  Anschauung 
zu  Worte  kommen.  Als  eine  solche  Einrichtung  ist  die  contradic- 
torische  Expertise  zu  bezeichnen 0>  Mau  muss  sieh  angesichts 
der  oben  ausgeführten  Verhältnisse  ganz  entschieden  anf  die  Seite 

1)  An  dieser  Stelle  sei  darauf  hingewiesen,  dass  ich  besonders  öeterreichiache 
Verhältnisse  be-^itrei  lir.  Auch  ist  mir  nicht  bekannt,  ub  und  inwieweit  das  Recht 
des  An^a'klagten,  eigene  Experten  vui-zubriugen,  etwa  in  Deutächland  thatsächlicb 
gehaudhabt  wird. 


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HebioiigBdiBSOiiaiuen  der  aaehreratSiidigeii  Psychiater.  149 

(lerjeni^-en  Psychiater  stellen,  welche  es  als  ein  Gebot  der  Gerechtig- 
keit erklaren,  dass  den  Inciilpaten,  bezw.  der  Vertheidigiing  Recht, 
in  zweifelhaften  Fällen  Ge^;:cnsachver8tündige  zu  stellen,  eingeräumt 
werde.  Freilich  fehlt  es  nicht  an  Gegnern  dieser  Ansicht,  und  hat 
auch  der  Experte  Professor  II  ab  er  da  bei  der  En(iuete  die  gegnerische 
Ansicht  in  schärLster  Weise  vertreten;  doch  haben  die  Ausführungen 
dieses  Experten  kaum  mehr  überzeugen  können  als  die  bisher  bereits 
von  anderer  Seite  ins  Treffen  geführten  Gründe.  Man  mag  ja 
vielleicht  zugeben,  dass  auf  einigen  anderen,  bereits  mit  exacten 
Methoden  ausgestatteten  Gebieten  der  gerichtlichen  Medicin  unter 
gewissen  Bedingungen,  unter  weloben  die  wichtigste  die  ist,  dass 
tiiatBKohliidi  ein  gediegener  Faohmaan  als  SaehTenOndiger  bemfen 
worden  ist,  die  Stellung  von  GegenflaohyeiBtSndigen  snmiadeet  als 
fiberflfissig  erscheint;  doch  wird  aneh  für  solohe  FUle  em  triftiger 
Gegengmnd  gegen  die  Berechtigong  dieser  Forderang  an  sich  kaum 
snzafflhren  sein.  Wo  aber  snbjeotiTe  Momente  in  dem  Ansmaasse 
in  Betraeht  kommen,  wie  dies  beute  noch  bei  psychiatrischen  Begut- 
achtungen der  Fall  ist,  mflssen  Voricehmngen  getroffen  werden,  durch 
welche  folgenschweren  Auswttchsen  der  SubjectiYitit  voigebeugt  wird. 

Als  Hauptgrund  gegen  das  System  der  Gegensachverständigen 
hat  Prot  Haberda  den  Umstand  angeführt,  dass  es  durch  dasselbe 
ermöglicht  würde,  dass  dem  berufenen  Gerichtsarzt  ein  fachmännisch 
minder  gebildeter  A  r zt  gegenübeigestellt  werde ,  welcher  keine 
andere  Mission  hätte,  als  all  das  zu  leugnen,  was  der  Sachverständige 
behaupten  würde.  Diesem  Abusns  ist  aber  ausserordentlich  leicht  zu 
steuern;  das  Mittel  dasu  geben  di^enigen  Psychiater,  welche  für  das 
System  der  Gegensachverständigen  eintreten,  auch  selbst  an:  man 
bestimme,  dass  bei  den  Gerichtshöfen  officielle  Listen  —  diese  Listen 
wären  von  der  competenten  Gerichtsbehörde  im  Einvernehmen  mit 
der  competenten  Sanitätsbehörde  zu  verfassen  —  von  Psychiatern 
geführt  werden,  welche  gegebenen  Falls  als  Gegensachverständige 
gewählt  werden  dürfen,  wit'  t^icli  ja  auch  für  die  Wahl  der  primären 
Sachverständigen  selbst  schon  die  Fühning  von  offieiellen  Listen 
empfehlen  würde,  soferne  nicht  ständige  Sachverständige,  wie  etwa  in 
Wien,  bestellt  sind.  Eslist  nicht  anzunehmen,  dass  nuin  dann,  wenn  man 
mit  der  Aufnahme  in  diese  Listen  vorsichtig  genug  zu  Werke  gehen 
würde,  noch  üble  Erfahrungen  in  dem  von  Professor  Hab  er  da  an- 
gedeuteten Sinne  machen  würde;  zumindest  würde  kein  in  öffentlicher 
Stellung  stehender  Psychiater  es  unternehmen,  seinen  eigenen  wissen- 
schaftlichen Ruf  durch  leichtfertige  Opposition  gegen  die  Ausführungen 
der  zunlehst  berufenen  Sachverständigen  aufs  Spiel  zu  setzen. 

AnUif  nr  KfialMdMtbivpolQRi«.  XII.  11 


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160 


UL  BSBXB 


Es  ist  aiicli  j^esa^rt  worden,  dass  das  Institut  der  Gej^ensacli ver- 
ständigen deshalb  unnöthi^^  sei,  weil  ein  ^^ewiegter  Sachverständiger  die 
Einwürfe,  die  der  Oegensach verständige  machen  könnte,  voraus- 
selie  und  in  seinem  Gutachten  berückBichtige;  so  sehe  man  ja  beute 
die  Einvrürfe  der  Vertheidiger  voraus,  mit  denen  man  denn  auch  in 
der  Begel  in  der  mühelosesten  Weise  hnlAg  wearde.  Dass  Letztens 
der  fUl  i8t|  beweist  eben  gerade,  dass  GegensaehTenttndige  da  sein 
sollten,  weil  der  Vertheidiger  diejenige  Fachkenatmss  gamieht  haben 
kann,  welche  dazu  nSthig  ist,  die  richtigen  Einwürfe  an  machen  nnd 
dieselben  in  der  geb&hrenden  Weise  an  vertreten;  denn  die  Behaup- 
tung kann  man  doch  nicht  au&tellen,  dass  es  soldie  FUle  ganiiciit 
geb^  in  denen  bereditigte  Einwinde  gemacht  werden  konnten  nnd 
etwa  dne  genauere  Beweisführung  oder  irgendwelche  Klarstellung 
gefordert  werden  sollte. 

Auch  den  Einwand  kann  man  kaum  gdten  lassen,  dass  ent- 
sprechend qualificirte  Aeizte  in  aureichender  Anzahl  nicht  zu 
finden  seien.  Es  ist  anzunehmen,  dass  sich  Aerzte  genug  finden 
werden,  welche  auf  eine  mehrjährige  psychiatrische  Thädgkeit  hin- 
weisen können  und  auch  alle  übrigen  Qualitäten,  welche  zu  fordern  wären, 
aufweisen.  Nimmt  doch  beispielsweise  heute  das  Wiener  I^andesgericht^ 
um  die Noth wendigkeit, mehr  psychiatrischeSachverständigeansostellen, 
zu  umgehen,  aus  den  Reihen  der  Aerzte,  welche  dben  auch  als 
Gegensachverständige  zunächst  in  Betracht  kämen,  einen  Uilfo- Sach- 
verständigen nach  dem  anderen! 

Gross  sind  die  Gefahren  allerdings,  die  dem  Gegensachverstän- 
ständigen  drohen.  Er  wird  sich  vor  Allem  hüten  müssen,  gewisser- 
massen  als  Entlastiin^^szeuge  f;efülirt  zu  werden,  wird  darauf  bedacht 
sein  müssen,  in  einer  dem  primären  Sachverständigen  ebenbürtigen 
Weise  zur  Geltung  zu  kommen.  Er  wird  streng  auf  dem  Boden  der 
Wissenschaft  bleil)en,  sich  aller  ten(lenzi<)sen  Uebertreibungen,  aller 
ISoi)liismen  enthalten  müssen,  die  Auslösung  weitläufiger,  ermüdender 
und  trotzdem  für  den  vorliegenden  Zweck  werthloser  wissenschaft- 
licher Debatten  nach  Mii^lichkeit  zu  vermeiden  haben.  Wenn  es  auch 
sein  Hauptzweck  ist,  das  l'sychopathisehe  am  Inculpaten,  namentlich 
in  denjenigen  PÜllen,  in  denen  es  seitens  der  j)riniären  Sachverstän- 
digen nicht  genügend  gewürdigt  worden  sein  sollte,  schärfer  zu  be- 
leuchten, wird  doch  auch  er  das  psychische  Gesammtbild  des  Unter- 
suchten stets  vor  Augen  haben  müssen. 

Die  contradictorische  Expertise  soll  und  würde  auch  nicht  dazu 
führen,  dass  aufßUlig  mehr  Untersuchte  für  geisteskrank  erkttrt  werden 
als  bisher;  sie  soll  nur  dazu  führen,  dass  die  Momente  der  Minder- 


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MeiaaiigadinoiittHeD  der  aadiTenUndigai  P^ychUtw.  151 


wertliigkeit,  welche  der  einzelne  Untersuchte  aufweist,  allen  denen, 
die  über  ihn  zu  urtheilen  haben,  immer  mit  der  uütliigen  Klarheit  und 
Eindringlichkeit  vor  Augen  geführt  werden.  Freilich  würden  auch 
schwere  Irrthümer,  die  unter  den  heutigen  Umständen  möglich  und, 
wie  ich  glaube,  auch  schon  vorgekommen  sind,  nach  Einführung  der 
contradictorischen  Expertise,  weniger  leicht  eintreten  können.  Der 
Hauptgewinn  aber  wäre,  dass  sich  die  Ueberzeugung  von  der  Noth- 
wendigkeit  einer  Reform  in  der  von  den  Psychiatern  geforderten 
Bichtang  schneller  in  allen  maassgebenden  Kreisen  durchringen  würde, 
wenn  die  Gegensachverständigen,  was  ja  von  ihnen  sieher  sa  erwarten 
bei  jeder  Gelegenheit  anf  die  (Tnhaltbaifcett  und  üngeiecbtigkeit 
des  heutigen  VerfahreiiB  gegenüber  den  psychopathiBchea  Hindei^ 
werthigen  hinweisen  würden,  das»  wir  also  der  ErfOllung  der  zweiten 
Hauptfordenmg,  welche  ▼.Lilienthal  fOr  das  zukünftige  Strafreeht 
Btdlt:  BechtssehntB  des  Einaelttea  gegen  Yeiigewaltigang  im  Namen 
der  GeseUschafi,  um  einen  Sehritt  näher  kommen  würden. 

Was  mit  den  psyehopathiseh  Minderwerdiigen,  soweit  sie  als 
▼ermindert  snieohnnngBtthig  aufzufassen  w&ren,  unter  den  heutigen 
UmstSnden  in  strafrechtlicher  Hinsicht  ansufangen  w&e,  darlU^ 
müssen  sich  die  Juristen  klar  zu  werden  trachten.  Das  eine  steht 
fest,  (lass  die  „mildernden  Umstände'^  als  ausreichender  Ersatz  für 
die  „verminderte  Zurechnungsfähigkeit'^  nicht  angesehen  werden  kdnnen; 
immerhin  wird  aber  festzustellen  sein,  ob  die  geltenden  Bestimmungen 
über  die  Durchführung  der  Strafmilderung  nicht  etwa  eine  Deutung 
zulassen,  welche  es  ermöglichen  würde,  dass  schon  heute  dem 
Postulate  der  Aenderung  des  Strafvollzuges  in  qualita- 
tiver Beziehung  Kechnung  getragen  werde.  Wenn  eine 
solche  Deutung  möglich  wäre,  so  wäre  schon  heute  viel  zu  erreichen, 
und  könnte  man  mit  mehr  Geduld  die  Entwicklung  der  Dinge  ab- 
warten, die  sieh  augenscheinlich  recht  langsam  vollziehen  will. 

Was  schliesslicli  die  Unterbringung  der  gemeingefährliclien, 
kriminellen  Minch'rwerthigen  ["anbetrifft,  sei  zunächst  noch  einmal 
dringendst  davor  gewarnt,  die  Irrenanstalt  als  Stätte  für  ihre  Ver- 
wahrung auszuersehen.  Es  hat  ja  eine  Zeit  gegeben,  wo  man  in 
Unkenntnis  der  Folgen  der  Idee,  Minderwerthige  in  den  Irrenanstalten 
zu  detiniren,  zugänglicli  war;  das  Experiment  ist  aber  so  schlecht 
ausgefallen,  dass  sich  heute  wohl  jeder  Anstaltsarzt  im  Interesse  des 
Irrenwesens,  das  ja  gewiss  auch  volle  Herücksichtigung  verdient, 
gegen  eine  Wiederholung  mit  allen  Kräften  wehren  muss.  Als  ganz 
▼erfehlt  müssen  daher  die  Bestrebungen  bezeichnet  werden,  den  Anstalts- 
Idtungen  das  Beoht  nehmen  zu  wollen,  Minderwerthige,  welche  wegen 

11* 


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162    DL  Bbbzi,  MdnnngxiiwKWumfm  der  MchTenÜbuUgtt  Fhyohlater. 

erwiesener  Geineingefährlichkeit  über  Gerichtsbeschluss,  bezw.  polizei- 
liche Verfüc:iinf;  in  Irrenanstalten  zur  Aufnahme  gelangt  sind,  ohne 
Genehmigung  der  betreffenden  Behörde  wieder  zu  entlassen*),  sobald 
Geisteskrankheit  eben  nicht  besteht ;  denn  es  kann  ganz  und  gar  nicht 
zugegeben  werden,  dass  die  Anhaltung  in  einer  Irrenanstalt  unter 
einem  anderen  Titel  als  dem  der  Geisteskrankheit  geschieht,  und 
es  kann  auch,  selbst  nur  insolange  eigene  Heil-  oder  Bewahrungs* 
anstalteil  für  derartige  Individuen  nicht  bestehen,  nicht  zugestanden 
werden,  daaa  es  der  SieberfaettBbehOrde  fiberlasBeu  worde,  diesdben 
„zur  ünteiliringung  und  eiita|ireobend  anhalteaden  Yerwaliniiig  «iner 
gescUoflsenen  'InenanstaU  znzaweiaeii^  Dsgofen  Bind  die  Autoren, 
welefae  sioh  mit  diesem  GegensUmde  eingehender  beschifügt  haben, 
(Tide  namenfiich  Nftoke:  ünteibringniig  gdstedoinker  Yeibreeber) 
darin  einig,  dass  ein  grosaer  Thdl  der  Hinderwerlbigen,  insolange 
die  wiederholt  angedeutete  LSsong  der  üage  nieht  erfolgt  ist,  in  die 
Strafanstalten  gehQren  und  swar  in  Adnexe  derselben,  in  welehen 
die  Strafe  an  ihnen  in  so  milder  und  saehgemSsser  Weise  Yollzogen 
werden  sollte,  dass  damit  die  Behandlongsart,  die  einmal  in  den  m 
erreichenden  „StrB&bsondemngsbSusem''  gehandhabt  werden  soU, 
gleichsam  vorweggenommen  wikrde.  Dass  aber  die  Einrichtung  solcher 
Adnexe  auoh  heute  schon  ganz  gut  mOglioh  ist,  bedarf  nieht  mehr 
des  Beweises. 

Die  Meinungs-Dissonanzen  der  p^diiatrischen  Sachyerständigen 
werden  auch  dann  beileibe  nicht  aufliören,  wenn  für  diepsychopathisoh 
Minderwerthigen  in  zweckdienlichster  Weise  vorgesorgt  sein  wird; 
aber  die  Folgen  der  Dissonanzen  werden  nicht  mehr  so  schwer- 
wiegend sein,  und  man  wird  auch  weniger  Grund  haben,  dieselben 
so  bedenklich  zu  finden,  wie  es  heute  begreiflicher  Weise*  der  Fall  ist 

1)  Diese  Fordenug  hat  u.  A.  Prof.  Frit ach:  üeber  die  forenaiadie  Benr- 
theUnngdee  AUohoUimiis  (VIIL  intematioiwler  Congim  gegen  den  Alkohdimiiis)» 
anfgestdlt 


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X. 


Yenaeli  der  TMtong  eines  Kiiidee  durch  ein  kaltes  Bad. 

Von 

Dr.  iar.  Budolf  Motha«  in  Dresden. 

Am  2.  Januar  1902  liat  die  Fsbrikaibeitenehefeau  H.  im  Dorfe 
N.  im  Besiike  des.  AmtageiiehtB  H.  ihr  am  15.  November  1901  ge- 
boreiiea  Tachtereheii  lina  angebUeh  baden  woUen.  Zu  diesem  Zwecke 
hat  sie  einen  Eimer  kalten  Waasen  yom  Bronnen  geholt  nnd  nebet 
etwa  4 1  Waaeen  aaa  emem  Topfe ,  der  in  äem  nngeheizten  Ofen 
rtand,  in  die  Badewanne  gesofaftttet  Die  Wanne  wnrde  damit  etwa 
rar  HS]fie  oder  an  Druviertel  gefüllt  Sie  stand  in  der  nngeheisten 
Sohlafkammer  dioht  nnter  dem  offenen  Fenster.  In  diese  Wanne  hat 
die  H.  ihr  TSehterohen  gelcigt  nnd  sieh  dann,  nachdem  sie  ihm  noch 
eine  znaammengecollto  Windel  nnter  den  Kopf  geschoben  hatte,  ent- 
fernt, um  ans  dem  Keller  Kartoffeln  fOr  das  Mittagsbrod  zn  holen. 
Wihrend  ihrer  Abwesenheit  ist  die  Fabrikarbeitersehefrau  F.,  die  in 
demselben  Hause  wohnte,  in  £e  Wohnung  der  H.  gedrungen,  nm 
nach  dem  Kinde  zu  sehen.  Sie  glaubte  schon  seit  einiger  Zeit  an 
der  Annahme  berechtigt  zu  sein,  dass  die  H.  ihr  kleines  Kind  „nm- 
krieigen*'  wolle.  Sie  bat  das  Kind  mit  fast  geschlossenen  Augen, 
wimmernd  und  bläulich  am  Körper  in  der  Wanne  liegend  gefunden. 
Schleunigst  hat  sie  eine  zweite  Hausmitbewohnerin,  die  Fabrikarbeiters* 
ehefrau  Sch.  herzufrenifen.  Diese  hat  in  das  Badewasser  hinein- 
gefasst,  und  es  eiskalt  prefunden ;  es  sei  ihr  in  alle  Glieder  frefaliren. 
Sie  hat  den  Eindruck  gehabt,  als  wolle  das  Kind  sterben;  auch  sie 
hegte  den  Verdacht,  die  H.  habe  das  Kind  „unikrieiren"  wollen.  Der 
Gemeindeälteste  hat  sich  zu  den  Untersuchungsacten  geäussert,  er  sei 
der  Meinung,  die  H.  und  ihr  Mann  könnten  das  Kind  nicht  leiden. 
Der  Gendarm  ist  der  Ansicht,  dass  die  II.  in  Tödtungsabsicht  i^e- 
handelt  habe.  Die  Zeuginnen  F.  und  Sch.  haben  das  Kind  aus  dem 
"Wasser  herausgenommen  und  warm  gerieben.  Am  8.  Januar  1902 
ist  ein  Arzt  zu  dem  Kinde  gerufen  worden.    Er  hat  einen  Darm- 


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154  X.  MoiBM,  Venndi  dar  TMtanir  «ineB  Kindes  donh  ein  kaltM  Bad. 

katarrli  fest^'estellt,  der  normal  verlaufen  ist.  Der  behandelnde  Arzt 
hat  bezeuj^,  dass  die  Mutter  das  Kind  während  dieser  Krankheit  sehr 
gut  veri)flegt  habe;  ihren  Bemühungen  wäre  es  hauptsächhch  zu 
danken,  dass  das  Kind  die  Krankheit  überstanden  hätte.  Der  Tödtungs- 
absicht  hält  er  sie  darnach  nicht  für  fähig.  Der  von  der  Staats- 
anwaltschaft zugezogene  medicinische  Sachverständige  hat  ausgeführt, 
dass  die  festgestellte  Behandlung  des  Kindes  eine  plötzliche  Wärme- 
entziehung, eine  Aendening  im  Blatkreislauf  und  krankhafte  Processe 
im  Ctehirn,  in  Lunge,  Herz  und  Nieren  hätte  bewirken  müssen.  Der 
Tod  liStte  in  Folge  Ton  Shook,  Nervmehlag  oder  Oongeationen  so- 
fort oder  als  eine  Folge  der  Beaotionfleneheinmigeii  wie  Blutungen, 
EntBÜndiingen  n.  8.  w.  einireleii  kQnnen.  Abeolnt  tSdilieh  sei  die  Be- 
handlung nieht  Ee  sei  anzunehmen,  dasB  bei  dem  Kinde  bereüs 
CSnolationBfltOmngen,  die  sn  CoUape  nnd  wtarigen  Anncheldnngen 
in  den  LuftirH^  (Entioknng)  fahren  konnten ,  yoxfaanden  geweeen 
seien.  Das  Eingreifen  der  Zeuginnen  F.  nnd  Seh.  habe  die  tSdtliohe 
Wirkung  der  CSrenbtionflBtffntngen  gehindert  Udierdies  sei  das 
Kind  anoh  der  Gefahr  des  Ertrinkens  ausgesetzt  gewesen.  Die  An- 
klage wurde  nicht  auf  yersuchten  Mord,  aondem  auf  K9lper7e^ 
ktznng  mittelst  einer  das  Leben  gefttudenden  Behandhmg  geriehtet 


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XI 


Beiträge 

zur  B^ntachtung  alkakolistifldier  Störungen  in  foio. 

Von 

Dr.  FolUt^ 

iU^bmim  Amt  im  tembUdlnv  te SimMdt  n  MtbuteLW.' 

Zn  den  schwierigsten  Aufgaben  der  gerichtsärztlichen  Thätigkdt 
gehört  ohne  Zweifel  die  Begutachtung  alkoholietiseher  Störungen. 
Besonders  wenn  es  sich  in  solchen  Fällen  um  schwere  Verbrechen 
handelt,  hat  der  Gutachter  stets  das  herrschende  Vorurtheil,  das  gegen 
den  Angeklagten  geht,  gegen  sieb.  Die  dffentliehe  Meinung,  der  sieh 
auch  der  Richter  nicht  immer  zu  entziehen  vermag,  sieht  aneh  in  den 
schwersten  Störungen  alkoholisti sehen  Ursprunges  keineswegs  einen 
Krankheitszustand,  sondern  stets  einen  moralischen  Defect,  der  durch 
Strafe  zu  bessern  sei.  Der  Alkoholismus  ist  ein  selbst verscliuldetes 
Leiden,  das  nach  Ansicht  Vieler  keine  mildere  Beurtheilung,  am  aller- 
wenifp5ten  gar  Straffreiheit  verdient.  Diese  Momente  zwingen  den 
Arzt  in  solchen  Fällen  ein  klares  mid  bündiges  (Gutachten  abzugeben, 
wenn  er  mit  dem  Nachweis  einer  Geistesstörung  durclHlringen  will. 

Aber  die  Aufgabe  wird  in  vielen  Fällen  dadurch  coiiiplicirt,  dass 
es  sich  um  besonders  scliwierige  Verhältnisse  handelt,  in  denen  nicht  nur 
die  Diagnose  Schwierigkeitun  macht,  sondern  auch  die  gerichtsärztliche 
Würdigung  und  Bewertbung  der  nachgewiesenen  Symptome.  Ein 
Balanciren  zwischen  Unzurechnungsfähigkeit  und  einer  Verminderung 
der  Zurechnungsfähigkeit  erleichtert  die  Aufgabe  nach  keiner  Richtung. 
In  den  meisten  Fällen  wird  der  Arzt  erst  geraume  Zeit  nach  der 
Strafthat  zugezogen,  die  Acten,  die  er  erhält,  sind  von  den  untersten 
Instensen  bftnfig  mit  oner  Bdhe  wenig  objectiTer  Angaben  ausgefüllt, 
die  stets  su  Ungunsten  des  Angeklagten  ausfallen;  insbesondere  aber 


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156 


XL  Poxxm 


werden  fast  regelmässig  alle  Momente,  die  etwa  für  eine  Geistes- 
Btöning  spredien  könnten,  im  Sinne  einer  Simulation  gedeutet  Dar 
für  lassen  sich  zaiüreiebe  Beispiele  anfttbien:  Ein  Epileptiker  neiiier 
Beobachtung  von  18  Jahren  hatte  Nachts  seinen  SeUafkameraden 
mit  einem  Beile  fiberfoUen  und  in  dnem  sogenannten  „Dftmmer- 
asustande''  schwer  verletzt  Er  wurde  mit  blutigen  Binden  und 
Kleidern  m  benommenem  Zustande  an  der  Thfiie  liegend  yorgefnnden. 
Diese  letztere  Situation  zeigte  dem  yemehmenden  Gendarmen  mit  be- 
sonderer Deutliohkeit  die  ralfinirle  Simulation  des  Thiters.  Es  gelang 
ihm  daher  auch  in  kurzer  Zeit  einen  yollständigen  liebesroman  klar* 
zustellen,  bei  dem  dar  Thäter  und  der  Verletzte  als  Nebenbuhler 
betheiligt  waren.  —  in  vielen  Fällen  alkobolistiBoher  Störungen  ist 
es  bekanntlich  von  grOsster  Wichtigkeit,  das  Benehmen  eines  Ange- 
schuldigten vor  und  nach  der  Tbat  kennen  zu  lernen.  Die  Angaben 
darüber  gehen  aber  nicht  selten  sehr  wesentlich  auseinander.  In  einer 
Gerichtsverhandlung,  in  der  ich  vor  Kurzem  als  Sachverständiger 
mitwirkte,  wurden  von  den  verschiedenen  Zeugen  alle  Grade  von 
Angetrunkenbeit  bei  dem  Angeklagten  constatirt.  Der  Eine  hatte  den 
Eindruck,  dass  der  letztere  vollkommen  betrunken  war,  ein  anderer 
hatte  nichts  Auffälliges  bemerkt,  wieder  andere  hielten  ihn  für  voll- 
kommen geistesgestört.  Kommt  nun  ein  solcher  Fall  verhältnissmässig 
spät  zur  psychiatrischen  Begutachtung,  so  können  alle  acuten  Sym- 
ptome vollkommen  verschwunden  sein  und  die  Diagnose  hasirt  auf 
lückenhaften,  weni^,^  ol)jectiven  Angaben,  während  nachträgliche  ein 
gehende  Erhebungen,  besonders  bei  vagabondirenden  Personen,  nator* 
gemäss  erfolglos  bleiben. 

Neuerdings  hat  Bonhoeffer-Breslau '),  der  bereits  eine  grössere 
Reihe  von  Arbeiten  dem  Delirium  tremens  gewidmet  hat,  in  einer 
eingehenden  Studie  die  acuten  Geistesstörungen  der  Gewohnheitstrinker 
einer  eingehenden  Analyse  unterworfen.  Seine  Arbeit  stützt  sich  auf 
das  umfangreiche  Material,  das  ihm  Gefängniss  und  Krankenhäuser 
der  Stadt  Breslau  bieten  konnten.  Bonhoeffer  weist  nun  mit  Recht 
darauf  bin,  dass  die  bei  Alkoholisten  nachgewiesenen,  wohl  charak- 
terisirtm  StSmngen  nicht  ausschliesslich  auf  dieser  Basis  der  chronischen 
Alkobolintozication  entstehen,  sondern  dass  gleiche  oder  im  Weaentlichen 
ähnliche  Processe  auch  auf  anderer  Grundlage  ausbrechen.  Oerade 
dieser  Umstand  zeigt  ttbrigens  auch,  wie  viele  Bedenken  Gruppirungen 
der  Psychosen  nach  Ätiologischen  Momenten  entgegenstehen.  Für 


1)  Die  acuten  Geisteskrankheiten  der  Gowohnheitstiinker.  Eine  klinische 
Studie  von  Or.  K. Bonhoeffer,  Privatdooent  in  Brealan.  Elidier,  Jen»  1901. 


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Beltxige  rar  BegatMhtuog  «IkohoUsdscher  StOnrngoi  in  foro.  157 


die  forensische  l'raxis  wird  in  vielen  Fällen  nicht  nur  die  klinische 
Diagnose,  sondern  auch  die.  Entstehungsursache  von  grosser  Bedeutung 
sein,  da  beide  Moniente  uns  unter  Umständen  in  Stand  setzen,  Schlüsse 
auf  den  Beginn  der  Krankheit,  etwaige  frühen^  Anfälle,  Wahrschein- 
lichkeit eines  längeren  Bestehens  u.  a.  m.  gestatten.  So  wird  man  in 
die  Lage  kommen,  in  gegebenen  Fällen  mit  einiger  Sicherheit  sagen 
zu  können,  ob  der  Thäter  bereits  bei  Begehung  einer  zurückliegenden 
strafbaren  Handlung  krank  war,  wenn  er  kurz  nach  Beginn  der 
Untersuchungshaft  Symptome  von  Geistesstörung  erkennen  lässt  Z.  B. 
hatten  in  einem  meiner  Fälle  eine  Reihe  Uowdies  Nachts  ein  Liebes- 
pärcben  überfallen  und  das  Mädchen  der  Reihe  nach  in  bnitiilster 
Weise  vergewaltigt.  Einer  der  Thäter  verfiel,  nachdem  er  in  mehreren 
Verhören  seine  Sache  sehr  geschickt  vertreten  hatte,  in  einen  Hemmungs- 
zustand,  der  fast  ein  Jahr  anhielt  Hier  konnte  mit  grösster  Sicher- 
bdt  gesagt  werden,  dass  weder  das  Verhalten  bei  noch  nach  der 
That  Symptome  geistiger  Stibnng  ergeben  hStte;  es  handelte  sich  nm 
sine  acute  Haftpsychose,  die  zur  Heflnng  gelangte.  Bei  den  alkoho- 
Nstisehea  Psychosen  wird  die  An^be  des  Begutachteis  wesentlich 
dadurch  enchwerl^  dass  Tielfach  die  ErankbeitsbÜder  eine  bedeutende 
Besserung  ei&hien  nnd  oft  gSnzlich  znrfickgegangen  sind,  wenn  der 
Ersnke  rar  Begntechtnng  gelangt,  besondeis  wenn  mit  der  Entadehnng 
des  Alkohols  das  sdiidigende  Moment  wegfiUlt 

Bonhoeffer  bat  in  dem  genannten  Werke  Yier  venchiedene 
Krsnkhdtsbilder  abgegrenzt;  er  nntersebeidet  das  DeBihun  tremens»  die 
acnte  Hallndnose  —  Ton  Kraepelin  acuter  ballncinatorischer  Widin- 
smn  der  Trinker  genannt  —  und  die  acuten  pathologischen  Bausch- 
zast&nde,  dazwischen  behandelt  er,  gewissermaassen  auf  der  Grenze 
zwischen  acuter  und  chronischer  Störung  stehend,  das  chronische 
Delirium,  das  meist  unter  der  Bezeichnung  Eorsakof f 'sehe  Psychose 
erörtert  wird.  Der  Verlauf  dieser  Störung  ist  meist  mehr  chronischer 
Katur  mit  Uebergang  in  unheilbare  Geistesschwäche. 

Man  kann  mit  einigem  Rechte  das  Delirium  tremens  als  Prototyp 
der  acuten  alkoholistischen  Psychosen  bezeichnen,  da  sich  alle  Sym- 
ptome dieser  Krankheit  bald  stärker  bald  schwächer  hei  den  übrigen 
wiederfinden.  Als  charakteristisch  für  das  Delirium  bezeichnet 
Bonhoeffer  in  Uebereinstimmung  mit  W  ern  i  c  k  e  ^)  die  „totale  Ver- 
kennung des  Bildes  der  Aussenwelt".  Der  Kranke  ist  über  die 
eigene  Persönlichkeit  vollständig  im  Klaren,  er  hat  keine  Grössen- 


1)  Wornicko  irintiidrias  der  Psychutrie),  S.2S2,  bezeichnet  den  Znstand 
aU  nailupsychbche  Deäurieutirtheit**. 


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158 


XI.  Poixm 


ideen  und  keine  hypochondrischen  Waluiideen,  dagegen  verkennt  er 
vollkommen  die  Unii^ebung,  er  ist  desorientirt  über  Zeit  und  Ort. 
Die  gesammte  Situation  ist  für  ihn  verändert,  aber  nicht,  wie  man 
meist  annimmt,  durch  zahlreiche  Sinnestäuschungen,  sondern  durch 
eine  Schwäche  der  Associationsthätigkeit  bei  mangelnder  Aufmerksiuu- 
keit.  Die  Sinnestäuschungen  spielen  sich  beim  Deliriuni  vorzügUch 
auf  optischem  Gebiete  ab  und  haben  einen  mehr  ,,scenenhaften'* 
Charakter.  Als  weitere  Symptome  nennt  Bonhoeffer  die  starke 
Suggestibilität  der  Kranken,  das  Beschäftignngsdelir  und  die  motorische 
Unruhe.  Für  die  nachträgliche  Feststellung  eines  abgelaufenen  oder 
früher  bestandenen  Deliriums  sind  zwei  Momente  von  groamr  Wiebtig^ 
keit,  erstens  die  Dauer  der  Störung  —  sie  ttberachreilet  selten  die 
Zeit  Yon  emer  Wooiie  —  und  sweitens  die  Bllekerinnenuig  des 
Kranken.  Viel&eh  besteht  eine  scharfe  Erinnerung  an  die  Vorgänge 
während  des  Detiriums,  allerduigB  mit  partiellen  Erinnemngslfioken 
und  fidseher  seitlicher  Succession  der  Eidgmsse  0-  Dieser  Satz  gilt 
zwar  nicht  ohne  jede  EinschiSnknng,  dilifke  jedoch  in  der  weitaus 
gfössten  Zahl  von  Fullen  seine  Geltung  haben.  Heilbronner^  hat 
darauf  hingewiesen,  dass  der  Alkoholist  besonders  bei  Beginn  des 
Deliriums  eine  roUkommene  KrankheitBeuiBicht  hal^  die  ihn  —  man 
macht  solche  Beobachtungen  gelegentlidi  in  der  Praxis  —  vor  Aus- 
bruch der  Krankheit  zum  Arzte  treibt.  Der  Kranke  kennt  aus  früheren 
Attacken  den  Verlauf  der  beTorstehenden  Krankheit,  ein  Zeichen,  dass 
ihm  die  Einzelheiten  derselben  nicht  verioren  gegangen  sind.  Er  steht 
auch  später  vielfach  der  Krankheit  mit  guter  ^Kritik*^  gegenüber. 

Diese  Krankheitseinsicht  und  Krankheitserinnemng  ist  ein  wichtiges 
Moment  bei  der  Beurtheiiung  abgelaufener  DeliriumfaUe.  Schildert 
ein  UntersuchungBgefuigener  seine  detiranten  Erlebnisse  in  zutreffen- 
der Weise,  so  wird  man  geneigt  sein,  ihm  Glauben  zu  schenken, 
zumal  die  Erfahrung  stets  zeigt,  dass  viel  eher  die  Neigung  b^teht, 
Erinnerungslosigkeit  auch  da  vorzugeben,  wo  solche  höchst  unwahr» 
scheinlicli  ist. 

Die  andere  nahe  verwandte  Form  der  acuten  Alkoholvergiftnni;, 
die  acute  llallucinose,  unterscheidet  sich  von  dem  Delirium  durch 
das  Vorwiegen  von  acustischen  Täuschungen  gegenüber  den  optisch- 
tactilen  bei  Letzterem,  ferner  durch  die  Neigung  zu  Erklärungswahn- 
ideen, die  meif^t  einen  systematisirenden  Charakter  haljen. 

Der  nachfolgende  Jball,  der  zu  einer  eingehenden  Begutachtung 


1)  S.  ör>  1.  c. 

2)  Uc'ber  Ki-aiikheitseinsicht.  AHgt'ui.ZtiUjclu.l.i'.-yciiiater.  5S.Bd.4. Heft.  1901. 


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Beitrlge  zur  Begataehtnng  alkohofittischer  StSfangen  in  foro.  169 


Anlass  gab,  dürfte  zeigen,  dsas  «ucb  längere  Zeit  nach  Ablauf  einer 
hallncinatorischen  Erkrankung  eine  Diagnose  möglich  ist  und  eine 
gute  Erklärung  für  das  ei<2:enartige  Verhalten  eines  Angeklagten  giebt 
Der  Irrenarzt  wird  somit  am  ersten  in  der  Lage  sein,  gleichzeitig 
Vorgänge,  die  sonst  unverständlich  sind,  psychologisch  zu  erklären. 

Aus  dem  der  Könijjlichen  Staatsanwaltschaft  zu  D.  erstatteten 
Gutachten  soll  hier  nur  das  Wichtigste  Erwähnung  finden. 

Der  Angeklagte  wurde  in  der  Nacht  vom  12. — 13.  August  1901 
gegen  '/il  Uhr  verhaftet,  als  er  sich  auf  dem  Dache  des  Besitzthums 
des  Kaufmanns  J.  in  N.,  anscheinend  in  der  Absicht,  einen  Einbruch 
zu  versuchen,  zu  schaffen  machte.  .Nach  Angabe  des  J.  vernahm 
letzterer  Nachts  mehrere  Hülferufe  und  Ijärm  —  Hin-  und  Herrennen 
—  auf  dem  Dache  seines  Hauses.  Bei  dem  Versuche  den  An- 
geklagten zu  verhaften,  war  dieser  auf  ein  benachbartes  Dach  ge- 
klettert. Dem  Besitzer  dieses  Hauses  schien  ein  Einbruchsversuch 
von  vornherein  schwer  erklärlich;  da  das  benachbarte  Terrain  dmoh 
einen  wachsamen  Hund  bewacht  wurde.  Der  Angeklagte  bestritt  im 
y«hOr  jede  yerbreeheriselie  Abncbt,  er  sei  erat  spSt  in  der  NacM  in 
N.  angekommen  nnd  habe  nch  geflfiehtet,  weil  man  ihn  fortgesetzt 
▼erfolgte  nnd  ihm  naehrief  ,)der  M.  kommt",  üeber  seine  Personalien 
gab  «er  richtige  Ansknnft:  er  sei  27  Jahre  alt,  nnehelioh  geboren, 
war  Soldat  nnd  bisher  nicht  Torbestialt  Unter  dem  von  M.  nnte^ 
zeiehnelen  Protokoll  fiUlt  die  zittrige  Handsohrift  ant  Ans  den  An- 
gaben des  Gensdarmen  Langerich  interesrirt  hier  noch  die  Fest^ 
steOnng,  dass  bei  M.  kdnerlei  verdächtige  Instnunente  oder  Gegen- 
sOnde  bei  seiner  Veriiaftnng  gefunden  wurden.  In  einan  weiteien 
YerhOr  gab  M.  femer  an,  er  sei  dnrch  Stimmen,  die  sdnen  Kamen 
riefen,  yerfolgt  worden;  es  seien  eigenartige  Geräusche  um  ihn  ge- 
wesen, so  dasB  er  in  seiner  Angst  schliesslich  auf  ein  Dach  geflüchtet 
sei.  Der  yerhörende  Amtsrichter  macht  hier  die  Bemerkung  in  den 
Acten,  dass  M.  anscheinend  geisteskrank  sei.  M.  wurde  daraufhin 
einem  Krankenhause  Überwiesen,  jedoch  nach  zweitägiger  Beobach- 
tnng  entlassen,  da  er  nach  Ansicht  des  Aiz^es  „simuUre'^.  Der  Kran- 
kenhauswärter  fand  den  M.  hinter  seinem  am  Zellenfenster  auf- 
gerichteten Bette  stehend,  er  gab  an,  dass  Soldaten  durch  das  Fenster 
auf  ihn  schiessen  wollten.  Au8weisi)a[)iere  brauche  er  nicht  mehr, 
da  es  ihm  in  der  nächsten  Nacht  doeli  an  den  Kragen  gehe. .... 

Es  sei  schliesslic'li  noch  hinzu^^efii^t,  dass  die  früheren  Dienstherm 
des  M.  Ulli  meine  Anfrage  hin  niittheilten,  dass  M.  periodischer  Säufer 
gewesen  sei.  Aus  den  Notizen  über  die  Beobachtung  in  der  Anstalt 
sei  f  olgendes  erwähnt    M.  war  während  der  6  Wochen  dauernden 


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160 


XI.  POIXJTS 


BeobachtiinfTSzeit  f^tets  orientirt  und  bot  keine  Symptome  geistiger 
Störung.  Bereits  einige  Tage  vor  der  Tliat  habe  er,  wie  er  selbst  niit- 
theilte,  fortwährend  Stimmen  gehört  wie:  „M.  hat  Läuse,  da  ist  M.,  den 
müsst  ihr  verhauen,  er  hat  keine  Militärj)apiere,  die  Läuse  sitzen  ihm 
im  Nacken"^.  Vor  Angst  irrte  er  planlos  umher  und  wollte  einmal 
sogar  in  den  Rhein  springen;  immerfort  hörte  er  Beschimpfungen 
und  Drohungen.  SchliessUch  sei  er  in  hfichster  Angst  auf  das  Dach 
eines  fremden  Hauses  geklettert  Hier  hörte  er  Rufe  wie:  „Wir 
wollen  ihm  die  Eier  schleifen  u.  a.  m."  Der  ganze  Zustand  habe 
etwa  14  Tage  gedauert,  —  Da^  Gutachten  lautete  etwa  wie  folgt:  „Bei 
der  Beurtheilung  des  vorliegenden  Falles  ist  a  priori  festzustellen, 
daas  M.  währen^  der  ganzen  Beobachtongszeit  keine  Symptome  von 
GeisteBstörong  dargeboten  hat  Hb  sei  dabei  hinsngefilgty  da» 
er  auch  memals  Terraoht  hat,  daieh  Simulation  von  KiaakheitB- 
ersdheinnngen  geistesgestört  zn  meheinen,  obgleich  ihm  durch  Sog-. 
geBtirfragen  dies  mehrfach  nahegelegt  worden  war.  Es  bleibt  daher 
nnr  die  Frage  zn  beantworten,  war  M.  bei  der  Bähung  jenes  eigen- 
artigen BSnbmches  geiateskiank?  Knn  geht  ane  den  Angaben  seiner 
Mheren  Arbeitgeber  mit  Sicherheit  hervor,  daas  IL  periodiabher 
Trinker  ist  Eb  ensohelnt  ferner  bat  abaolnt  aioher,  daas  H.  nnter 
dem  Emflnss  ungenügender  Em&brung  —  er  war  gerade  arbeitslos 
—  und  yermehrtem  Alkoholgennas  ron  einem  AnfoU  yon  DeUrium 
tremens  befallen  worden  ist  IMeser  etwa  14  Tage  dauernde  Anfall 
ist  charakterisirt  dnrcb  Angst^  schreckhafte  HaOncinationen,  bedro- 
hende und  verspottende  Stimmen,  Hallucinationen  des  Allgemein- 
gefühls  (liiuse),  Gesichtstäuschungen  (Sehen  bedrohender  und  ver* 
folgender  Männer).  .  Auch  jenes  Verbarrikadiren  mittelst  des  Bettes 
im  Krankenhause  zn  N.  ist  als  eine  Abwehrmaassregel  gegen  ver- 
meintliche Verfolger  anzusehen.  Die  Antworten,  die  M.  dem  Arzte 
des  Krankenhauses  gab:  er  brauche  keine  Papiere,  es  werde  ihm 
doch  an  den  Kragen  gehen,  ist  fast  charakteristisch  für  die  eigen- 
thümliche  Gefasstheit  (Wcrnick  e '))?  mit  der  der  Alkoholhallucinant 
seiner  Zukunft  entgegengeht.  Man  hat  diesen  Zustand  mit  vorzüg- 
lich hallucinatorischen  Symptomen  ohne  stärkere  Trübung  des  Be- 
wusstseins  von  dem  bekannteren  Bilde  des  nahe  verwandten  Delirium 
tremens  unter  der  Bezeichnung  acute  Hallucinose''  (Wernicke)  ab- 
getrennt. Im  vorliegenden  Falle  sehen  w'ir  den  Kranken  nach  un- 
stetem Umherreisen  und  Wandern  in  jener  Nacht  vor  seinen  ver- 
meintlichen Verfolgern  auf  das  Dach  eines  ihm  uabekauuten  Hauses 


1)  Gruudms,  S.  273. 


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Bdtifge  zur  Bcgntaditaiig  alkohoHBtiflcher  StOmngen  in  foio.  161 

flüchten.  Der  Unistand,  dass  er  durch  sein  lautes  Verhalten  und  üm- 
hülferufen  die  Hausbewohner  weckte,  die  Thatsache  ferner,  dass  ihm 
jedes  Instrument  zum  Einbrüche  fehlte,  dürfte  auch  vom  kriminell- 
psychologischen Standpunkte  gegen  die  Absicht  eines  Einbruches 
sprechen.  Es  entäpriciit  dem  hier  vorliej;enden  Krankheitsbilde,  die  so 
auffällige  dauernde  Orientirung  über  die  Aussenwelt  und  die  eigene 
Person,  schnelle  Besserung  unter  allmählich  sich  einstellender 
Einsicht  und  andererseits  eine  —  in's  Einzelne  gehende  —  Erinne- 
nmg  an  die  Krankheitserscheinungen.  Dass  aber  M.  sich  dieses 
ganze,  wohl  charakterisirte  Krankheitsbild  erdichtet  haben  sollte,  würde 
ein  nicbt  geringes  Maass  you  psychialrimlieii  Kenntiussea  bei  ihm 
Toanasetzen,  wSbieiid  hingegen  die  Art  seines  EinbraohsvenaeheS} 
den  bisher  nnbestraften,  sonst  reeht  intelligenten  Menaehen  als  einen 
ftbenuis  thörichten  Verbiecber  eraeheinen  lassen  wflide.  M.  ist  daher 
als  geisteskrank  im  Sinne  des  §  51  des  StGB,  m  eraebten.  Er  wurde 
▼om  Geridite  freigesprochen. 

An  diesen  Fall  dürfte  sieh  wk  weiterer  anscfaliessen,  der  das 
Symptom  der  reinen  HaUneinose  sehr  dentliob  darbietet  Zu  keiner 
Zeit  fehlt  dem  Kranken  die  allgemeine  Orientimng  Uber  die  gesammte 
Sitoation,  wie  sie  dem  DeUnmten  meist  verloren  geht;  es  zeigt  sich 
femer,  dass  anob  hier  die  akustischen  Halluzinationen  im  Vorder- 
gründe stehen,  während  die  optischen  allerdings  in  weniger  inten- 
siver Weise  dauernd  mit  bestehen.  Wichtig  für  die  Unterscheidang 
beider  Zustände  ist  auch  die  Dauer,  die,  wie  bereits  erwähnt,  beim 
Delirium  selten  die  Zeit  von  einer  Woche  überschreitet,  dagegen  bei 
der  Hallncinose,  wie  auch  im  vorliegenden  Falle,  mehrere  Monate 
dauert.  Im  nachfolgenden  waren  wahrscheinlich  mehrere  Anfälle 
von  Delirium  vorangegangen,  ehe  Hallucinose  sich  einstellte;  nicht 
selten  tritt  jedoch  statt  letzterer  das  chronische  Delir  mit  Uebergang 
in  Verblödung  ein,  und  macht  dem  geistigen  Leben  des  Trinkers  ein 
mehr  oder  weniger  frühes  Ende. 

Der  Strafgefangene  W.  Schmidt  wurde  Mitte  October  19U0 
in  die  Strafanstalt  aufj^^enommen.  Er  ist  etwa  20  mal  wegen  Dieb- 
stahls, nausfrieden:sl)ruchs,  Betteins,  Sachbeschädigung  u.  s.  w.  mit 
Gefängniss  und  Zuchthaus  bestraft.  Seit  seinem  21.  Lebensjalire  — 
er  ist  ca.  4(i  Jahre  alt  —  hat  er  zahlreiche  Anfälle  von  Delirium 
tremens  durchgemacht  und  mehrfach,  wie  eine  Reihe  Narben  er- 
kennen lassen,  in  diesem  Zustande  Selbstmordversuche  gemacht. 
Bei  der  Aufnahme  ist  er  ängstlich  und  klagt  Uber  Herzbeklemmung, 
sein  bisheriges  Durchschnutsquantum  betrug  ea.  l  1  Schnaps  pro  Tag. 
Seine  Arbeitsleistung  war  gering;  ich  wandte  ihm  mit  Bücksiebt  auf 


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163 


XL  Poixizz 


seinen  Zustand  ein  grösseres  Maass  von  Aufmerksamkeit  zu  und  ver- 
anlasste daher  auch,  dass  ihm  möglichst  einfache  Arheit  überwiesen 
wurde.  Mitte  Januar  1901  —  also  nach  etwa  dreimonatlicher  Straf- 
verbüssung,  machte  Seh.  am  Nachmittage  mittelst  seines  AibeitBineaBen 
einen  Selbstmordversuch,  indem  er  sich  an  den  Annen  md  am  Halse 
eine  grosse  Beihe  oboflielifiölier  Hantwnnden  beibiachte.  Als  Gnmd 
für  fldne  Tbak  gab  er  hochgradige  Angst  an,  die  er  ia  Folge  loct- 
gesetzter  Drohungen  verspttre.  Es  wird  ihm  zugerufen,  daas  man 
ihn  lebendig  begraben  w^e,  man  möge  ihm  noch  Steine  anf  den 
Kopf  legen,  er  sieht  yerdächtige  Figuren,  ist  schlaflos,  da  er  in  jedem 
Geiiosohe  eine  feindliche^  bedrohende  Handlung  befBrchtet  Nachts 
blieb  er  wach,  da  er  nichtliche  Uebeiffille  seitens  der  anderen  Kran- 
ken erwartete.  In  YordcKgmnde  standen  dauernd  die  OehMin- 
schnngen,  wihrend  der  Kranke  im  üebngen  allgemein  richtig  orien- 
tirt  war,  die  gesammte  Situation  richtig  anfissste  und  ein  gewisses 
Verstfadniss  dafür  besass,  dass  sein  Zustand  krankhafter  Natur  sei 
Dieser  Zustand  ängstlicher  Erregung  und  Hallucinose  hielt  etwa 
5  Monate  an,  dann  trat  Beruhigung,  allmählich  Krankheitseinsicht 
und  die  Fähigkeit  zu  regelmässiger  Thätigkeit  ein.  Der  Kranke  hat 
sodann  den  Rest  seiner  Strafe  ohne  Nachtheil  abgebüsst  Auch  die 
Einncht,  dass  sein  Zustand  eine  Folge  übermässigen  Alkoholgenasses 
gewesen  war,  fehlte  ihm  nicht 

Gegenüber  dem  Delirium  tremens  treten  hier  die  Unterscheidungs- 
merkmale deutlich  hervor:  Vorherrschen  der  Gehörshallucinationen, 
gute  allgemeine  Orientirung,  d.  h.  Fehlen  dos  deliranten  Momentes 
und  längere  Dauer  der  Störung  als  Folge  der  langsameren  Restitution 
der  bereits  des  Oeftoren  erkrankten  Gehirntheile.  Diese  Dauer  be- 
trägt meist  nur  einige  Tage  oder  Wochen,  selten  Monate.  Die  länger 
dauernden  Fälle  sind  meist  complicirter  Natur,  indem  sicli  —  wie 
auch  in  unserem  letzten  —  Oehörs-  und  Gesichtstäuschungen  com- 
biniren  ').  In  lieiden  Fällen  fand  sich  ein  hochgradiger  Angstaffect, 
der  aiK'li  <lurcli  Zureden  in  keiner  Weise  zu  beeinflussen  war;  beim 
letzter  wiili  Ilten  Kranken  kleidete  ersieh  in  die  stete  Befürchtung,  von 
seiner  Umgebung  Nachts  ermordet  zu  werden,  so  dass  der  Kranke 
meist  in  Isohrstuben  zu  schlafen  wünsclite.  Auch  Bonlioeffer  be- 
zeichnet im  Gegensatz  zu  Kraepelin  diese  Form  des  Affectes  als 
die  charakteristische.  Für  forensische  Zwecke  ist  eine  Feststellung 
dieses  Symptomes  und  des  von  ihm  abhängigen  ganzen  Gebabrens 
eines  Gefangenen  yon  grosser  Wichtigkeit  und  kann  auch  spiter 
noch  einen  werthTolIen  Hinweis  auf  Torangegangene  St5rangen  geben. 

1)  Nach  llberg:  Kraepelin,  ö.  l»'. 


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Bdtxige  snr  Begatachtung  alkohoUsUscher  Stömngea  in  foro^  163 


In  unserem  letzten  Falle  scheint  es  nicht  ohne  Interesse  zu 
sein,  dass  die  acute  Stönin^'  ausbrach,  nachdem  der  Kranke  bereits 
mehrere  Monate  ohne  Alkohol  g:cwesen  war.  Eine  gleiche  Erfahrung 
machten  wir  bei  einem  zur  Beobachtung  überwiesenen  (Jefangonen, 
der  seit  Langem  dem  Trünke  ergeben,  wegen  exhibitionistischer  Hand- 
lungen bestraft  worden  war.  Bei  dem  ca.  23 jährigen  Burschen 
stellte  sich  reichlich  3  Monate  nach  seiner  Inhaftirang  eine  acute 
Hallucinose  ein,  über  die  er  später  mit  ausserofdentlich  guter  Er- 
innerung Auskunft  geben  konnte.  Auch  diesear  kehrte  naeh  Ablauf 
dfir  etwa  10—12  Woeben  danemden  StSnmg  in  den  StrafroUnig 
nirttck  und  blieb  geennd. 

Ich  scblieese  diesen  FUlen  die  MittbeUnng  dnes  wdteien  an,  in 
dem  essiGh  am  die  Wirknng  des  danemden  AlkobolmiBsbianeheB  bandelte; 
Daneben  muute  die  IVage  anfgewoifen  werden,  ob  es  sieh  nm  eben 
sogenannten  pathologiaohen  Baaeobzaatand  bei  Begebung  des  Ver- 
brocbenB  gehandelt  habe.  Ans  dem  umfangreichen  Gutachten  soll  hier 
nur  ein  orientirender  Anssng  fdgen. 

Am  25.  Mai  1902  wurde  der  Staatsanwaltschaft  su  D.  berichtet^ 
dass  der  Händler  Jakob  B.  den  im  gleichen  Hause  mit  ihm  wohnenden 
Schneidermeister  Heinrich  Och,  am  Tage  vorher  gegen  8  übr  Abends 
durch  BeFolverschüsse  getödtet  habe.  Als  B.  in  Haft  genommen 
worden  war,  erklärte  er  dem  Beamten  mehrfach:  Es  ist  gut,  dass  der 
schlechte  Hund  kaput  ist,  so  ein  T.iimp,  so  ein  schlechter  Kerl,  ich 
mache  kein  Hehl  daraus,  ich  habe  ihn  kaput  geschossen ....  ferner 
«es  schadet  ihm  nichts,  er  ist  selber  schuld,  und  wenn  es  den  Kopf 
kostet,  es  ist  mir  ganz  gleich,  ich  habe  es  gethan"*^.  Weiterhin  findet 
sich  die  Notiz,  dass  B.  bei  der  Einlieferung  in  die  Haft  l)etrunken 
gewesen  sei.  Der  Polizeisergeant  Müller  theilt  mit,  dass  B.  am  frag- 
lichen Abend  etwa  '/j  Stunde  vor  (kr  'l'hat  zwei  anderen  Polizei- 
heaniten  gegenüber  die  Bemerkung  gemacht  habe:  Wenn  er  (sc.  Oeb.) 
nochmals  kommt,  „dann  schiesse  ich  ilm  kaput,  und  wenn  ich  meinen 
Kopf  dabei  verliere.'^  Der  8ohn  des  Erschossenen,  der,  wie  gleich 
erwähnt  sei,  den  B.  kurz  vorher  Nachts  bestohlen  hatte,  gab  an,  dass 
sein  Vater  niemals  mit  B.  Streit  gehabt  habe  ....  an  jenem  Abend 
habe  er  ihm  mitgetheilt,  dass  B.  ihn  —  den  Vater  —  des  Diebstahls 
bezichtige  ....  B.  sowolil  wie  Oeb.  sind  gegen  Abend  in  einer  Wirth- 
schaft  zusammengetroffen,  jedoch  ist  Ersterer  Letzterem  ans  dem  Wege 
gegangen.  Von  Wichtigkeit  sind  eine  Reihe  Zeugenaussagen.  So 
bat  der  Wirth  des  nahe  gelegenen  Gasthauses  nicht  bemerkt,  dass 
die  beiden  Genannten  Streit  hatten,  auch  nicht,  dass  B.  angetrunken 
war.  ,Er  machte  auf  mich  einen  nttcbtemen  Eindruck",  sagte  dieser 


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164 


XL  POLUXS 


Zeuge.  ^In  den  ersten  Ta^^en  des  Mai  hat  er  stark  getrunken, 
später  ist  mir  das  nicht  aufgefallen." 

Eine  ganze  Reihe  von  Zeugen  bekunden ,  dass  B.  Bemerkungen 
maehte,  er  werde  sich  einen  Hevolver  kaufen,  um  sich  gegen  den 
Oeb.,  der  ihm  keine  Rahe  lasse,  zu  vertheidigen.  So  wandte  er  sich 
um  Hälfe  an  einige  Polizeibeamte,  denen  er  ebenfalla  »kUbrte,  er 
werde  den  Oeb.  todtachieasen.  Diesen  Beamten  erBohien  er  sowohl 
am  Nachmittage  wie  naeh  der  Verhaftung  angetrunken,  ebenso  maohte 
er  auf  einen  Wirth  den  Eindruck  eines  Angetrunkenen,  wfthrend  ein 
anderer  ihn  für  Tollkommen  nftchtem  eridirte.  Es  stehen  sieh  in 
dieser  Hinsicht  die  Teischiedenen  Aussagen  scharf  gegenüber. 

B.  selbst  giebt  folgende  DaisteUung  des  ganaen  Vorganges.  Der 
ErschoBsene,  den  er  wegen  des  von  seinem  Sohne  yerttbten  Dieb- 
stahls angeseigt  hatte^  aei  ihm  an  dem  betreffenden  Mittag  fortgesetzt 
nachgekommen,  so  dass  er  sdiliesslich  Angst  vor  ihm  bekommen 
habe.  Da  er  ein  Zusammentreffen  mit  ihm  befürchtet  habe,  sei  er 
zuerst,  statt  in  seine  Wohnung,  auf  die  Strasse  gegangen,  habe  einige 
Wirthschaften  besucht  und  sei  schUesslich  auf  die  Polizeiwache,  mit 
der  Bitte  um  Schutz,  gegangen.  Man  habe  ihn  dort  yermahnt  und 
nach  einer  Revision  auf  Waffen  entlassen.  Er  sei  nicht  betrunken  ge- 
wesen. Ein  seit  mehreren  Jahren  geladener  Revolver  habe  seit  seinem 
Einzüge  in  seine  Wohnung  auf  dem  Tische  gelegen.  Nach  der  Rück- 
kehr in  die  letztere  habe  er  sich  einj^eschlossen.  Als  es  kurz 
darauf  klopfte  und  auf  Befragen  die  Antwort  „der  Briefträger"  er- 
folgte, habe  er  geöffnet  und  den  Geb.  vor  sicli  gesehen.  Dieser  sei 
sofort  in  seine  Wohnung  eingedrungen,  habe  auf  ihn  losgeschlagen, 
er  sei  in  ein  zurückliegendes  Zimmer  geflüchtet  und  habe  schliesslich 
nach  dem  auf  dem  Tische  liegenden  Revolver  gegriffen.  Nach  einem 
ersten  Schreekschuss  habe  üeb.  ihm  mehrere  Faustschläge  versetzt, 
er  habe  daher  einen  zweiten  Schuss  abgefeuert,  der  Jenen  'todt  zu 
Boden  streckte.  Nach  den  ergänzenden  Zeugenaussagen  hat  B.  sich 
sodann  eine  Pfeife  angezündet  und  versucht,  in  die  nahe  gelegene 
Wirthschaft  zu  gelangen.  Er  selbst  erklärt,  diisä  er  in  Noth- 
wehr  gehandelt  habe.  —  Ueber  sein  Vorleben  war  festzustellen,  dass 
er  noch  vor  ca.  10  Jahren  in  sehr  guten  Vermögensverhältnissen  ge- 
lebt hal^  allmählich  jedoch  durch  den  Trunk  immet  tiefer  gesunken  ist 
Er  war  frtther  selbständiger  Besitzer  und  ist  jetzt  Tagelöhner.  Erbliche 
Anlage  zu  Geisteskrankheiten  in  der  Ascendenz  ist  nicht  festgestellt 
In  dem  erwähnten  [Zeitraum  ist  B.  vielfach  wegen  Beleidigung,  Be- 
drohungi  Hansbriedensbruchs  und  Bettehis  bestiaft  worden.  Der  in 
der  Sache  zuerst  vernommene  Gerichtsaizt  Dr.  Sch.  führt  eine  Reihe 


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BeitrSge  zur  Bcgutachtang  alkoholiadscher  StSranfoi  in  foro.  166 

wichtiger  Momente  an,  die  den  Verdacht  einer  {^'eisti^'on  Stijrunp:  bei 
B.  berechtigt  erseheinen  lassen ,  insbesondere  eine  Erzählung  des  B., 
dass  er  zu  einem  bestimmten  Tage  sterben  müsse,  dass  ihn  die  Jung- 
fna  Maria  gewarnt  habe  iL  a.  m.  Der  Sachverständige  beantragte 
db  Beobachtung  dea  B.  in  &aia  Inenanstalt 

B.  wurde  6  Wochen  lang  in  der  Iirenabtheilung  der  Strafonatalt 
eingehend  beobaehtet  Diese  Beobachtang  ergab  folgendes  Besnitat 
In  körperlicher  Hinsicht  ist  B.  von  kleiner  untersetzter  Natur,  mit 
eoeigisohem,  stechendem  Blick,  Tollkommen  eigrant  Die  Schftdelr 
bildnng  bietet  nidits  Abnormes,  die  Papillen  reagiren  anf  lichtein&U, 
es  besieht  kern  Zittern  der  Hfinde  und  Znnge.  Die  Bewegungen  er- 
folgen schnell  und  ungestört,  die  Reflexe  sind  leicht  erhöht  Ein 
Itedonos  ist  nicht  nachweisbar.  Die  Sprache  ist  fliessend,  deutlich 
und  in  keiner  Weise  erschwert  Der  Urin  ist  frei  von  Eäweiss.  B. 
war  dauernd  über  die  gesammte  Situation  orientirt  Im  Allgemeinen 
ruhig  und  fügsam,  wurde  er  lebhaft  erregt,  wenn  er  sich  über  seine 
Strafsache  äussern  musste.  Kiemais  wurden  Erampftmfälie  oder  An- 
fälle von  Bcwusstseinstrübung,  von  Erregung  oder  krankhafter  Angst 
beobachtet.  Ueber  sein  Vorleben  gab  er  ohne  fiiinnerangslUcken  be- 
reitwillig Auskunft;  er  habe  in  guten  Verhältnissen  gelebt;  nachdem 
sein  Bruder  seine  Ehe  hintertrieben  hätte,  habe  er  sich  dem  Trünke 
ergeben,  und  es  sei  ihm  jetzt  alles  gleich,  da  er  nichts  mehr  zu  ver- 
lieren habe.  Er  liahe  oft  bis  1  Liter  Schna])s  getrunken,  sei  oft 
schwer  betrunken  gewesen,  habe  aber  nie  ein  ])eliriuni  gelial)t.  Seine 
ganze  Lebensführung  sucht  er  immer  wieder  durch  den  Hinweis  auf 
die  Intriguen  des  Bruders  zu  erklären  und  zu  beschrmigen  

. . .  Seine  Strafsache  besprach  er  mit  absoluter  (ileichgültigkeit 
und  ohne  jede  Zurückhaltung  und  Reue,  indem  er  stets  den  Stand- 
punkt vertrat,  dass  Oeb.  ihn  verfolgt  und  getödtet  hätte,  wenn  er  sich 
nicht  zur  Wehre  gesetzt  hätte.  Oeb.  sei  doch  zu  ihm  in  die  Wohnung 
eingedrungen,  er,  B.  sei  der  Bestohlene.  Im  Uebrigen  habe  er  nie 
irgend  eine  Feindschaft  gegen  Jenen  gehegt  und  ihn  früher  nicht 
gekannt.  Gelegentlich  hob  er  hervor,  dass  er  stets  ein  guter  Christ 
gewesen  und  noch  wenige  Woche  vor  der  That  gebeichtet  habe. 
Auf  Vorhalt,  dass  seine  That  Yon  wenig  Gottesfurcht  zeuge,  blieb  B. 
dabei  stehen,  er  habe  in  Nothwehr  gehaadelt  und  werde  im  gleichen 
Falle  ebenso  handehL  Seinen  oben  kurs  erwähnten  Traum,  in  dem 
er  die  Mutter  Gottes  gesehen  habe,  bezeichnet  er  als  eine  I^zählung, 
deren  Wirklichkeit  er  nie  behauptet  habe,  es  ja  nur  ein  Traum 
gewesen  sd.  Es  sei  zusammenftssend  erwähnt,  dass  B.  weder  in 
B^nen  Aeusserungen  noch  in  seinem  ganzen  Wesen  den  Eindruck 

änUif  fBr  bialoalaiitiiiopologlia.  ZU.  12 


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166 


XI.  PoLhoz 


eines  llallucinanten  machte,  auch  zusamnjcnhängende  Wahnvorstel- 
lungen wurden  niemals  —  auch  nicht  im  provocirten  Affecte  — 
geäussert 

Das  Ergebniss  6ßt  Beobachtung  wurde  in  folgenden  Ausfüb- 
ningen  zusammengefosst,  die  kii  hier  möglichBt  vollständig  folgen 
lassen  muss. 

Bei  der  Verwerthnng  des  gesammten  Hateriales  steht  die  That- 
saehe  im  Vordeigninde^  dass  &  notoriseher  Trinker  ist  und  seit  yidea 
Jahren  in  bald  stSikerem,  bald  geringerem  Haasae  dem  Alkohol- 
gennsse  ergeben  war.  Bei  dem  Aiter  des  B.  mnss  diese  danemde 
Trnnksnoht  sa  wesentliehen  Yeründernngen  der  gesammten  PersOn- 
liehkeiten  führen.  Diese  Veränderungen  sind  danemde;  [sie  sind  die 
Folgen  des  ehronisohen  Alkoholismns;  wir  mUssen  sie  trennen  ron 
den  Symptomen,  die  an  dem  YerhängnissroUen  Abende  der  Alkohol 
ganz  acut  Temrsacht  hat  Eine  regelmässige  V^ändmng  in  ersterer 
Hinsicht  ist  die  sogenannte  Charakterdegeneration,  die  sich  vorzüg- 
lich  durch  den  Verinst  aller  höheren  Gefühle,  wie  Seham,  Bene^  Mit- 
gefühl u.  s.  w.  äussert. 

Diese  gemlithliche  Abstumpfung  erklärt  den  fast  regelmässigen 
Verlust  der  socialen  Stellung  des  Trinkers,  sie  erklärt  ferner  die  Häufig- 
keit manobw  Arten  von  Verbrechen  bei  Trinkern.  Diese  Symptome 
finden  wir  in  grösster  Deutlichkeit  bei  B.:  er  ist  vom  woblsituirten 
Besitzer  zum  bettelnden  Tagelöhner  herabgesunken.  Sein  Verhalten 
nicht  nur  nach  joner  Strafthat,  sondern  auch  später  in  der  Anstalt, 
als  er  lange  Zeit  ohne  Alkohol  gelebt  hatte,  zeigt  eine  geradt^zn  bru- 
tale Gleichgültigkeit  und  Rohheit  seiner  That  und  Uige  gegenüber. 
Weitere  Symptome,  die  der  Alkoliohnissbraiicli  hervorzurufen  geeignet 
ist,  wio  das  Auftreten  von  Smin  stiiuschungon  und  Walinvorstellungen, 
sind  nicht  festzustellen.  Dass  B.  sie  während  der  ganzen  Zeit  zurück- 
gehalten hätte  (Dissimulation),  ist  bei  seiner  sonstigen  Mittheilsjimkeit 
nicht  wahrscheinlich.  —  Aber  ohne  Zweifel  liat  B.  zur  Zeit  der  That 
auch  unter  dem  Einfluss  des  acuten  Alkoholgenusses  gestanden;  fast 
alle  Zeugen,  besonders  die  Polizeibeamten,  bezeichnen  ihn  als  an- 
getrunken, er  selbst  giebt  eine  ganze  Reihe  Kneipen  an,  in  denen  er 
Schnäpse  getrunken  hatte.  Man  hat  als  die  erste  Folge  der  acuten 
Alkoholvergiftung  die  erleichterte  Uebertragung  von  Impulsen  oder 
auch  den  Wegfall  centraler  Hemmungen  bezeichnet;  mit  anderen 
Worten:  beim  Angetrunkenen  setzen  sieh  Voistellnngen  sohneUer  und 
leichter  in  Handlungen  um.  Wie  im  Torliegenden  Falle,  so  finden 
wir  auch  in  den  früheren  Handlangen  des  B.  diesen  Mangel  an 
Hemmung.  Eine  wichtige  Bolle  spielt  dabei  der  bei  Alkoholisten  so 


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Beitrigo  zor  B^tacfatniig  alkoholistisdier  StSrnngw  in  foro.  167 


häufige  Ang^taffect,  der  ihn  zu  seinen  zahlreichen  Drohungen  und 
mehrfachen  Bitten  um  Hülfe  trifb  und  nicht  zuletzt  den  schnellen 
Act  vermeintlicher  Nothwchr  auslöste.  —  Es  bleibt  schliesslich  noch 
die  Fraj^  zu  beantworten,  ob  B/s  Handlung  nicht  überhaupt  das 
Product  einer  wahnhaften.  Auffassung  der  Situation  oder  einer  hallu- 
cinatorisch  bedingten  Angst  gewesen  sei.  In  dieser  Hinsicht  ist  einmal 
der  Thatsache  zu  gedenken,  dass  B.  in  der  That  vom  Sohne  des  Oeb. 
bestohlen  worden,  und  dass  der  Erschossene,  wie  aus  seiner  Lage 
nach  der  Tbat  innerhalb  der  Wohnung  des  B.  hervorgeht,  thatsäch- 
Keh  eingedrungen  war.  AuB  diesem  Grande  kann  auch  an  eine 
Handlang,  die  als  Firodiiefc  dnea  Verfolgungswabnea  sa  deuten  wiie, 
kaum  gedacht  werden. 

Fflr  die  geriehtsirzdiohe  Wftrdigang  des  FaUea  ersehenen  m.  E. 
folgende  Erwfignngen  berechtigt  B.  ist  seit  Langem  dem  Tnmke 
ergeben  imd  hat  aneb  an  jenem  Abend  nnter  dem  Einfhus  des 
Alkohols  gestanden.  Aber  er  ist  weder  im  eigeatUoben  Sinne  geistes- 
krank noch  anch  in  einem  Znstande  des  sogenannten  paihologischeii 
Sansdies  gewesen.  Letxleies  aeigt  sich  am  deutlichsten  an  seiner 
ansgezeiobneten  Erinnemng  für  die  Einselheiten  bei  nnd  nach  jener  Tbat 
Die  oben  erwähnten  Symptome  der  Alkoholintoxikation  geben  eine 
vollkommen  ausreichende  psychologische  ErklXmng  des  ganzen  Vor* 
ganges  und  das  gesammte  Verhalten  des  B.  vor  und  nach  der  Tha^ 
sie  erscheinen  aber  nicht  ausreichend,  denselben  als  nnzurechnongs- 
fthig  im  Sinne  des  §  51  StGB,  zu  erachten,  so  lange  keine  prtg- 
nanteren  Symptome  geistiger  Störung  hinzutreten. 

Im  Schlusssatze  wurde  die  Zurechnungsfähigkeit  des  B.  unter 
Betonung  der  Wichtigkeit  der  chronischen  und  acuten  Alkohol  Wirkung 
bei  Begehung  der  verbrecherischen  That  hervorgehoben.  In  gleicher 
Weise  äusserte  ich  mich  in  der  Schwurgerichtssitzung,  indem  ich  be- 
sonders auf  den  erhöhten  Angsteffect  der  Trinker,  die  Schnelligkeit 
des  Entschlusses  und  das  Fehlen  hemmender  Gegenmotive  hinwies, 
Moment»',  die  eine  Ueberlegung  bei  der  That  nicht  aufkommen  lassen. 
Unter  diesen  Umständen  Hess  die  Staatsanwaltschaft  die  Anklage  auf 
Mord  fallen  und  B.  wurde  unter  Zubilligung  mildernder  Umstände 
zu  5  Jahren  Gefängniss  verurtheilt. 

Eine  wichtige  Frage  ist  in  dem  vorstehenden  Gutachten  nur 
ganz  kurz  in  die  Erörterung  gezogen  worden,  die  Frage,  ob 
es  sich  bei  B.  um  einen  sogenannten  pathologischen  Rauschzustand 
gehandelt  liaben  kann.  Unter  diesem  Zustand  haben  wir  Rausch- 
zustände zu  verstehen,  die  auf  einer  pathologischen  Grundlage  oder 
besser  auf  dem  Boden  krankhafter  Veranlagung  entstehen.  Nicht 

12» 


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168 


XL  POLUTZ 


jeder  Ilausch  ist  iiatholD^Msch.  Cramer')  hat  diese  Scheidunj;  mif 
Recht  betont,  aber  es  scheint  niirwenip  zweckdienlich,  wenn  Cramer 
dem  Sachverständijrcn  räth,  über  einen  normalen  Rausch  ein  Gut- 
achten zu  verweigern.  Gerade  die  Beurtheilung,  ob  der  Rausch  in 
die  eine  oder  andere  Kategorie  fällt,  ist  Sache  des  Sachverständigen, 
Im  Allgemeinen  wird  sich  jedoch  zeigen,  dass  die  schweren  Affect- 
entladungen  uiit  ilirrn  kriminellen  Folgen  sich  fast  ausschliesslich  bei 
pathologischen  Kau^ili/.ustünden  finden.  Der  Boden  für  derartige 
Zustände  kann  durch  Alkoholintoleranz  bei  Epilepsie  und  Ilysterie, 
bei  Trauma  oder  Neurasthenie  vorbereitet  sein.  Cramer  nennt 
ferner  Ueberanstrengung,  Reconvaslescenz  und  Infectionskrank- 
hmtea  o.  a.  m.  Es  fragt  sieb,  ob  die  Kriterien  eines  derartigea 
ZnslandeB  im  vorii^genden  FaUe  iiadisaweisen  gewesoi  wSren. 
Bonhoeffer^  unterscheidet  zwei  Formen  des  pathologischen  Ban- 
sehes  bei  Gewohnheitstrinkern:  eine  mit  delirantem  und  eme  mit 
epileptoidem  Ohaiakter.  In  der  ersteren  ist  die  Orieotimng  nicht 
▼oUsÖndig  «ofgehoben,  wie  Heilbronner  nachgewiesen  hat  Aber 
sie  geht  überaus  leicht  rerloren.  In  solchem  FaUe  kommt  es,  wie 
Bonhoeffer  an  einem  Beispiele  aeigti  zu  brutalen  Acten  ingst- 
licher  Abwehr  unter  Verkennung  der  gesammten  Situation,  die 
epUeptoiden  Zustünde  gehen  aus  den  Torfaerigen  nicht  selten  henror, 
charakterisiren  sich  als  lebhafte  AnfSlle  hochgradigen  Zorn-  und- 
Wutbaffectes  bei  thalweiser  Desorientirung.  Unter  den  Symptomen, 
die  die  Diagnose  dieser  Zustände  ermöglichen,  steht  die  Trübung  des 
Bewusstseins,  die  mangelhafte,  oft  gänzlich,  aufgehobene  Erinnerung 
an  die  Vorgänge  und  der  den  Anfall  fast  regelmfissig  abschliessende 
Schlaf  im  Vordergrund. 

Von  Gudden  ist  neuerdings  auch  auf  die  Trägheit  der  Pu- 
pillenreaction  während  des  Anfalles  hingewiesen  worden.  In  unserem 
oben  erwähnten  Falle,  fehlen  aber  gerade  eine  Reihe  wichtiger  Sym- 
ptome. Von  voraherein  charakterisirt  sich  die  Handlung  des  B. 
nicht  als  eine  unniotivirte  Angriffshandlung,  denn  B.  wurde  von  dem 
Erschossenen  in  seiner  eigenen  Wohnung  aufgesucht.  Die  Angst, 
die  B.  vor  Letzterem  hatte,  war  nicht  ganz  unbegründet,  da  er 
den  Oeb.  in  der  That  wegen  Diebstahls  angezeigt  und  dessen 
Rache  zu  fürchten  aUen  (^rund  liatte.  Aber  auch  nach  der  Hand- 
lung zeigt  sich  dauernd  eine  bis  in  s  Einzelne  gehende  Erinnening 

1)  Officieller  Bericht  über  die  Haiiptver»nininlung  der  deutschen  Mcdicinal- 
beamtoii  in  iMünchcn.  ScpL  1902.  Zeitfichr.  f.  med.  Beamte.  &41.  Verl,  i^'i^cher*» 
BucbhanUluQ^.  Berlin  1U02. 

2)  &  209,  1.  C 


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Beibige  xur  B«giitMlitiiiig  aIkoh<rii8tiidier  Stttnugien  in  foro.  169 


an  alle  zeitlichen  nnd  öitlichea  Momente,  die  mit  jener  That  zu- 

sammenfielen. 

Unter  diesen  Umständen  erschien  mir  die  Annahme  eines  patho- 
loj;ischen  Rauschzustandes  nicht  berechtigt.  Dem  B.  wurden  unter 
Berücksiclitigung  meiner  gutachtlichen  Ausführungen  mildernde  Um- 
stände bewilligt,  die  Anklage  auf  Mord  wurde  fallen  gelassen  und 
statt  der  hohen  Zuchthausstrafe  des  §  212  des  StGB,  eriiielt  er  eine 
Gefängnissstrafe,  es  entsprach  dies  ganz  besonders  auch  der  ärzt- 
lichen Auffassung,  die  einen  Menschen  wie  B.  keinesfalls  für  voll- 
kommen zurechnungsfähig  bezeichnen  kann.  Die  Schwierigkeiten, 
die  der  forensischen  Bewerthung  solcher  Fälle  entgegenstehen,  werden 
bei  der  Lage  der  gesetzlichen  Bestimmungen,  nicht  leicht  zu  be- 
seitigen sein.  Auch  der  Weg ,  den  Schrenck-Notzing')  ein- 
schlägt, indem  er  die  Zurechnungsfähigkeit  jjrucentual  abschätzt, 
scheint  mir  wenig  zweckmässig,  weil  die  Entscheidung  über  die  Zu- 
rechnungsfähigkeit dadurch  dem  Richter  statt  dem  Arzte  überwiesen 
wird.  Ich  glaube  aber,  dass  die  Interessen  des  Gerichtes  wie  der 
P^ehiatrie  besser  gewahrt  sind,  wenn  der  Arzt  in  solchen  HUlen 
ein  bestimmtes  Gntteliiea  abgiebt,  auf  dem  d»  Bioliter  sein  tXrtheil 
aufbauen  kann. 

1)  Archiv  f.  Krlminalanthropologie.  8.  Bd.  &  77.  Jahig.  1903. 


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XII. 

Zar  Kenntniss  der  Zeichen  des  Erh&nganptodeB. 

Prof.  MnMBunii'Bcrihi* 

Im  10.  Bande  dieses  Archivs  hat  Albin  Uaberda  eine  lehr- 
reiche Studie  über  die  Art  des  Vollzuges  der  Todesstrafe  veröffentlicht 
In  dieser  theilt  er  mit  (S.  249),  dass  bei  dem  in  Wien  gehenkten  Raub» 
mörder  Voboril  neben  Abquetschung  der  beiden  oberen  Kehlkopfhömer 
eine  quere  Durchquetschung  des  linken  Kopfnickerrauskels  ohne  Spur 
von  Blutunterlaufung  und  eine  ebenfalls  ganz  reactionslose  Durcli- 
reissung  der  rechten  Kehlkopfseingangsfalte  (Plica  ar^-- 
epiglotticar)  nachweisbar  war,  eine  seines  Wissens  noch  nie  beschriebene 
Verletzung. 

Auch  mir  ist  nicht  bekannt,  dass  in  der  Literatur  schon  eine 
analoge  Verletzung  als  Folge  der  Erhängung  mitgetheilt  worden  ist. 

Dagegen  verfüge  ich  selbst  über  eine  bisher  noch  nicht  veröffent- 
lichte Beobachtung,  die  meines  Erachtens  hierher  zu  rechnen  ist  und 
ein  völliges  Gegenstück  zu  dem  Falle  Haberda's  darstellt,  nur,  dass 
in  meinem  Falle  die  vitale  Keaction  nicht  fehlte. 

Am  28.  Not.  1898  habe  ich  mit  meinem  Collegen  Mittenzweig 
die  gerichtliche  Obduction  eines  64jährigen  Mannes  ausgeführt,  der 
einige  Tage  TOiber  todt  mit  waiet  Sehmswonde  in  der  lediten  Schläfe 
«ofgefnnden  worden  war.  dar  nicht  dndentigen  Kainr  des  Ob- 
dnctionsbefnndeB  halte  ich  es  fflr  geboten,  um  ane  objectiTe  Würdigong 
des  Falles  nnd  eine  kritisdie  Nachprüfung  maner  Anschairang  sn 
ermSgUchen,  das  von  uns  aufgenommene  Pkotokoll  woitgetren  wieder- 
sngeben.  Es  lantet: 

A.  Aeussere  Besichtigung. 

1.  Der  Leichnam  des  64jährigen  Mannes  ist  168  cm  lang^  von  rogel- 
mAsdgem  Köi'perbau  und  mässiiL'em  Emälirunpiziistande. 

2.  Die  Haut  iät  an  der  Yurderfläche  grauweiäs,  am  Kücken  blaurotb. 
Bei  Ebsehnitt  zeigt  sieh  keui  frei  ausgetretenes  Kut  im  Gewebe. 


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Zur  Kamtnias  der  Zcidioo  des  Erhingungstodes. 


III 


3.  I^ichenstane  ist  nur  noch  in  den   nntei'en  Gelenken  vorliamlen. 

4.  Zielit  man  eine  horizontale  Linie  vom  rechten  äusseren  Auj,'en- 
vinkel  nach  lünten  und  erriehtet  man  auf  dieser  4  cm  vom  Ausgangspunkt 
«ne  Senkraofate,  so  trifft  naB,  wenn  man  letztere  ebenfalls  4  cm  nadi  oben 
▼«rfolgt,  auf  eine  unregdminig  rundliche  HautdurchlrK-liening,  deren  Dorch- 

•  messer  1  —  1  '  ?  Durchmesser  beträgt.  Die  IJünder  dei-selben  sinil  im  All- 
gemeinen bloss  in  einem  schmalen  Saum  stlnvär/.licli  vertrocknet,  nur 
entsprechend  dem  unteren  Quadranten  findet  sich  eine  bis  zu  2  cm  reiclicude 
vertrocknete,  gransefawarae  Partie  nnd  awar  wird  diese  Verfftrbnng  nach 
unten  zu  —  also  mit  zunehmender  Entfernung  von  der  Durchlöcherung  — 
desto  lichter;  die  Hautliärchen  im  Bereicbe  dieser  Partliie  sind  versengt,  zn 
kurzen  Stummeln  verwandelt 

5.  Das  reclite  obere  Augenlid  ist  blutunterlaufeu.  Die  Augenbinde- 
hinte sind  weissy  Hombinte  wenig  getrflbt,  Papillen  gleich  mittdweit 

6.  In  den  natttriichen  Oeffnnngen  des  Kopfes  liegt  >iel  trodcenes  Blnt. 

7.  Die  Zungenspitze  liegt  hinter  den  zahnlosen  Kiefern. 

8.  Hals  nicht  widernatürlich  beweglich.  6  eni  unterhalb  des  rechten 
Unterkieferraudes,  demselben  parallel,  verläuft  etwa  5  cm  lang  ein  wenige 
Millimeter  breiter,  brftnnHcher,  leicht  vertrockneter  Hantstreifen.  Derselbe  ist  bei 
Euuchnitten  nicht  blntnnterlaufen ;  die  vorderste  Spitze  des  Streifens  ist 
etwa  3  em  von  der  Mittellinie  entfernt. 

9.  Brust  von  rejrel massiger  Form. 

10.  Bauch  nidit  besondere  aufgetrieben. 

11.  Im  Hodensack  liegen  beide  Hoden,  HanurOhrenOffonng  frei 

12.  Aftar  offen.   Koth  ist  nicht  ansgetreten. 

13.  Zeichen  anderweitiger  Verletzungen  finden  sich  an  der  Leiche 
nicht.  Am  linken  Unterschenkel  findet  sich  eine  aosgedehnte,  bräonlicfae 
Uautverfärbung.  (Altes  Fussgesdiwür.) 

B.  Innere  Besichtigung. 

I.  Kopfhöhle. 

14.  Die  weichen  Schädel bedeckungen  sind  in  der  Umgebung  der  ge- 
nannten Oeffnung  in  grosser  Ausdehnung  blutunterlaufen  und  durch  ein- 
gesprengtes Pulver  sdiwars  veifftrfoi 

15.  Das  knöcherne  Schädeldach  zeigt  rcclitcrseits  eine  kreisförmige 
Dun  liiriclieninp-,  deren  Durchmesser  1 3  Millimeter  beträgt.  l>ieselbe  sitzt  im 
Stirnbein  und  zwar  in  dessen  hintei-sten  Abschnitt  einige  mm  vor  dem  Treff- 
punkt von  Kronen-  und  Scliuppenuaht;  au  der  luuenflüche  zeigt  diese 
Oeffnung  einen  Durchmesser  von  16  mm,  der  Rand  ist  hier  abgeschrägt, 
^vährend  er  aussen  scharf  ist.  Von  dieser  Durchlöchening,  deren  Umgebung 
ebenfalls  eingesprengte  Pulverkömehen  erkennen  lässt,  geht  ein  feiner  Spalt 
nach  unten  ab. 

16.  In  dem  linken  Scheitelbein  liegt  eine  rundliche  Durchlöclierung, 
die  Ton  vom  nach  hinten  etwa  2,  von  oben  nadi  unten  etwa  1  em  misst 

IHe  Mitte  derselben  liegt  2  cm  hinter  der  Kronennaht  und  etwa  3  cm 
unter  der  halbkreisfftrmigen  Linie  Von  ihr  geht  eine  cm  lange,  feine 
Spalte  nach  hinten  Mid  oben  ab.  Sonst  ist  das  Schiidcldach  unversehrt 
und  von  regelmässiger  Form.    Die  zweite  Oeffnung  ei'scheint  uacli  aussen 


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172 


XII.  Stbabhhawk 


abgesdirägt.  Das  heraudgebrochenc  Knodienstück  ist  iu  mehrere  Splitter 
zorfaUen,  die  in  die  weieben  Sdiideideoken  eingesprengt  sind. 

1 7.  Die  harte  Hirnhaut  ist  aussen  mit  dem  Scliüdel  verwaehBcn,  inneo 
frlatt.  lilutleitcr  und  Bhit^'ofiiBse  fast  leer.  Entsprechend  den  beiden  I^hem 
im  Knitchen  ist  auch  die  liarte  Hirnhaut  durchlöchert.  Das  roditsseitige 
Lueli  hat  2  cm  im  Durchmesser,  seiue  Umgebuug  ist  ebenfalls  mit  i*ulver- 
kOrndien  getipfelt. 

IS.  Weiche  Hirnliaut  im  Qenxeii  zart  nnd  durchsichtig,  nur  an  der 
Convexität  stollciiw  <Mse  sehnijr  getrübt.  Die  Venen  sind  scliwach  gefüllt, 
die  Arterien  leer,  iliie  Wand  fleckweise  verliäitet.  Entsj»recliend  den 
Knocbenbrttclien  zeigt  auch  die  weiciie  iiiruhaut  2  kreisrunde  Duiciibuhrungeu, 
welcbe  oanalfOrmig  in  das  Innero  des  (JeliiniB  fOhren.  IHe  rechte  deneiben 
sitzt  in  der  3.  Stimwindung,  am  Uebergange  von  der  Basis  znr  Convexität, 
die  linke  etwa  2  cm  höher  und  etwa  ebensoweit  nach  hinten.  In  der 
letzteren  Stelle  liegt  eine  an  der  Spitze  gestauchte,  etwa  1  cm  im  Durch- 
messer haltende  Bleikugel,  welche  wir  zu  den  Acten  überreidien.  In  der 
Umgebung  dieeor  Oeffnungen  ist  die  weidie  Himhant  idotnnterlaolBii. 

19.  In  den  Himkammem  liegen  etwa  30  cm  tiidli  flOnigeD,  theils 
geronnenen  Blutes  Kammern  nicht  erweitert,  die  Wand  ist  leiefat  gelESnit. 
Adergeflechte  und  obere  fJefässplatte  blauroth. 

20.  Im  Urosshirn  findet  sich  ein  Canal  zertrUmmorter  Substanz,  welcher 
die  beiden  genannten  Oeffnungen  verbindet;  derselbe  verläuft  durch  die  buden 
Stimlappen  und  betrifft  noeh  die  8|ntMB  beider  Streifenhtgel,  besonden  rechts. 

21.  Sonst  sind  die  Schnittflftchen  der  Grosshimhalbkugehi  glänzend 
weiss,  feucht  und  enthaltoi  eine  niXsaige  Anzahl  abepttlbarer  Blatpnnlcte. 
Hirnrinde  hellgrau. 

22.  Die  grossen  Himknoten, 

23.  das  Kleinhirn, 

24.  I^riicke  und  verläng^*tes  Mark  zeigen  kdne  Herderkranknngen 

und  verhalten  sidi  im  T/eltrijrcn  wie  das  Grosshirn. 

25.  Dil'  S<h;ulel;j:rundfläche  zeigt  eine  ausgedehnte,  unregelinä,s.si;re 
Splittening  ui  beiden  Augenhöhlendäcliern.  Dieselbe  hängt  zusammeu  mit 
der  von  der  rechten  Emsehnssl^iing  ausgehenden  Ftenr. 

IL  Brost-  nnd  Banobhöhle. 

26.  Die  Muscnlatnr  ist  ziemlich  krftflig,  Fettpolster  an  den  Bancfa> 
decken  wenige  Millimeter  dick. 

27.  Bamlifcll  glatt  und  glänzend,  Baucheingeweide  in  natürhcher  Lage. 

28.  Im  kleinen  Becken  kein  auffallender  Inhalt.  Das  Zwergfell  steht 
beiderseitB  hinter  der  5.  Rippe. 

a.  Brustliöhle. 

29.  Die  Rippenkorpel  smd  stark  g^bränot  Das  Brustbein  ist  zwischen 
den  Ansätzen  der  4. — 5.  Rippe  qner  darchbrodmi.  Die  Bmchflidie  verläuft 
von  vorne  oben  nach  hinten  unten,  die  Knochenhaut  ist  nicht  durclitrennt,  aber 
die  Weichtheile  v(»r  dem  Brustbein  sind  hier  blutunterlaufen.  Der  Knorpel 
der  4.  linken  Kippe  ist  iu  seiner  Verbindung  mit  dem  Brustbein  gelockert. 

30.  Die  Brusteingeweide  befinden  sich  in  natürlicher  Lage,  bade 
Langen  sind  nicht  venmfasen,  in  den  BmstfelläUsken  kein  aotfallender  Inhalt. 


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Zur  Kenntniu  der  Zeidien  des  Eriiingangstod«. 


178 


31.  Im  Ilerzbc'utrl  kein  auffallender  Inhalt. 

32.  Das  Herz  selbst  niisst  von  der  Spitze  bis  zur  Furche  13  cm,  vom 
Bnkeo  bis  tum  Teofaten  Rande  14^2  em;  es  ist  rddiKoh  mit  Fett  bewaehaen, 

entliält  in  simmtlichen  Höhlen  mSMige  Mengen  locker  geronnenen  Bhitt^s. 
Die  Vnrhofkammeröffnunfron  sind  ftlr  2 — '^  Fin<::er  dureli;rän^i*r,  die  li.ilb- 
ni«)ndfürmi;;en  Klappen  schliessen  wa.s-serdielit.  Herzinnenhaut  zart  und 
unversehrt.  Die  Klappen  des  linken  Herzeus  und  der  ^kifaugstlieil  der 
Aorta  entlialten  eahlreidie  Terdicktey  mm  Hieil  ▼erimOefaerte  und  Twkalkte 
SteDen.    ATuseuIatur  kräftig,  gratiroth.    Das  Herz  wiegt  leer  4  SO  g. 

33.  Die  linke  Lnnjro  zeigt  glatten  und  glänzenden  Ueherzug,  ihre 
Känder  sind  ausseronlentlich  stark  ^'eblfiht,  auf  die  Schnittfläche  der  Lnn^au 
tritt  blutiger  Scliaum  in  mässiger  Menge.  Gewebe  der  Lunge  überall  luft- 
haltig, in  den  grosMD  Laftwflgeii  Hegt  viel  flOnigiB  Bist,  In  den  groaien 
Blatgettsaen  der  Langen  kein  auffallender  Inhalt 

34.  Die  rechte  Lunge  verhält  «eh  wie  die  linke. 

35.  Die  Prossen  lilutgefäsÄe  des  Halses  sind  leer  und  wie  auch  die 
Nerven  unversehrt.  Dagegen  findet  sich  entsprechend  dem  braunen  Streifen 
an  der  Halshaut  eine  Blutdorchtränkung  im  rechten  Kopfuidcer  etwa 
1 — 2  cm  im  DnrohmeiBer. 

36.  Mund  und  Rachenhnhie  leer,  Zunge  und  Mandeln  niofat  geBChwollen. 

37.  Speiseröhre  leer,  Schleiinliant  V»lassroth. 

38.  Kehlkopf  und  Lufti"öhre  enthalten  etwas  flüssiges  Blut,  Schleim- 
haut blassroth.  Das  Skelett  des  Halses  ist  unversehrt  Dagegen  findet  sidi 
em  1  em  laoger,  fetsdger  Einrus  der  Sdildmhanty  welcher  von  der  rechten 

Kehldeckel-Giessbeckenknorpelfalte  hoiisootal  nach  aussen  zieht;  die  Ränder 
des  Schleimhautnsses  sind  zurückgezogen,  stark  blutunterlaufen  und  im 
oberen  Abschnitt  auch  derart  geschwollen,  dass  eine  fast  kugelige  Wölbung 
entsteht. 

39.  SehüddrllBe  nidit  vergrOaaert 

b.  Bauchhölile. 

40.  Die  Milz  ist  12  ein  lani;,  S  cm  breit,  4  cm  diek,  Kapsel  glatt,  etwas 
verdickt;  Obei-fläche  röthlichgrau,  Schnittfläche  dunkelroth,  lässt  etwas  Blut 
anatreten,  Gewebe  semUeh  weich,  FoUikd  nndeatlidi. 

41.  Die  linke  Nebenmere  zeigt  gelbe  Rinde  und  branne  Maricaubstanz. 

42.  Linke  Niere  von  der  Kapsel  leicht  trennbar,  von  glatter  Ober- 
fliielie,  auf  die  Selinittflilche  tritt  wenig  Blut,  Zeichnung  von  Binde  und 
Mark  deutlich,  erstere  nicht  verbreitert,  nicht  getrübt 

43.  Rechte  Nebeontere  nnd 

44.  Redito  Niere  veriialten  sich  ebenso. 

4  5.  Harnblase  mit  flüssigem  Urin  trotzend  gefüllt,  Schleimhaut  granweiss. 
4H.  Hoden  und  Nebenhoden  oline  krankhafte  Verändenmgen. 

47.  Im  Mastdarm  sehr  derbe  Kothballen. 

48.  Derselbe  Inhalt  im  Dickdarm.  Im  DQnndarm  hellere  wdchere 
Maeann    Dannachlelmhant  granweisB.  DrOaen  nicdit  geediwoUen. 

49.  Im  Zwölffmgerdarm  galliger  Inhalt    Gallengang  durchgängig. 

50.  Iii)  Mairen  etwa  100  ccm  dicken  Speisebrnee^  Magensdbleimhaut 

grauweiss,  <»lme  Blutungen  oder  Substanzverluste. 

51.  Die  Gallenblase  ist  mit  flüssiger  Galle  etwa  halb  gefüllt 


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174  Zn.  SnLUSMAiiXi  Zur  KenntiiiM  der  Zdoben  des  EriiSogungstodet. 

52.  Hio  Loher  zeijrt  glatten  und  glänzenden  Uel)erzufr.  es  findet  sich 
ein  S  eni  hiuger,  zackiger  Riss  vuu  Kapsel  und  obersten  Gewebe,  der  sicli 
von  der  Mitte  dee  HmtemuideB  dee  rechten  Lappens  sdirig  ntdi  yom  und 
rechts  an  der  oonvexen  Flldie  entlaiig  seht  Em  iweiter,  sonst  ebenso' 
hesi'h  äffen  er,  etwa  1  eni  langer  Riss  sitzt  an  der  Oberfläche  des  linken 
Leberlappens  und  verläuft  von  rechts  nach  links.  Auf  die  Schnittfläche 
der  I>cber  tritt  flüssiges  Blut.  Die  ächuittfläclie  ist  von  braunrother  Farbe. 
Läppcheozeioliniing  tatlMi. 

53.  BsndispeicheldrQse  nidit  krukhaft  Terinderk 

54.  Gekröse  fettreich,  Drttsen  nicht  fjeschwollen. 

55.  Die  grossen  Blutgefässe  vor  der  Wirbelsäule  enthalten  etwas 
flüssiges  Blut,  die  absteigende  Aorta  verhält  sicli  wie  der  Aufaugstheii. 

Muskeln  und  Knochen  des  Rnmpfes  und  der  CHieder  unversehrt 

Wir  haben  in  unserem  Torlänfigen  Gataohten  ab  die  wahnofaein- 
liohite  ErklSning  folgende  angenommen: 

Der  Ventoibene  hat  zunächst  einen  SelbBterhSngungsvenmcb  ge- 
macht Dieser  miasglttckte^  Tielldcht  durah  Beiasen  dee  Strickes»  der 
Mann  stürzte,  noch  be^or  sich  one  danemde  vollständige  Stnmgmarke 
gebildet  hatte,  herab  und  zwar  auf  Brust  und  Bauch  und  zosr  nch 
dabei  den  Brnstbeinbrnch  und  die  oberflächlichen  Lebenisse  zu. 
Nachher  hat  er  dann  den  —  alsbald  erfolgreichen  —  Selbstmordver- 
such  durah  Schuss  in  den  Kopf  ansgefflhrt  Dass  es  sich  um  einen 
selbstmörderischen  Schuss  gehanddt  hat,  machten  die  Torhandenen 
Kriterien  des  Nahschusses  nud  der  fische  Sitz  des  Einschusses  an 
der  rechten  Schläfe  wahrscheinlich. 

Man  kann  freilich  nicht  sagen,  dass  eine  andere  Erklärung,  dass 
speciell  die  Annahme  einer  verbrecherischen  Tödtung  gänzlich  ange- 
schlossen ist,  aber  jede  andere  Construction  des  Vorganges  erscheint 
uns  bei  weitem  weniger  natürlich  und  begreiflich. 

Offenbar  hat  sich  auch  irgendein  Anhalt  für  eine  verbrecherische 
Tödtung  bei  den  polizeilichen  Ermittelungen  nicht  ergeben;  denn  wir 
haben  nie  wieder  etwas  von  jenem  Fall  gehört. 

Ist  unsere  Annahme  richtig,  was  ich  hiernach  nicht  bezweifele^ 
so  würde  daraus  folgen,  dass  auch  bei  der  Selbsterhängung  Risse  in 
der  Schleimhaut  des  Keiilknpfeinganges  ontstuhen  können,  wenigstens 
wenn  die  Erhängung  zusammentrifft  mit  einem  Sturz  aus  gewisser  Höhe. 
Das  ist  ja  überhaupt  die  Conibination ,  bei  der  wir  häufig  schwere 
Verletzungen  am  Halse:  Kehlkopf brüche,  auch  an  den  nicht  typischen 
Stellen,  Conti nuitätstrennungen  der  Wirbelsäule  u.  s.  w.  antreffen.  — 

Eine  sehr  naturgetreue,  alsbald  an  der  Leiche  angefertigte  farUige 
Abbildung  der  seltenen  Verletzung  bewahrt  unsere  Samndung;  sie  ist 
kürzlich  in  der  Sectiun  für  gerichtliche  Medicin  des  internationalen 
medicinischen  Congresses  zu  ^ladrid  vorgelegt  worden. 


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XIII. 


Die  Technik  des  Steinpel:föl8cher8 
and  das  Arbeitshaas  als  seine  technische  HochBcliiiIe, 
sowie  einige  Vorschläge  zur  Abliülfe  % 

Dr.  W.  SoliütM,  Bofltock  L  II. 
(Hit  6  AbbildtiDgen.) 

Seitdon  ich  in  Bud  8  S.  1  ff.  dieses  Arehivs  doi  Lebensgang  eines 
.  Fälschers  von  Stempefai  und  Ijegimationapapiefen  geschildert  habe^  ist 
mir  eine  solche  Menge  yerschiedenartigeii  neuen  Materials  auf  diesem 
Qebiet  unter  die  Häode  gekommen,  dass  ich  es  für  geboten  halte 
nochmals  anf  die  in  diesem  Gewerbe  liegende  nngebeure  Gefahr  für 
unsere  Rechtspflege  hinzuweisen.  Fast  jeder  gewerbsmässige  Stromer 
fälscht  oder  lässt  fälschen,  nur  haben  die  Fälschungen  in  neuerer  Zeit 
vielfach  eine  solche  Vollendung  erreicht,  dass  die  Entdeckung  oft  recht 
schwer  ist  Zudem  verschafft  sich  der  Kunde,  besonders  wenn  er 
auf  falschen  Namen  reist,  ^em  auf  Grund  der  falschen  Ausweise  ein 
paar  echte,  z.  B.  eine  (^uittungskarte  und  ein  Wanderbuch  und  lässt 
dann  die  verdächtigen  verschwinden,  sei  es  dass  er  sie  wegwirft  oder 
iür  Bier  und  Schnaps  an  andere  Bedürftige  verhandelt. 

Um  so  wichtiger  dürfte  es  sein,  dass  jeder  praktische  Krimi- 
nalist die  Herstellungsart  und  Merkmale  der  „linken  Flebben''  kennt 
und  so  in  stand  gesetzt  wird,  wenigstens  alle  ihm  vorgelegten  als  solche 
zu  erkennen  und  anzuhalten. 

Am  häufigsten  findet  sich  auch  heute  noch  die  gewöhnliche  Ver- 
iSIsebung  der  Schrift  durch  Foitradiren  einzelner  Buchstaben  und 
Zahlen,  an  deren  Stelle  dann  an  anderer  Name,  ein  günstigeres  Jahr 
u.  B.  w.  gesetzt  wird.  So  bequem  sieh  aher  aneh  anf  diese  Art  ein 
fremder  Arbeitsschein,  der  ttber  Tage  Umtet,  in  eben  eigenen  Uber 
Monate  und  Jahre  yerwandebi  ISsst,  der  echte  FSlscher  macht  von 

1)  Vgl  Hans  Gross,  Hsndb.  f.  UntexsuchnngBilchter  8.  Aufl.  S.69Slf. 


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176 


XnL  SuuCtkk 


diesem  Mittel  kaum  je  Gebrauch,  da  die  neuauffxetra^ene  Tinte  in  der 
raubea  Radirstelle  fast  immer  ausläuft,  zumal  wenn  es  sich  um  eine 
grössere  Fläche  liandelt .  Kann  er  die  gewünschte  Veränderung:  nicht 
einfach  durch  Zwisehenschreiben  und  Verwandlung-en  erreichen,  z.  B. 
aus  einer  1  eine  10  oder  eine  steife  2  machen  oder  dergl.,  ein  Zweck, 
zu  dem  manclie  Künstler  einen  ganzen  Kasten  verschiedener  Tinten 
bei  sich  führen,  und  will  er  doch  ^'ern  den  echten  Schein  benutzen, 
so  greift  er  zum  Tintentod.  In  einem  lileciilöffel  wird  eine  kleine 
Messerspitze  Chlorkalk  mit  einem  oder  zwei  Tropfen  Essijrsiiure  in 
Wasser  angerührt;  hat  sich  alles  schön  gelöst  und  vermengt,  so  wird 
mit  einer  Stahlfeder  oder  einem  spitzen  Streichholz  die  zu  vertilgende 
Schrift  sauber  mit  dieser  Flüssigkeit  nachgezogen,  und  sobald  ein 
Strich  yerschwunden  ist,  die  ätzende  Feuchtigkeit  mit  einqpi  weissen 
LöBchblatt  abgetupft,  damit  sie  das  Papier  selber  nicht  mehr  angreift 
Sodann  wird  das  ganze  Blatt  mit  Talkam  und  einem  reinen  Lappen 
abgerieben,  wobd  natOrfich  die  wnnde  Stelle  besonder»  bedacht  wird, 
und  mOglichBt  mit  einer  weiehen,  nicht  hackenden  Feder  nnd  genan 
pausender  Tinte  der  neue  Eintrag  gemacht,  den  man  so  lange  trocknen 
liest  nnd  mit  dem  Löschblatt  Yerschont,  bis  er  die  gleiche  Dnnkel-  ' 
httt  hat,  wie  sie  die  ftbrige  Schrift  aufweist  Wer  ganz  sicher  gehen 
will|  fthrt  noch  mit  der  feucht  angehauchten  Hand  Aber  den  staubige 
schmutzigen  Fusshoden  der  Penne  und  dann  Aber  das  Pafvier,  dem 
nun  besondeis  nach  du  paar  Tagen  AufeafhaHs  in  der  Bocktasche 
kehl  Mensch  mehr  etwas  VerdSchtiges  ansieht  Ich  habe  vor  meinen 
eigenen  Äugen  auf  diese  Art  unter  der  Hand  eines  geschickten  Kunden 
die  Schrift  ganzer  Quittungskarten  spurlos  verschwinden  sehen.  Diese 
eignen  sieh  bei  ihrer  gelben  Farbe  und  groben  Faserung  allerdings 
besonders  gut  zu  solchem  Verfahren,  dessen  Kunst  vor  Allem  darin  be* 
steht,  einigermaassen  richtige  Mischung  —  auf  100  g  Lösung  hdchsteas 
5  g  Essigsäure  —  und  genau  den  Augenblick  zu  treffen,  in  dem  man 
nach  Verschwinden  der  alten  Schrift  mit  dem  Löschblatt  abtupfen  muss. 

Die  Entdeckung  solcher  Fälschungen  ist,  wenn  sie  nicht  sehr  gut 
gemacht  sind,  besonders  durch  die  gelbliche  Verfärbung  der  geätzten 
Stellen  möglich,  zumal  wenn  niclit  die  einzelnen  Buchstaben  nach- 
gezogen sind,  sondern,  wie  dies  oft  geschieht,  die  ganze  Schreibfläche 
befeuchtet  ist.  Ferner  wartet  d*T  Fälscher  oft  nicht,  bis  das  Papier 
völlig  trocken  ist,  sondern  ui:u  lit  seine  ganze  Arbeit  in  einer  Sitzung, 
dann  (luellen  die  neuen  Buehslaljeu  nu'ist  etwas  aus  und  zeigen  unter 
der  Lupe  rauhe,  unscharfe  Ränder.  Ist  die  Arbeit  aber  gut  gemacht, 
und  ist  gar  noch  die  Unterlaire  gelblich,  wie  bei  den  Quittungskarten, 
oder  farbig  verschieden  wie  bei  den  Versicherungsmarken,  deren  Ent* 


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Die  Xeobnik  des  Stenq>eUilschen. 


177 


werthung  gern  auf  diese  Art  beseitigt  wird,  so  ist  die  Entdeckung  oft 
kaum  möglich. 

Mitunter  ist  es'müheloser,  die  ganze  Bescheinigung  neu  zu  machen. 
In  diesen  Fällen  imiss  man  sich  zunächst  darüber  klar  werden,  ob 
liezw.  was  für  ein  Siegel  chirunter  gesetzt  werden  soll,  da  der  Schein, 
mit  dessen  Ort  und  Bedeutung  stimmen  muss.  Allerdings  sind  mir 
auch  schon  oft  genug  Papiere  vorgekommen,  anl  denen  elirA  mit  dem 
Siegel  einer  norddeutschen  QHmusAMtd»  das  angeblich  von  irgend 
onem  aftddeotBcliea  Geweibelrabe&den  atugeBtellteZeiigniss  beglaubigt 
war,  und  auf  die  der  Inhaber  Stadtgesohenk  und  Verpflegungen  be- 
zogen, sowie  Strafen  Terbflsst  hatte;  doch  gehören  diese  auf  die  Naofa- 
Ifissigkeit  der  Behörden  und  die  Unanfmerksamkeit  der  PriTaten 
speknlirenden  Dreistigkeiten  immerhin  zn  den  Ausnahmen .  Der  ge- 
wiegte Kunde  hat  es  anch  nicht  ndthig,  sich  der  Oebhr  ansznsetBen, 
dasB  er  mit  solchem  Machwerk  an  den  Unrechten  kommt,  da  ihm 
von  allen  Seiten  genug  gutes  Material  geboten  wird. 

Geht  da  z.  B.  einer  in  Batsebnrg  auf  der  Stnuse  und  sieht  im 
Binnstein  einen  alten  Briefumschlag  mit  zwei  grossen  rothen  Siegeln 
liegen.  Das  eine  Siegel  ist  nicht  mehr  sonderlich,  das  andere  aber 
zeigt  in  starker  völlig  unversehrter  Prägung  in  einem  Wappenschild 
einen  Pferdekopf  und  trägt  die  Umschrift:  „Kreis-Kommnnal-Kasse. 
Batzeburg".  Das  ist  zu  brauchen.  In  schöner  Fractur  wird  ein 
Zeugniss  hergestellt  links  oben:  ^Kreisausschuss  des  Kreises  Herzog- 
thum Lauenburg  J.-No.  6708  11^,  dann  folgt  die  Beurkundung ,  dass 
der  Inhaber  dieses,  Kaufmann  N.  N.  vom  1.  August  1899  bis  heute  im 
diesseitigen  Kreis-Kommunalkassen- Bureau  diätarisch  beschäftigt  i^e- 
wesen  ist,  besonders  gewissenhaft  und  correkt  gearbeitet  hat,  und  ent- 
lassen ist,  weil  die  höheren  Orts  angeordneten  Revisionsarbeiten  be- 
endet sind  und  die  laufenden  Hüreauarbeiten  von  den  etatsmässig 
angestellten  Beamten  weiterhin  bewältigt  werden,  „Herr  N.  sei  mit 
diesem  bestens  emi>fohIen.  Ausgefertigt  Ratzehurg,  den  l.  Juli  1900. 
V.  Hell  mann,  Kreisdeputirter"'.  Der  Nanu'  ist  zwischen  Datum 
und  Titel  mit  blauer  Tinte  fiüclitii,''  hingeworfen  und  in  der  linken 
Ecke  unten  prangt  in  starkem  rothem  Siegellack  diis  Amtssiegel,  das 
der  Künstler  aus  dem  Briefumschlag  gelöst  und  nach  sorgfältiger 
Dftnnschabung  der  Papieruntcrlaircrun^'  mit  Tütenkleister  unter  den 
neuen  Sehein  geklebt  hat.  Mit  diesem  Ausweis,  der  einen  täuschend 
echten  Eindruck  macht,  hat  er  als  stellensuchender  Kaufmann  andertr 
halb  Jahre  bei  Behörden  und  Privaten  reichliche  Unterstützungen 
gefunden,  die  ihm  auf  seinen  Endassungssdieui  meh  21m(Hiatigem 
Arbestshans  schwerlich  gegeben  wfiren.  Solche  Zeugnisse  werden 


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178 


XIII.  äcHl  TZB 


selten  bearguiibnt,  da  zu  Siegellack  ein  Metallstenipel  gehört,  der 
heutzutage  tiberhauj)t  selten  ist  und  der  schwerlich  in  der  Kunden  Hände 
kommt,  wenn  er  nicht  gerade  gestohlen  ist.  Ist  das  ursprüngliche 
Papier  unter  dem  Siegel  sorgfältig  weggeschabt  und  beim  Aufkleben 
sorgfältig  verfahren,  dass  der  Kleister  die  benachbarten  Theile  des 
Scheins  nicht  kraus  gezogen  bat,  was  allerdings  schwer  za  Termeiden 
ist,  dann  bleibt  zur  Prüfung  nur  ein  Mittel,  n&mlich  m  dem  Siegel- 
land  ein  kleines  Stück  hemuiabnehen,  da  dann  erentaell  die  alten 
Papieneate  oder  der  Elebeetoff  achtbar  werden  *) 

Weit  beliebter  sind,  schon  weil  weniger  umständlich  nnd  halt- 
barer, die  mit  irgend  einem  Farbstoff  hergestellten  Abdrücke.  Am 
bequemsten  ist  es  da  natürlich,  wenn  es  gelingt^  einen  echten  Stempel 
za  stehlen,  ein  üntemehmeo,  das  besondeis  bei  kleinen  Polisetümtem 
nnd  noch  mehr  bei  anderen  kleineren  Amtsstellen  keine  sonderlichen 
Schwierigkeiten  bietet  Die  Stempel  liegen  mmst  soiglos  frei  auf  dem 
Tisch,  an  den  die  Leute  herantreten,  um  ihr  Gewerbe  vornibringen, 
sodass  jede  Wendung  des  Beamten,  etwa  nach  einem  Schrank,  einem 
Buch,  dem  mit  hereingekommenen  Helfershelfer  des  Kunden,  diesem 
reichliche  Gelegenheit  zu  einem  kühnen  Griff  bietet  Oft  mag  sich's 
auch  treffen,  dass  überhaupt  Niemand  drin  ist  So  erzählte  mir  kün> 
lieh  ein  fahrender  „  Kaulmann  dass  er  vor  Jahren  in  Durlach  etwa 
anderthalb  Stunden  allein  auf  der  Polizostobe  gesessen  habe,  in  der 
alle  Stempel  frei  auf  dem  Tisch  herumgelegen  hätten,  bis  der  Be- 
amte gekommen  sei  und  ihm  die  erbetene  neue  Quittnngskarte  aus- 
gestellt habe. 

Das  Schlimmste  ist,  dass  in  solchen  Fällen  der  schuldige  Beamte 
sicher  meist  seine  Unaufmerksamkeit  und  I^sigkeit  lieber  verdeckt, 
indem  er  stillschweigends  einen  neuen  Stem{)el  machen  lässt,  als  dass 
er  sofort  Meldung  macht,  damit  der  alte  in  allen  Blättern  aufgerufen 
und  nach  dem  Dieb  gefahndet  wird.  Obwolil  mir  wiederholt  von 
Kunden  versichert  ist,  dass  eine  nicht  unerhebliche  Anzahl  gestohlener 


1)  Anmerkung  des  Herausgebers:  Sehr  häufig  wird  bei  der  Befesti- 
gung von  I.acksiff^eln  noch  viel  voraichtigor  und  sicherer  vorgc{?angen.  Dsis  Siegel 
ivird  auä  dem  Papier  herauagcschuicten  und  so  lange  in  Walser  gelegt,  bis  das 
Papier  enreidit  ist  und  nun  mit  dem  Finger  voUstSndig  und  grfind&di  abgwiebeii 
Verden  kann.  Mittlerweile  hat  man  etwas  Siegelladc  (von  m^V^üdist  ilmlldier 
Farbe,  wie  das  Siegel  selbst)  in  Spiritus  gel5st,  mit  welcher  LSsaog  da.s  Siegel 
rückwärts  leicht  bestrichen  und  dann  mit  Hülfe  dieser  i-neklosung  auf  dem  falschen 
Papiere  befestigt  wird.  War  die  Farbe  reclit  älinlicli.  und  das  Siegel  rückwärts 
völlig  papierfrei,  so  klebt  es  gut  und  unkeoatlich  auf  dem  „Docoment*. 

H.  Orosa. 


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Die  Technik  des  Stempelfälschen. 


179 


echter  Stempel  unter  ihnen  in  Umlauf  ist,  habe  ich  noch  nie  von 
einem  solchen  Aufruf  gehört. 

Vereinzelt  finden  sich  auch  von  Kunden  selber  Ii  ergestellte  Me- 
talbtempel  ans  Messing,  Alnaiinium  oder  Blei,  doch  fehlt  den  meisten 
die  FBhigkeit  zur  Hevstdliuig  dieser  Werthgegenstände,  da  auch  die 
ührmaeher  und  Gold-  und  Silbenurbeiter,  die  man  anf  der  Walze  trifft, 
meiat  an  frtth  ana  der  Lehre  gelaufen  sind,  als  daas  sie  ea  m  «ma 
nennenswerthen  Kunst  gebracht  htttten,  und  die  eigenfliohen  GraTeure 
sind  dflnn  gedtt.  ~ 

Eine  geradezu  erschreckende  Vertnreitnng  dagegen  hat  die  Her 
Stellung  Ton  Schieferstempeln  gewonnen,  die  einem  in  der  Prazia  in 
giOBser  Anzahl  von  den  plumpsten  Yeranehen  bis  aur  feinsten  Aus- 
arbeitung begegnen.  S<Auld  daran  dürfte  neben  der  leichten  Be- 
handelbarkeit dea  Stoffes  besonders  der  Umstand  aem,  daaa  dieaer 
auch  in  Arbeitshäusern  und  Gefiingniasen  jederzeit  leicht  zu  haben 
ist,  da  die  meisten  derartigen  Gebäude  mit  Schiefer  gedeckt  sind, 
Mindestens  nach  jedem  Sturm  finden  sich  Stückchen  in  den  Spazier- 
höfen,  die  begierig  auslesen  werden.  In  den  Gefängnissen  treibt 
die  Langeweile  schon  zur  Verarbeitung  und  im  Zucht-  und  Arbeits- 
hans sagt  sich  der  Mann,  dass  er  mit  seinem  Entlassungsschein  all- 
überall unbequeme  aufmerksame  Beachtung,  aber  schwerlich  Arbeit 
und  noch  unwahrscheinlicher  eine  reiche  Ernte  beim  Fechten  finden 
wird.  Die  noch  immer  weitverbreitete  Gemeinschaftshaft,  die  in  den 
Arbeitshäusern  sogar  durcliweg  besteht,  äussert  auch  hier  ihre  schäd- 
lichen Folprcn.  Ich  l)esitze  eine  vollständiiro  Anweisung  zur  Herstellung 
von  Schiefer-  und  anderen  Stemiieln  in  Form  von  Zettelcorrespondenz 
zwischen  zwei  Iläiislingen,  nebst  deren  fruchtbarem  Ergebniss  von  fünf, 
zum  Theil  vorzüglich  gearl)eiteten,  doppelseitigen  Sehieferstenipeln. 

Der  früliere  Kellner  Adolf  Mucker  aus  Berlin,  der  schon  wieder- 
holt wegen  Steiiiitrlfälschung,  Gebraucli  falschen  Namens  und  dergl. 
bestraft  war  und  sich  auch  sonst  auf  den  verscliiedonston  Gebieten 
versucht  hatte,  so  dass  ihm  auch  das  Zuclitliaus  nicht  mehr  neu  war, 
wurde  im  April  IS93  wegen  Betteins  und  Landstreichi-ns  in  das 
Giistrower  Landarbeit^ihaus  gescliafft.  Am  30.  September  1893  fand  der 
Aufseher  in  seinem  Brodkasten  ein  kleines,  leinenes  Säckchen,  das 
einen  mit  einem  Wappen  versebenen  Knopf,  mehrere  StQckchen  Papier 
mit  Stempelzeiehnungen  und  ein  StUck  Oelpapier  yon  der  Grösse 
einea  Briefbogens  enthielt,  sowie  einen  primitiTen  Zirkel ,  der  dadurch 
hergestellt  war,  dass  zwei  Kägel,  denen  die  Köpfe  abgebrochen  waren 
4n  ein  zu  zwd  Schenkeln  gebogenes  Stttck  Hollunderholz  gesteckt 
und  darin  mit  Faden  befestigt  waren.  Der  Hann  bekam  seine  Dis- 


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180 


XllL  SCULTZK 


di^ioantnile  und  wurde  seitdem  iiooli  tadmeAsam^  beobeehte^  jedeoh 
ohne  Erfolg,  bis  ihn  im  Febraar  1894  ein  Genosse  vmetb.  Bei  aber- 
maliger genauer  DnrehsnohuDg  seines  Brodkastens  fanden  sich  in  einer 
kleinen  Dose  nnter  dem  sorgfiUtig  aufgesparten  Sehnnpfiabak  nenn 
Yollstftndig  fertige  Schieferstempel  und  fönf  hergeriehtete  Schiefer- 
ptetten  nebst  einem  kleinen  Bleistifl,  femer  förderte  die  körperliche 
Dnrchsnchnng  em  spitzgeschabtes  Stttck  Knochen  zn  Tage  und  ein 
HolsstSbchen,  das  wohl  als  Griff  für  die  Grarimadel  gedient  hatte^ 
sowie  ein  Taschenmesser,  das  mit  den  fibrigen  Sachen  zwischen 
Stoff  und  Unterfutter  der  Weste  gesteckt  hatte.  Alle  bisher  entdeckten 
Materialien  will  er  auf  dem  Weg  von  und  znr  Arbeit  aufgelesen  haben, 
das  Messer  habe  er  bei  seiner  Einliefening  durchgeschmuggelt;  da 
et  an  zweites  abgeliefert,  habe  man  dies  wohl  nicht  bei  ihm  ver- 
muthet.  Nachdem  noch  festgestellt  war,  dass  er  seine  Kunst  in  den 
Freistunden  getrieben  hatte,  indem  er  eng  an  die  grosse  Säule  gelehnt^ 
neben  der  sein  Platz  war,  und  scheinbar  eifrig  lesend  in  der  linken, 
auch  das  Buch  haltenden  Hand  den  Schiefer  hielt,  während  die  rechte 
mit  Grabstichel,  Zirkel  oder  Messer  arbeitete,  wurde  seine  Nachhaft 
um  3  Monate  verlängert,  die  ihn  wohl  mehr  geschmerzt  haben  als 
die  zehntägige  gt  riclitliche  Haftätnife  aus  §  360 »  StGB.  Am  6.  Oc- 
tober  1894  wurde  er  entlassen,  konnte  jedoch  wohl  seine  Falscher- 
correspondenz  und  weitere  fünf  (lojtpelscitige  Schieft'rstem])el  nicht  mit- 
nehmen, die  er  in  Zeitun^^spapier  ^^ewickelt  in  einem  kleinen  Geäcbirr- 
schuppen  versteckt  hatte.  Die  Schriftstücke  lauten: 

1)  „Maukisch  Dresden  Schützenregiment.  Berlin  Dresden  Teplitz 
Karlsbad  Prag  den  Kuusul  briefl.  wegen  Kleidung  und  Aufenthalt 
Wien  Pest  Ofen  Insbruck  Bozen  Meran.** 

2)  „Freimaurer-Logen,  Kellner  ....  steht  Atteste  für  Kaufleute, 
hrschl.  Diener  und  Kellner  besorgen  m  Böhmen  sehr  nothwendig. 
In  Oestreich  sich  als  Ilanoveraner  nicht  Berliner  ausgeben  Zeugnisse". 

3)  „Berlin  .  .  .  schreiben  Unterstützung  kleine  Druckerei?  für 
Kinder  —  2  Hk.  2  Satz  Lettern,  Typen  (  S  )  VerfielfiUtigungs-Papier 
Berlin,  x  Die  Briefbogen  passend  fOr  Hotel-Best.  Einriehtnng  .  .  • 
schiek.  lassen  nnter  der  Adresse  den  HerbergsT.  als  Gastwirth  be- 
zeiehnen*^. 

4)  „X  Hnster  fOr  Briefbögen  mit  GeschSflsköpfen  für  KanE  nnd 
Hotels.  Heikendorf,  Berlin  S.  W.  19  Eommandantenstr.  15.  Stettin 
Briefbogen  von  Dmekereien  besorgen,  Erankenhans-Atteste  z.  Op.  nach 
Dr.?  Hamburg?  Freibg.  l  B.*" 

5)  ,,Garl  Fr.  Nicoldi  Lanbenheim  a/B.,  Vater  Herbrieh  Wallstr« 
letztes  ....  Krankenzengniss  von  3.Noy. — 11.  Hai.  Die  Karten 


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Die  Technik  des  StempelfälBchera. 


181 


und  Briefe  luiisst  stets  in  den  Eisenbafanpostwagen  werfen  da- 
mit der  Ort  der  Aufgabe  nicht  zu  sehen  ist". 

6)  „Brief  Bezngnehm  .  .  ermebe  ich  Sie  mir  Ma(Bter)  für  Brief- 
bogen mit  (Vordrnek)  zur  Eimriehtong  meines  GKesehäfts)  z.  (?) 
B(e8teiiiantB)  begn  (?)  Auswahl  gefälligsf^  dazwischen  nebenstehende 
Figor  (Doppelkreis  mit  34  Theilstrichen  und  drei  dnrchgezogenen 
Diametem)^  unter  der  die  Zahl  „34*^  steht 

7)  ;9Bei  Adresse  nur  das  Hans  der  Heibeige  z.  H.  angeben  z.  B. 
Kaufmann  Mft  Beriin,  Kl^penstr.  10.  2  Satz  Typm  rnchen  hin  ffir 
den  Zweck.  Wappen  Schiefer*'  dazwischen  folgende  Figuren: 


8)  ^Erst  mal  wegen  der  Typen  und  Lettern  mich  in  der  Buch- 
druck .  .  erkundigen  und  dann  auf  der  Druckerei  für  Kinder  nicht 
nu  lir  als  2  Mark  an(wend  en  da  Type  billiger  sind  (Buchdrucker- 
zeitungj*"  dazwischen  folgende  ^^gur: 


Der  Stempel  trägt  ebenso  wie  eine  zweite,  der  unter  6  mitgetheilten 
gleichende,  Figur  ein  unleserliches  Wort  im  Mittelstück.  Dieser  zweiten 
Figur  zur  Seite  stehen  die  Worte  „Alles  Grossschrift.  Pl(atten)  z(um) 
St(empeln).  Verschiedene  Typen.  Grossen  Anfangsbuehstab  .  .  / 

0)  „Schieferplatten  so  dünn  wie  möglich  suchen.  ImScbweiss- 
leder  des  Hots  einnähen  blaue  und  schwarze  Farbe.  Zeugniss  t.  1886 

InUv  Hr  griwhwlMrtfctciokilfc  XIL  18 


182 


XIII.  ScbCtsb 


1.  Octolier  bis  1.  Alltrust  18S8  Cafö  zur  Oper  I'criin  u.  „d.  Linden 
Coucurä  oder  aufgelöbt  Geschäftsführer  für  Z  Unterächrift 


eammenhaltea  aoznlöthen. 


11)  „Zwei  runde  Hinge  von  lilech  beim  Klciuimer  lötlicn  lassen, 
80  das  die  Typen  passen  und  eingelegt  werden  können  und  auf  einer 
Seite  zngeUHhefc  1  gross  und  1  kleiner^. 

Dazwischen  folgende  Figur: 


_L 


12)  „Kreise  ich  will  sehen  wie  es  mh.  in  der  GrOsse  macht, 
welche  die  Kreise  haben". 

13)  »Die  beiden  Adler  in  die  bdden  Kreise,  welche  ich  g;exeichnet 
und  fiberechrieben  habe  und  wenn  du  noch  mehr  Stadtwappen  kennst, 
«0  zeichne  dieselben  in  die  anderen  Kreise"^. 

14)  15)  usw.  sind  Zettel  mit  Kreisen,  in  die  die  richtigen  oder 
vermeintlichen  Wappen  von  Magdeburg,  Gollnnw,  Stettin,  Grünberg, 
ßernburg  gezeichnet  sind,  auch  sind  mehrere  Zeichnungen  da,  die  die 
Unterschiede  zwischen  demßeielis-,  dem  prenssischen  und  dem  Lübecker 
Ailier  erklären  sollen,  sowie  der  .Meeklenbur^'cr  Büffelskopf  in  der 
längliciien  vom  Landurbeitshaus  -  Sie^^el  entnommenen  Form.  Eine 
Keihe  von  Wappen  sind  auf  Oelpapier. 


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Die  Technik  des  StempetfSlseben. 


188 


Endlich  findet  sicli  noch  ein  aus  ir^^end  i'ineni  Journal  i;eris.sener 
Zettel  mit  einem  Rezept  zu  Oelfarbe  für  Mctall^tenipel,  das  schliesst: 
„Kautschukstempel  würden  bei  Venvendung  der  Oelfarbe  in  kürzester 
Zeit  vollständig  unbrauchbar  werden 

Die  schmutzigen  Zettel  sind  z.  Tb.  äusserst  schwer  zu  entziffern, 
da  de  Jahrelang  stark  zerknittert  m  dem  früher  gefundenen  Lein^ 
afickehen  «ifbewalurt  sind,  und  auf  demselben  Stttck  oft  die  Antwort 
Uber  die  Anfinge  gesetzt  ist,  dabei  aoeb  die  Schriftsflge  nur  flflobtig 
mit  Bleistift  hingeworfen  sind.  Unmöglich  war  es  mir,  die  beiden 
einander  sehr  fthnebiden  Handsehriften  von  einander  za  trennen,  ao  dass 
ioh  mieh,  snmal  aaoh  manche  StUeke  fehlen,  mit  der  obigen  Wiedergabe 
begnüge musete.  Derlnhaltzdgtdeatlich,wie gründlich nndgewandtdie 
beiden  Snbjecte,  von  denen  Mäcker  offenbar  die  technische  Ausführung, 
der  andere  die  geistige  Leitung  ttbemahm,  auf  Grund  der  ausgetauschten 
KenntniBse  zukünftige  Thaten  Torzubereiten  wussten.  Zettel  1)  enthält  die 
SU  empfehlende  Reise  mit  einem  Wink,  wie  der  deutsche  Konsul  in  Pra^ 
zu  benutzen  sei,  die  übrigen  besprechen  mit  eingestreuten  guten  Rath- 
schlägen die  Ausrüstung  mit  falschen  Papieren  und  die  eigentlich  tech- 
nische Frage  der  Herstellung  falscher  Stempel.  Ueberall  tritt  uns  das  alte 
Verfaliren  entgegen,  das  mit  Vorliebe  Hriefbiigm  mit  Vordrucken  ver- 
wendet. Zur  Herstellung  etwa  nicht  zu  l>cs(  liaffender  soll  die  Kinder- 
druckerei scheinbar  auch  mit  verwindet  werden.  Ferner  wird  das  für 
Stempel  aus  Anilinfarben  wichtige  Hektographenpapier  in  3j  erwähnt, 
das  unten  noch  näher  zu  besprechen  ist,  das  Wichtigste  jedoch  sind  die 
Zeichnungen,  die  ms  auf  s  Anschaulichste  zeigen,  wie  der  FKlsoher  auf 
die  möglichst  dflnn  gewählten  Sehieferplatten,  die  er  in  3)  und  9)  ver- 
langt, die  ihm  von  seinem  Knmpan  mitgetheilten  Inschriften  und 
Wa^wn  arbeitet.  FOr  Schieferstempel  kommen  dabei  jedoch  nnr 
die  Figuren  Yon  6)  7)  nnd  8)  in  Betracht,  die  kemer  Erttnterang  be- 
diliieo.  Diese  Arbeit  wird  mit  dem  oben  beschriebenen  Zirkel,  zwei 
durch  einen  Faden  Terbnndenen  Nähnadehi,  ja  im  Nothftül  mit  den 
entsprechend  gebogenen  Zinken  der  Hosensohnalle  hergestellt  Das  Be- 
denklichste sind  die  Mittbcilnngen  in  10)  nnd  für  deren  Aus- 
führung auch  die  Kinderdruckerei  mit  Typoi  und  zwei  Sätzen  Lettern 
hauptsächlich  bestimmt  ist.  Danach  sollen  zwei  Blechstreifen  ^wa 
von  der  Rrcit«-  dt'r  Tj^-ttcnililnge  kreisrund  so  zusamraengelötliet  werden, 
dass  der  eine  um  die  doppelte  Letterndicke  weniger  Durchmesser  hat 
als  der  andere.  Von  diesen  beiden  K'ändern  wird  dann  der  kleinere 
in  den  grösseren  hineingestellt,  und  damit  beide  Zusammenhang  be- 
kommen, werden  auf  der  einen  Seite  zwei  Blechstreifen  kreuzweise 
darauf gelöth et.   Zwischen  diese  liänder  werden  die  für  die  jeweds  ge- 


184 


XIII.  ScBönx 


wünschte  Umschrift  nüthi^,'t'n  lottern  gesteckt,  in  den  mittleren  Ilohl- 
rauin  werden  ein  paar  Pappringe  gelegt,  und  in  deren  Oeffuung  die 
Type  oder  in  deren  Ermangelung  vielleicht  auch  eine  Münze  mit  ent- 
spreohendem  Wappen,  Adlei  od.  dergl.  gedrückt.  Damit  ist  leicht 
und  bfllig  der  BfÄQnste  Metallstempel  fertig,  der  bei  Verhaftiiiig  oder 
sonstiger  Gefahr  ruhig  weggeworfen  werden  kann,  da  er  sieh  jedeizeit 
wieder  beschaffen  ttssti  und  der  vor  jedem  echten  Stempd  den  nn- 
schSlzbaren  Voizng  besitsl^  dass  er  beliebig  yeifindeiliob  ist.  Da  die 
Letten  ja  nicht  ihre  nnprüngUche  Lfinge  za  behalten  brancheni  sondern 
ihr  Stiel  ohne  Gefahr  für  ihre  Verwendbarkeit  bis  auf  wenige  Milli- 
meter abgesSgt  werden  kann«  ist  dies  leichte^  flache^  vielfach  zerleg- 
bare Werkzeug  ganz  besonders  gut  zu  verbergen  und  fiberall  mitzu- 
ffibren.  Die  ungeheure  Gefährlichkeit  dieser  Hülfsmittel  bedarf 
wohl  selbst  für  den  Gleicbgültigsten  und  Nachlässigsten  keines  Hin- 
weises. 

Wesentlich  bctiucnier  und  daher  äusserst  beliebt  ist  das  Abziehen 
der  Anilinstempel  und  aller  Farben,  die  mit  (ilyeerin  angemacht  sind. 
Diese  Farben  werden  für  die  Kautschukstempel  benutzt,  die  die  alten 
Oelfarben  nicht  vertragen  können,  und  deren  Einführung  erat  die 
heutige  Ueberflut  von  Falsifikaten  in  die  Welt  gebracht  hat. 

Allgemein  bekannt  ist  wohl,  dass  mit  der  frischen  Schnitt- 
fläche einer  rohen  Kartoffel  oder  eines  Apfels  ganz  gute  klare  Ab- 
züge von  frischen  Stempeln  zu  haben  sind,  doch  ist  dies  Verfahren 
meist  dann  kenntlich,  dass  auf  beiden  Papieren  ein  Saftmnd  anrllck- 
bleibt,  der  deutlich  die  Form  der  verwendeten  Frucht  seigt 

Hftnfiger  mmmt  deshalb  der  er&hrene  Mann,  wenn  er  nicht,  wie  die 
allerdings  anch  nicht  selten  verkomm^  so  frech  oder  gleichgflltig  ist,  dass 
er  einfisch  den  mit  Schnaps  befenohteten  echten  Stempel  auf  das  nene 
Papier  abdrückt^  seine  Znflncht  schon  znm  Ei,  das  er  mit  der  schmalen 
Spitze  nach  nnten  mindestens  eine  Viertelstande  in  kochendes  Wasser 
hängt  Dann  befeuchtet  er  den  echten  Stempel,  besonders  wenn  er 
schon  ilt»  ist,  auf  der  Rückseite  so  lange  mit  Schnape,  bis  er  feucht 
schimmern  wird,  rollt  das  Ei,  besonders  wenn  es  sich  um  einen  läng- 
lichen Stempeln  handelt,  darüber  und  drückt  damit  den  abgezogenen 
Stempel  auf  das  zu  beschcinifrende  Zeugniss.  Da  sich  hierbei  jedoch 
leicht  die  Linien  vt'iv.iehen.  schneidet  man  lieber  die  breite  Sj)itze  des 
Eies  mit  einem  schmalen  scharfen  Messer  glatt  ab,  um  so  eine  flache 
Dnickfläche  zu  erh.alten.  Da  der  schwere  Dotter  beim  Kochen  in  die 
seliinale  Spitze  gesunken  ist,  kann  man  dabei  nach  und  nach  sehr 
tief  gehen  und  durch  eine  grosse  Anzahl  von  Schnitten  dasselbe  Ei 
vielfach  verwenden.    Grösse  des  Stempels  ist  ausserdem  kein  üiiider- 


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Die  Technik  des  StenpeUilschen. 


185 


niss,  da  ja  anch  Enten-  und  Gänseeier  zu  haben  sind.   Das  Bild  wird 

klar  und  scbarf.  zumal  wenn  nmn  auch  das  Ei  leicht  mit  Schnaps 
oder  Benzin  bestrichen  hat,  und  die  Fäisciuin;^'-  ist  nur  daran  zuweilen 
zu  erkennen,  dass  zu  stark  jredrückt,  oder  das  Ei  schief  gerollt  ist, 
80  dass  die  Linien  ausbuchten,  oder  dass  der  Sclinitt  nicht  glatt  war 
und  seine  Unebenheiten  im  Abdruck  zu  Ta^re  treten. 

Alle  diese  Fiiiirlichkeiten  vermeidet  der  dufte  Kunde  durch  An- 
wendung des  Ilektographenpapiers,  das  in  jeder  grösseren  Papier- 
handlung käuflich  ist  und  fast  nirgends  Verdacht  erweckt.  Wenigstens 
muss  ich  ehrlich  bekennen,  dass  ich  mich  in  den  ganzen  ersten  Mo- 
ntton  memer  bioigen  Tbttigkdt  ab  Amtaiwalt  oft  gewimdflrt  babe, 
was  die  Leute  vielfiieh  fOr  merkwflrdigeB  j^Hamlraiger  Pflaster^  bei  sieb 
bitten,  bis  mir  endlicb  die  Augen  aufgingen.  Von  diesem  Papier 
schadet  man  ein  Stfiek  ab  und  bedeckt  damit,  nachdem  man  es  an- 
gdianebt  bal^  den  nöthigen&lls  auf  der  RUekseite  etwas  bescbnapsten 
Stempel,  legt  das  Ganse  in  ein  Bnob  und  setzt  sieb  ein  paar  ICinnten 
darauf,  dann  legt  man  das  I>mckpiq)ier  anf  den  neuen  Schein,  besitzt 
auch  diesen  ein  paar  Minuten,  und  ein  tadelloser  Absug  ist  fei-tig. 
Auf  diese  Art  lanen  sich  von  einem  Stück  eine  ganze  Anzahl  Ab- 
züge machen,  von  einem  frischen  fetten  Stempel  z.  B.  acht  und  mehr. 
Sind  sie  sorgfältig  gemacht,  so  sind  sie  überhaupt  nicht  von  echten 
zu  unterschoidon ,  nur  sind  sie  meist  etwas  matt  Hat  man  aber  das 
Hektographenpapier  zu  lange  darauf  liegen  lassen,  so  werden  die  Um- 
risse weich  und  verschwommen,  war  es  schon  .schmutzig,  so  zeichnen 
sich  die  Ränder  ab,  ebenso,  wenn  der  benutzte  Schein  schmutzig  war. 
Besonders  häufig  aber  findet  man  die  Spuren  an  dem  Stempel,  von 
dt  III  d»T  Abzug  genommen  ist,  da  die  meisten  die  Dummheit  begeben, 
diesen  auf  der  rechten  Seite  anzufeuchten,  dann  zeichnet  sich  fast 
stets  das  meist  viereckig  geschnittene  Stück  Druckpapier  auf  diesem 
Sebein  ab.  — 

Jedoeb  nicbt  nur  die  Farbstempd  weiss  des  Eunden  findiger 
Geist  auszunutzen,  aucb  die  scbeinbar  ganz  barmlosen  gepressten  Pa- 
pientempel,  mit  denen  die  Amtsbriefe  yerklebt  werden,  müssen  ibm 
herbalten.  Eine  solebe  Versoblnssmarke  wird  sorgfiUtig  abgeKtet,  mit 
Leinöl,  Scbmalz,  einem  Stilek  Scbweinefleiseb  leicbt  angefettet  unter 
ein  Stfiek  dicke  Pappe  gelegt,  aus  der  ein  rundes  Stück  yon  der 
Grösse  des  Stempels  berausgesebnitten  ist,  und  dann  wird  Walzenmasse 
der  Buchdruckermaschinen,  die,  wenn  ich  recht  berichtet  bin,  aus  Leim 
und  Synip  besteht,  die  man  in  jeder  Druckerei  als  Abfall  kaufen  und 
in  einem  Blechlöffel  leicht  sciimelzen  kann,  bineungegossen.  Diese 
Masse,  die  zum  Andrücken  des  Papiers  an  die  Typen  benutzt  wird, 


186 


XUL  ScH€ne 


drin^  in  die  feinsten  Vertiefunj^en  ein,  und  der  so  erzielte  Stempel 
ist  daher  von  ausserordentlicher  Schärfe;  er  ist  femer  sehr  haltbar, 
besonders  wenn  auf  eineii  Enldffel  Hasse  etwa  ebie  Messenpitee  f ehmter 
Zementgips  yeirflhit  ist  Dasselbe  Verfohien  wird  anoh  mit  Gutta- 
pereha  geübt,  das  duch  Emtauehen  in  heisses  Wasser  nnd  Kneten 
derart  erweicht  wird,  dass  es  sich  zu  solchen  Abdrttoken  feinster  Art 
ebenfalls  voizilglich  eignet  Ja»  es  bietet  noch  den  Voithdl,  dass  es 
nach  Erkalten  sehr  hart  wird,  so  dass  es  frei  in  der  Tssohe  getragen 
werden  kann,  ohne  Gefslir  der  BesohSdignng  oder  Formverfindernng. 

Zu  diesem  Verfahren  sind  gutgeprSgte  fehlerlose  Siegellaeksiegel 
als  Vorlagen  natfiriich  gleichfalls  ^^cei^et,  und  mit  den  Guttapcrchar 
stempeln  kann  man  besonders  schöne  Lacksiegel  hersteilen,  auf  denen 
alle  Formen  richtig  erscheinen,  während  bei  der  Verwendung  von 
Farbe  Höhen  und  Tiefen,  d.  h.  gefärbte  und  farbfreie  Theile  auf  dem 
Abdruck  natürlich  verkehrt  vertheilt  sind.  Da  dies  jedoch  hei  allen 
Metallstenipeln,  die  eigentlich  für  Siegellack  bestimmt  sind,  erfahrungs- 
geuiüss  aber  vielfach  auch  mit  dem  Farbkissen  benutzt  werden,  auch 
der  Fall  ist,  so  ist  das  kein  ausschlaggebender  Nachtheil. 

Trotzdem  hat  der  Kunde  auch  diesen  Umstand  zu  würdigen  ge- 
wusst.  Wenn  er  irgend  kann,  trägt  er  deswegen,  wenn  er  ein  Amts- 
zimmer betritt,  ein  Stück  Formwacbs,  geknetete  Brotkrume  od.  dergl. 
bei  sich,  in  das  er  in  einem  unbewachten  Augenblick  den  Kautschuk- 
oder Metallstempel  hineindrückt  Wird  er  dabei  bemerkt,  so  hat  er 
immer  noch  niciite  Steafbares  begangen  md  kann  höchstens  hinaus- 
geworfen werden,  geht  die  Sache  aber  gut,  so  hat  er  eine  Matiiie^ 
ans  der  er  sich  mit  Gnttapersha  oder  Bucfadmckermasse  die  schdnsten 
Stempel  abformen  kann,  deren  Abdmok  nnn  alles  richtig  giebt 

Hat  er  etwas  mehr  Zeit  nnd  kann  nngenirtcr  ari>eiten,  so  legt 
er  ttber  das  Petschaft  ein  gewöhnliches  St&ck  Schreibpapier,  falls  er 
keinen  Formstoff  bei  sich  hat,  und  klopft  ein  paar  Mal  mit  einer 
Bürste  daianf,  dann  hat  er  ebotifslls  eine  vorzügliche  Matrize,  die  sich 
allerdings  nur  für  Buchdruckermaase  verwenden  lässt;  das  Stück  wird 
nämlich  mit  grossem  Band  rund  ansgeschnitten,  der  Band,  nachdem 
er  mit  einer  Reihe  von  Einschnitten  versehen  ist,  rundum  aufgebogen 
und  der  besseren  Haltbarkeit  wegen  mit  einem  Papierstreifen  umklebt, 
so  dass  eine  regelrechte  Form  zum  Einguss  der  Masse  entsteht  Für 
Guttapercha  bietet  diese  jedoch  nicht  genug  Widerstand. 

Am  kostbarsten  ist  für  diese  FäMe  der  Besitz  eines  Stückes  As- 
bestpapicr,  da  man  in  dieses  sogar  Letternmetall  giessen,  also  Metall- 
Stempel  damit  herstellen  kann. 

Aeusserst  beliebt  endlich  ist  die  Verwendung  von  Copirtinte.  Ein 


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Die  Tecbnik  des  StempeUälschen. 


187 


echter  Stempel  wird  am  Fenster,  mit  Oelpupier  oder  dem  Blaubogen 
durchgezeichnet,  mi  ersten  Fall  nach  der  Rückseite,  in  den  letzteren 
beiden  wird  die  Schrift  nachträglich  •  in  Spiegelsohiift  umgeaelEt,  dann 
wird  allee  mil  Oopirtinte  nachgezogen  nnd  das  Absieben  kann  be> 
ginnen.  Da  diese  Art  der  Herstellung  aber  leicht  eme  gewisse  Steif- 
heit und  Ünaieherheit  der  linien  mit  sieh  bringt,  die  TerrStherisob 
werden  kann,  entwirft  der  geschickte  Zeiehner  lieber  den  ganzen 
Stempel  frei  mit  Oopirtinte  oder  zeichnet  ihn  gar  sofort  mit  Tinte 
oder  itebe  auf  das  zu  stempelnde  Zeugniss.  Ich  habe  z.  B.  eine  an- 
gebliche Bescheinigung  der  Kaiserlich  deutschen  Gesandtschaft  zu  Wien 
in  Händen,  die  mit  Wappen,  Vordruck  und  Stempel  den  denkbar 
echtesten  Eindruck  macht,  und  doch  ist  alles  von  einem  verlaufenen 
Conditorgehülfen  frei  mit  der  Feder  gezeichnet.  Die  Fälschung  ist 
80  täuschend,  dass  man  nur  mit  einer  guten  Lupe  und  fcrosscr  Auf- 
merksamkeit entdeckt,  dass  es  sich  um  Federzeichnung  statt  um  Stein- 
druck und  Stempelung  handelt. 

Und  wo  lernt  der  Kunde  alle  diese  zum  Tlieil  künstlerischen 
Fertigkeiten,  wo  sammelt  er  die  nüthige  Belelirung  und  Erfahrung? 
Auf  der  Fenne,  in  der  verwerflichen  geuunnsainen  Haft,  besonders 
wenn  sie  noch  gar  ohne  Arbeit  ist,  und  vor  Allem  im  Arbeitshaus. 
Besonders  die  letztere  Erfahrung  habe  ich  bei  einer  grossen  Anzahl 
von  Fälschern  gemacht.  Zumal  die  Arbeitshäuser  mit  Druckereicod 
sind  wahre  BnitetStten  fOr  diesen  alle  Strafireohtspflege  untergrabenden 
Gewerbebetrieb.  Sdbst  bei  guter  Aufsicht  ist  es  nnvermeidlicb)  dass 
der  als  Giesser  oder  Stecher,  ja  auch  der  nur  als  Dmcker  bescfaSfiigte 
yHlnsling"  nicbt  Kenntnisse  erwirbt^  die  er  in  der  IVmheit  zum  Bdsen 
verwendet  Als  Dmcker  bes<diSfiigt  diese  Leute  bei  ihrer  Vergangen- 
heit und  bei  dem  stets  bedeut^iden  Angebot  einwandsfreier  Arbeits- 
krSfte  hinterher  doch  kein  Mensch,  er  ist  also  durch  die  Beschäftigung 
in  der  Nachhaft  nicht  wirthschaftlich  tüchtiger,  sondern  höchstens  zu 
der  sich  ihm  meist  nur  bietenden  körperlich  schweren  Arbeit  unlustiger 
geworden,  er  hat  ausserdem  jetzt  einen  Wog  kennen  gelernt,  auf  dem 
er  guten  Verdienst  findet  auch  ohne  Arbeit  und  meist  auch  ohne  jedes 
Risiko,  da  alle  Betheiligten  das  lebhafteste  Interesse  daran  haben,  ihn 
und  seine  Thätigkeit  sich  zu  crli alten  —  er  wird  gewerbsmässiger 
Stenipelfälscher,  und  das  Ariicitsliaus  liat  ihn  dazu  erzogen. 

So  bei  guter  AuCsiclit.  Icli  liahf  ai)tT  ( irund  anzunehmen,  dass 
es  auch  Arbeitsliäuf^er  mit  Druikereii'U  giei)t,  deren  Aufsichtsführung 
man  mit  dem  ^\'orte  ..liederlich'"  nicht  zu  hart  bezeichnet. 

Mir  waren  iiäniluli  vielfach  l^apiere  in  die  Hände  gekommen, 
die  trotz  tadellos  echten  Eindrucks  nachweisbar  falsch  waren,  und 


188  XUL  Schütze 

Ewar  wiederholte  sich  auf  mehreren  denelhen  der  Stempel  des  Poli> 
seiamts  Pldn,  das  auf  Befragen  erklirte,  dass  sehon  häufiger  wogen 

dieses  falschen  Stempels  dort  angefragt  sei,  zuerst  vor  etwa  sehn  bis 
zwölf  Jahren,  doch  war  die  Qnelle  niemals  festzustellen.  Endlich  fiel 
es  mir  auf,  dass  .die  Leute  mit  so  vorzüglich  gefälschten  Papieren 
meist  kürzlich  ans  einem  und  demselben  Arbeitsbanse  gekommen 
waren,  und  nach  monatelangem  Mühen  gelang  es,  durch  vielstUndige 
Verhöre  einen  Menschen  so  in  die  Enge  zu  treiben,  dass  er  das  hart- 
näckigst gehütete  Geheimniss  verrieth.  Die  Fabrik  war  ein  preussischea 
Arbeitshaus  mit  Druckerei.  Nachdem  die  Spur  oinmal  ^'efunden,  er- 
gab sich  dann  bald  eine  Menge  von  einander  uiiabhüngigen  Materials, 
das  sowohl  den  staunenswerthen  Umfang,  als  auch  das  bedeutende 
Alter  dieser  Misswirthschaft  bewies. 

Die  Drucker  dieses  Arbeitshauses  hatten  danach  seit  Jahren  viele 
Hunderte  von  Vordrucken  für  liriefbögen,  Quittungskarten  der  Alters- 
nnd  Invaliditäteversipbernng  und  Legitimationspapieren  aller  Art  für  sich 
gedrackt,  die  sie  samTheil  erst  eigens  hatten  Betzen  mttssen.  Femerhatten 
sie  die  Typen  wie  Adler,  Wappenn.  dgL,  die  zum  Bedraoken  der  Firmen- 
Briefbogen,  TUten,  Rechnungen  n.  s.  w.  dienten,  bennlzl^  um  sich  damit 
nadi  EmfOgung  anderer  Lettern  in  den  ümBchriftsiaad  falsche  Stempel 
zu  drucken,  die  auf  weisse  oder  mit  entsprechendem  Vordruck  Ter- 
sehene  Bögen  gesetzt,  massenhaft  als  Bhmkets  verhandelt  wurden, 
wenn  nicht  die  so*  beigestellten  Stempel  selber  einfach  gestohlen  und 
mitgenommen  wurden.  Endlich  ist  auch  die  Giesserei  benutzt,  um 
zusammenhSagende  Metallstempel  —  etwa  von  Thalergröaae  —  zu 
giessen.  Das  alles  sind  nicht  etwa  nur  Verdachtsmomente,  sondern 
Thatsacben,  die  ich  durch  die  in  meine  Hände  gerathenen  Stempel 
und  Fälschungen  beweisen  kann,  denen  allerdings  durch  die  überein- 
stimmenden Geständnisse  von  Leuten,  die  nichts  von  einander  ahnen 
konnten,  noch  mehr  Halt  und  Zusammenhang  gegeben  wird.  Das 
Ausschmugeln  muss  nicht  besonders  schwer  gewesen  sein.  Am  schwie- 
rigsten hatte  siclrs  noch  ein  Gärtner  gemacht,  der  sein  Packet  Fäl- 
schungen unter  einer  auch  von  der  I^andstrasse  erreiclibaren  Brücke 
versteckt  und  es  von  d(»rt  siiäter  geiiolt  hat,  die  meisten  Anderen 
haben  sich  dieSacben  scheinbar,  nachdem  sie  bei  der  Entlassung  ihr  eigen 
Zeug  anbekommen;  von  den  abschiednehmenden  Genossen  zustecken 
lassen.  Auch  mOgen  noch  andere  Wegß  offen  gestanden  haben,  soll  doch 
ein  Kaufmann  £.  aus  Bestock,  der  dort  saas,  für  einen  Bekannten  in  der 
Stadt  unbemerkt  einen  Photographenkasten  gebaut  und  ihm  den  zu- 
gestellt haben.  Da  diese  Dinge  meiner  Ansicht  nach  gemeingeffihrlicb 
sind,  mir  auch  sonst  geradezu  haarsträubende^  allem  AuBchein  nach 


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Die  Technik  des  StempelOiBcheni 


189 


wahre  und  jedenfalls  leicht  zu  prüfende  Vorkonnunisse  aus  dieser 
Anstalt  niitgetheilt  sind,  habe  ich  vor  vielen  Monaten  die  jranze  Ge- 
schichte mit  allen  nicht  wegzulcuf^nenden  Beweismitteln  eingepackt 
und  an  den  zuständigen  Herrn  Oberpräsidenten  geschickt,  um  gewiss 
vor  die  rechte  Schmiede  zn  kommen,  habe  aber  bisher  weder  eine 
Empfongsbescheinigung,  noch  überhaupt  eine  Antwort  oder  wenigstens 
die  Acten  znrttdLbekommen. 

Fragen  wir  nns  znm  Schlnss,  ob  und  wie  diesem  Krebsschaden 
abzuhelfen  ist,  der  nicht  nur  dem  gewerhsmSssigen  Verbrecher  im 
engeren  Sinne  eine  bedeutende  Stütze  bietet^  sondern  anch  dem  nach 
Hnnderttausenden  zählenden  Bettler-  und  Landstreichertfaum,  das  dem 
Deutschen  Reich  allein,  vom  sittlichen  Schaden  ganz  abgesehen, 
jahrlich  nach  den  verschiedenen  Schätzungen  zwischen  36  nnd  200 
Millionen  Mark  kostet,  überhaupt  erst  seine  Existenz  recht  eigentlich 
ermöglicht,  so  ist  die  Antwort  eine  verhältnissmässig  einfache:  Man 
beseitige  einlieitlich  alle  l)isher  irebräuchlichen  Steinpelarten ,  die  sich 
im  Obigen  erwähnt  finden  und  führe  ausschliesslich  die  doppelseitijren 
Schlagstempel  ein,  die  ohne  P'arbe  und  Siegellack  dem  Papier  ein- 
jjepresst  werden,  und  mit  denen  wir  heute  fast  nur  noch  unsere  Acten- 
böj;en  stenii)eln').  Deren  Nachahmung  ist  nur  dem  eigentlichen  Graveur 
m<»glich  und  verliert  völlig  ilire  Gefährlichkeit,  da  solch  Stempel  wegen 
seiner  Schwere  und  Grösse  niemals  hinreichend  versteckt  getragen 
werden  kann.  Dieser  Vorschlag  dürfte  vor  dem  von  Gross  a.  a.  U. 
gemachten  den  Vorzug  haben,  dass  dabei  GrSsse  und  Inhalt  des 
Stempels  beliebig  gewihlt  werden  kann,  ohne  seine  Sicherheit  gegen- 
fiber  Nachahmungen  zn  g^hrden,  wie  dies  bei  allen  Farben-  und 
Laekstempeln  der  Esll  sein  wttrde,  und  dass  hier  alhnfthlicfae  Ein- 
führung, erfahrungsgemftss  das  höchste,  was  man  erhoffen  kann,  auch 
schon  erheblichen  Nutzen  brBchte.  Heute  steckt  der  Stromer  s^en 
fslschen  Stempel  in  ein  StBck  Brod  oder  Wurst,  das  ihm  auch  bei 
Festnahme  meist  belassen  wird,  trägt  ihn  im  abschraubbaren  hohlen 
Holzhacken  oder  Stockknopf,  im  Sti^elschaft,  in  den  Zeugnähten,  im 
Shlips,  im  Mund,  im  After,  in  den  pomadisirten  Haaren  oder  mit 
Tuch  übemäht  als  Rockknopf,  im  Hutleder  und  an  ähnlichen  möglichen 
und  unmöglichen  Orten  —  das  alles  fällt  fort,  sobald  von  einem  be* 
stimmten  Tage  an  allgemein  der  Schlagstempel  eingeführt  wird.  Und 
wenn  das  bei  der  bekannten  Gleichgültigkeit  und  Schwerfälligkeit 
des  Gesammtorganisnuis  vorläufig  nicht  zu  erreichen  ist,  so  sollte 
wenigstens  jede  einzelne  emsichtige  ßehörde,  die  nicht  wünscht,  dass 


1)  Vgl.  Uaus  (iruss,  üandbuch  f.  Lutei-äudiungsiicliter.  ü.  Aufl.  Ö.  7üU. 


190 


Xm.  äcuüT2£,  Die  Technik  dos  Stempelfälacbero. 


ihr  Beglaubigungszeichen  beliebig  gemissbianoht  wird,  äoh  zu  dieser 
Aendenmg  entsehlieaseii,  wie  es  kflrzUch  z.  B.  schon  der  Bostoeker 
Bath  gethan  hat  liesse  sieh  daan  noch  gar  die  Uebnng  einfuhren, 
das8  die  Stempd  stets  unmittelbar  links  unter  die  zn  b^glanbigende 
S(^rift  gesetzt  werden,  so  wflrde  diese  Nenansohaffang  dnfdi  fast 
ToUstindige  Beseitigung  des  StempelftlsehertbumB  und  seiner  Folge- 
erscheinangen  sich  bald  als  Ersparniss  nngebeurer  Sommen  herausstellen. 

Daneben  muss  natürlich  doch  jeder  einzelne  Beamte  streng  seine 
Pflicht  thun  und  jeden  ihm  vorg:ele^'te  Pajjier  nicht  nur  technisch, 
soDdern  auch  diplomatiflch  prüfen,  d.  b.  sich  vor  Allem  darüber  klar 
werden,  ob  der  Mann  nach  seinen  übrigen  Verhältnissen  im  Besitz 
solcher  Papiere  sein  kann.  Vielfach  wird  jrerade  hierin  der  erj^te  An- 
halt zu  finden  sein,  da  die  meisten  falschen  Zeu«rnis?^e  jrleich  über  das 
Ziel  hinausBchiessen  und  den  Inhaber  zu  gut  machen.  Ein  verstünd- 
nissvolles  Lesen  der  Vorstrafeiiiiste  kann  hier,  wenn  man  sieh  danach 
den  Lebensgang  und  den  Charakter  des  Beschuldigten  i)raktiseh  vor- 
stellt und  veranschaulicht,  oft  vorzügliche  Dienste  leisten.  Ferner  ist 
schärfste  Aufsicht  über  die  Herbergen  zu  fordern,  auf  denen  sich 
heutzutage  oft  wochenlang  der  gewerbsmässige  Flebbenmacher  aufhält 
Tbut  die  Polizei  hier  ihre  Pflicht  und  verlangt  spätestens  am  dritten 
Tag  genauen  Ausweis  Uber  den  Erwerb  seines  Lebensunterhalts,  so 
kann  er  nirgends  recht  warm  werden  und  keine  ausgebreitete  Kund- 
s<^aft  erwerben. 

Aufs  Allerentschiedenste  endlich  aber  ist  die  Beseitigung  der 
Druckereien  m  den  Arbeitshäusern  zn  veilaagen.  An  Ersatz  fOr  diese 
Beschiftigung  ist  kein  Mangel  Schon  Bodelschwingh  hat  ein- 
gehend dargelegl^  dass  sich  flberall  Landwirthschalt  treiben  lasse,  und 
dass  es  bei  dem  heutigen  Arheitermangel  auf  dem  Iimde  dringend 
geboten  sei,  diesem  Berufe  neue  Kräfte  zuzuführen.  Verlfisst  der 
Hänsling  die  Anstalt  als  tüchtiger  Landarbeiter,  so  kann  er  ausserdem 
überall  sein  Brot  finden  und  braucht  nicht  für  Lebaiszeit  das  Prole- 
tariat der  Landstrasse  und  der  Grossstadt  zu  vermehren.  Jedenfalls 
wäre  es  dann  aber  ausgeschlossen,  dass,  wie  mir  kürzlich  ein  Fall 
l»ekannt  geworden,  ein  Mensch  mit  einem  ganzen  Verlag  von  melireren 
hundert  Fal^^iflcaten  die  Anstalt  verlässt,  um  von  deren  Verhamleln 
ein  faules  Leben  zu  fristen  und  dann  abermals  in  ein  Arbeitshaus  mit 
Druckerei  zu  gehen. 

Endlieli  sei  mir  noch  die  Bemerkung  gestattet,  daas  alle  obigen 
Ausführungen  auf  praktischen  fjfahrungen  beruhen,  und  dass  ich 
keine  Art  der  Fälschung  erwähnt  habe,  von  der  ich  nicht  reale  Be- 
stätigung in  Händen  habe. 


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XIV. 

Zar  Frage  der  Yorantersocliang. 

Ym 

Hans  Otom. 

Die  Intcrnationalo  kriminalistische  Vereini^'un^'  hat  sich  soeben 
(5.  Juni  llto3  in  Dresikn)  7Aim  dritten  Mal  (zuerst  in  Bremen,  dann 
in  Petersburg)  mit  der  Frage  der  Beseitigung  der  Voruntersueliung 
befasst,  und  es  darf  nach  den  Ergebnissen  dieser  dreimaligen  \'er- 
handlung  angenommen  werden,  dass  die  Aufhebung  der  NOrunter- 
suchung  in  ihrer  heutigen  GestaU  einen  Programmpunkt  der  1.  K,  V. 
darstellen  wird.  Als  einem  der  treuesten  Anhiinger  dieser  Vereinigung 
steht  es  mir  allerdings  nicht  zu,  als  Gegner  eines  solchen  Programui- 
punktes  aufzutreten  —  aber  einerseitä  muss  mein  „Archiv'*  in  einer 
seinen  Arbeiten  so  überaus  wichtigen  Sache  offen  Stellang  nehmen 
und  andeieneitB  handelt  es  mcb  mir  hier  znmeist  daram,  die  so  ttber- 
ans  wichtige  iYage  Tom  sy  mptomatologisohen  Standpunkt  ans 
ansnsehen.  — 

Das  erste  signifieante  Moment,  welches  in  den  drei  Verband- 
Inngen  zu  Tage  trat^  war  die  allseito  empfondene  Uebenengnng,  dass 
man  in  der  Frage  des  Vorreifohrens  unbedingt  eine  Aendemng  wünsche; 
das  zweite:  dass  man,  nicht  blos  bei  den  beiden  ersten  Verband- 
hingen,  sondern  anch  bei  der  dritten  in  Dresden  von  mehreren  Seiten 
mndweg  erUSrte:  ,|die  Sache  sei  noch  immer  nicht  genügend  Yor- 
bereitet,  um  zn  emem  endgültigen  Besoltate^  einer  Abstimmung  gdangen 
sn  können"^. 

Fassen  wir  diese  beiden  symptomatischen  Momente  zusammen, 
so  ergeben  si«',  dass  man  einerseits  mit  den  gegenwärtigen,  diesfälligen 
Zuständen  durchaus  unzufrieden  ist  und  andererseits,  dass  man,  zum 
iiiinilesten  im  Unterbewustseiu  empfinde:  die  Frage  sei  nicht  am 
richtigen  Ende  angepackt  worden. 

Das  Erste  wird  kaum  bestritten  werden,  es  ist  nur  eine  andere 
Formuliruug  der  festgestellten  Thatsiiche  —  aber  auch  das  zweite  lässt 


192 


XIV.  Gboss 


nch  darthniii  es  handelt  sidi  vm  eine  oft  genug  beobachtete  nnd  nnter- 
Bnchte  p^chologische  Enefaemimg.  Es  kann  doch  kanm  bezweifelt 
werden,  den  jeder  erwachsene  Kriminalist  sich  ISngst  fiber  die  IVage 

der  Yoruntersuchung  seine  Gedanken  gemacht  hat:  nicht  dass  er  zu 

einer  abschliessenden  Ansicht  darOber  gekommen  sein  nniss,  wohl 
aber,  dasB  er  sich  die  Frage  soweit  znrecht  gelegt  hat,  als  er  dies 
zu  thun  yermag;  er  braucht  daher  nicht  weiter  vorbereitet  zu  werden 
und  die  Vorbereitung  der  Sache  besteht  darin,  dass  Referate  von 
Berufenen  erstattet  werden;  das  Letztere  ist  geschehen  und  wenn 
dann  der  Huf  laut  wird,  es  mangle  an  nöthiger  Vorbereitung  und 
wenn  dies  nicht  blos  einmal  sondern  zum  dritten  Male  geschieht,  so 
kann  dies  nicht  in  der  Sache  liegen,  sondern  es  muss  ein 
Symptom  darstellen.  Fragen  wir  aber,  auf  was  beide  Symptome, 
das  der  zweifellosen  Unzufriedenheit  mit  den  bestehenden  Formen, 
und  das  der  Empfindung  luani^elhafter  Vorbereitung,  gedeutet  werden 
können,  so  finden  wir  die  Antwort  in  vielfachen  ganz  ähnlichen  Er- 
scheinungen: in  der  Sache  selbst  liegt  gewiss  ein  wichtiger 
nnd  grosser  Fehler,  aber  der  betretene  Weg  ist  nicht  der 
richtige  um  die  ersehnte  Abhülfe  zu  finden.  Auf  unsere 
Sache  angewendet:  whr  Alle  empfinden  ganz  richtig,  daas  die  heutige 
Form  der  Vomntenuchung  ihren  Zwecken  durchaus  nicht  entsprich^ 
es  muss  geSndert  werden,  aber  der  yorgeechlagene  Weg,  die  Vor- 
untersuchung zu  beseitigen,  ist  doch  nicht  der  richtiga 

Sehen  wir  den  bis  jetzt  eingehaltenen  Vorgang  näher  an,  so 
müssen  wir  zur  Ueberzeugung  gelangen,  dass  wir  ans  auf  einem  nicht 
unbedenklichen  W^^  befuiden  —  denn  nichts  ist  gefährlicher 
als  Verbesserung  am  unrichtigen  Orte.  Angestrebt  wird  Ver- 
besserung der  Zustände  durch  Aenderung  der  diesfälligen  gesetzlichen 
Bestimmungen,  also  legislatorisches  Eingreifen.  Nehmen  wir  an,  dass 
das  erstrebte  Ziel  erreicht  und  eine  gesetzliche  Aenderung  im  ver- 
langten Sinne  erreicht  wird,  so  haben  wir  dann  ein  neues  Gesetz, 
Welches,  will  man  nicht  geradezu  Kechtsunsicherheit  erzeugen,  doch 
auf  altsehbare  Zeit  Gültigkeit  behalten  muss  —  ein  Gesetz  zu  er- 
zwingen, dessen  Grundlagen  aber  immer  und  immer  wieder  als  „nicht 
genügend  vorbereitet"  bezeichnet  wurden,  das  wäre  bedenklicher  Ge- 
winn —  ich  wiederhole:  der  Auspruch  „die  Sache  ist  nicht  genügend 
Toibereitet'^  war  nur  der  Ausdruck  für  die  im  UnteibewustBein 
aufgetretene  Empfindung:  „wir  sind  nicht  auf  dem  richtigen 
Wege^ 

Sehen  wir  uns  aber  den  Weg  an,  den  man  dennalen  einzu- 
schlagen trachtet,  so  will  es  vor  Allem  bedttnken,  als  ob  man  nicht 


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Zar  Frage  der  Yomnterrachtiiig. 


193 


hinlänglich  erwo^^en  hätte,  ob  und  wie  die  gemachten  Vorschläge  in 
Wirklichkeit  durchgeführt  werden  könnten,  als  ob  man  über  theo- 
retischen Erwägungen  die  praktische  Verwendbarkeit  vergessen  hätte; 
hiennit  soll  sicher  nicht  dem  theoretischen  Kriminalisten  ein  Vorwurf 
gemacht  werden:  auch  dem  erprobten  und  geechnlten  Praktiker  kann 
eine  theoretiBohe  Aneehannng  Uberweithig  werden,  wenn  er  nieht 
Punkt  für  Punkt  Toigelit  und  die  Durohffihrfaftrkeit  eines  Gedankens 
IBr  alle  erdenklichen  HOgliohkeiten  kühl  und  kritiseb  durchprobt 
Wie  Ideht  dann  eine  Institution  selbst  fftr  ihre  Erfolge  rer- 
antwortlioh  gemacht  wird,  die  nicht  in  ihr,  sondern  in  der 
Sache  gelegen  sind,  das  hat  gerade  in  den  letzten  Tagen  wieder  der 
Umstand  gezeigt,  dass  man  das  Eröffnungserkenntniss  für  die  sozu- 
sagen infamiite  Stellung  des  Angeklagten  bei  der  Hauptverhandlung  ver- 
antwortlich macht;  in  Oesterreich  giebt  es  keinen  Eröffnungsbeschluss: 
wenn  die  Anklage  überreicht  ist^  und  der  Angeklagte  keinen  Einsprach 
dagegen  erhebt,  so  wird  die  Hauptverhandlung  angeordnet,  und  es 
hat  noch  Niemand  wahrgenommen,  dass  der  Angeklagte  in  Oesterreich 
deshalb,  weil  kein  Eröffnungsverfahrcn  vorausgegangen  ist,  eine  bessere 
Stellung  geniesst  als  in  Deutschland.  Diese  Situation  des  Angeklagten 
liegt  eben  nicht  im  Verfahren,  sondern  in  der  Natur  der  Sache,  und 
kein  Verfahren  der  Welt  wäre  im  Stande,  hieran  etwas  zu  ändern. 
Die  Anklage  ist  eben  nicht  „eine  Ilypothese'*,  wie  neuerlich  behauptet 
wurde,  sondern  lediglich  das  qualifizirte  Aussprechen  eines  dringenden 
Verdachtes,  mit  dem  Verlangen  um  Gelegenheit,  diesen  Verdacht  in 
prooessual  yorgesebriebener  Weise  als  richtig  bewasen  zu  können. 
So  Umge  es  aber  ein  Straf rerfiüuen  in,  dem  heutigen  nur  annlhemd 
ShuUchen  Formen  geben  wird,  so  lange  wurd  es  eine  Anklage  oder 
etwas  der  Anklage  Aehnliches  geben  müssen;  jedes  dieser  Anklage 
ihnfiche  Gebilde  wird  dem  Wesen  nach  etwas  sein,  wie  ein  qualifizirt 
ausgesprochener  Verdacht,  und  mit  diesem  untrennbar  wird  immer 
eine  den  Betreffenden  schidigende,  ihn  herabziehende  Situation  sein 
mfissen.  Ebenso  wie  es  der  Heilkunde  keiner  Zeit  gelingen  wird, 
grossere  Operationen  ganz  ohne  I^ebensgefahr,  ganz  ohne  Schmerz 
mid  ganz  ohne  böse  Folgen  zu  vollziehen,  ebenso  wird  es  auch  keinem 
Strafprocess  gelingen,  den  Angeklagten  als  unbedingten,  dem  Staats- 
anwalt V()llig  gleichgestellten  Ehrenmann  existircn  zu  lassen  —  das 
liegt  auch  in  der  Natur  der  Sache,  an  der  wir  Menschen  nichts  ändern 
können  —  wir  sehen  ein,  dass  es  sehr  gut  wäre,  wenn  wir  es  ver- 
möchten, aber  es  ist  uns  ebenso  unniöglich,  wie  zu  erreichen,  dass 
alle  Menschen  gleich  gesund,  gleich  schön  und  gleich  reich  sein  sollen, 
was  auch  sehr  wünschenswerth  wäre.  — 


194 


XIV.  Gbobb 


Was  also  mit  dieser  Erörterang  gesagt  sein  will,  das  geht  dahin: 
es  ist  erwttsbar,  dasB  die  inferiore  SleUang  des  Angeklagten  in  der 
nnabttndeiliGbea  Natur  der  Sache,  nicht  aber  in  dem  Inrtitnte 
dea  ErSffnnngsveifiihrena  liegt^  nnd  es  ist  deshalb  wenigstens  die 
▼oiUnfige  Annahme  gerechtfertigt,  dass  die  untoagbaren  Fehler  nnd 
MlUigel  nnserea  Torbereitenden  Verfahrens  nicht  in  der  Inslitntion 
der  richterlichen  Vomnteisaohnng,  sondern  in  gaas  anderen  Orttnden 
zn  SQchen  sind.  —  Es  wird  tot  Allem  zu  erwägen  sein,  ob  man  nicht 
auch  hier  in  den,  bei  so  vielen  Disciplinen  und  auch  im  gemeinen 
Leben  so  oft  begangenen  Fehler  verfallen  ist:  Eine  ganze  Sache  zn 
verwerfen,  weil  sie  niolif  richtig  gemacht  vrarde.  Wie  oft  das  ge- 
schehen ist,  das  weiss  Jeder,  die  Geschichte  von  Metlioden,  von  Werk- 
zeugen, von  Ileilniittcln,  von  Theorien,  von  Institutionen  zeit,'t  dies 
zur  Genüp:e:  Der  Eine  hat's  erdacht,  der  Zweite  sohlecht  versucht, 
der  Dritte  hat's  verworfen  und  der  Vierte  erfindet  es  von  Neuem; 
vielleiclit  <^'eht  die  Sache  abermals  und  ein  zehntes  Mal  denselben 
Weg  und  ob  sie  endlieh  durchdrinjj^t  oder  verloren  bleibt,  hängt  oft 
und  oft  nicht  von  ihrem  wirklichen  Werth,  sondern  von  der  richtigen 
oder  falschen  Durchführung  ab. 

Sehen  wir  nun  zu,  was  die  Gegner  dea  heutigen  Verfohrens  be- 
haupten, so  finden  wir  zwar  im  Aensseren  eine  Anzahl  grösserer  oder 
kleinerer  Verschiedenheiten,  aber  im  Ganzen  kommt  man  daran! 
hinans,  dass  die  gerichtliche  Yornntersnchnng  fallen  soll,  dass  der 
Staatsanwalt  das  Ifateriale^  die  Beweise  für  die  HanptForhaadhing, 
sammeln  möge,  dass  es  Sache  der  Gegenpartei,  des  Beschuldigten 
sein  kann,  die  Gegenbeweise  zn  ertiringen  und  dass  AUee  daran  zn 
setzen  ist^  dass  es  möglichst  bald  znr  Hanptverbandlung  kommt 

Will  man  nnn  daran  gehen,  die  Möglichkeit  der  Ausführung  zn 
pr&fen,  so  hätte  man  es  viel  leichter,  wenn  nns  irgend  Jemand  genau 
nnd  in  den  Einzelheiten  gesagt  hätte,  wie  jeder  Betheiligte  in  einem 
einfachen  Falle  und  wie  bei  einem  complicirten  vorzugehen  hätte. 
Das  hat  uns  aber  noch  Niemand  gesagt,  nnd  so  können  wir  nur  an 
dem  etwas  schemenhaften,  allgemein  gegebenen  Bilde  unsere  Untw- 
suohungen  vornehmen. 

Wir  wollen  uns  also  vorstellen,  dafs  jeder  Straffall  der  zur  An- 
zeige kommt,  direct  an  den  Staatsanwalt  geleitet  wird,  der  nun  den 
„Fall  vorbereitet",  damit  er  zur  Ilauptverhandlung  gelangen  kann. 
Bleiben  wir  einmal  bei  der  Thätigkeit  des  Htaataanwalts  in  ihren 
einfachsten  Formen;  er  kann  durch  die  Sicherheitsbehörden  gewisse 
Vornahmen,  FestateUnngen,  Erhebungen  n.  s.  w.  yeranlassen,  er  kann 
bestimmte  Acten  beischaffen  (Vorbestrafnngsacten,  Verfaaltiingszeug- 


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Zur  Frage  der  Vonmteimiciiting. 


195 


nisso.  Tnufschein,  Militäracton  ii.  s.  w.)  er  kann  nllonfalls  auch  in) 
scliriftliclien  Weg:e  erheben,  wo  sich  der  Verdiichtige  zu.  einer  be- 
stimmten Zeit  befunden  hat,  wie  viel  Geld  er  besass,  was  er  getrieben 
hat  u.  8.  w.  —  alles  das  bietet  keinerlei  Schwierigkeiten,  wohl  al)er 
stossen  wir  auf  solche,  wenn  es  sich  um  Zeugenvernehmungen  handelt. 
Man  verlangt  dermalen,  dass  Zeugen,  womöglich  das  erste  Mal 
sehon  bei  det  Haiipt?erbandliing  vefnommen  werden.  Wie  man  sieh 
das  denken  soll,  ist  mir  durchaus  nicht  erfindlich;  zwdfellos  richtig  ist 
es,  dass  unvermittelte  Aussagen  oft,  aber  nicht  immer,  die  besten 
sind:  aber  anch  dieses  „Beste*^  ISsst  sich  mit  den  nns  znglnglicben 
Mitteln  nicht  erreichen.  Ob  Jemand  ein  Zeuge  ist^  d.  h.  ob  er  etwas 
ftlr  die  Sache  Dienliches  weiss,  das  wird  man  in  der  Regel  nur 
durch  ihn  selbst  erfahren,  d.  h.  er  mnss  erst  einmal  als  Zenge  ver- 
nommen werden.  Allerdings  erfährt  man  anch  dnrch  dritte  Personen 
mitunter,  dass  Jemand  z.  B.  einen  Vorgang  gesehen  oder  gehört  hat, 
aber  diese  Fälle  sind  nicht  häufig,  und  wenn  sie  vorkommen,  so  er- 
fahrt  man  doch  erst  durch  die  Vernehmung  dieser,  so  namhaft  ge- 
machten Zeugen,  ol)  sie  wirklich  etwas  wissen  und  ob  ihre  Ver- 
nehmung die  Sache  nicht  etwa  auf  einen  solchen  Standjmnkt 
bringt,  welcher  wieder  weitere  Erhebungen  in  ganz  anderer  Rich- 
tung nothwendig  macht.  Jeder  erfahrene  Praktiker  weiss,  wie 
oft  eine  I  ntcrsuchung  durch  einen  nur  zufällig  oder  nebenbei  ge- 
nannten Zeugen  in  vollständig  neues  Fahrwasser  gebracht  wird: 
Solche  1*  üUe  sind  so  alltäglich,  dass  sie  fast  als  regelmässig  erwartet 
werden. 

Aber  wir  macheii  diesSsllB  auch  noch  eine  andere,  ebenso  wichtige 
als  psychologisch  leicht  erklärbare  Erfobrnng.  Es  ist  ja  richtig,  dass 
hslbwegs  wichtige  Zeugen  in  der  Regel  dromal  vernommen  werden; 
zaeist  „emirt"  der  Polizist  oder  Qendarm  den  betreffenden  Ansknnfts- 
mann  und  lässt  sich  von  ihm  erzählen  was  er  etwa  weiss;  der  Polizist 
Q.  s.  w.  thdlt  dies  dem  Untersochnngsrichter  mit,  dieser  vernimmt  den 
Mann  nnn  förmlich  zn  Protokoll  nnd  bei  der  Hanptverhandlung 
inssert  er  sich  endlich  znm  dritten  Male.  Es  ist  nun  freilich  nicht 
zu  leognoi,  dass  dies  seine  misslicben  Folgen  hat:  Die  Aussage  wird, 
wie  es  im  Kriminalistenjargon  heisst,  „abgenützt^,  sie  verliert  an 
Frische  und  Unmittelbarkeit,  der  Zeuge  wird  durch  die  mehrfachen 
Vernehmungen  molestirt,  und  sagt  er  in  den  drei  Malen  verschiedon 
ans,  so  giebt  das  erhebliche  Schwierigkeiten  —  der  psycholo-iscb  ge- 
schulte Vorsitzende  vermag  es  allerdings,  solche  scheinbar  weit  aus- 
einandergelieiide  Aussagen  zu  vereinen  und  die  Differenz  zu  erklären, 
aber  solche  kriuiinalpsychologisch  gebildete  Vorsitzende  sind  nicht 


196 


XIV.  ÜR088 


häufig  und  den  Andern  bieten  die  „nicht  atimnienden  Ansaagen*  Siger- 
liehe  Unannehmliebkeiten. 

Aber  hierbei  ist  noch  etwas  Anderes  zu  bemerken;  abgesehen 
davon^  dass  eben  auch  diese  Schwierigkeiten  unbeeeitigbar  in  der 
Sache  selbst  liegen,  abgesehen  hieiYon  ergiebt  sich  sogar,  dafs  diese 
mehrlachen  Wahrnehmungen,  wenigstens  sehr  oft,  dringend  noth- 
wendig  sind.  Ich  habe  einmal  irprendwo  des  Genaueren  ausgeführt, 
dass  von  den  drei  Aussagen,  die  nach  dem  Gesagten  die  meisten 
wichtigen  Zeugen  ablegen  müssen,  in  der  Regel  die  vor  dem  Unter- 
suchungsrichter abgegebene  die  weitaus  beste  ist.  Der  Grund  hiervon 
ist  psychologisch  leicht  dahin  zu  geben,  dass  dem  Zeugen  sein  eigenes 
Verhör  vor  dem  Gendarmen  u.  s.  w.  zu  wenig,  vor  dem  Vorsitzenden, 
zumal  im  Geschworenengericht,  zu  viel  imponirt.  Nehmen  wir  die 
Sache  vor,  wie  sie  sich  zu  ereignen  pflegt;  sagen  wir,  es  sei  auf  dem 
Lande  irgend  etwas  Grosses  geschehen  und  der  erhebende  Gendarm 
erfährt,  dass  der  Bauer  N.  von  der  Sache  etwas  weiss,  und  beschliesst, 
den  Hann,  an  dessen  Behansnng  er  TorBbecgefaen  muss,  zu  befragen. 
Er  findet  ihn  bei  der  Arbeit,  und  vor  dem  Stall  stehend,  besprechen 
die  zwei  Männer  die  Sache.  N.  weiss  allerdings  Namhaftes  zu  sagen ; 
dabei  giebt  er  sich  aber  keine  grosse  Mühe:  Die  Wichtigkeit  seiner 
eigenen  Aussage  ist  ihm  noch  nicht  khir  —  vidleicht  such  dem 
Geodamen  nicht  —  die  ganze,  gewohnte  Umgebung  vor  seinem  Vieh- 
staU  stimmt  ihn  auch  nicht  feierlich ;  mit  den  Gendarmen,  deu  er  gat 
kennt^  hat  er  schon  oft,  auch  vom  AllergleichgUltigsten  gesprochen,  kurz, 
seine  Aussage  erhält  auch  heute  nur  den  Charakter  des  UngefiUireii, 
Namen  werden  auf  Gerathewohl  gesagt,  Zahlen  ohne  weiter  nachzu- 
denken, ein  Datum,  wie  es  ihm  gerade  einfällt  und  was  ihm  nicht  passt, 
das  dem  Gendarmen  so  ohne  Weiteres  zu  sagen,  dazu  fühlt  er  sich 
nicht  verpflichtet  —  kurz:  viel  werth  ist  die  Aussage  vor  dem  Gen- 
darmen, von  dem  man  auch  nicht  verlangen  kann,  dass  er  ein  Meister 
in  der  Vernehmungskunst  ist,  gewiss  nicht. 

Nun  kommt  der  Zeuge  zum  Untersuchungsrichter;  er  erscheint 
schon  mehr  in  gesammelter,  etwas  andächtiger  Stimmung,  die  ruhige, 
stille  Amtsstube  erhöht  dieselbe,  er  weiss,  daas  er  heute  etwas  ueuueus- 
werth  Wichtiges  zu  prästiren  hat.  Wir  wollen  annehmen,  dass  der 
Unteranchungsrichter  seinem  Amte  gewachsen  ist,  er  ▼ermag  dem 
Zeugen  klar  zu  machen,  dass  von  seiner  Aussage  viel,  vielleieht 
Schuld  oder  Unschuld  seines  Nebenmenschen  abhängt,  er  Temimmt 
ruhig  und  sachlich,  er  vermag  es,  mit  geschickten  mnemotech- 
nischen Kunstgriffen  gewisse  Aussagen  z.  B.  Uber  ein  Datum,  eine 
bestimmte  Situation,  ein  gewisses  Nebeneinander  oder  Nacheinander, 


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Zur  Frage  der  VorunterBuchung. 


197 


^enuu  und  \  crlüsslicli  zu  niaclien.  er  wciidtt  lii<^rzu  dw  nötlii;:e  Zt.il 
auf  und  hütet  sicli  vor  nWw  Su,i,'-i_''e>ti(>n.  i  r  lu-spriclit  dieselbe  Anp'- 
U'frenheit  mit  dem  ^chwcrfälli^vn  Manne  niclinnals,  maclit  den  Leiclit- 
sinni^'en  /jrewissenliatt,  den  allzu  Za.iiliafttn  vertraulicher,  den  zu 
Schwunghaften  nüchterner,  kurz,  wenn  er  seine  Sache  versteht,  so 
▼emug  er  eine  Aussage  so  genaa  mid  wahrheitsgetreu  als  möglich 
nt  machen.  Dabei  hat  es  der  UnterBnohnngsrichter  in  so  ferne  leieht, 
als  anaser  ihm,  dem  Gerichtsschreiber  und  dem  Zeugen  Niemand  da 
ist,  der  den  Zeugen  durch  Zwisch^ifragen,  Eopfechtttteln  oder  auch 
Uoes  durch  seine  Anwesenheit  rerwirrt  oda  schüchtern  machen 
kann,  der  Zeuge  befindet  sich  in  der  für  die  Sache  yortheihaften* 
Situation. 

Nun  kommt  er  in  den  Schwurgerichtssaal,  der  dem  Zentren 
durch  Grosse,  Ausstattung,  kirchlicbe  Form,  durch  die  Art  des  Ein- 
tretens auf  das  Höchste  imponirt  —  die  vielen  Menschen,  der  feierlich 
adjustirte  Gerichtahof,  der  Vorgang  verwirrt  den  Mann,  die  vielen, 
auf  ihn  gericliteten  Au<ren  nrhrnen  ihm  den  letzten  Rent  von  Fassung:. 
Nun  kommt  das  V^TlK'ir;  wir  wollen  von  den  so  oft  coufuse  machen- 
den Zwischenfra-ren  von  Staatsanwalt  und  \'ertlicidij;:er  iranz  absehen, 
es  ist  schon  der  ^'erkeh^  mit  dem  fragenden  Vorsitzenden  schwer 
genug.  Sogar  das  räuudiche  Vt  rhältniss  ist  nicht  gleichgühig;  beim 
Untersucliungsrichter  sass  Zeuge  bfliaglich  nt'b<'n  liiui,  hn  r  steht  er 
weit  entfernt  vor  dem  hochthronenden  ^'orsitzen(len  und  die  so  g«'- 
schaffene  Schwierigkeit  des  Verkehrs  ist  nicht  zu  unterschätzen.  Daun: 
Der  Vorsitzende  hat  unmöglich  die  Zeit,  mit  dem  Zeugen  so  ein- 
gehend und  so  lange  zu  verkehren,  wie  es  beim  Untersuchungsrichter 
geschehen  konnte,  er  muss  die  Sache  kurz  machen,  dieses  „kurz 
machen*^  ist  aber  bei  vielleicht  'Vs  aller  Zeugen  von  der  bösesten 
Folge:  sie  wissen  zu  wenig  und  sagen  zu  viel.  — 

Ist  nun  der  Zeuge  vorher  gar  nicht  vernommen,  so  ist  sein 
Niditwissen  oder  seine  unrichtige  Aussage  ein  maassgebender  Factor 
im  Process  geworden,  der  nicht  bloss  einen  gerechten  Schuldspruch 
▼erhindert,  sondern  auch  einem  Unschuldigen  den  rettenden  Ent- 
lastungszeugen geraubt  haben  kann. 

Anders  aber,  wenn  der  Vorsitzende,  ein  von  einem  guten  Untcr- 
Buchnngsrichter  aufgenommenes  Protokoll  vor  sich  hat.  Ich  glaube 
nicht  versichern  zu  müssen,  dass  ich  der  Letzte  bin,  der  ein  gedanken- 
loses Abfragen  des  schon  einmal  TJesagtru  reclitft  rtigt'n  will  —  aber 
wenn  der  Vorsitzende  weiss,  wass  «Icr  Zeuge  zu  sagen  vermag,  so 
wird  er  ihn  entsprechend  fraireii.  ihm  entsprechend  lieli'en  und  ihn 
eatsprecheud  currigiren  konueu.   ist  das  Protokoll  gut  aufgenommen, 

Itehhr  nr  Kiiailiialanthiopologie.  XII.  14 


198 


XIV.  GBoen 


und  virnia^'  der  Vorsitzende  put  zu  leiten  und  zu  fm^en,  so  ist  ein 
Versa^^en,  ein  Feldf?elien  geradezu  aus^jeschlussen.  Wiis  das  für  den 
Process  bedeutet,  brauche  ich  nicht  zu  sagen. 

Das  Angegebene  ist  aber  ein  typischer,  alle  Tage  yorkommender, 
temgendftieb,  aber  immer  in  derMlbea  Biehtaog  variiiler  Fall.  Ans 
einer  deadennenlangen  Praxis  Icann  ich  die  bttndige  ErklSmng  ab- 
geben, daas  ieh  gerade  die  hier  besprochene  Ersoheinang  wiederholt 
beobaehtet  und  verfolgt  habe,  ja  daas  ich  mir  oft  die  Mfihe  ge- 
nommen habe,  gerade  solche  Leute,  die  in  der  Hanptverhandlnng 
das  erste  Mal  yemommen  wurden  und  nichts  auszusagen  wussten, 
bdw  entschieden  unrichtig  deponirt  hatten,  später  nochmals  zu  ver- 
nehmen. Fast  immer  hat  es  sich  herausgestellt,  dass  sie  dann  viel 
mehr  und  viel  richtigeres  zu  sagen  wussten,  als  in  dem,  ihnen  un- 
heimlichen Gewirre  des  Verhandlungssaales.  Und  das  waren  nicht 
bloss  ungebildete  Hauern,  sondern  auch  T^ute  aus  höher  stehenden 
Kreisen,  die  alle  in  der  Amtsstube  des  Tlntersuchunprsrichters  ruhig, 
sicher,  genau  und  viel  wahrheitsgetreuer  zu  reden  wussten  als  im 
feierlichen  V'erhandlungssaale.  Das  sind  nicht  theoretische  Erörte- 
rungen, nicht  in  der  Studierstube  gemachte  Constniolionen,  sondern 
in  langer  Praxis  gemachte  Erfahrungen  auf  meinem  besonderen  Ar- 
beitsgebiete und  daher  wieder  nicht  bloss  Erlebnisse  eines  Praktikers, 
sondern  auch  theoretisch  vielfach  untersuchte  psychologische  Erschei- 
nungen —  sind  aber  diese  Beobachtungen  richtig,  dann  würden  sie 
allein  ea  für  unbegreiflich  erscheinen  lassen,  dass  man  sich  der  so 
wichtigen  Vernehmung  durch  den  Untersuchungsrichter  kurzweg  ent- 
ftussem  wollte. 

Aber  die  Zeugenyemehmungen  sind  noch  in  anderer  Weise  wich- 
tig nftmlich  dann,  wenn  sie  wohl  früher  aber  nicht  bei  der  Haupt- 
▼erhandinng  geschehen  konnten,  wenn  die  Zeugen  gestorben,  e^ 
krankt,  verrdst,  nicht  aufeufinden  waren;  ist  der  Zeuge  früher  gar 
nicht  yemommen  worden,  oder  hat  man  sich  bloss  mit  einer  der 
jetzt  so  yiel  besprochenen  „Notizen'^  über  das,  was  der  Zeuge  zu  sagen 
wusste,  begnügt,  so  ist  sie  einfadi  werthlos  und  der  Zeuge  ist  yer- 
loren  —  man  vergesse  nicht,  dass  nicht  jeder  Zeuge  ein  Werkzeug 
in  der  Hand  des  Staatsanwalts  ist,  dazu  dienend,  den  Beschuldigten 
zu  verderben,  und  den  Letzteren  eines  oft  rettenden  Entlastungszeugen 
ZU  berauben,  ist  geradezu  newissenssache.  Naiiuntlich  wichtig  sind 
in  dieser  Richtung  die  durch  das  \  erbrechen  zu  Tode  Verktzten,  die 
der  Untersuchungsricliter  gerade  nocli  vor  iiireni  Ableben  vernehmen 
kann,  und  deren  Aussage  bei  der  llaujttvrrhandlung  vielleicht  den 
Drehpunkt  derselben  darstellt.  Und  bterbende  lügen  nicht,  sie  können 


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Zur  Frage  der  VoraDtenacliuiig. 


199 


in  ihrer  VerwimiDg  unrictitig  beobachtet  und  wiedergegeben  haben, 
ilwr  dies  richtig  sn  stellen  ist  Sache  des  guten  und  erfahrenen  Arztes. 

Niemand  ist  yon  dem  misehitzbaren  Werthe  der  Unmittelbaikeit 
mehr  ttbeizengt  als  ich,  und  das  „Selbstsehen  und  Selbsthöien'*  ge> 
hdrt  fOr  mich  zu  den  Gmndprincipien  aller  kriminalistischen  Arbeit 
Aber  auch  hier  darf  man  nicht  znm  Schaden  der  Sache  extrem 
werden  nnd  ein  Hfilfsmittel  von  der  Hand  weisen,  welches  in  Süsser^ 
sten  Fällen  das  grundsätzlich  Anzuwendende  ersetzen  soll  und  oft 
auch  kann.  Es  sind  allerdings  Ausnahmefälle,  in  welchen  Protokolle 
▼on  Zeugen  yeriesen  werden  mttssen,  aber  so  selten  sind  sie 
auch  nicht,  dass  man  sie  vernachlässigen  darf  und  kaum  Eine  grosse 
Verhandlunfj:  wird  es  geben,  in  welcher  nicht  doch  das  eine  oder 
andere  Zeu^enprotokoll  verlesen  werden  muss.  Ich  wiederhole:  Dass 
man  einem  bloss  verlesenen  Zeugenprotokoll  iranz  anderen  Werth  bei- 
lejren  wird,  als  dem  persönlich  vernommenen  Zeugen,  das  ist  selbst- 
verständlich, aber  entbehren  kann  man  solche  Ersatzmittel  doch  nie 
vollständig. 

Allmählich  entsteht  nun  die  Frage,  wie  wir  uns  eine  Hauptver- 
handlung ohne  Voruntersuchung  in  einem  halbwegs  compliculen  Falle 
vorstellen  sollen.  Einen  sogenannten  „passiven"^  Vorsitzenden,  wie  in 
England,  können  wir  nns  nicht  denken  —  das  dortige  Verfahren  ist 
gewiss  nicht  besser  als  das  nnserige  nnd  wollten  wir  es  einführen, 
so  mfisste  nicht  bloss  nnser  Strafverfahren  total  geSndert,  sondern 
unsere  ganzen  Lebensanschaanngen,  unsere  Gewohnheiten  nnd  Anf- 
fsssnngen  völlig  umgestülpt  werden,  man  müsste  andere  Menschen 
ans  nns  machen,  wenn  wir  nns  in  diese  nns  dnich  nnd  dnrch  frem- 
den Verhältnisse  einfinden  sollten.  Wir  werden  also,  will  man  nns 
nicht  den  bedenklichsten  Gedanken  aussetzen,  noch  für  absehbare 
Zeit  unseren  gewohnten  Vorsitzenden  vor  uns  haben.  Will  aber  ein 
solcher  sein  schwieriges  und  höchst  verantwortungsvolles  Amt  richtig 
nnd  gewissenhaft  versehen,  so  ist  es  seine  allerwichtigste  Pflicht,  auf 
dius  Peinlichste  genau  informirt  zu  sein:  eine  schwierige  V^erhandhing 
zu  leiten,  ohne  auf  das  Sorgfältigste  davon  unterrichtet  zu  sein,  was 
vorkommt  und  vorkommen  kann,  erkläre  ich  als  grenzenlose  Oe- 
wissenlosigkeit.  Eingehendste  Information  des  Vorsitzenden  ist  vor 
Allem  die  einzige  Möglichkeit,  um  sich  für  die  Verhandlung  einen 
guten  Plan  zu  machen:  Vom  richtigen  Nacheinander  der  Beweisauf- 
nahme hängt  eigentlich  Alles  in  der  Verhandlung  ab.  Dabei  giebt 
es  hierfür  keine  allgemeine,  für  alle  Fälle  passende  Regel:  Im  einen 
Fall  ist  nur  Khirheit  zu  schaffen,  wenn  man  chronologisch  vorgeht; 
im  zweiten  Falle  tritt  sofort  Confnsion  ein,  wenn  man  nicht  zuerst 


200 


XIV.  Uaoss 


mit  einem  HaaptCaotam  beginnt  und  das  Voiausgegangene  später 
bringt;  im  dritten  Falle  mfissen  Beweise  und  Gegenbeweise  stets 
paarweise  zusammengelegt  werden;  im  vierten  mttssen,  nm  Verstind- 
Üchkeit  zn  erzielen,  zuerst  alle  Beweise  zusammen  nnd  dann  wieder 
alle  Gegenbeweise  zusammen  vorgeführt  werden;  im  fünften  Falle 
entsteht  volle  Verwirrung,  wenn  man  nicht  in  der  Vorführung  der 
Beweise  eine  gewisse  Steigerung  oder  aber  eine  Abflachung  eintreten 
lässt;  im  sechsten  Falle  hängt  wieder  die  überzeugende  Dcutliclikeit 
allein  davon  ab,  da.^  etwa  zuerst  die  Sachverständigen  und  dann  die 
Zeugen  sprechen,  oder  uinp'kehrt  —  kurz  von  dem  richtigen  Plane 
des  Vorsitzenden  hängt  Verständniss  und  Missverständniss,  Mitgehen- 
können oder  Fremdbloihen,  riclitiixe  oder  falsche  Auffassung,  also 
auch  oft  und  oft  SchiiKlspriu-h  oder  Freisi)ruch  ab.  In  langer  Er- 
fahrung habe  ich  es  oft  bei  Anderen  und  mir  selbst  walirnelnuen 
können,  wie  eine  Processleitung  einen  ungefügten,  wackeligen,  ver- 
ständnisaiosen  und  im  höchsten  Grade  gefährlichen  Gang  annehmen 
kann  und  wie  im  Gegenfalle  eine  sichere,  zielbcwusste  I^itung  sofort 
den  Eindruck  macht:  es  gebt  Alles  geordnet,  sicher,  verstebbar  und 
logisch  zu,  ein  Fehlgriff  ist  nach  menschUcbem  Können  geradezu 
ausgeschlossen. 

Ob  aber  das  Eine  oder  das  Andere  der  Fall  ist,  hängt  einzig 
und  allein  davon  ab»  ob  der  Vorsitzende  einen  guten  Plan  hatte  und 
dieses  davon,  ob  er  informirt  war,  und  die  Mögliohkdt  einer  guten 
Information  hängt  wieder  nur  davon  ab,  ob  dem  Vorsitzenden  eine 
gute,  sorgfältige  und  correcte  Voruntersuchung  vorgelegen  war.  Ohne 
•eine  solche  ist  alle  Mühe  umsonst,  ja  der  Vorsitzende  wird  durch 
eine  schlechte  Voruntersuchung  geradezu  irregeleitet. 

Aber  nicht  bloss  sein  Plan  hängt  von  ihr  ab.  Ohne  eine  gute 
Vonintersuoliung  gehen  fast  alle  Vortheile  der  echten  Unmittelbarkeit 
verloren;  nur  wenn  ein  Zeuge  schon  vorher  gut  vernoniinen  ist.  weiss 
der  Vorsitzende  wann,  wie  und  um  wa.s  er  ihn  fragen  kann  und 
muss,  nur  dann  wird  auch  der  Zeuge  unmitteli)ar  und  riclitig  wirken 
können.  Die  gute  Voruntersueliung  ermöglicht  es  al>er  auch  allein, 
dass  der  Vorsitzende  die  Eutiastungsbeweise  voll  und  ganz  kennt, 
dass  er  sie  am  iielitigen  Orte  vorbringt,  nichts  vergisst  und  die  He- 
und  EntlastungsmonieiUe  zu  logischen  Gebilden  formt,  deren  richtige 
gegenseitige  Abwägung  dem  Richter  möglich  wird. 

Unabsehbar  gestaltet  sich  die  Wichtigkeit  der  Voruntersuchung 
darin,  dass  nur  durch  sie  falsche  Aussagen  entdeckt  werden  kOnnen. 
Der  ehriiche  Zeuge  sagt  in  der  Hauptsache  stets  glach  ans,  der 
Ifigende  vergisst  Einzelheiten  und  widerspricht  sich,  seine  Aussage 


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Zar  Frage  der  Yoranteraachtuig. 


201 


passt  nicht  in  das  ^anzc,  li;irinonist'b  frt  laute  Reweismaterial,  und 
nur  wenn  dem  Vorsitzenden  Alles,  was  pro  und  eontra  vorcrebraclit 
wurd»'  ininier  und  deutlich  vor  iVuj^en  ist,  wenn  er  ununterbn^chea 
während  der  ^ranzen  Verliniidlunp:  verp:leicht  und  coitihinirl,  nur  dann 
kann  er  Widersprüche  und  Unwalirheiten  entdecken  und  erweisen. 
Aber  auch  das  ist  nur  möglich,  wenn  der  Vorsitzende  voUkoiumen 
fix  und  sattelfest  ist»  wenn  ihn  nichtB  ans  der  Buhe  bringt,  nichts 
Teiblüfft  und  oonfnse  maeht  —  und  auch  das  ist  nnr  möglich,  wenn 
beste  Information  auf  Grand  einer  guten  Vonrntennehnng  vorliegt 
Dem  Vorsitzenden  darf  niebts  neu  und  fremd  sein,  was  sebon  be- 
kannt war;  dann  und  nur  dann  aUein  kann  er  das  wirklich  Nene 
eist  heute  Dazugekommene  als  solches  erkennen  und  sicher  und 
richtig  in  seinen  sicher  und  fest  gefügten  Plan  einfügen. 

Freilich  kennen  wir  Alle  jene  plötzlichen  Uebenaschungen,  die 
gerade  bei  den  grössten  und  schwierigsten  Verhandlungen  sich  ein- 
ziistellen  pflegen  und  alles  Geglaubte  und  Angenommene  über  den 
Haufen  werfen  —  aber  wehe  dann  dem  Vorsitzenden ,  der  sich  auf 
Grand  einer  mangelhaften  Untersuchung  auch  nur  mangelhaft  infor- 
miren  konnte!  Wenn  rine  solche  ..Rond»e*',  wie  man  einen  wichtigen 
neuen,  oder  umsattt  lnden  Zeugen,  eine  unerwartete  Saeliverständigen- 
aussa^e,  eine  ganz  neue  Vertheidiguug  des  Beschuldijrten  zu  nennen 
pfle^'t,  in  <len  Gerichtssaal  fällt,  dann  drelit  sieh  Alles  um  die  Frage: 
,,Wie  stand  die  Sache  früher^""  und  „wie  steht  sie  jetzt?"  —  findet 
sich  der  wohlinforniirte  Vorsitzende  sofort  zureclit,  so  hat  die  ^Bombe" 
nicht  nur  nicht  geschadet,  sondern  die  Erkenntniss  nur  gefördert, 
konnte  sich  aber  der  Vorsitzende  nicht  gut  informiren,  dann  ist  ge- 
ffthriiche  Verwirrung  auf  allen  Linien  fertig. 

Wie  man  sich  eine,  wirkliche  Bechtssicberfaeit  gewährende  Haupt- 
Terhandlung  über  emen  grossen  Fall  ohne  die  sichere  Basis  einer 
guten  Vornntersuchung  denken  soll,  ist  mir  unerfindlich. 

Kehren  wir  wieder  zum  Vorverfahren  zurück,  so  gelangt  man  zu 
schwierigen  und  unlltobaren  Consequenzen  bei  dem  dermalen  yorge- 
schlagenen  Verfohren,  wenn  man  diejenigen  Amtshandlungen  des 
heutigen  Untersuchungsrichters  erwägt,  welche  entweder  diiect  die 
persönliche  Freiheit  d«  s  Pieschuldigten  angreifen  (Verhaftung,  Be- 
schlagnahme  von  Briefen  und  Sendungen  u.  s.  w.),  oder  aber  end- 
gültige  Feststellungen  enthalten  (Obductionen,  Localaugenschein,  Haus- 
suchung, Constatiningen.  Agnoscirnngen  u.  8.  w.).  Hier  kann  man 
nur  zwei  Wege  einschlagen  : 

En t WM' der  überträgt  man  consecjuenter  Weise  auch  diese  Amts- 
handlungen dem  Staatsanwälte!  dann  muss  man  ihn  aber  mit  derselben 


202 


XIV.  611088 


Gewalt  und  demselben  richterlichen  Ansehen  ausstatten,  wie  heute  den 
Untanaehiingsrichter.  Allerdings  ist  dann  der  Sache  absolut  nicht 
gesehadet  und  die  Untennchungen  weiden  gerade  so  gut  oder 
gerade  bo  scblecht  abgeführt  werden,  wie  dies  heute  gesefaieht— aber 
dann  hat  man  nichto  Anderes,  durchans  niehts  Anderes  erreicht,  als 
eine  NamensSnderungy  und  der  heutige  Untersuchungsrichter 
heisst  dann  eben  Staatsanwalt  Aber  auch  zu  einer  solchen 
blossen  Namensänderung  ist  Zeit  und  Sache  zu  ernst,  geholfen  ist 
damit  nicht  das  Mindeste. 

Oder:  man  behält  diese  Amtshandlungen  doch  wieder  dem 
UnteiBUchnngsriQhter  bevor,  so  zwar,  dass  immer  dann,  wenn  es 
sich  um  eine  dieser  Amtshandlungen  dreht,  der  UnterBUchungsrichter 
in  die  Arbeit  einspringen  müsste.  Den  Vertretern  dieser  Aendemng 
ist  es  selbstverständlich  nicht  entgangen,  dass  dadurch  die  Einheit- 
lichkeit des  Vorganges  Schaden  leiden  könnte  —  aber  darin  liegt 
das  Wichtigste  der  Sache  i,'ar  nicht,  es  ist  darin  zu  suchen,  dass  ein 
solcher  Vorgang  schlechtweg  unniöglicli  wäre,  so  kann  eine  Unter- 
suchung nicht  nur  nicht  gut,  sondern  überhaupt  nicht  geführt  werden. 
Freilich  sagen  die  Gegner:  „Ja,  wir  wollen  doch  überhaupt  keine 
Voruntersuchung*'  —  gut,  so  nennen  wir  es  Vorbereitung,  Zurecht- 
legung, Beweissammlung,  oder  wie  immer,  aber  das  Eine  muss  zu- 
gegeben werden,  dass  gewisse  AmteTerrichtungen,  wie  etwa  Obdnc- 
tionen,  Localbeslchtigungen,  chemische  und  physikalische  Unter- 
suchungen, Zusammenstellungen,  Tabeltenaalegangen,  mikroskopische 
Vergleiche,  Zusammensetzen  von  zerrissenem,  yerbianntem  oder  sonst 
ruinirtem  Papier,  FussspureuTcrgleiche,  daktyloskopische  Untersu- 
chungen, Aufnahme  von  Photographien,  Handschriftenentzifferungen 
Untenudiung  von  Gannedrice,  Feststellung  der  tausendfach  möglichen 
Betrügereien  u.  s.  w.  n.  s.  w.  —  in  der  Hauptrerhandlung  nicht  ▼o^ 
genommen  werden  können,  das  muss  in  einem  Vorverfohren  ge- 
schehen, nenne  man  es  wie  immer  und  am  bequemsten  ist  es,  wenn 
wir  es  heute  noch  Voruntersuchung  als  Wort  für  den  Begriff  der 
vorausgehenden  Arbeiten,  nennen  wollen. 

Also  wenden  wir  uns  abern)als  dem  wirklichen  Vorgange  zu  und 
denken  wir  uns,  es  handle  sich  um  irgend  ein  schweres  Verbrechen, 
der  Staatsanwalt  hat  i)egonnen  seine  „Beweise  zu  sammeln"  und  sich 
^Notizen  darüber  zu  machen,  was  die  in  der  Hauptverhandlung  zu 
vernehmenden  Zeugen  auszusfigen  vermr»chten'",  und  er  gelangt  nun 
so  weit,  dass  irgend  eine  der  eben  genaunteu  Amtshandlungen  vW- 
genommen  werden  soll. 

Wir  müssen  nun  selbstverstSndlich  darttber  ebig  sdn,  dass  die- 


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Zur  Frage  der  Voruntersachuiig. 


203 


selben  constatirender  Natur  sind,  dass  sie  etwas  feststellen,  also 
stetB  etwas  in  sich  enthalten,  was  tu  tbnn  eigentlieb  nnr 
Sache  des  erkennenden  Richters  wftre,  und  nnr  weil  diese 
Constatimng«!  der  Natnr  der  Sache  nach  (weil  sie  entweder  keinen 
Zeitanfachnb  gestatten,  oder  zn  ihrer  Dnrchfllhmng  zu  viel  Zeit  he- 
anspmchen)  nicht  in  der  Hanptrerhandlnng  Torgenommen  werden 
können,  mfissen  sie  decselben  vorw^genommen  und  yon  jemand 
Anderem  besorgt  werden.  Dieser  «Andere'*  kann  aber  nur  eine 
richterliche  Person  sein,  denn  er  besorgt  Geschäfte  des  er- 
kennenden Richters,  er  arbeitet  statt  ihm,  er  thnt  etwas,  was 
eigentlich  der  erkennende  Richter  liätte  thun  müssen,  und  es  nnr  be- 
sonderer Umstände  wegen  nicht  thun  konnte  und  wenn  man  be- 
hauptet, dies  k(>nne  auch  der  Staatsanwalt  besorgen,  so  begeht  man 
dnen  arfren.  logischen  Fehler. 

Wir  stehen  dann  wieder  vor  der  Alternative:  lassen  wir  div  ^e- 
nannten  Besorgungen  dem  Staatsanwalt,  so  statten  wir  ihn  mit  richter- 
liehen Befugnissen  aus,  und  man  nennt  dann  meinetwegen  inconse- 
quenter  Weise  einen,  richterliche  Geschäfte  besorgenden  Mann,  aus- 
nahmsweise Stiuitsanwalt.  Verlangt  man  aber,  dass  diese  Dinge  doch 
durch  den  Untersuchungsrichter  besorgt  werden,  dann  kommt  man 
mit  den  piaktiscben  Vorgängen  in  WiderspmcL 

Whr  sind  nftmlich  dabei  stdien  geblieben,  dass  der  Staatsanwalt 
bei  seinem  „Beweiseeammeln*^  bei  einer  der  genannten  Amtshandlungen 
angelangt  ist,  und  dass  man  de  lege  ferenda  bestimmt  hat,  er  mfisse 
hiersn  den  ITntenacbnngsrichter  Terwenden.  Dass  dieser  Vorgang 
der  noch  allein  zn  billigende  wfire,  mnss  zugegeben  werden,  denn  der 
Untersnofanngsrichter  bandelt  hier  ansdrAcklich  im  Namen  des  spS- 
teren,  erkennenden  Richters.  Sagen  wir,  es  handelt  sich  um  eine 
fianssaehung  nach  Gift,  und  der  Untersuchungsrichter  stellt  fest^  dass 
•im  Sehranke  des  A.  in  der  That  (Jift  zu  finden  war;  in  dem  seiner- 
zeitigen Urtlieilc  des  erkennenden  Richters,  der  den  A.  ob  Giftmord 
vHrurtheilt.  wird  es  z.  B.  einen  wichtigen  Grund  seines  Schulds))niches 
bilden,  dass  das  Gift  im  Schranke  des  A.,  und  nicht  etwa  in  dem 
des  B,  gewesen  ist.  EigentÜcii  hätte  dies  der  erkennende  Richter 
selbst  unmittelbar  wahrnehmen  müssen,  dies  war  aber  nach  dem  Her- 
gänge nicht  möglich,  er  Hess  sich  für  diese  Wahrnehmung  gewisser- 
maassen  a  priori  vertreten,  und  es  kann  somit  dieser  Vertreter  un- 
bedingt nur  ein  Richter  und  nicht  der  Staatsanwalt  sein. 

Man  wird  einwenden,  dass  eine  solche  Feststellung  nicht  unbe- 
dingt durch  den  Richter  geschehen  sein  mfisse,  es  wäre  ja  gerade  so 
gut  anch  möglich,  dass  m  Z enge  das  Gift  im  Schranke  des  A.  ge- 


20i 


XIV.  Gross 


gefanden  hat»  dasB  er  darüber  aussagt  nnd  dase  der  erkennende  Biefater 
die  Anssage  dieses  Zeugen  zur  Grundlage  seines  Urthals  macht 
Hierin  Kegt  aber  ein  wesentlieher  processualer  Unterschied:  hat  der 
Zeuge  etwas  gesagt^  so  hat  der  erkennende  Bichter  stets  zwei  Un- 
tersuchungen zu  machen:  1.  Ist  die  Sache  selbst  von  Wichtigkeit  und 
von  welcber?  2.  Hat  der  Zeu^^e  dir  Wahrheit  sagen  können  und 
wollen?  Ist  aber  etwas  amtlich  durch  einen  Richter  festgestellt,  so 
hat  es  dieselbe  Bedeutung,  als  ob  es  der  erkennende  Richter  selbst 
wahrgenommen  hätte  und  die  Erörterung  der  zweiten  Frage  kann 
nur  ausnahmsweise  geschehen,  wenn  eben  von  anderer  Seite  die 
Möglichkeit  eines  menschlichen  Irrthums  behauptet  wird. 

Wir  nehmen  also  an,  dass  der  Staatsanwalt  wegen  einer  der  ge- 
nannten Amtshandlungen  den  Untersuchungsricliter  heranziehen  muss. 
Vor  Allem  gielit  (iits  rnniengen  von  Zeitverlusten,  die  auf  djiij  Ötö- 
rendstc  einwirken,  wenn  der  Staatsanwalt  sein  „Heweisesammeln"  am 
Orte  des  Gerichtshofes  vornimmt,  das  aber  zur  platten  Unmöglichkeit 
werden  muss,  wenn  er  sich  wegen  der  Wichtigkeit  des  Falles  an  Ort 
und  Stelle  begeben  hat,  oder  wenn  die  Erhebungen  überhaupt  —  nnd 
das  ist  ja  die  Mdirheit  der  Fülle  —  am  Orte  oder  im  Bereiche  eines 
entfernten  Amt8-(Bezirks-)gerichte8  stattfinden  sollen. 

Nehmen  wir  an,  der  Staatsanwalt  sammelt  Beweise  dnrch  Ver- 
nehmung von  Zeugen  nnd  es  wird  plötzlich  die  Vornahme  eines 
Localaugensoheines  nothwendig.  Was  soll  der  Staatsanwalt  thnn? 
Seine  Amtshandlung  nnterhrechenf  heimrdsen,  den  Untersuchungs- 
ricliter  hinsenden  —  und  die  wichtigste  Zeit  verloren  haben?  Oder 
soll  der  Staatsanwalt  gleich  jedes  Mal  den  Untersnchnngsrichter  eil 
reserve  hei  sich  haben,  damit  dieser  nöthigen  Falles  einspringt,  viel- 
leicht aber  gar  nichts  zu  thun  bekommt?  Wenn  da  Jenmnd  zusieht, 
müsste  es  ihn  nicht  Wunder  nehmen,  dafs  man  lediglich  um  eines 
Principes  willen  veranlasst  hat:  es  mussten  da  zwei  statt  eines  ihre 
Zeit  verlieren,  und  wenn  man  einen  Unhefaiifrcnt  n  fragt,  welcher  von 
den  Beiden  der  Ueberflüssige  war,  so  würde  doch  jeder  als  solchen 
den  Staatsanwalt  bezeichnen. 

In  schwierigen  Fülltn  wird  die  Sache  aber  noch  confuser.  Es 
geht  allenfalls  an,  daiss  der  Staatsanwalt  verlangt,  der  Untersuchungs- 
richter möge  eine  Obduction  veranlassen  oder  selbst  eine  liaussuchuug 
vornehmen,  um  ganz  bestimmt  bezeichnete  Gegenstände  zu  finden 
u.  s.  w.  Das  kann  der  Untersnchnngsrichter  machen,  ohne  den  Act 
genau  zn  kennen,  aber  allerdings  nur  zur  Not,  nnd  besser  wird  auch 
in  solchen  Hillen  mit  bestimmter  Directive  der  arbeiten,  der  in  der 
Sache  vollends  informirt  ist  Aber  in  gewissen  FKllen  ist  die  ver- 


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Znr  Frag«  der  Vonmlenadinng. 


206 


lan^'te  Arbeit  (.'infach  niclit  zu  niaclien,  wenn  man  den  Act  nicht  {re- 
nan  kennt  —  sa^ien  wir  etwa,  es  Bei  ein  ^ericlitliclier  Aujrtnscliein 
vorzunelimen.  leli  lial)e  wiederholt  ^resa^'t,  eine  solche  I^eistung  ist 
der  Prüfstein  für  einen  Untersucliim^'srichter,  und  einen  iruten  Aug:en- 
schem  aufzunehmen,  der  alles  Wesentliche  einfach  und  klar  bringet, 
oichts  Ueberflüssiges  beimengt  und  den  erkennenden  Bichter  wirklich 
in  dieselbe  Lage  verBetzt,  als  ob  er  die  Saelie  selbet  gesehen  hitte» 
ein  solcher  Augenschein  ist  gewiss  eine  schwierige  und  anstrengende 
Arbdt  Sie  kann  auch  absolut  nur  dann  befriedigend  geleistet  werden, 
wenn  der  Anfnehmende  mit  der  Sache,  mit  dem  betreffenden  FsOe^ 
bis  in  die  allerkleinsten  Einzelheiteii  Tertimnt  ist,  wenn  et  genau  weiss, 
nm  was  es  sich  bandelt,  was  wichtig  ist  nnd  wichtig  werden  kann 
—  also  eigentlidi  nnr  dann,  wenn  er  den  Fall  von  seinem  eisten 
Entstehen  an  kennt,  d.  h.  wenn  er  ihn  selbst  gearbeitet  hat. 

Dass  dies  richtig  ist,  weiss  jeder  Praktiker  ans  jenen  Fällen,  in 
welchen  er  für  einen  fremden  Richter  im  Requisitionswege  eine  der- 
artigre  Vornahme  zu  jiflegen  hat,  oder  wenn  er  eine  solche  von  einem 
fremden  Richter  re(|uiriren  rauss.  Bei  aller  Mühe,  die  sich  der  Re- 
quirirende  gegeben  hat,  um  den  Re(|uirirten  niögliclist  irmau  zu  in- 
formiren,  bleiben  dem  Letzteren  fast  ausnahmslos  erlieljiiclie  Schwie- 
rigkeiten, und  das  (ieleistete  ist  regelmässig  lange  nicht  so  gut,  als 
wenn  es  in  eigener  Sache  wäre  gearbeitet  worden. 

In  unseren  Zukunftsfällen  wäre  der  Untersuchungsrichter  aber 
immer  in  der  Lage  des  requirirten  Richters,  er  würde  stets  in  fremder 
Sache  arbeiten,  und  trotzdem  bei  der  Infonnirung  immer  sehr  viel 
Zeit  yerioien  ginge,  wfirde  doch  beim  besten  Willen  anf  beiden  Seiten 
nie  etwas  Ordentliches  geleistet  werden. 

Aber  es  giebt  noch  andere  Schwierigkaten.  Die  eine  Gruppe 
wSien  allerdings  bloss  Kompetenzfragen:  wer  hat  einzugreifen,  wenn 
es  sich  z.  B.  um  Agnosdrungen  handelt?  Der  Beschidigte  hat  z.  B. 
erklSrt,  er  kenne  zwar  den  Thäter,  aber  nicht  dem  Namen  nach, 
er  vermöge  ihn  aber  unter  dem  A,  B,  G,  D  herausznfinden.  Dies  ist 
nicht  bloss  Zeugenaussage,  sondern  ein  constatirendcr  Vorgang, 
der  als  die  einzige  Ursache  zur  Verhaftung  des  Bezdchneten  führen 
kann.  Solche  Vorgänge  giebt  es  aber  zahllose,  der  angeführte  ist 
bloss  eine  T\  pe. 

Dann:  wer  soll  jene  zahlreichen,  so  wichtigen  und  klärenden 
Vornahmen  leisten,  ohne  welche  sich  eine  modern  geführte  Unter- 
suchung nicht  melir  denken  lässt:  Tabellen,  Zusammenstellungen, 
Uebersichten,  \'ergleiciie,  graphische  Darstellungen,  Bewegungstafeln, 
u.  s.  w.    Wir  wissen,  dass  oft  nur  durch  eine  einzige  solche  Darstel- 


206 


XIV.  ÜBoea 


luii*r  (lio  Srliuld  oder  Unschuld  einos  Meiisclif-n  evident  gemacht 
werden  kann,  wir  wissen,  dass  solclie  eoiistatirende  Instnniiente  einer- 
seits unerlässlich  sind,  andererseits  al)er  nicht  in  der  Hauptverhandlung 
an«2:efertigt  werden  können,  sie  hrauclien  tagelange  Arheit  und  ge- 
opferte Nächte  des  Untersuchungsrichters,  sie  sind  aber  unentbehrlicb 
im  Interesse  der  Verfolgung  des  Schuldigen  und  Entlastung  des  Un- 
echiüdigen. 

Wir  fingen  dann  wieder:  soll  das  der  Staatoanwalt  nuiidien  — 
dann  iat  er  eben  der  mit  dem  Titel  eines  Staatnnwalts  ausgestattete 
UnterBnehnngsrichter;  soll  es  aber  ein  Untetsaefanngsriobter  fflr  den 
Staatoanwalt  veiridit^  dann  wissen  wir,  dass  es  fOr  ihn  sebwer,  tut 
nnmOglieb  ist,  in  fremder  Saehe  derart  heikle  nnd  veiantwoiiliebe 
Dinge  zu  machen ;  w  ir  müssen  aber  auch  mit  den  normalen  Erschei- 
nungen im  Wesen  des  Menschen  rechnen.  Nennen  wir  es  meinetwegen 
Eitelkeit  Aber  es  kann  t«i  Niemandem  verlangt  werden,  dass  er 
seine  beste  Mühe  für  einen  Anderen  aufwende  Hat  der  tüchtige 
Untersuchungsrichter  eine  schwere  Untersuchung,  sagen  wir  einen 
grossen  Betrugsprocess,  zu  führen,  so  wird  er  sein  Aeusserstes  daran 
setzen,  wird  keine  Mühe  und  Arheit  scheuen  und  wird  seine  Unter- 
suchung so  gut  führen,  als  es  in  seinen  Kräften  liegt  —  aber  es  ist 
eben  seine  Untersuchung,  für  die  er  Alles  einsetzt,  er  ist  eben 
ein  Menscli,  und  von  dem  kann  mau  nicht  verlangen,  dass  er  dies 
für  einen  Anderen  tliut. 

Man  wird  einwenden,  das  sei  eben  d.as  Gefälirliche:  gerade  der 
ambitionirte,  temperamentvolle  Untersuchungsrichter  engagirt  sich  zu 
sehr  ffir  seinen  «FaU^i  nnd  er  setzt  dann  Alles  daran ,  an  positiTem 
Resultate  zn  kommen,  d.  h.  den  dnmal  Verdächtigten  aneh  sam  An- 
geklagten nnd  znm  Verortbeilten  zu  machen.  Dass  dieser  schwere 
Vorwvrf  ungerecht  ist,  kann  ich  nicht  mathematisch  beweisen,  ich 
erkUüre  aber,  wer  dies  sagt,  der  war  nie  ein  wirkliche  Untersnchnngs- 
richter.  Ich  war  viele,  viele  Jahre  Untersnchnngsricbter  nnd  habe 
mit  nnzShligen  Untersnchnngsrichtem  zu  thun  gehabt,  und  ich  sfebe 
mit  mdner  Ehre  dafür  ein:  einem  rechten  Untersuchungsrichter  ge- 
währt es  allerdings  stets  Genugthuung,  dnoi  wirklich  Schuldigen 
überführen  zu  helfen,  und  je  schwieriger  es  war,  desto  grösser  die 
Befriedigung  —  aber  tausendmal  grösser  ist  die  wahrhafte  P'reude, 
die  Empfindung  wirklicher,  wcrtlivoller  eigener  I^eistung,  wenn  es 
dem  Untersu('liniii:>ri('lit(  r  irelungen  ist.  einem  unschuldig  Verdächtigten 
wieder  zu  seinem  clirliclieu  Namen  verhelfen  zu  können. 

Man  l)edenke  docli ,  was  (lir  Behauptung  heisst:  ein  .Mensch 
könnte,  um  eine  fixe  Untersuchung  abgeführt  zu  haben,  w  ider  besseres 


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Znr  Fnge  der  Vonmteniidiuiig. 


207 


Wissen  und  Gewissen  oder  wenigstens  in  nnsajrbar  leichtsinniger 
SelbstsupTfrestion  einen  unfrliicklichen  ünschuldip:en  in's  Verderben 
jagren,  auf  seine  „Schuld"  zuarbeiten,  obwohl  er  wusstc  oder  wissen 
musste,  dass  er  unsehuldifr  oder  minder  schuldig  ist?  So  ohne  Weiteres 
und  ohne  Beweise  zu  haben  kann  man  doch  nidit  einen  Unter- 
suchuno:srichter  oder  ganze  CTru|)j)en  derselben  als  ehr-  und  gewissen- 
lose, gottvergessene  Schufte  hinstellen.  Und  gäbe  es  ja  unter  vielen 
Untersuchungsrichtern  einen  solchen  Elenden  —  dann  ist  wieder 
nicht  das  iDsdtiil  der  Vorantersuchung  schuld  daran,  sondern  die- 
jenigen, die  den  Meoschen  nioht  erkannt  und  trotz  seiner  Teiftehtlichen 
Gennniing  auf  den  Tecantwortangsvollen  Posten  eines  üntereachnngs- 
richteis  gestellt  haben.   

Es  ist  selbstrerstSndlich,  dass  man  dann,  wenn  veriangt  wird, 
da«  eme  Partd,  der  Staatsanwalt,  die  belastenden  Beweismittel  fOr 
die  Hauptverhandlnng  sammelt,  ancb  in  irgendeiner  Form  anl  oontra- 

dictorischos  ^'orverfah^en  stSsst  Das  ist  um  so  natflriicher,  als  man, 
ohne  die  Natur  der  Staatsanwaltschaft  als  verfolgende  Partei 
vollständig  zu  ändern,  nicht  verlangen  kann,  nicht  einmal  zugeben 
darf,  dass  der  Staatsanwalt  selbst  die  entlastenden  Beweise  zusammen- 
trägt, das  m  u  SS  die  andere  Partei,  der  Beschuldigte  thun.  Auch  das  klingt 
überzeugend  und  vielverheissend,  alter  durchführen  lässt  es  sich,  wie 
80  viel  Schönes  auf  der  Welt,  in  der  Praxis  doch  nicht  Wir  wollen 
per  exclusionem  construiren. 

Vor  Allein  wollen  wir  frajren.  ob  die  Parteien  oiine  (»der  mit  Mit- 
wirkung eines  Untersuehungsriehters  arbeiten  sollen.  Ersteres  stellt 
man  sich  so  vor,  dass  der  Staiitsaiiwalt  seine  Belastungsbeweise,  der 
Beschuldigte  seine  Entlastungsbeweise  zusammenträgt  und  d  unn  kommt 
es  zur  üauptverhandlung,  bei  welcher  das  gegenseitig  Vorgebrachte 
geprflft  wird.  So  ist  es  gewiss  unmöglich,  denn  ein  Beweis  ist  kein 
Ding  an  sieh,  er  erhfilt  erst  Existenz  an  der  Bebanptong  nnd  diese 
Behanptnng  mnss  man  wissen,  bevor  man  ihr  gegenüber  be- 
weisen kann,  i^reilich,  wenn  es  sieh  bei  jeder  Besehuldignng  nm 
eine  einzige  Behanptnng  nnd  eine  einzige  Gegenbehauptung  handeln 
würde,  dann  kQnnte  man  sich  ja  Manches  als  denkbar  vorstellen. 
Wenn  z.  B.  der  Staatsanwalt  behauptet,  A.  hat  den  B.  am  1.  Juli  in  If. 
todtgesehlagen  —  und  wenn  A  sagt:  Ich  habe  es  nicht  gethan,  ich 
war  am  1 .  Juli  nicht  in  M.,  sondern  in  N.  —  dann  steht  die  Sache 
sehr  einfach,  dann  lässt  man  den  Staatsanwalt  seine  Beweise  für  die 
Thäterschaft  des  A,  und  den  A.  seine  Beweise  für  sein  Alibi  sammeln, 
jeder  weiss,  was  der  Andere  behauptet,  sie  brauchen  vor  der  Haupt« 


208 


XIV.  Gbms 


vorlmndlun^  keine  gepenseitige  VerBtändij^iinjj:.  Aber  so  einfach  sind 
die  ullenvenigsten  Fälle,  ihre  Zahl  ist  zuverlässig:  so  j^erinj;,  dass  sie 
kaum  einer  BerückHiclititrung  werth  sind,  fast  immer  handelt  es  sich 
bei  läufrnenden  Besehuldi^'ten  um  einen  zusaninien<;esetzten  lieweis, 
der  wieder  nur  mit  zahlreichen  Behauptun^j:en  und  Beweisen  wider 
Ge^,^enhehau|ttun;;^en  und  Ge^jenheweise  jii;eführt  werden  kann.  Diis 
Alles  liefet  aber  nicht  auf  einmal  vor,  es  entwickelt  sich  nach  und 
nach,  Eines  aus  dem  Anderen,  Eines  gegen  das  Andere;  es  ist  also 
noth wendig»  daas  die  Parteleii  von  ihrem  HaAeriale  gegenaatig  Ter> 
at&ndigt  werden,  aonat  atockt  die  Arbeit^  Allea  wird  erst  bei  der  Ver- 
handlnng  bekannt  und  Vertagungen  Aber  Vertagangen  werden  die 
Haaptarbeit  der  Gerichte  bilden. 

Eine  gegenadtige  VerBtandigong  während  des  Beweiaesammelna 
nmsa  also  mSgttch  sein,  und  es  fragt  eich,  wie  dieeelbe  gedacht 
werden  soll.  Daas  man  das  auch  wieder  den  Parteien  überlasaen 
könnte,  wird  Niemand  emadich  yermeinen:  es  wäre  eine  geradezu 
lächerliche  Vorstellung,  wenn  man  behaupten  wollte,  der  Staatsanwalt 
BoU  sieb  beim  Beschuldigten  und  der  Beschuldigte  beim  Staatsanwalt 
meldm,  wenn  er  wieder  ein  Beweisstück  gefunden  hat,  mit  der  An- 
frage, was  Gegner  nun  dazu  sajre?  Diese  Vorstellung  ist  einfach  so 
unmöglich,  dass  wir  nur  daran  denken  könnten,  dass  die  Verständi- 
gung der  Parteien  einzig  und  allein  (hirch  Vermittehin«;  eines  Unter- 
suchungsrichters geschehen  könnte.  Al)er  auch  hier  führt  die  Durch- 
fühmng  unbedingt  zur  Unmöglichkeit.  Soll  sich  der  Untersuchungs- 
richter um  das  Meritorisehe  der  Sache  annehmen,  so  arbeitet  er  dann 
doch  die  Untersuchung  selbst  noch  einmal,  nachdem  sie  der  Staats- 
anwalt schon  gearbeitet  hat,  und  der  Effect  ist  wieder  der,  dass  nun 
zwei  ihre  Zeit  für  dasselbe  aufwenden,  was  früher  einer,  der  Unter* 
snchnngsriebter,  gearbeitet  hat. 

Soll  der  Untenmchungariehter  aber  blos  formell  arbeiten,  ohne  sieh 
nm  das  Wesen  der  Sache  zu  bekümmern  nnd  bloe  dem  Einen  mit- 
theUen,  was  ihm  der  Andere  gesagt  hat,  dann  sinkt  der  Üntersnchnngs- 
richter  zmn  Beamten  emea  Ansknnftsbnreaos  herab,  mit  dem  die  Pai^ 
teien  sielen  kQnnen  wie  sie  wollen.  — 

Und  die  aufgewendete  Zeit! 

Man  behauptet,  dass  durch  das  künftige  Verfahren  Zeit  gewonnen 
werde:  ea  hat  doch  heute  kein  üntersnobungsriclitrr  ein  Interesse 
daran,  eine  Untersuchung  zu  verzQgem  nnd  triebe  ihn  Bequemlich- 
keit und  Gewissenlosigkeit  dazu,  so  ist  seine  vorgesetzte  Behörde 
dazu  vorhanden,  um  ihn  zu  rnseherer  Arbeit  zu  bewegen.  Aber  wenn 
man  sich  das  „künftige''  Verfahren  vorstellt,  in  dem  die  Parteien  selber 


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Znr  Füge  der  Vonmtanadiaiig. 


209 


arbeiten  sollen,  und  wenn  man  zu^^eben  wollte,  dass  die  Sacbe  wirk- 
lieh anderweitig  ginge,  so  scheitert  sie  zuverlässig  an  dem  endlosen 
Gange  des  Verkehres.  — 

Nun  aber  zu  der  unübersteiglichsten  Schwierigkeit.  Dass  der 
Staatsanwalt  seine  Beweise  sammelt,  das  wäre  ja  am  Ende  denkbar, 
er  thut  es  ja  anch  heute,  wenn  anch  meistens  mit  loaospniehnahme 
des  üntersnchnngsrichten.  Aber  wie  denkt  man  sich  denn  das  auf 
Seite  der  Partei?  Man  weias,  dan  nngefiUir  95  Ptoc.  aller  Angeklagten 
▼ermögenBlose  Leate  sind,  die  sieh  einen  Vertheidiger  nieht  zahlen 
können.  Das  wfiide  anoh  im  „kflnftigen*^  VerCabren  so  sem,  nnd 
es  wiien  nur  5  Proc.  aller  Besohnldigtra  in  der  Lage,  sieh  ihre  Be- 
weise dnreh  einen  von  ihnen  bezahlten  Vertheidiger  sammeln  zu  lassen. 
Bleibt  also  das  fiberwiegende  Gros  der  Beschuldigten  mit  95  Proc. 
fibrig.  die  ohne  Vertheidiger  dastehen.  Dass  sich  diese  Leute,  auch 
die  Gebildeten  unter  ihnen,  ihre  Beweise  in  verlässlicher  Weise  nicht 
sammeln  können,  braucht  nicht  bewiesen  zu  werden  —  es  giebt  anch 
Anfänger  unter  den  Untersuchungsrichtern,  die  das  nicht  können,  ein 
kriminalistisch  nicht  rnterriclitetor  kann  es  gewiss  nielit. 

Es  erübrigt  also  niebts,  als  dass  allen  diesen  9ä  Proc.  ex  officio 
Vt.-rtreter  beigestellt  werden  iiüissten.  Ich  will  zugeben,  dass  sich  diese 
95  Proc.  durch  die  Geständigen  etwas  verringern,  aber  ganz  un- 
bedenklich wäre  es  doch  nicht,  diese  Geständigen  st^butzlos  zu  l)elassen. 
da  für  sie  gar  Niemand  sorgt,  Untersuchungsrichter  giebt  es  ja  keinen. 
Aber  ich  will  annehmen,  dass  sich  die  95  Proc.  auf  etwa  80  Proc. 
▼eiringem,  imd  dann  ist  es  noeh  eine  nicht  zu  bewiHagende  Zahl, 
f&r  die  Advokaten  nnd  BechtsbeistHnde  beschafft  werden  sollen.  Man 
wiege  sieh  nicht  mit  dem  Gedanken  ein,  dass  man  von  diesen  Rechts- 
beiständen  keine  grosse  Leistung  verlange  —  die  Leistung  ist  eine 
sehr  grosse^  mfihe-  und  seitranbende^  wenn  sie  gut  gemacht  sein  soll, 
wird  sie  aber  schlecht  gemacht,  so  w8re  es  geradezu  eme  Gewissen- 
losigkeit, wenn  man  die  vermögenslosen  Leute  schlecht  vertreten  znr 
Haupt  Verhandlung  kommen  lässt  Man  braucht  also  gnte^  mflhevolle 
somit  auch  thenere  Leistung.  Da$s  die  Advocaten  dies  umsonst  thun 
sollen,  das  kann  Niemand  ernsthaft  verlangen.  Und  wenn  man  es 
—  ich  weiss  allerdings  nicht  wie  —  etwa  durch  Gewährung  anderer 
Vortheile  erreichen  könnte,  dass  die  Advokaten  die,  man  unterschätze 
sie  nicht,  sehr  grosse  Arbeit  dieses  Heweisesauiinelns  umsonst  auf  sich 
nehmen,  so  dürfte  man  doch  nicht  vergessen,  dass  auch  der  beste 
Rechtsanwalt  nur  ein  Mensch  ist,  und  ein  Mensch  will  leben,  hierzu 
muss  er  verdienen,  und  wenn  er  etwas  umsonst  machen  soll,  SO  wird 
er  es,  Heroen  ausgenummeu,  schlecht  machen. 


210 


XIV.  Gxon 


Will  man  also  niciit  die  Gewissenlosigkeit  begehen,  dem  Rechts- 
anwalt eine  unerträgliche  Last  aufzubürden  und  die  Beschuldigten 
ganz  unzulänglich  vertreten  zu  sehen,  so  muss  man  die  Advocatea 
bezahlen.  Vorerst  wird  der  Finanzminister  fragen,  wie  er  dazu  komme, 
statt  jedes  früheren  Einen  Untersaehnngsrichter  nun  10  AdTocaten 
za  bezahlen  und  diese  Unsummen  werden  eben  niebt  vorbanden 
sdn.  — 

Geht  nun  das  Eine  nicht  und  das  Andere  auch  nicht,  so  wird 
man  vielleicht  vorscbhigen,  die  UnvermOgenden,  Bechtsunkundigen 
durch  den  UntersucbungBricbter  vertreten  bu  lassen.  Dann  sind  wir 
aber  auf  demsdbea  Punkte  wie  Mher.  Um  nicht  endlose  Doppel- 
arbeit zu  veranlassen,  wird  der  Staatsanwalt  sein  ^iBeweisesammeln*^ 
in  die  Form  von  Anträgen  an  den  Untersuchungsrichter  kleiden,  der 
dann  für  den  Staatsanwalt  arbeitet,  und  bezüglich  der  Beweise  für 
den  Beschuldigten  wird  er  es  gerade  so  machen  wie  heute.  Es  wird 
doch  Niemand  emstlich  glauben,  dass  der  Untersuchungsrichter  an 
den  beschuldigten  Bauer,  Arbeiter,  Handwerker  u.  s.  w.  herantreten, 
ihn  um  seine  Absichten  we^en  des  Beweisesammelns  befragen,  ihm 
Lehren  geben  und  dann  die  Sache  so  einleiten  wird,  dass  jjclieinbar 
der  Beschuldigte,  in  Wirklichkeit  aber  der  Untersuchungsrichter  die 
Beweise  sammelt.  Kurz  wenn  der  Untersuchungsrichter  vernünftig 
ist,  so  wird  er  dann  haargenau  so  vorgehen  wie  heute:  er  wird  die 
Sache  mit  dem  Beschuldigten  besprechen,  ihn  befragen  und  bdehren, 
und  dann  wud  der  Untersudiungsrichter  thun,  was  er  vor  seinem  E^Snaen 
und  Gewissen  verantworten  kann;  bekamen  wir  dieses  künftige  Vor- 
fohren,  so  wird  es  je  nachdem,  wie  man  es  eingerichtet  hat,  entwede 
sofort  Schiffbruch  Idden,  oder  es  kommt  nach  einigen  Schwierigkeiten 
und  Yerwirmngen  genau  wieder  auf  das  alte  VeiCshren  zurück. 

Man  hat  onmal  behauptet,  in  dem  Institute  des  Untersuchungs- 
richters liege  eine  gewisse  Unehriichkeit,  weil  man  den  Mann  einen 
Btchter  heisse,  er  habe  ab^  nichts  zu  richten;  ich  mein^eswfire  ein  viel 
unehrlicherer  Zustand,  w^m  man  })eliaui»ten  würde,  es  liege  wirk- 
licher Parteienbetiieb  vor,  während  in  dt  r  Tbat  doch  Alles  der  Untere 
suchungsrichter  macht  und  machen  muss. 

Uebrigens  ist  es  auch  gar  nicht  richtig,  dass  die  Thätigkeit  des 
heutigen  l'ntcrsuchungsrichters  nicht  dem  Begriffe  eines  Kichters  ent- 
spricht. Schon  ethymologisch  liegt  ducb  im  Worte  ^«Richter'*  nicht 
der  Sinn  des  „Entscheidens",  wie  man  heute  es  gerne  herausbringen 
möchte  —  Richter  und  Recht  hängt  sprachlich  und  begrifflich  zu- 
sammen, und  es  heisst  Richter  der,  der  die  Sache  zum  Rechten  bringt 
und  wendet.    Will  man  durchsetzen,  dass  jeder  Richter  lediglich  zu 


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Zur  Frage  der  Voranteraachung. 


211 


entscheiden  hätte,  wer  von  den  Streitenden  recht  hat,  so  leirt  man 
in  den  Begriff  etwas  hinein,  was  ^ar  niclit  in  ihm  zu  liegen  hat  und 
was  ganz  andere  Auffassungen  zur  Folge  hahen  niüsstc  —  ja  es  ist 
nicht  unmöglich,  dass  die  ganze  Tendenz  der  Ahschaffung  der  Vor- 
imtersuchmig  lediglich  auf  einer  falschen  Construetion  des  Begriffes 
Siebter,  Untenachtmgsriehter,  beruht  Darf  der  UDtersuchungsrichter 
Uo88  entseheiden,  dann  ist  seine  heutige  Enslenx  aUardings  un- 
berechtigt, hat  er  aber  nach  dem  Rechten  za  sehen  und  durchzusetzen, 
was  Recht  ist,  dann  darf  man  ihn  beruhigt  leben  lassen.  Dass 
Ersteres  wahr  ist,  das  steht  nirgends,  das  Letztere  liegt  aber  im  Worte 
selbst 

Aber  auch  aus  anderen  Institutionen  unseres  Proeesses  können 

wir  entnehmen^  dass  der  Richter  nicht  bloss  zu  entscheiden  hat^ 
namentlich  aus  der  Stellung  des  Vorsitzenden  in  der  Uau|itverhandlung. 
Dass  er  auf  den  Namen  eines  Richters  Anspruch  hat,  das  hat  noch 
Niemand  bezweifelt  und  dass  die  \'orsitzenden  in  Deutschland  und 
Oesterreich  ihre  Pflicht  erfüllen,  wird  auf  der  ganzen  Welt  zugegeben: 
die  doch  gute  Rechtspflege  ist  zum  grossen  Theile  ihr  Verdienst, 
und  wird  im  Processe  ein  Fehler  l)*'gangen,  so  macht  man  regel- 
mässig mit  Recht  zuletzt  den  Vorsitzenden  dafür  verantwortlich.  Es 
giebt  ja  Anglomanen,  welche  sich  englische  Vorsitzende  wünschen, 
<iie  dem  Kreuzverhör  der  Parteien  zulnhen  und  zuletzt  Ja  oder  Nein 
sagen.  Aber  einerseits  gieht  (i<teli  jt'der  iil)erlegsauie  Kenner  der  Zu- 
stände zu,  dass  englische  Verhältnisse  sehr  selten  auf  continentale 
Zustände  passen  und  andererseits  dürfte  kaum  ein  deutscher  Krimi- 
nalist zustimmen,  wenn  man  ihm  ernsthaft  und  reditSTerbindlieh  tot- 
schlüge,  den  enghschen  Vorsitzenden  gegen  unsere  denlsehen  und 
fisteneichischen  Vorsitzenden  einzutauschen.  Theoretisch  sohwirmt 
man  vielleicbt  für  den  englischen  Zustand,  aber  wirklich  danach  zu 
greifen  wagte  heute  doch  Niemand  —  wir  haben  an  dem  Erwerbe 
der  Geschworenen  gerade  reichlich  genug.  Aber:  wenn  man  uns 
unsere  Vorsitzenden  als  sicher  zweckentsprechend  bdisst,  so  wollen 
wir  zusehen,  ob  denn  ihre  Tliätigkeit  bloss  eine  entscheidende  ist 
Nichts  könnte  der  Gerechtigkeitspflege  mehr  schaden,  als  wenn 
man  statt  der  heute  anzustrebenden  materiellen  Wahrheit  formelle 
anstreben  wollte;  wer  noch  so  sehr  für  den  Parteienbetrieb  eintritt, 
wird  doch  zugeben  müssen,  dass  es  8aolie  der  Ilauptverhandlung  ist 
nnd  sein  muss,  das  Wirkliche,  die  materielle  Wahrln  it  zu  Tage  zu 
fördern  —  bedürfte  es  hierfür  noch  eines  l?<'weises,  so  würde  man 
darauf  hinweisen,  dass  im  (legenfalle  auch  ein  l^nschuldiger  ver- 
urtheilt  werden  könnte,  obwohl  der  Gerichtshof  von  dessen  Unschuld 


212 


XIV.  Oboss 


überzeugt  war.  Wird  aber  zugegeben,  dass  der  Gerichtshof  nach 
FeststeUnng  materieller  Wahrheit  streben  mnss,  ao  istanofadie  bloss 
e&taebddende  ThJUigkeit  eines  Vollzugsorganes,  als  was  der  Vor* 
sitzende  angesehen  weiden  kann,  beendet  Der  Vorsitzende  ist  nach 
dem  Gesetze  Terpflichtet,  fehlende  Beweismittel,  ob  sie  für  Scbnid 
oder  Unschuld  sprechen,  herbeizuschaffen,  Zeugen  und  Saefayerstündige, 
die  zur  Klärung  des  SachTerhaltee  dienen  könnten,  vorzuladen  und 
nöthigen  Falles  die  Verhandlung  zu  vertagen,  wenn  erwartet  werden 
kann,  dass  bei  einer  neuen  \'erhandlung  die  Wahrheit  sicherer  zu 
Tage  treten  könnte.  Und  alle  anderen  Vorschriften,  welche  die 
Tbätigkeit  des  Vorsitzeaden  betreffen.  ir*')i«'n  alle  darauf  hinaus^  dass 
er  das  Acusserste  daran  zu  setzen  hut,  das  Rechte  zu  erreichen,  er 
hat  bei  jeder  Vernehmung,  jeder  Verfügung,  jedem  Worte  einzig  da- 
rauf zu  sehen,  dass  dem  Angeklagten  und  der  Sache  Keelit  werde 
—  seine  Tbätigkeit:  zu  entscheiden,  tritt  nur  in  den  wenigen  Fällen 
einer  Differenz  und  beim  Urtheile  hervor. 

Wenn  aber  zugegeben  werden  niuss,  dass  die  Tbätigkeit  des  Vor- 
sitzenden der  Il.'iuptverbandlung  in  vieler  Richtung  dasselbe  verfolgt, 
was  dem  Unlersuehungsncbter  zu  thun  obliegt,  so  niuss  auch  ge- 
folgert werden,  dass  die  (dermalige)  Tbätigkeit  des  Untersuchungs- 
richters nichts  enthält,  was  dem  Begriffe  des  Richters  wiederspricht, 
er  kann  andi  seine  jetzige  Tbätigkeit  fortfahren ,  er  muss  es  sogar 
thun,  denn  die  Vorschläge  des  Beweisesammehis  duiefa  Staatsanwalt 
und  durch  den  Beschuldigten  sind  in  jeder  denkbaren  Form  undurch- 
führbar, Sie  sind  undurchführbar  in  den  ffir  die  Gegner  noch  günstigsten 
FUlen:  bei  ganz  einfachen,  am  Sitze  des  Gerichtshofes  durchgeftlhrten 
Processen,  sie  kdnnen  aber  nicht  einmal  theoretisch  oonstmirt  werden 
fttr  grosse,  langwierige  Untersuchungen  überhaupt  und  für  das  Vor- 
geben auf  dem  flachen  Lande.  Für  diese  Fälle  bedarf  es  nicht  ^nmal 
der  Praxis,  um  die  Unmöglichkeit  zu  beweisen,  sie  kann  auch  am 
grünen  Tische  dargetban  werden.  — 

Fassen  wir  das  Gesagte  zusammen,  so  kommen  wir  zu  dem  Er- 
gebnisse : 

dass  die  Unzufriedenheit  mit  dem  Wesen  der  beutigen  Vorunter- 
suchung eine  allgenu'ine  und  liereehtigte  ist; 

dass  man  sich  »ifri;:*  bestrebt,  diesfalls  eine  Abhülfe  zu  treffen; 

dass  man  geglaubt  hat  die  Aliliülff  zu  finden,  wenn  die  Vorunter- 
suchung beseitigt  und  ein  eontnidictorisches  Verfahren  durch  die 
Parteien  eingeführt  wird,  und  endlich, 

dass  dieser  Vorschlag  praktisch  und  theoretisch  unbedingt  nicht 
durchgeführt  werden  kann. 


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Zur  Frage  der  VoruDtennidiiiDg. 


213 


Iliermit  wären  wir  allerdings  nur  zu  ne;rati\  rm  Kesultate  gelangt 
und  wenn  wir  etwas  Positives  einsetzen  wollen,  &o  gehen  wir  vielleicht 
iecht|  wenn  wir  nochmals  auf  die  Erfabningsthatsachen  hinweisen, 
di88  80  oft  eine  Institution  als  solche  Tollkommen  ver- 
worfen wird,  weil  man  nur  nicht  eingesehen  hat,  dass 
sie  an  sich  gut  ist,  aber  schlecht  gehandhabt  wird. 

Dass  dieser  allgemeine,  oft  erprobte  Gnindsats  anch  in  unserer 
i^age  Anwendung  findet,  will  ich  nicht  genauer  nachweisen :  es  ist 
hier  nicht  der  Ort  dazu  und  an  anderen  Stellen  habe  ich  es  schon 
wiedortiolt  darzuthun  versucht;  nur  allgemein  will  ich  darauf  hin- 
weisen, dass  einerseits  das  Amt  eim  s  Untersuchungsrichters  und  die 
damit  verbundenen  Thätigkeiten  unläugbar  sehr  schwierig  sind,  und 
dass  andererseits  heute  kein  Untersuchungsrichter  Gelegenheit  hat,  das 
Viele  und  Schwierige,  was  er  in  seinem  Berufe  braucht,  systematisch 
zu  lernen.  Niemand  wird  behaupten,  dass  für  die  untersuch ungs- 
ricliterliche  Arbeit  das  genügon  kann,  was  der  Jurist  :iuf  der  Uni- 
versität lernt,  Niemand  wird  sagen,  dass  das  Bisclien  Tradition  im 
Amte  Kenntnisse  schaffen  kann  und  Niemand  wird  es  für  gerecht- 
fertigt halten,  wenn  ein  Untersuchungsrichter  einzig  und  allein  durch 
Fehler  und  Missgriffe  lernen  soll,  Fehler  und  Missgriffc,  begangen  am 
Leibe  des  vielleicht  unschuldig  verdächtigten  Nebenmenschen. 

Ich  glaube,  dass  man  mit  völliger  Sicherheit  sagen  kann:  der 
von  uns  gehaadhabte  Vorgang  bei  Scfaatfnng  eines  Uolenuchungs- 
richters  steht  absolut  einzig  in  der  Welt  da,  auch  nichts  annähernd 
Aehnliches  ist  au&ufinden.  Der  Jurist  lernt  auf  der  Universittt  so  und 
so  viele  hundert  Paragraphen,  deren  Auslegung  und  systematische 
Stellung;  wie  ein  Verbrecher  aussieht,  wie  es  mit  seiner  Pi^che  und 
seinem  Handdn  steht^  wie  ein  Verbrechen  im  Leben  begangen  wird, 
wie  es  aussieht,  wie  man  es  wahrnimmt,  was  dabei  vorkommt,  wie 
es  der  Zeuge  sieht  und  falsch  sieht,  welche  innere  Vorgänge  im  Sach- 
verstandigen und  Bichter  bestehen,  wie  und  wann  man  schliesst,  wer 
helfen  kann,  wie  man  sich  um  Hülfe  umsieht  und  tausend  Anderes 
—  Niemand  sagt  dem  künftigen  üntersuchnngsrichter  etwas  davon, 
sorgfaltig  wird  alles  verhüllt  und  er  kommt  in  die  Praxis,  ohne  einen 
Verbrecher,  ohne  ein  Verbrechen  und  alles,  was  drum  und  dran  hängt 
auch  nur  gesehen  zu  haben.  In  der  Praxis  sieht  er  eine  kurze  Zeit 
zu,  zu  einem  Unterrichten  und  Erklürt-n  hat  Niemand  Zeit  und  Lust 
und  dann  wird  der  junge  Mann  Untersuchungsrichter,  und  hat  die 
ganze  verantwortungsv(dh',  tief  einschneidende  Arbeit  erst  zu  lernen  — 
ich  wiedcrhule,  ein  Analoguu  von  Kühnheit  und  (»It  icljgültigkcit  gegen 
das  Objcct  giebt  es  auf  der  Welt  nicht.  Wenn  dann  das  Institut  der 

liohlT  flbr  KilBliMilMrtittopotoglft.  Xlt.  16 


2U 


XIV.  Gbow 


Voruntersuchung  keine  Freunde  gewinnt,  so  ist  das  walirliaftig  nicht 
zn  verwundem,  wohl  aber  wenn  man  den  offen  zu  Tage  liegenden 
Grund  nicht  sieht:  Nicht  die  Voruntersuchung  als  Institut  ist  daran 
schuld,  wenn  rie  bankbrtlohig  würden  sondern  die  mangelbafle  Aus- 
bildung der  Untersnehnngsriobter  tilgt  allein  die  Schuld.  Und  da 
wieder  kann  Niemand  die  Untersncbmigsricbter  dafttr  ▼emntwordich 
machen:  nltra  pome  nemo  tenetur,  schnld  smd  die^  welche  die  Unter- 
sncbnngsricbter  ohne  Voibemtong,  ohne  Ansbildong  für  ihr  sehweiea 
Amt  in's  Leben  senden,  schuld  sind  die,  welche  nicht  winm  nnd 
wissen  wollen,  wie  überaus  schwer  die  Arbeit  des  ünteranchungs- 
lichtere  ist  und  die  unbegreiflicher  Weise  vergessen,  dass  alles, 
was  geübt  werden  soll,  erst  einmal  gelernt  werden  mnsa. 

Wenn  daher  Jemand  gegen  die  Voruntersuchung  in  ihrer  heutigen 
Form  auftritt,  so  hat  er  recht,  aber  nicht,  weil  die  Idee  einer 
Voruntersuchung  falsch  ist,  sondern  weil  die  heutigen  Untersuchunirs- 
richter  keine  Gelegenheit  haben,  sich  für  ihr  Amt  auszubilden  und 
vorzubereiten. 

Eine  Voruntersuchung  mit  ül)el  unterrichteten  Untersuchungs- 
riciitern  ist  nicht  bloss  zweckwidrig,  sondern  ein  geradezu  gefähr- 
liches, die  Rechtssicherheit  schädigendes  Institut  Eine  Voruntersuchung 
mit  gut  vorbereiteten,  in  ihr  Amt  eingeführten,  gründlich  geschulten 
und  in  der  Zahl  genügenden  Untersuchungsrichtern  ist  die  einzig 
mögliobe  nnd  dnrcbfttbibare^  wirklich  ratsprecbende  nnd  gute  Form 
eines  Yorrerfabrens.  Alles  andere  sind  Cktnstmctionen  nnd  Ideale. 

Bliebe  es  bei  der  alten  Vonintennchnng  aber  mit  wirklieb  gniien 
Untersttchnngsrichtem,  so  wüie  es  dann  selbstverstlndlicb,  dass  die 
Geschworenen  grfindlich  nnd  endgültig  beseitigt  werden.  Es  ist  hier 
nicht  der  Orl^  nm  die  unabsehbaren  Gefahren,  die  bedeutende  Rechts- 
unsicherheit und  die  unehrliche,  unwahre  Stellung  zn  beleuchten, 
in  die  wir  durch  das  unselige  Geschworeneninstitnt  geratfaen  sind  — 
aber  das  Eine  muss  hier  gesagt  werden:  mit  einer  sorgGUtig  wissen- 
schaftlich begründeten  und  logisch  vorbereiteten  Voruntersuchung  und 
mit  einer  ebenso  durchgeführten  nau])tverhandlung  i>t  der  Gedanke 
an  Geschworene  einfach  unvereinbar.  Einen  schwierigen  F-.iW  juristisch, 
logisch,  ])sycliologisch  und  kriminalistisch  unangreifbar  vorzubereiten 
und  dementsprechend  correct  und  feinfühliij:  hei  der  nauptverhandlung 
\orzufiiliren  und  zu  leiten  ist  ein  grosses  und  schwieriges  Kunst- 
Htiick  und  da  mitzugehen,  Missverständnisse  und  unrichtiges  Auf- 
fassen auszuschliessen,  (bis  ist  ebenso  schwierig,  es  erfordert  viel 
Können  und  viel  Wissen  und  ebenso  viel  Erfahrung  und  Schulung 
—  das  haben  die  Geschworenen  nicht  nnd  kOnnen  es  nicht  haben. 


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Zur  Frage  dar  V  orantenadniiig. 


315 


Wenn  wir  also  ebenso  sehnlich  als  dringend  die  Beseitijjunn:  des 
T^ieneleraentes  aus  der  Rechtssprechuns:  wünschen,  so  lautet  der 
Wunsch  auf  völlige  Beseitigung,  denn  jedes  Herumbessern  und 
Flicken  wäre  das  Unerwünschteste,  es  vermöchte  höchstens  den  Todes- 
kampf des  Institutes  zum  Schaden  aller  Betheiligten  zu  verlängern; 
deshalb  sind  auch  gewisse  Versuche,  die  man  z.  H,  in  der  Schweiz 
diesbezüglich  unternommen  hat,  das  Ailerbedenklichste.  Es  ist  kürz- 
lich (von  Mittermaier)  gesagt  woideo,  da»  seh  das  Genfer  Gesetz 
Tom  1.  Oetober  1890  gnt  bewShrt  hitte^  naeh  welehem  der  Geriohta- 
pfiddent  mit  den  Gesehworanen  Aber  die  Sehuldfrage  benähet  und 
wob«  die  Gesehwoienen  an  der  Abstinimnng  Aber  die  Strafe  theil- 
nehmen.  Daaa  sich  ein  solober  VoiKang  bewäbrti  glaube  ich  gans 
gerne,  aber  der  Grund,  warum  hierbei  etwas  Kluges  her- 
auskommt, liegt  nioht  darin,  dass  die  Gesehwoienen  dabei 
sind,  sondern  darin,  dass  der  Gerichtspräsident  dabei 
ist.  Zu  dieser  Würde  beruft  man  schon  keinen  Thoren,  und  es  kann 
keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  der  Vorgang  bei  solchen  Berathungen 
dahin  gebt:  der  erfahrene  und  unterrichtete  Gerichtsprilsident  schlägt 
eine  Entscheidung  vor  und  giebt  sich  alle  erdenkliche  Mühe,  die  un- 
erfahrenen und  kenntnisslosen  Geschworenen  zur  Annahme  seiner 
Ansicht  zu  bewegen,  und  sie  von  allerärgsten  Fehlgriffen  abzuhalten; 
schliesslich  wird  das  gelingen  und  das  Ergcbniss  werden  verhältniss- 
raässig  kluge  Urtheile  sein,  die  aber  nicht  die  Geschworenen,  sondern 
der  rechtsgelehrte  Präsident  causirt  haben.  Dann  ist  man  aber  glück- 
lich um  fast  vier  Jahrhunderte  zurück  und  auf  dem  Standpunkte  der 
Carolina  angelangt,  nach  welcher  die  Schöffen  lediglich  zu  dem  Ur- 
theil  des  Richters  in  umständlicher  Form  „Ja"  zu  sagen  hatten. 

Wir  sehen  aus  diesem  Vorgange  zum  so  und  eo  nelten  Male  das 
ganz  unwilrdlge  Bestreben:  auf  der  einen  Seite  das  „fortsohritdiohe  und 
freiheifliehe^  Institut  der  Geschworenen  einfuhren  und  aufrecht  erhalten» 
auf  der  anderen  Seite  aber  alles  Ecdenkliehe  Torkehren,  was  die  un- 
erliSglich  BohXdIicben  Wirkungen  desselben  aubuheben  rermöchte, 
SU  diesem  Scheinspiel  ist  aber  Zeit  und  Sache  denn  doch  zu  ernst 

—  an  Erkenntniss  mangelt  es  nicht,  im  Innersien  sieht  jeder  erfahrene 
Kriminalist  ünwerth  und  Schädlichkeit  des  Gesohworeneninstitutes  ein 

—  einzig  und  allein  die  Courage  fehlt,  um  eneigisoh  damit  zu  brechen: 
so  habe  man  sie  doch  endlich  einmal! 

Zum  Schlüsse  noch  einige  Worte  über  das  Aeussere  des  Vorganges 
ffir  den  Fall,  als  eine  Aendeninir  durchgeführt  werden  sollte. 

Die  Gegner  der  Voruntersuchung  verlangen  Beseitigung  des  Ver- 
fahrens, wie  es  jetzt  ist,  Einführung  von  Parteiealeistung,  Sammeln 

15* 


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216 


XIV.  G«M8 


der  Beweise  durch  Staatsanwalt  und  Bescbuldi^'ten  —  also  eine  neue 
gesetzliche  Bestimmung.  Eine  solche,  fast  das  ganze  Gesetz  durch- 
ziehende AeoderuDg  des  Vorverfahreuä  wäre  also  nicht  als  Sonder- 
besliraiDiiiig,  Bondem  nur  dann  zn  denken,  wenn  man  an  eine  Bevisiony 
eine  Nenanagabe  der  ganzen  SlnfproceaBordnong  an  gehen  gedSchte. 
Ob  das  in  absehbarer  Zeit  zn  erwarten  steht^  ist  sehr  zweifelhafl^  und 
so  bitten  wir  für  den  Fall,  als  man  in  der  That  den  neuen  Vor- 
schiigen  gerecht  werden  wollig  zwei  Gefahren  Tor  nns: 

t.  Bis  znr  Neosehaffong  disf  neaeii  SiP.O.  geschieht  gar  nichts 
—  man  erwartet  von  dieser  alles  Heil  und  wartet  daher  rohig,  bia 
sie  erlassen  wird,  auch  wenn  das  viele  Jahre  dauert,  und  wenn  man 
die  Unerträglichkeit  der  heutigen  Zustände  eingesehen  hat 

2.  Hätte  man  wirklich  eine  neue  St  P.O.  und  hätte  man  wirk- 
lich den  Wünschen  der  Gegner  der  Voruntersuchung  entsprochen,  so 
hätte  man  die  neuen  Experimente  auf  eine  voraussichtlich  lange  Zeit 
fixirt,  und  wir  niüssten  mit  ihnen  unser  Auslan^ren  finden,  auch  wenn 
sie  sich  als  undurchführbar,  unbrauelibar  und  genieinschädlich  erweiseu 
Werden,  Eine  neue  St  P.O.  kann  man  nicht  alle  Jahrzehnte  erlassen, 
und  so  müsste  man,  wenn  schon  auf  die  neue  Idee  eingegan^j:en 
würde,  sich  mit  derselben  auf  eine  erhebliche  Anzahl  von  Jahren  ai>- 
finden,  auch  wenn  es  noch  so  schwer  geht  Die  Folge  von  solchen 
Zuständen  ist  regelmässig  die,  dass  man  sich  anderweitig  zu  helfen 
trachtet,  wenn  man  ein  undurchführbares  Gesetz  erhalten  hat:  es  wird 
daran  gedrfickt  und  gemodelt,  gepresst  und  geformt^  bis  man  zn  leid- 
lichen, halbwegs  brauchbaren  Formen  gekommen  ist  Was  das  aber 
bedeote^  wenn  man  willklixticb  und  Tencfaieden  em  Gesetz  nmSnder^ 
zn  welchen,  yom  Gesetzgeber  durofaans  nie  gewollten  E<mseqaenzen 
man  gelangt  und  wie  dann  Bechlsansicherheit  und  Bechtswidezaiiroch 
die  nnansweichlicfaen  Folgen  sein  müssen,  das  Alles  ist  bekannt  genng. 

Jedea  Experiment  ist  um  so  gefährlicher,  je  folgenschwerer  seine 
Wirkungen  sind,  nnd  je  schwerer  eine  Gntmaclmng  des  Schadens,  die 
Beseitigung  seiner  Grundlagen  ist;  man  wird  sich  also  zu  einem  so 
äusserst  riskirten  Schritt  in's  Ungewisse,  besser  geagt  in  das  gewiss 
Unrichtige,  um  so  länger  zu  hüten  haben,  als  noch  ein  anderes,  ebenso 
ungefährliches,  als  sicher  helfendes  Mittel  vorhanden  ist  Erst  wenn 
auch  dieses  Mittel  keinen  Erfolg  haben  sollte,  wird  man  sich  zu  dem 
folgenschweren  Mittel  einer  (usetzesänderung  auf  (Jrund  eines  neuen, 
noch  nie  erprobten  und  jedenfalls  sehr  bedenklichen  Trincipes  ent- 
schÜessen.  Zeit  w  ird  w  enig  verloren,  unbedingtes  pjngreifen  ist  nicht 
nothwendig,  nnd  wenn  wirklich  eine  völlige  Aenderung  und  Verbesse- 
rung uiclil  erreicht  werden  sollte,  trotzdem  man  gut  geschulte  Unter* 


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Zar. Frage  der  Vomotenadiniig. 


217 


Blieb unpiricliter  {^esciiaffcn  li:it.  so  ist  hiermit  nichts  Uoblos  odor 
Ueberfliissifres  j^esehaffcn.  Freilich :  wenn  man  die  Voruntersuchung 
fallen  lässt,  so  fallen  auch  die  Untersuch un{i:brichter,  ob  sie  nun 
schlecht  vorbereitet  oder  ausgezeichnet  geschult  sind;  aber  mag  man 
in  di«Mr  Biditaaff  noch  so  weit  greifen:  anch  die  abenteneilicfaBte 
St  P.O.  wild  Toitieffliche  Kriminalisten  doch  noch  branehen  kOnnen. 
Man  hat  tot  mehr  als  hundert  Jahren  ein  ^sicfa  sdbst  anwendendes 
Straf geselz"  erfanden  —  heute  will  man  dne  St  P.O.  schaffen,  die 
▼on  selber  ISoft,  da  dies  aber  physikalisch  unmöglich  ist,  so  wird 
man  stets  der  Leute  bedOrfen,  die  sie  in  Bewegung  erhalten,  und 
wenn  man  daher  gute  Kriminalisten  geschaffen  bat,  so  könnte  dies 
auch  unter  jeder  Art  von  St. P.O.  nur  von  Nutzen  sein.  — 

Der  alte  englische  Grundsatz,  dass  ein  guter  Richter  der  beste 
Schutz  des  Angeklagten  ist,  bleibt  immer  wahr,  und  wenn  wir  uns 
Untersuchungsrichter  im  besten  Sinne  des  Wortes  denken ,  so  haben 
auch  alle  Beschuldigten  den  allerbesten  Vertreter;  der  gute  Unter- 
sncbnngsricbter  vertritt  den  l't  iehen  und  Armen,  den  (lescbickten  und 
den  llülflosen,  er  suciit  dem  ixechte  (leltung  zu  verschaffen,  dem  Un- 
schuldigen zu  helfen  und  den  Sdiuldigen  zur  Strafe  zu  bringen  — 
hat  man  noch  durch  ein  gutes  Kechtsmittelverfahren  dafür  gesorgt, 
dass  über  jeder  llandhing  eine  höhere  Instanz  bi-stelit,  die  jederzeit 
angerufen  werden  kann,  dann  iiat  man  überbau j)t  ohne  Risico,  ohne 
Experiment  und  ohne  Abenteuerlichkeit  alles  gt^than,  was  in  dieser 
Richtung  von  Menschen  und  mit  menschlichen  Mitteln  gethan  werden 
kann.  — 

Der  hier  gemachte  Vorschlag  geht  also  abermals  dabin:  man 
schütte  das  Kind  nicht  mit  dem  Bade  aus,  man  verwerfe  nicht  die 
Voruntersuchung,  bevor  man  sich  nicht  davon  überzeugt  hal^  dass  sie 
nicht  blos  verbesserungsfähig  sondern  sogar  so  zu  gestalten  ist 
wie  sie  unter  menschlichen  Verhältnissen  nicht  besser  sein  könnte. 
Haben  wir  genug  Untersuchungsrichter,  die  ihre  Arbeit  im  Verhältaiss 
snr  Zeit  setzen  können  und  nicht  überhast*  t  und  fibenmstrengt  arbeiten 
mfissen,  haben  wir  diese  Untersuchungsrichter,  bevor  sie  ihr  Amt  an- 
traten, in  moderner  Weise  unterrichten  lassen,  haben  wir  ihnen  gesagt 
und  gezeigt,  was  und  wie  sie  arbeiten  müssen,  haben  wir  uns  endlich 
davon  überzeugen  lassen,  dass  es  ausser  dem  eigentlichen  Strafrecht 
die  für  da.s  kriminalistische  T.ebon  absolut  un»  iit]>elirlicben  strafrecht- 
lichen Hülfswissenscliaften  triebt  —  haben  wir  dann  einen  General- 
stab tüchtig  gescliultrr  Untersuchungsrichter,  dann  k«)nnen  wir  uns 
getrost  an  die  Bekämpfung  des  \  erl)recbens  wahren,  und  Niemand 
wird  uns  sagen,  dass  es  eine  bessere  Hülfe  gebeu  kann. 


XV. 

Sind  wir  dem  anatomischen  Sitze  der„VerbrecherneiguDg" 
wirkliclL  n&ker  gekommeo»  wie  Lombroso  glaubt? 

Medidnainth  Dr.  P.  Vldk«  in  Hnbertnabiirir. 

Man  hat  witzig  seiner  Zeit  einmal  ^sagt,  das  arme  Italien  habe 
eigentlich  nur  drei  Exportartikel:  Wein,  Kunst  und  —  Kriminalanthro- 
pologie. Aber  auch  diese  Artikel  gehen  jetzt  schlecht,  am  schlech* 
testen  entschieden  die  Kriminalanthropologie. 

Jeder,  der  den  Verlauf  der  letzteren  verfolgt  hat,  wird  gesehen 
haben,  wie  die  anfängliche  Begeistening  für  Lombroso 's  Lehren 
immer  mehr  abgenommen  hat  und  jetzt  ausser  in  Italien  eigentlicli  nur 
noch  in  den  weniger  kultivirten  iJLndern  und  unkritischen  Köpfen  be- 
steht. In  Deutschland  sind  sie  überhaupt  wenig  in  Aufnahme  ge- 
kommen, eher  schon  in  England,  viel  mehr  leider  in  Amerika,  wo  nur 
ganz  wenig  kritiBolie  MSiineri  wie  Spitzka  Ben.,  energisch  dagegen 
FtcuA  machten. 

Den  Verlanf  der  Dinge  wird  mao  nur  natfiilieb  finden.  Lom- 
broso brachte  yon  Nenem  die  üntersnebnng  des  Verbrechen  — 
und  nicht  des  Vefbrechena»  was  entschieden  sein  Hanptrerdienst  ist  — , 
in  Flnss,  imponirte  dnrch  massenhafte  Zahlen,  ktthne  Schlösse,  grosse 
PerspectiTen  nnd  fihte  so  anf  hypnotisirbare  Gemftther  fascinirenden 
Einfluss  aus.  Derselbe  mnsste  natürlich  verstärkt  werden,  als  eine 
fieihe  l)Oi::eisterter  Schüler,  meist  Landsleute,  ihn  nnterstützten  und 
seine  Verdienste  in  allen  Tonarten  sfingen.  Die  neue  Schale  wusste 
auch  sehr  geschickt  für  sich  in  der  Presse  Tamtam  zn  schlagen, 
Congresse  zu  arrangiren  u.  s.  w. 

Sehr  bald  aber  kam  der  unvennoidliche  Rückschlag.  Ver- 
schiedene klare  und  ruhige  Geister  prüften  näher  Lombroso 's  Schrif- 
ten und  erkannten  st  hr  bald  ihren  mehr  als  zweifelhaften  Werth. 
3Ian  weiss,  Lombro.>>o  hat  eine  ganze  Bibliothek  zusammen- 
geschrieben, das  Meiste  ist  aber  fast  gleicher  Qualität,  d.  h.  un- 


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Sind  vir  d.  anatomischen  Sitze  der  «Verbrediemeigung''  nälier  gekommen?  219 

wissenschaftlich,  oberflüchHoh ,  unkritisch,  minderwerthig.  FUr  ihn 
gilt  nicht  das:  moltum,  sed  noa  multa,  wohl  aber:  niilla  dras  sine 
linea,  obgleich  das  Meiste  lieber  nngesehri^en  bitte  bleiben  mttssen. 
Lombroso  leidet  entschieden  an  Schreibwnth,  Graphomanie,  die  er 
sonst  nur  den  „Mattoiden**  suschrdbt.  Er  glaubt  überall  mitreden 
SU  dfiifen  nnd  zu  sollen.  Mit  der  giOssten  Seelenrabe  würde  er 
hente  über  das  System  des  Orioni  morgen  Aber  das  Plankton,  über- 
morgen über  die  vierte  Dimension  oder  asqrrisohe  Archäologie 
schreiben.  Was  bei  solcher  Sohrdbeeligkeit  hecanskommen  rnnss,  ist 
leicht  erfindlich. 

Das  Meiste  in  seinem  Uonio  (If'lin(|uente  ist  längst 
widerlegt  worden,  ebenso  in  seinem  Buche  über  das  Genie,  am 
schärfsten  bezüglich  des  letzteren,  vielleicht  von  dem  deutschen  Irren- 
arzt Binder.  Lombroso  lässt  sich  durch  solche  Kleinigkeiten  aber 
nicht  abschrecken.  Er  wiederholt  einfach  djis  tausendmal  Widcrloirte 
und  versucht  immer  von  Neuem  den  Leuten  Staub  in  die  Augen  zu 
streuen,  indem  er  alle  Augenlilicke  neue  Ideen  vetrbringt,  die  aber  meist 
wieder  das  Scliieksal  der  alten  haben  oder  alte  Ideen  wieder  aufputzt. 

Es  ist  daher  nur  natürlich,  dass  sehr  bald  ernste  Forscher  von 
der  Kriminalanthropologie,  wie  sie  Lombroso  lehrte,  nichts  wissen 
wollten  und  diese  Wissenschaft  —  die  ich  seiner  Zeit  nicht  als 
eigene  Wissenschaft,  sondern  nur  als  Hülfs Wissenschaft  der  forensen 
Psychiatrie  angesehen  haben  wollte  Oi  worin  mir  anch  t.  Krafft- 
Ebing  nnd  Ändere  Beoht  gaben  —  ganz  verwarfen,  womit  sie  frei- 
lich das  Kind  mit  dem  Bade  ansschfltteten. 

Lombroso  und  seine  Sohnle  hat  der  guten  Sache  also, 
d.  h.  der  von  den  Schlacken  gereinigten  Kriminalanthropologie,  später 
nur  geschadet  und  wäre  er  zur  rechten  Zeit  von  der  literarischen 
Bühne  abgetreten,  so  würde  die  Kriminalanthropologie  nur  gefördert 
worden  sein,  indem  dann  auch  wirklich  ernste  und  kritische  Männer 
aller  Nationen  die  Ideen  Lombroso 's,  so  weit  sie  gesund  und  frucht- 
bar waren,  untersucht  und  vertieft  hätten.  So  haben  sie  sich  jetzt 
grösstentheils  von  den  massenhaften  Uebertreibungen  und  falschen 
Behauptungen  Lombroso 's,  dessen  Werk  derart  nur  Waiirheit  und 
Dichtung  ist,  abgestossen  gefunden,  dass  sie  mit  der  Disciplin  nichts 
mehr  zu  tiiun  haben  wollen. 

Von  Zeit  zu  Zeit  glaubt  er  nun  M'inem  verbleichendem  Glänze, 
den  er  trotz  grosser  Eitelkeit  doch  dahinschwinden  sehen  muss,  durch 

Ii  Nücke,  kriminalunthropolof^isclie  Themen:  1.  Gehört  die  Kriniinal- 
atithropolofrie  melir  zur  Anthropoh>t,'ii'  oder  zur  forensen  Tsyrhiatrie ?  0.  8.  W. 
Archiv  tur  KnuiinulauUirupolui^o  u.  s.  w.  G.  Bd.  '6.  u.  4.  Hüft.  l'JOl. 


220 


XV.  Näckb 


neue  p«nidoze  und  oft  geiBtrdehe  Ideen  wieder  «of  einige  Zeit  auf- 
zuhelfen. Kürzlich  hat  er  sich  nun  in  einer  grosseren  Arbeit ')  folgenden 

Passus  geleistet,  der  freilich  inhaltlich  für  Lomhroso  nicht  neu  ist: 
„Es  ist  cig;enthünilich,  dass  der  Epileptiker  und  der  Verbreelier,  die 
80  häufig  die  mittlere  Uinterhauptsgrube  aufweisen,  und  in  Folge 
dessen  eine  Hypertrophie  des  Vermis,  der,  gereizt,  so  oft  den  Zwang 
Böses  zu  thun  erzeugt,  auch  so  oft  eine  grosse  Reizbarkeit  zeigen, 
mit  Fühlen  jejrlicher  Inhibition,  die  den  Ausgangs|)unkt  einer  solchen 
Neijrunii:  darstellt.  Man  m()chte  meinen,  dass  wir  auf  den» 
Wege  sind,  die  specifische  Liision  der  Verbrecherneigung 
zu  finden''-!.  Wie  fast  jeder  Satz  Lombroso's,  so  ist  auch  dieser 
in  verschiedenen  Punkten  anfechtbar.  Da  aber  sein  Schluss  für 
Lombroso  von  |)rineii)ieller  Bedeutung  zu  sein  scheint,  so  verlohnt 
es  sich  wohl  hier  näher  darauf  einzugehen,  freilich  nur  für  andere, 
da  Lorabroso  bekanntlich  absolut  unbelehrbar  ist. 

Dureh  diese  nene  und  grössere  Arbeit  ist  er  zunächst  auf  einen 
seiner  Lieblingsgedanken  zurückgekommen,  nämlich  auf  die  angeblich 
hohe  Bedeutung  der  sogenannten  mittleren  Hinterhauptsgrube  und 
deren  sichere  oder  sehr  wahrscheinliche  Erzeugung  durch  Hyper* 
trophie  des  Vermis  am  Kleinhirne.  Das  hat  er  alles  schon  früher 
Yorgebracbt,  doch  stammt  ea  wiederum  Ton  Albrecht  her,  der  zwar 
ein  sehr  gelehrter,  aber  ganz  ezcentriaoher  Anatom  war,  deshalb  eben 
für  Lombroso  gut  passte.  Lombroso  sucht  hier  von  Neuem  zu 
beweisen,  dass  die  genannte  Grube  bei  Verbrechern  und  Irren,  speciell 
bei  Epileptikern  viel  häufiger  als  bei  Normalen  und  deshalb,  aber  auch 
noch  ans  anderen  Gründen,  ein  schweres  Stigma  ist,  und  zwar  ein 
atairistisches. 

Nun  sind  schon  früher  seine  Anga]»en  nicht  iinwi(l('rs])rochen  ge- 
blieben, so  z.  B.  von  Benedikt,  Ferc,  Heger,  Dalleniagne, 
Debierre,  Sernoff  u.  s.w.  Debierre'),  ein  ausgezeichneter  und 
kritischer  Anatom,  fand  diese  mittlere  Uinterhauptsgrube  bei  Normalen 
nur  in  2 — 3  Proc,  bei  Verbrechern  in  3  l^roc,  also  fast  ebenso  oft, 
und  will  hier  nichts  von  einem  Atavismus  wissen,  da  er  bei  31  Anthro- 
poiden diese  Grube  nie  fand. 

Sernoff^)  wiederum,  der  grosse  russische  Anatom,  der  mit 

1)  Lombroso,  Sul  Tennis  ipertrofioo  e  snlla  fossetta  oodpiUito  mediana 

nei  normali,  degli  alienati  o  noi  dclinquenti.  Archivio  di  psichiatria  ctc  1 0OH.  p.  1 1  ff 

2)  Die  gesi)crrt  froihut  ktoii  Worte  sind  im  Texte  nicht  c;c8pcrr<  gedruckt. 

3)  Debierre.  Le  eniue  des  ciiruiaelä.   Lyon,  Paris.  Ötorck.  lYJb. 

4)  Sernoff ,  Die  leckre  Lombroso's  und  ihre  anatomischen  OmndlagoD  im 
Lichte  moderner  Forschong.  Biologisches  Gentialbl.  1896.  ApiUS  nnd  15. 


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£Snd  wir  d.  automiBdieii  Sitze  der  «Verbrechemeigang"  oAher  gekommen?  821 

mScbtiger  I^nze  ge^en  den  DeliiKiuente  nato  loszog,  sa^jt  ausdrücklidi: 
„Beim  Menschen  konimt  sie  (die  wurinnirinif^e  Grube),  wie  zahl- 
reiche Beobachtungen  festgestellt  haben,  selten  (2 — 3  Proc.)  vor  und 
zwar  bei  normalen  Menschen  ebenso  oft  wie  bei  Ver- 
bre  ehern." 

Bezfiglioh  des  Znaammenhanges  mit  dem  Wunne  sagte  er  weiter: 
„Der  mittlere  läppen  des  üntarwurms,  die  sogenannte  Fynunisi 
welcher  der  Lage  nach  der  in  Bede  stehenden  Grabe  enteprechen 
würde,  nnteriiegt  allerdings  gewissen  GrOssenschwanknngen,  allein 
diese  sind  so  geringi  dass  von  einem  Hinansragen  ans  der  Valleoala 
gar  keine  Kede  sein  kann.  Das  Vorhandensein  der  wnnnfSrmigen 
Gmbe  am  Hinterhauptbeine  kann  demnach  mit  einer  stärkeren  Ent> 
wickelang  thierischer  Instincte  (Lombroso)  in  keinem  ursächlichen 
Zusammenhange  stehen/  Er  hatte  speciell  80  Kleinhirne  auf  diese 
Verhältnisse  hin  untersucht,  und  ich  bemerke  noch  aosdrttcklich,  dass 
Sernoff  einer  unserer  ersten  Gehimkenner  ist 

Wir  sehen  also  schon  daraus,  dass  Lombro80*8  Behau ptun;ua>n 
bezüglich  der  Fossa  occipitalis  mediana  durchaus  noch  unbewiesen 
sind.  Seine  alte  Taktik  hat  er  freilich  auch  hier  wieder  bewährt, 
intltMu  er  kritiklos  alle  möglichen  Autoren  anführt,  die  zu  seinen 
Gunsten  sprechen,  die  anderen  aber  einfach  —  wcp:cscauiotirt!  So 
bestehen  Sernoff  und  Debierre  für  ihn  nicht  und  ihre  Beob- 
achtungen und  üenarkungen  ebensowenig.  Wir  haben  es  hier  beim 
Wurme  offenbar  mit  Grössenunterschieden  zu  thun,  die  nur  ein  sehr 
genauer  Gehimkenner,  wie  z.  B.  Sernoff,  richtig  schätzen  kann 
nie  aber  ein  Lombroso.  Vor  eimgoi  Jahren  eizählte  mir  einer  der 
eisten  italienischen  Gehimforscher,  dass  Lombroso's  Gehimkennt- 
nisse  nar  gering  seien. 

Daraus  sieht  man  schon,  wie  wenig  yertraaenswfirdig  alles  ist 
was  er  ans  Ton  der  Anatomie  des  Gehirns  erzfthlt  Sehr  wahrschem- 
lieh  bezieht  sich  das  aber  «ach  aaf  die  Pathologie,  da  die  patho- 
logiscb-anatomisehen  Kenntnisse  Lo  mbroso's  mir  gleichfalls  sehr  zwei- 
felhaft erscheinen. 

Dass  er  sich  manchmal  kurz  liintereinander  selbst  widOTspricht, 
stört  ihn  nicht  So  hat  er  z.  H.  durchaus  selbst  nicht  immer  bei 
dieser  „fosse  yermienne''  Hypertrophie  des  Wurms  gesehen,  wenn  auch 
in  dor  Mehrzahl.    Trotzdem  sagt  er  dann  ruhig  in  seinem  oben 

citirten  Satze:   die  mittlere  lliDterbauptsgrube  und  in  Folge  dessen 

eine  IIyj)ertro])hie  des  Wurms  . . 

Zur  Zeit  steht  also  nur  so  viel  fest,  dass  diese  Grube  bei  Wilden, 
Normalen  und  Verbrechern  in  sehr  verschiedener  Häufigkeit  gefunden 


222 


XV.  2iÄCK£ 


wurde  und  ausser  Zn&ll  —  Sernoff  weist  z.  B.  mit  Recht  darauf 
hin,  dass  die  Sammlungen  von  Verbreeherach&deln  schon 
ein  Auslesematerial  sind,  was  tou  fundamentaler  Bedeutung 
bei  der  Benrttieilung  ist  —  sieher  auch,  wie  bei  vielen  anderen  Din- 
gen, looale  Diffefensen  bestehen.  Wie  steht  es  nun  aber  mit  den 
Irren  und  speciell  den  Epileptikeni?  Für  Lombroso  ist  natürlich 
die  Sache  absolut  sicher  gestellt  und  zwar  derart^  dass  hier  die  ficag^ 
liebe  Grabe  viel  häufiger  ist  als  bei  Normalen. 

Auch  hier  protzt  er  mit  Zahlen  und  kümmert  sich  nicht  um  deren 
Qualität  Ich  selbst  kann  wohl  behaupten,  dass  ich  bei  Hunderten 
von  Sectionen  Geisteskranker,  Idioten  und  Epileptikern  mich  nicht 
entsinnen  kann,  auch  nur  ein  einziges  Mal  diese  abnorme  Grube  in 
ausgeprä^er  Gestalt  gesehen  zu  haben.  Specielle  Aufzeiclimin^en 
darüber  besitze  ich  allerdings  nicht,  aber  diese  Anomalie  ist  so  frai)paiit, 
dass  sie  Jedem  ohne  Weiteres  auffallen  niuss,  der  die  innere  Schädel- 
basis auch  nur  oberflächlich  betrachtet.  Ich  glaube  auch  nicht,  dass 
in  Wuhlgarten,  der  grossen  Epilei)tikeranstalt  von  Berlin,  wo 
ausserordentlich  genaue  und  sachkundige  Sectionen  vorgenoinuien 
werden,  diese  Grube  besonders  häufig  sich  vorfand.  Wenigstens  habe 
ich  hierüber  in  Referaten  nichts  gelesen.  Ja,  in  Deutschland  über- 
haupt, wo  in  den  Irrenanstalten  sicher  mit  die  genauesten  Unter> 
suchungen  gemacht  werden,  liest  man  kaum  von  solchem  Yoifcomnmiss. 
Also  ist  auch  die  These  Lombroso*s  bezüglich  der  Irren  und  Epi- 
leptiker noch  durchaus  nicht  sicher  begründet  und  bedarf  noch  weiterer 
Prüfung.  Zum  grossen  Theile  liegt  die  Verschiedenheit  der  Häufig- 
keitsangabeo  wohl  auch  darin  begründet,  dass  diese  mittlere  Hinter* 
hanplvgrube  ganz  verschiedene  Dimensionen  aufweist,  und  der  Eine 
nur  die  ausgeprägten  Grade,  der  Andere  schon  die  Anfilnge  davon 
hierher  rechnet  u.  s.  w. 

Wir  sahen  weiter,  dass  es  für  Lombroso  eine  absolute  Gewiss- 
heit ist,  dafis  die  besagte  Grube  ein  KUckschlag  ist.  Viele  bestreiten 
das,  so  z.  H.  Debierre.  So  viel  aber  steht  fest,  dass  in  Fragen 
des  Atavismus  nur  die  Anatomen  und  Embryologen  zu- 
stündig sind,  nie  aber  Andere,  am  wenigsten  wieder  Lom bro so. 
Diese  Fragen  sind  so  schwierig,  dass  z.  H.  bezüglich  verschiedener 
Bildungen  seihst  diese  Fachleute  noch  nicht  im  Klaren  sind.  Ja  der 
bekannte  Anatom  und  Anthropolog  Prof.  Stieda  leugnet  überhaupt 
den  Begriff:  „Atavismus'"  ganz')! 


1)  Wenn  Lombroso  bei  l.!2i)  Eurojweni  iu  4,3  Proc.  eiue  öolclio  Grube 
berechnet,  so  kann  man  streng  genumnien,  von  einem  Atavismus  hier  deselialb 


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Sind  wir  d.  anatomiedieD  Sitze  der  „Verbredienidgiiiig''  nihergekommea?  223 

Map:  fliese  Bildung  nun  aber  ein  Atavismus  sein  oiler  nicht,  so 
halte  ich  auch  sie  für  ein  Stigma  degenerationis,  vorausgesetzt, 
daas  sie  wirklich  bei  den  Entarteten  aller  Classen  h&nfiger,  als  bd 
Normalen  isl,  znmal  Lombroao  bei  Soleben  mit  der  beregten  Gmbe 
besonden  viele  andere  DegenerationsEeichen  Teizeicbnet 

Bei  den  Irren  giebt  Lombroso  anoh  einige  HänfigkeitBsahlen 
naeb  der  Farm  der  Pqroboae  an.  Aneh  bier  ist  aber  selbst  für  sein 
Material  Beeenre  geboten,  da  seine  Psyebiatrie  ebenso  excen- 
triscb  und  nnwiasenacbaftlicb  ist,  als  seine  Kriminal- 
antbrbpologie.  In  seinen  Specialfäohem  der  Psychiatrie  und 
forensen  Medicin  hat  er  nichts  Bleibendes  geschaffen  und  sein  Name 
findet  sich  daher  in  dieser  Hinsicht  mit  vollem  Rechte  wohl  nirgends 
in  einem  anaseritaUenischen  Lehrbuelie  der  Psychiatrie  und  gericht- 
lichen Medicin  verzeichnet  und  selbst  in  italienischen  psychiatrischen 
Arbeiten  bleibt  sein  Xame  meist  unerwähnt.  Spricht  er  doch  noch 
z.  B.  von  Monomanien  und  seine  ii^unz  extravaganten  Ansichten  über 
Epilepsie,  Hysterie  n.  s.  w.  sind  bekannt  und  berüchtigt!  Es  stünde 
schlimm  mit  der  italienischen  Psycliiatrie,  wenn  üire  Corj'phäen 
solche  Psychiater  wären.  Zum  Glück  haben  wir  es  hier  aber  mit 
Männern  zu  thun,  wie  Marro,  Morsclli,  Tanzi,  Tamburini, 
Sciamanna,  Bianchi,  d'Abundo  u.  s.  w.,  Männer,  die  auch  im 
Auslande  geehrt  sind,  weil  sie  in  ihrer  Wissenschaft  ernst  forschten  und 
Treffliches  leisteten.  Sie  haben  sich  meist  auch  mit  den  specifischen 
Lombroso'sdieii  Aoncbten  siebt  oder  nnr  mit  grosser  Besenre  be- 
freondet  und  in  ihren  Beihen  spielt  Lombroso  als  Pi^ehiater  keine 
grosse  BoUe. 

Doeh  kehren  wir  jetzt  zn  nnseram  Thema  zorttck.  Lombroso 
berichtet  Ton  Terschiedenen  fremden  raien  mit  (angeblicher)  Hyper- 
trophie des  VermiS)  und  findet  hier  psycbischerseits  eine  Menge  bdser 
Neigungen  verzdchnet,  z.  B.  Neigung  zu  Kindsmord  (?)  1  mal,  Tendraz 
zu  Selbstmord  und  Melancholie  7  mal,  Immoralität  und  Sexualexcesse 
9  mal,  Neigung  zum  Diebstahl  3  mal,  zu  Alkoholismns  nnd  Vagabon- 
dage  4  mal,  Monomanie  mit  Hallucinationen  3  mal  u.  s.  w.  —  folglich 
—  nnd  das  ist  einer  der  unzähligen  kindischen  Schlüsse  Lom- 
broso's  —  hängen  diese  disparaten  Dinge  mit  jenem  Venuis  zu- 
sammen!   Er  selbst  l)ringt  2  Fälle  bei. 

Natürlich  kommt  auch  die  Epilepsie  hierbei  nicht  zu  kurz  weg. 

nicht  sprechen,  wdl  diese  Blldang  also  schon  normaler  Wdse  beim  Menschen  vor^ 
Iconimt.  wenn  auch  seltener  als  bei  vielen  Tbieren.  Erst  wenn  sie  beim  nor- 
malen iMen^clu  n  so  gilt  wie  e:an7  verschwunden  wSro  nnd  i)lör/,li('li  hei  einer 
besondereu  Oasm  von  Leuten  wieder  auftauchte,  könnte  man  von  Kiak:H:lilag  reden. 


224 


XV.  Nacks 


Luciani  erzengte  durch  Reizung  des  Kleinhirns  und  des  Wurms 
Epilepsie.  Uierbei  fallt  es  Lombroso  nicht  ein  1.,  dass  künstliche 
Epilepsie  mit  natllifioher  oiebts  odor  nur  wenig  so  thnn  hat;  2.,  dam 
nach  einem  der  besten  Kenner  der  Tbier-Nervenkrankbciten,  Prof. 
Dexler  in  Prag,  Epilepsie  bei  Thieren  mit  Sicherheit  bis- 
her noch  nicht  nachgewiesen  ist,  nnd  dass  alle  die  bezeich- 
neten Himezperimente  Luciani 's  neneidingB  nnr  mit  Reserve  hin- 
genommen nnd  besonders  von  Prof.  Hnnk  scharf  kritisirt  weiden. 
Bei  Lombroso  sind  eben  Analogien,  Aehnlichkeiten  ohne 
Weiteres  Identitäten.  Lächerlich  ist  es  ferner,  dass  er  aus  einer 
Reihe  von  Fällen  mit  Atrophie  des  Kleinhirns  mit  oder  oline  solche 
des  Wurms,  Kapital  für  Epilepsie  und  Verbrechen  schlägt.  Er  über- 
sieht dabei,  dass  man  gerade  diese  pathologischen  Veränderungen  bei 
beiden  nur  sehr  selten  findet  und  andererseits  sicher  solche  vorkommen, 
ohne  da^s  Epilepsie  oder  Verbrechen  bestehen.  Pagano  fand  l)ei 
ähnliclier  Erzeu^unj::  von  künstlicher  Epilepsie  wie  Lncani:  Furcht 
und  die  Tendenz  zu  Büseni.  Fol^Hch  — I  —  Lombroso  sajrt  dann 
triumphirend :  „Da  es  mir  geianj;,  den  Zusammenhang  der  .fossetta 
occipitale'  mit  der  Hypertrophie  des  Wurms  nnd  die  jrrossere  Häufig- 
keit des  einen  oder  beider  bei  Verbrechern  nnd  Irren,  speciell  bei 
Epileptikern  oder  Melancholikern,  nachzuweisen,  so  glaube  ich,  dass 
dies  von  Wichtigkeit  ist;  zuerst,  weil  dies  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  den  von  Vielen  behaupteten  Zosammenhang  zwischen  Anomalien 
des  Wnrms  nnd  der  Seznal-  nnd  motorischen  Tendenzen  bestätigt,  dA 
der  frObzdtige  starke  Oeschlechtstrieb  nnd  die  grosse  Mnskelgewandt« 
heit  bei  Beiden  hänfig  sind  nnd  ein  nener  Bewds  für  die  SolidarüSt 
nnd  Identität  zwischen  beiden  Formen  sind,  wie  ich  sie  find;  sodann  er 
klSzt  es  die  hftnfigen  epileptischen  AnftUe  ....  die  Impnlsivitäti  die 
beiden  eigentbümlich  sind.^ 

Auch  dieser  Satz  ist  voller  Fehler,  wie  zum  Theil  schon  aus  dem 
Früheren  hervorgeht.  Es  ist  nicht  wahr,  dass  häufig  frühzeitiger  und 
starker  Geschlechtstrieb  bei  Epileptikern  und  Verbrechern  vorkommti 
ebauowoug  Muskelgewandtheit  Es  sind  dies  vielmehr  nur  Ausnahme- 
zustände. Man  befrage  hierüber  z.  B.  nur  Ha  er.  Ich  habe  früher 
sehr  viel  Epile])tiker  behandelt  und  sah  obige  Eigenschaften  nurs(  lir 
selten.  Von  einem  Zusamnionhange  oder  gar,  wie  er  sagt,  Identität 
zwischen  Verbrechen  und  Ki)ilepsie  ist  aber  erst  recht  keine  Kedel 
Ein  Verbrecher  kann  Epileptiker  sein,  ist  es  aber  nur  relativ  selten, 
und  für  eine  epileptische  Basis  des  Verl)rt'cliertliiuus  —  ehenso  für  eine 
utavislisclK'  —  si)riclit  niclits.  Kein  bekannter  Deutseher  —  vieileiclit  nur 
mit  Ausnahme  von  Kurella — folgt  ihm  hierin;  trotzdem  lääst  sich 


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Sind  wir  d. aottomlschen  Sitze  der  «Verbredienieigaiig''  nähergekommen?  226 

Lombroso  die  Sache  niclit  ausreden  und  ist  stolz  auf  seine  anj^eb- 
liclie  Entdeckung.  Lassen  wir  ihm  also  dies  kleine  X'er^^nüiren ! 
Kürzlich  erst  hat  einer  der  ausirezeichnetsten  l*svcliiater  und  Kenner 
der  Gefangenen,  Prof.  Aschaffenburg'),  diese  ganze  Theorie 
Lombroso 's  ad  absurdum  geführt  und  fast  auch  seine  sämmtlichea 
sonstigen  Leits&tze  Tcrwoifen.  Nicht  ein  einziger  foraiser  Psychiater 
in  Dentsehland  will  von  der  epileptisohea  Grundlage  des  Yeibrechena 
etwas  wissen,  überhaupt  von  der  tollen  Yerwaachnng  dea  Begriff ea 
Epilepsie,  wie  de  Lombroso  beliebt  Wohl  hat  sieh  mit  der  Zeit 
dieser  Begriff  erweitert  — >  vnd  zwar  aneh  ohne  Lombroso  ~| 
wir  sind  aber  sehr  weit  davon  entfernt^  alles  MOgliehe  derselben  auf- 
halsen zn  wollen.  Nieht  jeder  DSrnmemiigszustand  oder  ImpnlsiTitSt 
oder  Baptus  ist  Zeichen  einer  «psyehischen**  Epilepsie!  Er  kann  es 
möglicher  Wose  sein.  Sicher  aber  nur  dann,  wenn  vorher  oder  nach- 
her Anfälle  von  grand  oder  petit  nuil  bemerkt  wurden.  Bis  dahin 
ist  er  nur  der  E|)ilepsie  verdächtig.  Der  sogenannte  ^epileptische" 
Charakter  besagt  sehr  wenig,  da  er  ein  selir  dehnbarer  Hegriff  ist. 

Wir  seilen  also  als  das  f'acit  unserer  liisherigen  iietraclitung,  dass 
wir  trotz  der  Ausf  ü  Ii  rungen  Loniliroso's  noch  ebensoweit 
davon  entfernt  sind,  den  eigentlichen  anatomischen  Sitz  der 
Verbrecherneigung  gefunden  zu  haben,  wie  vorher.  Das 
Kleinhirn  ist  uns  kaum  weniger  rätiiselhaft  als  das  (Jehirn,  wenn  wir 
nicht  Lombroso  sind.  So  wird  es  wohl  auch  noch  lange  bleiben! 
Uebrigens  hat  Lombroso  diese  seine  Ansicht,  wie  bereits  gesagt 
wurde,  schon  frUher  ausgesprochen,  wiederholt  sie  hier  einfach  nor 
mit  Varianten,  wie  er  dies  zn  thun  beliebt. 

Znm  Schlnsse  wird  es  vielleicht  nicht  tlbeifUlssig  erscheinen,  zn 
zeigen,  dass  Lombroso  auch  im  Jahre  des  Hdls  1903  nnwanddbar 
seinen  alten  Ideen  anhängt,  nnbehdligt  nm  die  Kritik  der  Anderen. 
In  seinem  Archivio  di  psicbiatria  etc.  1903»  p.  123  in  einer  Kote  sagt 
er  nämlich  wörtlich  Folgendes:  ...  ich  habe  sowohl  den  geborenen 
Verbrecher,  wie  auch  den  moralisch  Schwachsinnigen  unter  ein  kli- 
nisches Bild  gebracht,  das  sehr  gut  durch  die  Schädel-,  Gesichts- 
Empfindongs-,  Stoffwechsel-  (^Differenz  in  den  Phosphaten)^  Bewegnngs- 
(Kancinismus),  Sinnes-  (periphere  Skotome)  und  Seelenanomalien  aus- 
geprägt ist . .  Dinge,  die  heutzutage  fjust  nur  er  und  seine  Schüler 
für  wahr  halten,  aber  meist  schon  längst  wiederlegt  sind.  An  den 
ifgeborenea''  Verbrecher  glauben  bei  uns  nur  ganz  Wenige,  wie  auch 


1)  Asciiaffen  bürg,  Diu  Verbxecheu  und  seine  Bek&napfang.  üeidel- 
berg  im. 


226 


XV.  ÜMXE 


die  meisten  Deutschen  und  viele  andere  auswärtige  Gelehrte  von  einer 
moral  insanitj'  als  eigener  Krankheitsform  nichts  wissen  wollen.  Wohl 
ist  bei  Gewissen  —  einer  kleinen  Classe  nur  —  die  Prädisposition  zum 
Verbrecher  eine  mehr  oder  weniger  grosse  —  das  sind  manche  Ge- 
wohnheitSTerbrecher  speoiell  und  yiele  GlewaJtthätigkeitsTerbredier  — 
aber  dämm  mtlssen  sie  noeh  lange  keine  Verbrecher  werden,  sondern 
daa  hingt  dann  vom  Milien  ab.  Also  ist  der  Ansdmok  «göbcrener' 
.  Verbrecher  falsch.  Immerhin  ist  hier  das  endogene  Moment  grosser 
als  das  exogene.  Bei  der  Mehrzahl  der  Verbrecher  aber  ist 
sicher  der  exogene  Factor  grösser  als  endogene.  Dahin 
gehören  die  meisten  Gewohnheits-,  Gelegenheits-  and  AffeotFerbrecber. 
Die  Psychopathen  und  Irre,  die  man  ziemlich  oft  unter  den  Ver- 
brechern findet,  sind  hauptsächlich  unter  den  GewohnheitSTerbrechem 
ansntreHen.  Ein  Unsinn  ist  es  aber,  ohne  Weiteres  jeden  Ver- 
brecher als  krank  zu  bezeichnen.  Nur  ein  kleiner  Theil 
ist  es;  der  grössere  sicher  nicht,  will  man  den  Kiankbeitsbegriff 
nicht  in 's  Ungemessene  ausdehnen. 

Auch  der  „Verbrechertypus^,  der  absolut  nicht  charakteristisch 
ist,  wird  von  den  Meisten  mit  Recht  abgelehnt.  Ein  Typus,  der  nach 
Lombroso's  eigenem  Zeugnisse  nur  bei  etwa  einem  Viertel  aller 
Verbrecher  sich  findet,  ist  eben  höchstens  ein  Typus  —  ilazu  noch 
mit  vielen  Willkürlichkeiten  behaftet  — ,  aber  nicht  der  Tyi)us,  il  tipo 
criminale.  Baer  und  Andere  haben  nachgewiesen,  dass  auch  obiger 
Typus  sogar  ziemlich  selten  ist  Für  Lombroso  ist  femer  Stigma, 
Stigma,  wobei  er  ethnische  Verhiltnisse  so  gut  wie  gar  nicht  berück- 
sichtigt 

Auch  die  Psychologie  des  Verbrechers  ist  noch  ganz 
wenig  bekannt,  wie  besonders  Aschatfenbnrg  neuerdings  betont 
Für  Lombroso  dagegen  ist  Alles  klar!  Ganz  albern  sind  seine 
Schlüsse  bCBÜgiich  gewisser  Stoffwechselanomafieo.  Ein  paar  Mal 

fand  man  bei  Verbrechern  und  „moralisch  Irren''  eine  geringere  Aus- 
scheidung von  Erdplios])haten  im  Urin  und  zwar  —  nota  benel  — 
nur  nach  wenigen  Analysen.  Sofort  schloss  Lo  m  bros  o ,  dass  dies  m 
Oharakteriatioum  für  sie  sein  sollte^  was  anch  gewisse  Experimente  an 
Thieren  beweisen  sollten!  Weil  man  femer  einige  Male  bei  Verbrechern 
und  Epileptikern  gewisse  Verlagerungen  von  Xervenzellen-Sebicliten 
in  der  Grosshirnrinde  fand,  sind  sie  für  Lombroso  schon  typisch  für 
Beide!    Was  soll  mau  zu  solchem  kindischen  Gebahren  sagen? 

Wer  ferner  seine  Arbeiten  über  Genie,  Anarchismus  u.  s.  w.  kennt, 
wird  dergleichen  Albernheiten  auf  Schritt  und  Tritt  wiederfinden. 
Man  fragt  sich  nur,  wie  ein  solcher  unwissenschaftlicher  Kopf  die 


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Sind  wir  d.  anatomischen  Sitze  der  nVerbrechemeigang'^  nihergekommm?  227 

Menjre  so  fasciniren  konnte.  Seine  Verdienste  sollen  ihm  sicher  un- 
geächinälert  bleiben.  Er  brachte  das  ganze  neuere  Studium  der  Kri- 
minalanthropologie  inFIass,  er  betonte  die  Untersuchung  des  Veibrecbeis 
und  nicht  des  Verbrechens,  besonders  aber  die  wichtige  Bolle  des 
endogenen  Moments  hierbei,  die  er  freilich  flbersehätzte^  wShrend  er  die 
des  HUieosnnterBohXIzte  nnd  wies  auf  die  Wichtigkeit  der  Stigmen  hin, 
die  er  jedoch  gleichfUls  sehr  libecBchiUzte.  Auch  dass  er  dnrch  seine 
Arbeiten  das  Stadium  der  Psfchopatheni  Hnren,  Anarchisten,  Genialen 
n.  s.  w.  neu  belebte,  soll  ihm  unrergessen  sein.  Sein  Hanptverdienst 
liegt  aber  vielleicht  in  der  Anwendung  dieser  lehren  auf  das  prak- 
tische Lfeben.  Er  fordert  mit  Hecht  Abschaffung  des  Strafmaasses 
nnd  statt  Strafe  den  Begriff  des  socialen  Schutzes. 

Das  sind  sicher  grosse  Leistungen,  die  freilich  durch  sein  wissen- 
schaftliches Arbeiten  leider  sehr  getrübt  werden.  Von  seiner  «ranzen 
Bibliothek  wird  nur  wenig  später  dem  Zahne  der  Zeit  Stand  halten, 
und  Lombroso  wird  in  der  Geschichte  des  Irrthums  einen 
der  ersten  Plätze  einnehmen.  Alle  seine  grossen  Fehler  im 
logischen  Denken  würde  man  ilun  aber  verzeihen,  wenn  er  bescheiden 
seine  Thesen  als  seine  persönliche  Meinung  würde  vortragen,  statt 
stets  ex  cathedra  zu  reden.  Das  fordert  natürlich  ßeaction  heraus! 
Er  leidet  fast  an  Grössenwahn  und  hält  sich  sicher  für  noch  un- 
fehlbaier  als  der  Papst  Seine  SchfUer  erklXren  ihn  orfoi  et  nrbi  f&r 
ein  Genie  nnd  er  hält  sich  gewiss  anch  dafür,  doch  zieht  er  wohl 
schwerlich  fdr  sich  die  Folgen  daraus,  die  er  immer  besQglich  der 
Geistesverfassung  des  Genies  predigt  Man  weiss  ja,  dass  fttr  ihn 
Genie  nnd  Irrsinn  identisch  oder  nabeau  identisch  sind.  Immer  wiede^ 
holt  er  die  alte  Sache  nnd  bringt  angeblich  immer  neue  Beweise  vor, 
die  freilich,  wie  fast  alle  Lombroso'schen  Beweise,  sehr 
fadenscheinig  sind.  Wenn  je  einer  die  Statistik  missbraucht,  so 
ist  er  es.  Bindert)  hat  ihn  geiner  2Ieit  schon  bezüglich  des  Genies 
wie  einen  A-B-C-Schützen  henintergemacht  und  kürzlich  erst  wieder 
hat  ihn  Löwen feld-^)  widerlegt.  Das  nützt  aber  Alles  nichts.  Lom* 

1)  Binder:  Das  I.  u.  H.  Gapitel aus  Lombroao'a  Bnch  «Der  geniale  Menadi'', 

Wüitr.  Medic,  Corre^ipürxlenzblatt  1S02,  und:  Das  letzte Capitcl  dea  Lombroso'adien 
liuclies  ^Der  geniale  Mensch",  neigst  ileii  Kr^'olunV.sen  eijreiier  Uuteniuchnngen. 
Ibidem,  lb94.  In  der  ganzen  Literatur  kenne  ieh  wenige  solche  niederschuiet- 
tenide  KrtÜken.  In  derselben  Weide  sollten  auch  die  übrigea  Werke  Lombroäo's 
betraditet  worden  und  ea  wfirde  davon  nicht  viel  mehr  flbrig  bleiben!  Gans  neuer- 
dings hat  auch  Locard  (Archivee  d'anthropologie  criminelle  ete.  1908,  1&  jnni) 
iu  milder  Weise  allerdings,  sieh  gegen  Lonihroso's  Genie-Lehre  ausgesprochen. 

2)  Löweufcld:  Ucber  die  geniale  Geistestbütigkeit  u.  s.  w.  Wiesbaden, 
Beigmann,  1903. 


228  XV.  2sl\cK£f  äiüd  wir  d.  auatomischen  Sitze  der  «Verbreciiorneigung''  u.  &.  w 

broso  kant  Beine  alten  Geachichten  wieder!  Dawelbe  gilt  auch  von 
den  Anarehiflien,  und  hier  bat  ihn  Bpitzka  sen.  wiederbolt  t&ditig  aof 
die  Finger  gekloj^ 

Mag  man  darüber  Btreiten,  ob  Lombroeo  wirklich  ein  Genie 
ist  oder  nioht  loh  m(k)hte  ihn  faat  dassn  reehnen,  freilich  für  ein  sehr 
nnregelinässigee  nnd  wenig  liebenswOrdigeSi  dessen  meistoB  Thnn 
später  Bioher  der  Vergessenheit  anheimfallen  wird.  Ihn  sdbfit  flber- 
kommen  Ton  Zeit  zu  Zeit  Boheinbar  Begüngen  einer  Art  von  Selbst- 
erkenntniss.  Doch  nur  sehr  selten;  er  tröstet  sich  dann  gleich  mit 
der  Zukunft  und  sitzt  sofort  wieder  auf  dem  hohen  Rosse.  So  fügt 
er  z.  B.  ol)i<rem  Satze  der  Note  sofort  folgende  Betrachtung  bei: 
„wenn  der  Moment  für  eine  Idee  in  einem  I^nde  noch  nicht  reif  ist, 
versteht  sie  Niemand,  und  um  ilie  Rathschläire  der  Kurzsiclitigen  bei- 
zubehalten, erneuert  sich  die  Fabel  vom  Vater,  Sühnchen  und  Esel/' 
Gewiss  ein  sehr  geschmackvoller  und  effectvoUer  Öatz,  der  aber  leider 
an  der  undankbaren  Welt  abprallt! 


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XVI. 

Einfloss  irriger  Bechtsanschannngen  bei  der  Begehung 

Yon  Verbrechen. 

loa 

Dr.  Jur.  Bndolf  XolliM. 

Während  friilicr  Recht  war,  was  die  Volksfrpriosson  für  Recht 
hielten,  ist  jetzt  Recht,  was  in  den  j^eschriebenen  Gesetzen  enthalten 
ist.  Der  Inhalt  der  geschriebenen  Gesetze  deckt  sich  aber  nicht  aller- 
wegen mit  der  Rechtsüberzeugung  des  Volkes.  Der  Gesetzesinhalt 
ist  überhaupt  nicht  Gemeingut  des  Volkes.  Zutreffend  weist  hierauf 
Krück  mann  (Die  Entfremdung  zwischen  Recht  und  Volk.  Leipzig 
1899)  als  aal  eiaen  Ifoataiid  hin.  In  Deatedilaiid  ist  dieser  Zustand 
anch  ganz  erklbrUch.  Die  Beohtseiiiheit  ist  hier  nur  erat  nnvoU- 
kommea  und  noch  nicht  alt  Die  frühere  Zenissenheit  war  einer 
Popnlaiisimng  des  Rechts  gewiss  hmdertich;  gegcnwSitig  ist  die  ab- 
stracte  Sprache  der  Oodificationen  ihr  sicherlich  nicht  förderlich.  So 
kommt  es  denn,  dass  im  Volke  mancherlei  irrige  Rechtsanschannngen 
verbreitet^  znm  Thett  weit  yerbreitet  sind. 

Selbst  über  iamilienrechtUche  Verhältnisse  bestellt  nicht  volle 
Klarh^t  So  wird  in  den  unteren  Schichten  der  Bevölkerung  ein 
Paar  nur  dann  für  verlobt  gehalten,  wenn  es  „in  der  Zeitung  ge- 
standen" hat  Wenn  er  nur  „mit  ihr  geht",  gelten  beide  nicht  als 
verlobt,  wenn  sie  sich  aueli  noch  so  ernsthaft  die  Ehe  versprochen 
haben.  Wenn  es  sich  daher  um  das  Zeiiirnissverweigerungsrecht, 
die  etwaige  JStraflosigkeit  einer  pM-i^iinstigung,  den  Strafantrag  bei 
Diebstahl  oder  Unterschlagung  handelt,  darf  man  sicli  mit  der  blossen 
J^Yage,  ob  der  A.  mit  der  R.  verlobt  sei,  nicht  begnügen,  sondern 
muss  das  zwi.sciien  ihnen  bestehende  Verhältniss  näher  erforschen. 
Auch  über  die  Eliehindernisse  und  ihre  Bedeutung  sind  die  Leute 
zumeist  nicht  unterrichtet.  Im  Herbste  1900  erschien  bei  mir  auf  dem 
Amtsgerichte  in  L.  eine  Fabrikarbeiterin  ledigen  Standes  und  erkttrte, 
der  Arbeiter  H.  habe  ihr  die  Ehe  versprochen,  nnd  sie  geschwängert^ 
stehe  aber  jetzt  im  Begriffe  eine  andere  zu  heirathen;  sie  beantrage^ 

AicUt  fir  Kiimluliatiirapok«!*.  Xlf.  16 


230 


XVL  MOTHM 


diese  Ehescliliessunf?  zu  verhindern.  In  ihr  lebten  wahrscheinlich 
Reminiscenzen  an  das  dem  modernen  Rechte  fremde  Ehehindemiss 
des  andervveiten  Verlöbnisses.  Sife  war  sehr  schwer  zu  belehren  und 
fast  entschlossen,  die  etwaige  kirchliche  Trauung  ihres  ungetreuen 
liebhaben  zu  stDien.  —  In  Ebeaeheidungsprooenen  begegnet  es 
nieht  selten,  daas  der  auf  Scbeidimg  Verklagte  Ebemann  die  Mist- 
bandlnngen,  die  er  der  Fran  zugefügt  hat,  damit  zu  rechtfertigen 
sneht,  daea  er  angidit,  nach  Lage  der  Umatlnde  b&tle  er  sieh  für' 
befugt  erachte^  von  „aeinem  Zfiehtigiingarecbte''  Gebrauch  zn  machen. 
Ein  ebemSnnlichea  ZÄcbtignngarecbt  ist  dem  modernen  Bechte  &emd. 
In  manchen  dentschen  Particularrechten  kam  es  jedoch  vor  (Stobbe- 
Lehmann,  Deutsches  Priyatrecht  3.  Anfl.  Bd.  4,  S.  63)  und  lebt  in 
der  Rechtsüberzeugnng  weiterer  Beydlkerungakre^  noch  fort.  Die 
Körperverletzungen,  die  an  Ehefrauen  tob  ihren  Männern  begangen 
werden,  werden  sich  häufig  auf  diea  yermeintliche  Recht  zurück- 
führen lassen. 

Das  Züchtigungsrecht  gejrcnüber  dem  Gesinde  ist  für  ganz  Deutsch- 
land durch  Art  95,  Abs.  3  des  EG.  zum  BGB.  abgeschafft  worden. 
Doch  ist  mir  in  letzter  Zeit  noch  manche  Hausfrau  und  mancher 
Gutsherr  begegnet,  die  davon  keine  Kenntniss  hatten  und  sich  nach 
wie  vor  für  berechtigt  hielten,  bei  Unfleiss  oder  Ungehorsam  des  Ge- 
sindes mit  einer  levis  castigatio  einzugreifen.  Ja  von  einem  Kitter- 
gutsbesitzer aus  dem  mehr  östlichen  Theile  Deutschlands  wurde  mir 
erzählt,  er  sei  ausserordentlich  erstaunt,  förmlich  in  seinem  Rechts- 
gefühle  yerletzt  gewesen,  ala  er  in  Folge  der  Anzeige  eines  von  ihm 
durchgepeitschten  E^nechtea  vor  Gericht  geatdlt  und  yerurtbeilt  worden 
war.  Die  HUle  der  Qeaindemiaahandinng,  die  zur  gerichtlichen  Ahn- 
dung gelangen,  smd  ja  im  Yeifaältniaae  zu  denen,  die  Torkommen, 
nicht  beaondera  zahlreich.  Dies  hat  seine  Ursache  zum  guten  Theile 
mit  darin,  daaa  in  den  Geaindekrdaen  die  Beseitigung  dea  herrschaft- 
lichen Zfichtigungarechtea  noch  weniger  bekannt  iat  wie  unter  den 
Dienstherrscliaften. 

Bei  den  Eidesdelicten  spielt  nicht  nur  der  Aberglaube  (zu  vgl. 
Sohnrey.  Der  Meineid  im  deutschen  Volksbewnsstsdn*  Leipzig  1894, 
S.  23ff.),  sondern  auch  die  Rechtsunkenntniss  eine  grosse  Rolle.  So 
glaubt  im  Civilprocesse  die  Partei  häufig,  sie  habe  mit  der  Norm  des 
ihr  auferlegten  Eides  nicht  die  Wahrheit  der  darin  bezeichneten  That- 
sache,  sondern  lediglich  ihre  Ueberzeugung  von  ihrem  Rechte  zu  be- 
schwüren (Fetersen-Anger.  Uvm.  2  zu  §  415  der  CPO.,  Str>lze],  Schu- 
lung. 1.  Aufl.,  S.  51,  Note  2).  Es  kostet  dem  Richter  bisweilen  Mühe, 
die  Schwurpflichtige  Partei  zu  belehren. 


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£inHuM  iniger  BechtsanschagiingMi  bei  der  Begehung  von  Verbrechen.  231 


Eine  eigenthümliche  Rechtsparömie  ist  mir  wiederholt  be^^egmet 
sie  lautet:  Dreie  schwüren  einen  meineidig.  Zuerst  habe  ich  sie  in 
der  sächsischen  I^usit/:  ^'ehört,  dann  auch  von  Berliner  Bauunter- 
nehmern und  Chemnitzer  liandwerkera,  die  vor  dem  Oberlandes« 
geriehte  in  D.  ab  Zeugen  Temommen  winden.  Ihr  Sinn  ist:  „Wu 
ein  Henscli  befehwoien  bat,  kann  nnr  dnreh  die  ddliohe  Aussage 
dreier  glaubwürdiger  Stengen  wideil^  werden.*^  Die  GefiUuliehkeif 
des  Satsee  lencbtet  ein.  Eine  ErkUmng  fftr  seine  Eotatehnng  babe 
ieh  nieht  finden  könnoi.  Vielleicbt  entbält  &  eine  BeminifloenE  an 
die  zwei  daasiachen  Zeugen  des  gemeinen  PtooeBses. 

Diese  waren  noch  lebendig  in  einem  Falle,  der  im  April  1902 
vor  dem  Amtsgerichte  in  D.  spielte.  Dort  weigerte  sich  eine  Frau 
ihre  Aussage  zu  beeiden,  „weil  bereits  zwei  gescbworene  Zeugen  das 
Gegentheil  ausgesagt  hätten."  —  Em  Irrthum  eigener  Art  trat  mir 
im  Januar  1903  bei  der  Vernehmung  einer  Zeugin  vor  dem  Ober- 
landesgerichte in  D.  ent;j:ej;en.  Die  Zeugin  war  bereits  in  einer  an- 
deren S.ache  über  dieselben  Thatsachen  vernommen  worden.  Da 
jedoch  damals  der  (Jegner  des  jetzigen  Beweisführers  die  Beweislast 
hatte,  so  war  das  Beweistheraa  seiner  Fassung  nach  das  contradic- 
torische  Gegentheil  von  dem  im  zweiten  Falle  vorliegenden  gewesen. 
Die  Zeugin  hatte  damals  das  Beweistheiua  im  vollen  Umfange  be- 
stätigt und  schickte  sich  auch  bei  der  neuen  Vernehmung  wieder  zu 
einer  Bestätigung  an.  Da  dies  befremden  musste,  bemühte  sich  der 
mit  der  Yemehmung  beauftragte  Biebter,  die  Saebe  an  ergründen. 
Es  BteUte  sieb  beians,  dass  die  Zeugin  glaubte,  sie  mfisse  auf  jeden 
IVO!  daa  ibr  naob  %  377,  Absats  2,  Ziffer  2  der  CPO.  in  der  lüdung 
mitgetbeilte  Beweistbema  bestätigen. 

Im  OffenbarungseidsTerbbren  begegnet  es  bäufig,  dass  die  Mani- 
festanten ibr  VermOgensTeReicbmBS  mit  dem  Yerspieoben  abscbliessen, 
dass  sie  etwa  darin  vergessene  Sachen  alsbald  anzeigen  wollen.  Naeb 
der  allgemeinen  Gerichtsordnung  für  die  preussischen  Staaten  gehört 
das  Versprechen  der  nachträglichen  Anzeige  in  die  Norm  des  Offen- 
bamngseides.  Seine  Nichterfüllung  stellte  §  162  des  Reichsstraf- 
gesetzbuches unter  Strafe.  Der  Offenbarungseid  nach  der  deutschen 
Civilprocessordnung  enthält  das  Versprechen  nicht  mehr,  ^fit  ihm 
bescinvfirt  der  Manifestant,  dass  er  sein  Vermögen  so  vollstiimli^;  an- 
gegeben habe,  als  er  dazu  im  Stande  sei.  Lebt  er  nun  der  Meinung, 
dass  die  Pflicht  der  nachträglichen  Anzeige  besteht,  so  wird  er  es 
mit  der  sofortigen  Angabe  des  Vermögens  nicht  so  ernst  nehmen,  wie 
das  erforderlich  ist  Die  Folge  wird  eine  fahrlässige  Verletzung  der 
Eidespflicht  sein.  —  In  vielen  Fällen  schien  es  mir  auch  so,  als 

16» 


232 


XVL  Homu 


schwöre  der  Schuldner  leichthin  den  Offenbaningseid,  weil  er  glaubte, 
or  befreie  flieh  damit  rmi  Minan  Schulden. 

Weit  verbleitet  ist  der  Irrtfanm,  da»  man  in  sonen  vier  Winden 
sagen  können  was  man  woUe,  ohne  in  Strafe  sn  veifidlen.  Die  Leute 
glauben  insbesondere,  daas  sie  wegen  einer  Beleidigung  oder  einer 
MiyestStsbeleidigung^  die  sie  im  yertraoten  Kreise  in  ihrer  Wohnung 
aussprechen,  nicht  verfolgt  werden  kOnnen.  Vielleieht  beruht  dieser 
Iirthum  darauf,  dass  erbüinrngsgemSss  die  Verfolgung  in  diesen  Flllen 
SU  unterbleiben  pflegt. 

Im  Recht  von  1902  S.  583  erwähnt  Soergel  eine  irrige  Ansicht, 
die  sich  gleichfalls  weiter  Verbreitung  erfreut,  nämlich,  dass  ein  Haus- 
friedensbruch  erst  vorliege,  wenn  der  Ilausfriedensberechtigte  dreimal 
zur  Entfernung:  aufgefordert  hat  Den  Gastwirthcn  will  ein  g:rosser 
Theil  des  Publiciinis  nur  ein  sehr  l)e8chränktes  Ilausfriedensrecht  zu- 
erkennen. Es  bestellt  die  Meinung:,  dass  ein  Gastvvirth  auf  Grund 
der  behördlichen  Schankerlaubniss  verpfliclitet  sei,  jedermann  in  seinen 
Schankräumen  zu  dulden  und  zu  bewirthen.  Es  geschieht  daher 
nicht  selten,  dass  ein  Oast  auf  sein  vermeintliches  Recht  pochend, 
sich  weigert  auf  die  Aufforderung  des  Wirthes  dessen  Räume  zu 
verlassen. 

Auch  in  Beziehung  auf  die  Eigentbumsverletzungen  bestehen 
manche  unzutreffende  Beehtsansichten.  So  weist  Bartolomftus  im 
Becht  (1900,  S.  365)  darauf  hin,  dass  in  nichtjuristischen  Kreisen  die 
Meinung  weit  verbreitet  ist,  dass  die  Wegnahme  einer  werthlosen 
Sache  kein  Diebstahl  sei.  Zutreffend  hebt  er  hervor,  dass  es  unsere 
Bechtsttberzeugung  nicht  duldet,  dass  Jemand  wegen  Entwendung 
einer  Stecknadel  oder  einer  Nussschale  bestraft  wird.  Ich  möchte 
hier  auch  auf  die  Stein-  und  Pflanzensammler  hinweisen.  Stone  und 
Pflanzen  sind  wesentliche  Bestandtheile  der  Grundstücke,  worauf  sie 
sich  befinden.  Dem  Sammler,  der  eine  Feuersteinversteinerung  vom 
Felde  oder  eine  Blume  vom  Raine  nimmt,  kommt  es  sicherlich  nicht 
zu  Bewusstsein,  dass  er  in  fremdes  Eigenthnm  eingreift.  In  vielen 
Gegenden  ist  das  Privateigenthum  am  Walde  noch  nicht  in  seiner 
vollen  Bedeutung  dem  Volke  zu  Bewusstsein  Lrekoninien.  Man  er- 
achtet es  dalier  auch  in  den  gebildeten  Ständen  nicht  für  Unrecht, 
in  fremden  Wäldern  ohne  Zustimmung  der  .Eigenthiimer  Pilze  und 
Beeren  zu  sammeln. 

Nach  §  69  des  Militärstrafgesetzbuches  für  das  Deutsche  Reich 
wird  wegen  Fahnenflucht  bestraft,  wer  sich  von  seiner  Truppe  ent- 
fernt, um  sich  seiner  gesetzlichen  Dienstpflicht  zu  entziehen.  Dem 
Fahneneide  kommt  hier  keine  Bedeutung  zu.  Ein  Soldat  kann  fahnen- 


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Einflnn  ixriger  Reohtaanaehaamigeii  bei  der  Begehnng  von  Veibredieo.  238 

flüchtig  werden,  auch  bevor  er  den  Fahneneid  geleistet  hat.  Gleich- 
wohl trifft  man  nicht  nur  bei  Mannschaften,  sondern  auch  bei  Offi- 
cieren  häufig  die  Ansicht,  dass  vor  der  LeistODg  eines  Fahneoeidee  eine 
Fahnenflucht  unmöglich  sei. 

Zu  den  im  Vorstehenden  aufgefülirten  Rechtsirrthüuiern  Hessen 
sich  bei  sorgfältigem  Sammeln  und  Beobachten  gewiss  noch  manche 
hinzugesellen.  Aber  nicht  nur  reehtlich,  sondern  auch  sittlich  unrich- 
tige Anschauungen  haben  oft  grosse  Bedeutung  bei  der  Begehung 
▼on  Verbrechen.  So  halten  es  bisweilen  Ehebrecher  für  eine  Art 
Bitterpfliehty  znr  Schonung  der  pfliohtreigessenen  Ehefrau  dadurch 
beizutragen,  da»  sie  den  Ehebruch  unter  Eid  in  Abrede  tteUem  In 
der  dentsehen  Jnriatenzeitang  (1902,  S.  246),  theOt  I>r.  Heller  mit, 
daas  die  Abtrdbimg  im  Volke  für  niohtB  UiuntÜicheB  gehalten  und 
demgemSsB  gaai  haimlos  vom  Arzte  gefordert  werden 


xm 


Zdi  Frage  der  Strai^roeesBrefoim. 

Euptntnii-Aiiffitor  Dr.  Oeorg  liolewor  in  Wm. 

£b  wild  seit  einiger  Zeit  wieder  vid  yon  StnfpfooeBsreform  ge- 
sprodieii  und  geschrieben,  die  Frage  der  geriohdidien  Yorunter- 
Bnehnng  steht  in  Discussion,  Deutschland  hat  Yor  wenigen  Jahrm 
eine  neue  Militärstnlg^chtsordnuDg  bekommen,  auch  mit  der  Eeform 
des  österreichisch-ungarischen  Militäistrafproceflses  scheint  es  ernst  zu 
werden,  und  der  von  Herrn  Janrös  wieder  aufgerollte  Dreyfuss- 
process  wird  gleichfalls  das  allgemeine  Interesse  auf  die  strafpro- 
ccssualen  Fragen  hinleiten.  Es  lässt  sich  nicht  bestreiten,  dass  auf 
dem  Gebiete  des  Strafprocesses  Vieles  ganz  und  gar  nicht  so  ist,  wie 
es  sein  sollte,  aber  ebenso  sicher  ist,  dass  Manches  von  diesem  Vielen 
nicht  anders  sein  kann.  In  jener  Beziehung  muss  zugegeben  werden, 
dass  viele  Verbrecher  noch  unentdeckt  benimlaufen,  d.ass  hingegen 
schon  Mancher  unschuldig  verurtheilt  oder  wenigstens  in  Unter- 
suchungshaft gehalten  wurde  oder  einer  minder  schweren  Gesetzea- 
yeiletzDng  halber  nieht  mar  die  entsprechende  geridifltehe  Strafe^ 
sondern  auch  daiBber  hinaus  unverhältidsBmjissigen  Naehtheil  an  Ehre 
oder  Vermögen  erlitten,  ja  vielldeht  sogar  seine  Existenz  dngebüsst 
hat  In  sweiter  Beziehung  muss  aber  daran  erinnert  werden,  dass 
aneh  der  beste  Strsf^oees  em  Menschenwerk  ist,  das  als  solches 
unanswdcfalich  von  Fehlem  behaltet  sdn  muss,  und  dass  er  tof- 
Sufig  nur  von  Menschen  gehandhabt  werden  kann,  solange  der 
Staat  in  der  Auswahl  seiner  Beamten  auf  diese  der  fehlerlosen  Yet' 
vollkomnmung  unzugänglichen  Lebewesen  beschränkt  ist 

Mehr  Schutz  dem  Beschuldigten,  mehr  Schutz  dem  Verurtheiltenl 
So  lautet  der  allenthalben  ertönende  Schlachtruf.  An  sich  gewiss 
eine  menschlich-schöne  Ix)sung,  eine  bestechend  schöne  Losung.  Aber 
in  dieser  ihrer  zweiten  Ei^'t  nNcliaft  liegt  ihre  Oefährlichkeit.  Wir 
wollen  yeiBucben,  dies  zu  begründen.  An  dem  Vorgehen  gegen  Ver- 


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Zur  Frage  dar  Stra^trooeflarefonn. 


286 


urtheilte  und  Beschuldij^te  liat  man  wohl  einen  trefflichen  Massstxib 
für  den  Geist  der  Zeit  und  für  deren  Ilunianitätsiilcc.  Die  entsetz- 
liclien  Strafen  und  die  torquirende  Untersuchungsmetliude  vergangener 
Jahrhunderte  passen  ebenso  in  das  geistige  und  seelische  Milieu  ihrer 
Zeit,  wie  der  Wandel  zum  Besseren  za  dem  der  Aufklärungsepoche 
zu  Ende  des  18.  und  Beginn  des  19.  Jahrhunderts.  Denkt  man  an 
die  vom  Gesetze  mit  sozusagen  harmloser  Gemttthlichkeit  als  „pein- 
liehe Frage**  henannle  Tortur  zur  Eizieiung  des  Gestfindnissee,  an  die 
Verbrechen  der  „HeKerey'*  und  «Zauber^**,  für  die  die  am  31.  I>e- 
eember  1768  erschienene  Theresianische  Gerichtsordnung  noch  ganz 
ernsthaft  nicht  nur  den  Thatbestand  anfiitdlt,  sondern  auch  noch  „Vet^ 
dachtsgrttnde**  an  die  Hand  giebt,  so  muss  man  sich  erschauernd 
feagen,  was  eigentlich  zu  jenen  Zeiten  grtteser  war:  die  Bohheit  oder 
die  Dummheit  der  Menschen.  £s  gehört  zu  den  schönsten  Errungen- 
schaften unserer  Zeit,  dass  wir  uns  bestreben,  human  und  wohl- 
wollend auch  gegen  jene  zu  sein,  die  gefallen  und  durch  eigene 
Schuld  aus  unserem  Kreise  ausgeschlossen  sind,  und  dass  wir  nicht 
ermüden,  auch  in  der  verworfensten  Bestie,  die  uns  in  Menschen- 
gestalt entgegentritt,  noch  irgend  etwas  Menschliches  zu  suchen.  So- 
weit sich  die  Ilunianität  mit  einem  vernünftigen  Strafzwecke,  wozu 
wir  in  erster  Linie  den  Schutz  der  Gesellschaft  gegen  das  Verbrechen 
und  die  Verbrecher  rechnen,  vereinigen  lässt,  sind  wir  für  ihre  An- 
wendung auch  dem  verworfensten  Verbrecher  gegenüber,  darüber 
hinaus  aber  müssen  wir  sie  unbedingt  ablelmen,  sonst  wird  die  Strafe 
zwecklos.  Jede  zwecklose  Strafe  ist  aber  an  sich  inhuman,  denn  die 
in  jedem  Strafflbel  liegende  Humanitätswidrigkeit  Ifisst  sich  nur  in- 
soweit rechtfertigen,  als  das  Stnfttbel  Mittel  zur  Erfttllung  des  Straf- 
zweckes ist  Dass  die  Strafe  Selbstzweck  sei,  ist  wohl  heute  ein 
schon  ilbmundener  Standpunkt 

Gehen  wir  nun  Über  zur  Fhige  der  Behandlung  des  Beschul- 
digten, von  dem  also  noch  nicht  feststeht,  ob  er  Überhaupt  ein  Ver- 
brecher ist  Haben  wir  schon  zugegeben,  dass  man  auch  dem  ttber^ 
wtesenen  Verbrecher  jede  mit  dem  Strafzwecke  vereinbare  Humanität 
angedeihen  lassen  muss,  so  müssen  wir  in  noch  weitreichenderem 
Maasse  dem  Beschuldigten,  der  ja  möglicher  Weise  ein  Unschuldiger 
sein  kann,  dieselbe  Rücksicht  zubilligen.  Es  fragt  sich  nur,  wie  weit 
diese  Rücksicht  gehen  soll  und  darf.  Und  t^uf  die  Gefahr  hin,  zu 
den  Reactionären  gezählt  zu  werden,  müssen  wir  uns  zu  dem  Grund- 
sat7.e  bekennen:  nicht  weiter,  als  es  der  Zweck  des  Unter- 
suchungsverfahrens, die  Wahrheit  und  insbesondere 
den  wirklichen  Tbäter  zu  erforschen,  gestattet   £s  ist  ja. 


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236 


XVil.  Leleweb 


unbestreitbar,  dass  die  Untennchiuigshaft  eine  harte  Maaflsregel  fllr 
den  Betroffenen  iat^  insbesondere  natttrlich  dann,  wenn  er  unschuldig 
ist;  dennoch  können  wir  ihrer  nicht  entrathen.  Könnte  der  Staat  mit 
seinen  Machtmitteln  unbedingt  verhindern,  dass  ein  auf  freiem  Fusse 
belassener  Angekleideter  die  Flucht  ergreift,  dann  brauchten  wir  aller- 
diD'^  keine  Untersuchungshaft  wegen  Fluchtgefahr,  könnten  wir  die 
Verabredung  eines  auf  freioni  FuSvSe  befindlichen  ßeschuldi^^ten  mit 
Complicen  und  Zeugen  verhindern,  so  brauchten  wir  keine  Unter- 
suchungshaft wegen  Collusionsgefahr.  Die  Erfüllung  dieser  und  so 
mancher  anderer  Bedingungen  scheitert  jedoch  an  der  inensclilichen 
Unzulänglichkeit,  und  so  sind  wir  im  Straf processe  ebenso,  wie  auf 
vielen  anderen  Gebieten  gezwungen,  von  zwei  Uebeln  das  kleinere 
zu  wählen,  weil  wir  in  der  Auswahl  unserer  Mittel  eben  auf  ^Uebel" 
beschränkt  sind.  Dazu  kommt  noch,  dass  gerade  nur  die  —  verhäitiiiss- 
mSsaig  wirklich  sehr  seltenen  —  Fälle  in  die  Oeffentlichkeit  dringen 
und  diese  erregen,  wo  einem  Unaoiiuldigen  oder  weniger  Sehnldigen 
ein  nicht  wieder  got  zu  machender  Naehtheil  zogefUgt  wurde,  und 
man  darf  sieh  auch  nieht  dadurch  verhltiffen  lassen ,  dase  auf  die 
grosse  Zahl  derer  hingewiesen  wird,  die  in  Untersuchungshaft  ge- 
halten wurden  und  dann  freigesprochen  worden  sind. 

Nach  der  amtlidien  Statistik  fiber  die  Ergehnisse  der  Osterreichi- 
•oben  Stra^eriehtspflege  im  Jahre  1898  wurden  im  genannten  Jahre 
47,099  Personen  aus  der  Verwahrangs-  oder  Untersuchungshaft  ent- 
lassen, d.  h.  in  Freiheit  gesetzt  oder  als  Vemrtheilte  der  Strafhaft 
überwiesen.  Hiervon  waren:  a)  23  143  Personen  oder  49,1  Proc, 
gegen  die  eine  Anklageschrift  wegen  Verbrechen  oder  Vergehen  gar 
nicht  eingebracht  wurde,  die  also  entweder  nur  wegen  Uebertretung 
dem  Bezirksgerichte  übergehen  oder  ganz  ausser  Verfolgung  gesetzt 
wurden,  und  h)  23  050  Personen  oder  50,9  Proc,  gegen  die  eine  An- 
klageschrift eiugebraclit  wurde.  Von  den  zur  Gruppe  a)  Gehörigen 
waren  in  Haft:  11  784  Personen  oder  51  Proc.  bis  zu  8  Tagen,  5256 
Personen  oder  22,7  Proc.  von  8  — 14  Tagen,  3676  Personen  oder 
15,9  Proc.  über  14  Tage  bis  zu  l  Monat,  1669  Personen  oder  7,2  Proc, 
über  1  bis  zu  2  Monaten  und  758  Personen  oder  3,2  Proc  über  zwei 
Monate.  Von  den  zur  Gruppe  b)  Gehörigen  waren  in  Halt:  7000 
Personal  oder  29,2  Proc  bis  zu  8  Tagen,  5S14  Personen  oder  23  Proc 
Aber  8  bis  zu  14  Tagen,  6300  Personen  oder  26,3  Proc  Aber  14  Tage 
bis  zu  1  Monat,  3319  Personen  oder  13,9  Proc  flber  1  bis  zu  2  Ho* 
naten  und  1823  Personen  oder  7.6  Proc  länger  als  2  Monate 

Von  je  100  Angeklagten  waren  35  in  Haft,  Yon  je  100  Ange- 
klagten wurden  15,5  freigesprochen. 


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Znr  Frage  der  Stra^rooeaueform. 


237 


Eine  objective  WUrdigung  dieser  Zifforn  ergiebt,  dass  wohl  ein- 
zelne Härten  bie  und  da  vorgekommen  sein  können,  dass  aber  die 
in  letzter  Zeit  vielfach  erhobenen  Klagen  und  Anwürfe  im  Grossen 
und  Ganzen  durchaus  nicht  gerechtfertigt  sind. 

Jeder  praktische  Kriminalist  wird  uns  wohl  l)eistimnien,  wenn 
wir  behaupten,  dass  ein  sehr  beträchtlicher  Theil  der  Freigesprochenen 
nicht  freigesprochen  wurde,  weil  sie  unschuldig  waren,  sondern  nur 
darum,  weil  man  die  Tbatsacbe  ihrer  Schuld  nicht  bis  in's  letzte 
Detail  naohweisen  konnte  oder,  weil  sie  trota  scUagendstsr  Sohnid- 
beweise  Ton  einer  das  Biehteramt  als  GnadeDamt  auffassenden  Ge- 
sohworenenbank  „begnadigt**  worden.  Da  finden  sieh  dann  genng 
Lente»  die  unendlich  befriedigt  und  erfreut  sind,  dass  die  Richter  und 
der  Staatsanwalt  „sich  iigem''.  Nun,  wir  woUen  hoffen,  dass  sie 
sidi  ebenso,  wie  sile  weiter  denkenden  Leute  Aber  einen  ungerechten 
Sprucb  ärgern,  sei  er  Terurtfaeilend  oder  freisprechend,  und  wehe  dem 
Staate,  wo  den  Justizorganen  ein  ungerechter  Spruch  gleichgültig 
bleibt  Wer  leidet  unter  Fehlurtheilen  in  erster  Linie?  Der  Richter 
oder  die  Gesellschaft?  Auch  sahen  wir  noch  keinen  Humanitäts- 
apostel, bei  dem  die  Befriedigung  über  den  „Aerger**  des  Staats- 
anwalts auch  dann  bei  einem  Freispruche  vorgehalten  hätte,  wenn 
er  selbst  zufällig  der  durch  die  strafbare  Handlung  Beschädigte,  etwa 
der  Bestohlene  oder  der  Vater  der  genothzüchtigten  Tochter  war. 
Der  unabhängigkeitsdurstige  Staatsbürger,  der  in  jeder  in  Sehweite 
befindlichen  Polizeihelnispitze  eine  unerträgliche  Beeinträchtigung 
seiner  stiiatsgrundgesetzlich  gewährleisteten  Freiheitsrechte  erblickt, 
kann  sich  gewöhnlich  nicht  genug  darüber  aufregen,  da&s  ,,man  auf 
der  Strasse  nie  einen  Wachmann  sieht'^,  wenn  beispielsweise  ein 
Automobilist  seinen  zu  Folge  vorgeschrittener  Altersschwäche  und 
Fettsucht  invalid  gewordenen  Hops  ttber&bren  und  sieh  dann  ans 
dem  Staube  gemacht  hat,  ohne  den  zwei  Gassen  entfernten  Stehposten 
▼orher  yon  dem  berorstehenden  Todtschlage  versUndigt  zu  haben. 
Jedermann  trachtet  doch  yemfinftiger  Weise,  die  Mittel,  die  er  znr 
Eneichung  seiner  Zwecke  gewählt  hat,  nicht  nur  nach  Möglichkeit 
SU  Terbessem,  sondern  anek  sie  ron  allen  ihre  Anwendung  beeinp 
trachtigenden  Hindernissen  freizumachen.  Die  Gesellschaft  aber,  die 
Polizei  und  Gerichte  zu  ihrem  Schutze  organisirt  hat,  trachtet  in 
Wort  und  Schrift  und  That,  den  Organen  der  Strafverfolgung  die 
Hftnde  zu  binden,  und,  statt  sich  an  den  staatsgrundgesetzlich  ge- 
gebenen Schranken  obrigkeitlicher  Willkür  für  den  Normalfall  ge- 
nügen zu  lassen,  will  sie  die  Actionsfäliigkeit  der  Strafverfolgungs- 
organe 80  weit  einengen,  bis  es  diesen  uumöglicb  wird,  ihre  Aufgabe 


238 


XVIL  LSLKWEB 


zu  erfüllen.  Käme  diese  Tendenz  zum  DurchbrucbCf  so  wäre  die 
praktische  Consequenz  einerseits  eine  odiose  Prämie  filr  den  reuigen 
und  geständigen  Vertmohery  da  nur  nodi  dieser  der  Stmfe  zugeführt 
werden  k9nnte,  andererseite  ^ne  Vorniehtang  jedes  EhrgeizeB  und 
aller  Bemfsfreade  der  öff entliehen  Organe,  denn  wer  sollte  in  einer 
Thätigkdt  aufgeben,  welcher  tttehtige  und  fShige  Hann  sollte  sich 
einem  Berufe  nodi  zuwenden,  wo  die  Bedingungen  you  Hans  aus 
den  Erfolg  ansschliessen.  Will  man  also  den  Beschuldigten  vor  ^Hll- 
kür  und  Missbnnoh  der  obrigkeitlichen  Gewalt  schfitien  —  und  em 
solcher  Schutz  soU  und  muss  gewährt  werden  —  dann  muss  man 
andere  Wege  und  Mittel  suchen,  als  die  Lahmlegung:  der  poli2sdlichen 
und  gerichtlichen  Thätigkeit.  Mit  Gesetzen  und  Vorschriften  ist  da 
nichts  gethan.  Treffend  sagt  Meister  Gross  in  seinem  Aufsatze  „Zur 
Frage  der  gerichtlichen  Voruntersuchung"  (3,  Tieft  des  10.  Bandes  des 
Archivs,  S.  259),  dass  wir  ^über  die  Idee  von  dem  ,sich  selbst  an- 
wendenden Gesetze'  doch  schon  lange  hinaus  sind.** 

Wir  wiederholen  in  diesen  Zeilen  eigentlich  nur  das,  was  Gross 
am  eben  bezeichneten  Orte  berufener  und  besser  gesagt  hat,  aber 
trotzdem  wir  uns  dessen  bewusst  sind,  wiederholen  wir  es  doch,  weil 
man  es  nicht  oft  genug  in  dieser  Zeit  sagen  kann,  die  wieder  einmal 
dabei  augelangt  ist,  alles  Ueil  vou  der  Reglementirung  zu  erwarten. 
Besonders  im  Kriminaldienste  nützen  die  Mittel  und  Mittelchen  nichts. 
Wenn  sieh  der  Kriminalist  nicht  durch  seme  Kenntnisse^  seinen  Ehr- 
geiz und  sein  Gewissen  den  rechten  Weg  weisen  Ifisst,  so  werden 
auch  die  schönsten  Vorschriften  yersagen.  Wohl  sind  gute  Gesetse 
und  Vorschriften  Ton  grosser  Bedeutung,  you  ungleich  grosserer  aher 
die  Qualitäten  der  sie  anwendenden  Penonen.  Deshalb  sind  es  diese 
in  erster  Linie,  denen  du  vemfinftiger  und  erfolgrersprechender  Be- 
formgedanke  seine  FQisoige  zuwenden  muss.  Man  yeiiange  einer- 
seils  vom  Kriminalisten  mit  Strenge  herrorragende  Qualitäten  in  jeder 
Biehtnng,  statte  andererseits  die  Stellung  des  Kriminalisten  materiell 
und  social  so  auB>  dass  die  Besten  und  Tüchtigsten  es  der  Mtthe  und 
ihrer  Leistungen  werth  finden,  diesen  Beruf  zu  ergreifen,  und  man 
wird  —  bei  dem  grossen  Angebote  juristischer  Arbeitskräfte  —  Be- 
werber in  so  grosser  Zahl  finden,  dass  man  die  Tüchtigen  und  Ge- 
eigneten wählen  kann  und  nicht  nu^hr  darauf  beschränkt  sein  wird, 
nur  an  die  Besetzung  der  Aperturen  denken  zu  müssen  und,  statt 
einen  wirklichen  und  fähigen  Kriminalisten  anzustellen,  lediglich  den 
freigewordenen  systemisirten  I)iL'nsti)Ostcn  zu  besetzen.  Und  nicht 
nur  vom  Untersuchungsrichter  allein  gilt  dies,  sondern  auch  —  mutatis 
mutaudis  —  vom  Gerichtsschreiber,  von  Polizeiorganeu  aller  Dienst- 


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Znr  Frage  der  Stra^roceBsreform. 


239 


grade  und  DienststelluDgen,  yom  Gendarmen  nnd  nicht  zuletzt  yom 
Sachverständigen,  diesem  alter  ego  des  Kriminalisten. 

Zum  Schlüsse  noch  einig:e  Worte  über  das  Thema  der  Unter- 
such im  trshaft:  Auch  wir  verlangen  gesetzlich  festgelegte  Beschrän- 
kunjren  der  Anwendung  dieses  strafprocessualen  Mittels,  aber  wir  be- 
grenzen diese  Beschränkungen  dahin,  dass  sie  den  Zweck  des  Unter- 
suchungsverfahrens, die  Wahrheit  zu  erforschen,  nicht  beeinträchtigen 
dürfen.  Auch  in  dieser  Beziehung  liegt  die  beste  Gewähr  gegen 
Misebräuche  und  Härten  in  der  Tüchtigkeit  und  Gewissenhaftigkeit 
des  Biehten.  Ein  Untersuchungsrichter,  der  über  dem  Straf  falle 
Mki,  wild  oft  auf  die  üntonaehungshaft  yemditen,  weil  er  andere, 
diieot  wizkende  Mittel  zur  Erfonchung  der  Wahrheit  erkannt  hal, 
und  wenn  er  auch  die  UnterBuohungshaft  Terhftngt  hat,  wird  er 
dureh  seine  nelbewusBte  Aibdt  die  Dauer  deor  ünterBuohungBhaft  auf 
eu  mOgliehst  geringes  Maass  heiabdrftoken.  Der  unsieber  tastende 
Riehter  aber,  der  des  lUlea  niebt  Herr  werden  kann,  „sioh  nieht 
auskennt",  aber  doefa  das  GefBhl  ha^  i^dass  etwas  geschehen  mass**, 
befriedigt  seinen  Thatendrang  mit  der  nächstliegenden  und  für  den 
Augenblick  einfachsten  Verfügung,  das  ist  mit  der  Yerhängung  der 
Untersuchungshaft.  Da  er  natnrgemäss  auch  Unger  brauch  t,  u m  mit  der 
Untersuchung  zu  einem  mehr  oder  weniger  gedeihlichen  Ende  zu 
kommen,  dauert  auch  die  Untersuchungshaft  entsprechend  länger.  Uni 
solchen  Missständen  zu  entgehen,  haben  wir  zwei  Auswege:  entweder 
die  Untersuchungshaft  abzuschaffen  oder  nur  tüchtige  Untersuchungs- 
richter heranzuzielien.    Die  Wahl  kann  da  nicht  zweifelhaft  sein. 

Was  schliesslich  die  Frage  der  Untersuchungshaft  wegen  Gefahr 
der  Wiederholung  des  Delictes  anbelangt,  so  haben  wir  Kriminalisten 
daran  kein  unmittelbares  Interesse,  da  diese  Maassregel  im  Wesen 
lediglich  polizeilicher  Natur  ist  und  mit  dem  eigentlichen  Unter- 
suchungszwecke, der  Wahrheitserforschung,  nichts  zu  tbun  hat  Wenn 
die  Gesellsehaft  es  also  für  human  und  reoht  findet^  einem  sieher- 
heitsgefthrliehen  Individuum  die  HSglichkeit  sur  Begehung  neuer 
Gesetzesrerietzungen  und  zur  Endelung  noch  grosserer  Stralwürdig- 
keit  zu  bewahren,  den  friedlichen  Staatsbürger  aber  zugleich  den  An- 
griffen dieses  Individuums  noch  weiter  auszusetzen,  kann  dies  den 
Kriminalisten  als  solchen  kalt  lassen.  Eher  wird  er  vieUeicht  sogar 
gelegentlich  der  üntersnehung  des  zweiten  DeHctes  willkommene  Ver- 
dachtsmomente (Aehnlichkeit  der  Ausführung  beider  Delicto  u.  8.  W.) 
für  die  erste  Untersuchung  finden.  Wir  verzicliten  also  gerne  auf 
die  Untersuchungshaft  wegen  Wiederholungsgefahr,  und  wenn  der 
See  der  UeberhumanitSt  sein  Opfer  haben  wiU,  dann  nehme  er  dieses. 


XVIII 


fieohteaiiflnge  bei  den  Grönländern  nach  STerdmp. 

Tob 

D.  P.  Baron  OwM»  in  Nenenahr. 

Die  KriminaUinthiopologie  mnss  als  Einleitang  eineneitB  die 
BechtsanBohawiiigen  der  ältesten  erschliessbaren  Völker,  andererseits 
diejenigen  der  primitiysten  Völker  betrachten.  Beides  entspricht  mehr 
oder  weniger  den  ursprünglichen  Kechtsbegriffen ,  aus  denen  heraus 
genetisch  eine  Reihe  von  Ent\vicklun<::sstufen  durchlaufend  die  mo- 
dernen Rechtsanschanungen  der  Culturmenschen  entstanden  sind. 

Der  Polarforscher  Sverdrup  in  seinem  Werke  ^Neues  Land** 
führt  uns  in  seiner  ersten  Lieferung  gelegentlich  die  Grönländer  vor, 
und  aus  seinen  lebendigen  Schilderungen  ist  zu  ersehen,  dass  diese 
Grönländer  noch  recht  primitive  Rechtsanschauungen  eines  Natur- 
volkes besitzen.  Die  Belege  dafür  seien  darum  hier  als  Beitrag  zur 
Kriminalanthropologie  reproducirt. 

Der  QiSnUiider  eneheiut  im  Grundzug  demokralisoh  Temnlagt, 
gleiches  Beoht  zu  verlangen  und  zu  gewähren,  soweit  von  Beoht  die 
Bede  sein  kann. 

Hans  Edge,  der  einstige  ehristliehe  Bekehier  Grönlands  ¥niide 
einst  Ton  einem  „GrossOnger^  besacbt,  den  er  durch  die  Fordemng 
blinden  GHanbens  an.  die  ehristliehe  Lehre  bekehren  wollte.  Der 
GrOnttnder  hörte  aber  allem,  was  Bdge  enShltOi  geduldig  zu  und 
veränderte  während  des  ganzen  langen  Vortrages  keine  Miene.  Als 
Bdge  endlich  fertig  war,  erhob  sich  jener  und  sagte: 

„Nun  will  ich  erzählen.  Ich  war  hoch  oben  im  Eise,  da  kam 
ich  an  einen  grossen  Fjord  und  da  traf  ich  einen  so  grossen  Bären, 
dass  ihm  ewiges  Eis  auf  dem  Rücken  wuchs!' 

Hans  Edge,  dem  die  Pointe  dieser  Erzählung  nicht  gefiel, 
wurde  hüse  und  schimpfte  den  Mann  in  so  schönen  Worten  aus,  als 
er  sie  nur  iiiinior  gelernt  hatte. 

Da  sagte  dieser: 


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EechtBanfSnge  bei  den  GrSalindem  nadi  Sverdrap. 


841 


^Du  verlangst,  dasä  ich  Dir  glauben  8oU|  so  glaube  auch  Du 
mir!* 

Damit  ging  er. 

Diee  findet  noh  auf  S.  20  und  21.  Auf  S.  18  sagt  STordrnp: 

Düse  HenBchen  nnd  von  der  Heidenzelt  her  gewöhnt,  sich  ge- 
memaam  nm  ihre  Nahrung  abzumühen,  ihren  Fang  zu  erbeuten,  wo 
sie  ihn  finden  und  ihn  unter  rieh  zu  theilen,  ohne  sieh  sondodich 
um  Mein  und  Dein  zu  kflmmem. 

Einfache  Gutmüthigkeit  der  Bevölkerung  in  DInisch-GiOnland 
scheint  der  Grund  zu  sein,  dass  Mord  (S.  20)  zu  den  grössten  Selten- 
heiten gehört  In  der  ganzen  dänischen  Zeit  sind  nach  Sverdrup's 
Erkundigungen  in  Dänisch-Grönland  nicht  mehr  als  zwei  Mordthaten 
vorgekommen.  Dass  aber  auch  die  Rechtsanschauimgen  über  das 
Leben  des  Nebenmenschen  im  Allf^emeinen  recht  primitiv  unentwickelt 
sind,  beweisen  die  Zustünde  in  Angmaksalik  an  der  OstkUfite,  wo  die 
Leute  viel  streitsüchtiger  sind. 

Von  einem  Manne  aus  Anj^maksalik,  der  um  Tabak  zu  holen, 
die  lange  Reise  nach  Däniscli-Grönland  machte,  wird  erzählt,  er  habe 
sich  vorgenommen,  an  jedem  Wohnplatze,  den  er  südwärts  län^s  der 
Kübtu  antreffen  würde,  einen  Manu  zu  erschlagen.  Dies  bat  er  auch 
mit  grosser  Gewissenhaftigkeit  gethan.  Doch  als  er  und  seine  Be- 
gleiter sich  Dänisch-Grönland  zu  nShem  begannen,  sahen  die  Kame- 
raden, die  sehon  früher  dort  gewesen  waren,  em,  dass  dergleichen 
anf  dinischem  Boden  nicht  angehen  wflrde.  üm  wdteren  Unan- 
nefamliohkdten  Torzubeogen,  beschlossen  sie  dahw,  ihn  selber  todt 
zu  schlagen.  Gesagt,  gethan. 

Die  Beschleunigung  des  Todes  alter  oder  sterbender  Leute  gilt 
nicht  als  Mord,  auch  nicht  im  christlichen  dänischen  Grönland  (S.  19). 

Ein  alter  Glaube  befiehlt,  dass,  wenn  Jemand  im  Hause  stirbt^ 
dieses  abgerissen  werden  niuss,  sonst  giebt  es  ein  Unglück.  Ob  dieser 
Glaube  aus  der  Zeit  der  Kinderblattern  stammt  oder  uralt  ist,  weiss 
ich  nicht,  aber  eine  Thatsache  ist  es,  dass  man  die  Eltern,  wenn  sie 
sehr  alt  geworden  sind,  oder  einen  Sterbenden  ohne  Weiteres  lebendig 
in's  Meer  wirft.  Das  Verfahren  ist  recht  einfach.  Man  legt  einen 
Strick  um  den  Betn  ffcndt  ii,  zieht  ihn  anji:ekleidet  aus  dem  Hause 
nach  dem  Strande,  tjindet  ihm  Steine  an  Kopf  und  Füsse  und  lässt 
ihn  dann  untergehen. 

Ebenso  wie  Frivateigenthuni  und  das  Leben  des  Nebenmenschen 
nicht  mit  liechts.sentinientalitiit  respectirt  werden,  ebenso  wenig  ge- 
schieht dies  mit  der  Ehe,  welche  natürlich  der  Form  nach  christlich 
monogam  ist. 


342    XVIII.  OsFELE,  Eechtaanfftnge  bei  dea  UrönläDdem  nach  Sverdrap. 

Der  Grönländer  ist  in  semen  EBmilienTerbftltnissea  ausserordent- 
lieh  naiv  und  unbefangen;  es  haltet  noch  immer  vuA.  Heidnisehee  an 
dem  Volke. 

ÜHemand  eehimt  aoh,  Kinder  anaaer  der  Ehe  zu  haben.  Im 
Gegenthol,  kann  ieh  beinahe  sagen.  Unter  den  VerhSltniaaen  dieaes 
LandeBi  bd  der  weit  zeiatrenten  BeTÖlkerong  nnd  der  langaamen 
Yermehrong  ist  ein  Kind  ein  Capital,  beaondeia  ein  Knabe.  Eine 

Wittwe  mit  zwei  Söhnen  güt  für  reich,  und  ein  Mädchen  mit  einem 
Kinde  kann  mit  weit  g^rösserer  Sicherheit  daianf  reehnen,  aieh  an  ver- 
heiratben,  als  eines,  das  kein  Kind  hat 

Aoeh  in  der  Ehe  geht  es  recht  ursprünglich  zu.  Diese  Menschen, 
nehmen  ee  auch  in  der  Ehe  mit  dem  Eigenthumsrechte  nicht  ao 
genau. 

Das  ^Frauentauschspiel",  l)ei  dem  die  I^inpen  aiisfrelöscht  werden 
und  jeder  Mann  im  Dunkeln  eiue  Frau  hascht,  ist  ein  Ueberreet  ans 
jenen  rohen  Zeiten. 

Es  ist  ein  ungemein  weit  ausgedehnter  Amtskreis,  den  ein  grön- 
ländischer Prediger  zu  versehen  hat.  Obwohl  er  sich  einen  Kate- 
cheten zur  Hülfe  hält,  kommt  es  oft  vor,  dass  er  nicht  im  Stande  ist, 
die  verschiedenen  kirchlichen  Amtshandlungen  rechtzeitig  zu  ver- 
richten. Der  Katechet,  der  zugleich  Lehrer  nnd  Oaator  ist,  beaoigt 
zwar  die  Beerdigungen,  aber  Trauungen  nnd  Tanfen  mnaa  der  Paater 
aelbat  ToUziehen. 

Daher  iat  ea  gar  nicht  ungewöhnlich,  daaa  „Ehel«ite''  in  den 
abgelegenen  Theden  dea  Landea  lange  nngetiant  bleiben;  ja,  ea  iat 
▼oigekommen,  daaa  einer  yon  Ihnen  oder  gar  alle  Beide  acbon  todt 
wann,  ehe  der  Paator  zu  ihnen  kam,  nm  aie  zu  tränen. 

Aber  es  geht  auch  so. 

Im  Uebrigen  sind  die  Grönländer  nette,  friedliche  Leole,  die 

keüiem  Menschen  etwas  Böses  thun. 

Ihre  Streitigkeiten  schlichten  sie  durch  den  sogenannten  Trommel- 
tanz, bei  dem  der  stärkste  Ausdruck  des  Streites  Scheltworte  sind, 
und  als  Sieger  güt  der,  der  seinen  Gegner  am  meisten  herunter- 
gemacht hat. 

Von  bewussten  Ilechtsan8chauuug:en  kann  hiernach  eigentlich 
nicht  die  Rede  sein.  Es  zeigen  sich  nur  die  ersten  Ansätze  dazu. 
Reisebeschreil)uiif;en  aus  anderen  (lebieten  könnten  in  gleicherweise 
nach  der  Gestaltung;  der  primitivsten  Rechtsformen  durchsucht  werden. 
So  kann  zu  einer  umfassenden  Krimiualanthropologie  einstweilen  das 
nöthige  Baumaterial  gesammelt  werden.  Und  wenn  gebaut  werden 
soll,  so  ist  diea  Maierial  für  das  Fundament  zuerst  nothwendig. 


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XIX. 


lieber  Gedankenlesen, 

Hsai  SehxMlalMrt,  BeditspraktUumt  in  Uflndien. 

Einleitung;.  —  Wie  werden  Gedanken  üliertraj^eny  — 
Welches  sind  die  psychologischen  Voraussetzungen  zum 
Gelingen  der  Gedankenübertragung?  —  Ist  die  Aus- 
übung des  Gedankenlesens  eventuell  strafbar?  —  Lassen 
sich  auch  auf  rein  psychologischem  Wege  Gedanken 
lesen?  —  Schluss. 

Xiomand  kann  die  Gedanken  eines  Mcnsclien  errathen,  wenn  er 
nicht  eine  untrügliche  Stütze  in  dessen  Gesten  und  Geberden  hat, 
oder  wenn  er  nicht  in  mn  eniotechn  iscli  er  Verbindung  mit 
einem  Dritten  steht,  der  die  Person,  deren  (iedanken  von  ihm  er- 
rathen werden  sollen,  auf  ganz  bestimmte  Gedanken  lenkt.  So  kommt 
es,  dass  das  Gedankenlosen  wegen  seiner  grossen  Unterhaltungsfähig- 
keit gern  m  Gesellschaften  aller  Art  geübt  wird.  Wie  aber  alle  Kunst- 
griffe zu  erlaubten,  zu  guten  Zwecken  dienen  können,  so  können  sie 
aber  auch  zu  unerlaubten,  zu  scbleohten  Zwecken  dienen.  Der  Kri- 
minaliat  hatte  z.  B.  erst  in  der  letzteren  Zdt  G^eg^eit,  dies  ans  dem 
Beriiner  Sensationsprooess  „Anna  Bothe,  das  Blnmenmedinm"  zu 
erfahren,  in  dem  die  Behauptung  anfgetancht  isl^  dass  dieses  Medium 
in  mnemotechnischer  Verbindung  mit  ihrem  Impresario  Jentsoh 
gestanden  haben  mfisse^  Näheres  konnte  man  aber  nicht  nachweisen, 
was  vieUeieht  nicht  in  letzter  Linie  die  Flucht  des  Impresarios  yer> 
ursacht  haben  mag.  Ich  beschäftige  mich  schon  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  mit  den  Hülfsmitteln  der  geheimen  Verständigung 
und  ynH  im  Nachstehenden  meine  auf  diesem  Gebiete  genuushten  Beob> 
achtungen,  insbesondere  über  die  Kunst  des  Gedankenlesens,  schildern. 

Vor  etwa  zwei  Jahren  besuchte  ich  hier  mehrmals  die  Vorstel- 
lungen eines  Gedankenleserpaares.  Gleich  hier  will  ich  bemerken, 
dass  es  sich  bei  dieser  Kunst  immer  nur  um  zwei  Personen  handelt, 
wovon  die  eine  mit  oder  ohne  verbundene  Augen  auf  der  Bühne  oder 


244 


XIX.  ScHMmCKKBT 


eineni  erhöhenden  Podium  dem  zur  steten  „Oontrole"  aufgeforderten 
Publieam  gegenübersitzt,  die  andere^  der  „Impresario"  oderGedanken- 
fibertrager,  im  Pablicnm  umhergeht  und  nadi  Wnnseh  die  Gedanken 
des  Einzelnen  dem  Gedankenleser  —  zumeist  ist  das  „Hedinm*'  eine 
Fhinensperson  —  tlbertrSgt  Ulan  wurde  bei  jenen  Vorstellungen  zu- 
nSehst  aufgefordert,  ein  Schriftstück,  eine  Legitimationskarfte  oder 
etwas  Aehnliches  vorzuzeigen,  worauf  der  ImpireBario  einzelne  darin 
vorkommende  Wörter  oder  Xamen  zum  Bewusstsein  der  Gedanken- 
leserin  brachte,  die  sofort  die  betreffenden  Wörter  und  Namen  aas- 
sprach, natürlich  zur  Verwunderung  des  „verblüfften"  Publicums. 
Um  nun  den  „Kunstgriff"  dieser  Gedankenübertragung  ausfindig  zu 
machen,  besuchte  ich  an  verschiedenen  Tagen  dieselbe  Vorstellung, 
zei{2:te  jedes  Mal  dieselbe  Legitimationskarte  dem  Impresario  vor, 
der  durch  den  kurzen  Inhalt  dieser  Karte  gezwungen  war,  das  „Me- 
dium'' jedes  Mal  dieselben  (von  ihm  übertragenen)  Wör- 
ter aussprechen  zu  lassen.  Beim  dritten  Besuche  der  Vorstellung  be- 
merkte ich  schon,  dass  der  Impresario  mit  den  ganz  gleichen 
Worten  wie  das  erste  und  zweite  Mal  dii*  Gedankenleserin  auf- 
forderte, die  in  der  Hand  des  Impresarios  befindHche,  von  mir 
überreichte  Karte  nach  deren  Inhalt  zu  beschreiben.  Es  war  mir 
sofort  klar,  dass  zwischen  den  beiden  Gedankenlesern  ein  auf  Ver- 
abredung  beruhendes  Alphabet  zur  Anwendung  kam  in  der 
Weise,  dass  jeweils  ein  bezw.  mehrere  vom  Impresario  auszuspre- 
chende, an  die  Gedankenleserin  gerichtete  Worte  der  „Aufforderung 
zum  Gedankenlesen''  1  Buchslaben  (eventuell  auch  2—3  Buchstaben, 
z.  B.  s,  sp,  soh),  des  vom  Medium  zu  „lesenden"  Wortes  bedeuteten. 
Diese  Art  der  üebertragung  der  Gedanken  bezw.  der  „gedachten** 
Wörter  und  Namen  der  Karte  erklärte  sich  auch  daraus,  dass  das 
Aussprechen  des  betreffenden  Wortes  durch  das  Medium  stets 
langsam  und  nach  Silben  erfolgte,  woraus  zu  schliessen  ist,  dass 
auch  die  Gedankenübertragung,  das  Gedankendictat  des  Impresarios 
grundsätzlich  nach  Silben  geschah,  was  erst  recht  erforderlich  er^ 
scheint  durch  den  noth wendigen  Gebrauch  langer,  die  Aufforde- 
rung zum  Gedankenlesen*'  enthaltender  Phrasen,  namentlich  winm 
mehrsilbi^a'  \\'ürttT  zu  übertrai^en  smd.  Der  Name  „Hans"  wurde 
z.  B.  übertragen  mit  den  Worten:  „Nennen  Sie  mir  schnell  noch  den 
Namen!""  Selbstverständlich  kann  auch  die  irewechselte  Stellung 
gewisser  vereinbarter  \\  iirter  ihre  Bedeutung;  haben,  so  dass  z.  B.  die 
A'uffordenmgen:  ,,Noch  schnell  den  Namen  nennen  Sie  mirl*'  oder: 
„Noch  den  Namen  schnell!"  wieder  ganz  andere  Buchstaben,  Silben 
oder  WOrter  auszudrücken  bestimmt  werden. 


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Ueber  Geiiaiikeulesen. 


245 


Em  weiterer  Tricy  bei  dessen  Anwendnng  aber  gar  nichts  vom 
Impfesario  gesprochen  wird,  diente  bei  folgendem  Experiment  als 
Mittel  der  Gedankenttbertragang:  Der  Impresario  Hess  von  einem 
Herrn  aus  dem  Pablicum  eine  Visitenkarte  in  eine  Schatulle  legen, 
welche  alsbald  yerschlossen  wnrde^  d.  b.  erst  nachdem  der  Impresario 
den  darauf  stehenden  Namen  —  möglichst  unauffällig  —  gelesen 
hatte.  Nach  einiger  Zeit  nannte  —  diesmal  also  ohne  vorherige 
mündliche  Aufforderung  seitens  des  Impresarios  —  die  Ge- 
dankenleserin den  auf  der  erwähnten  Karte  stehenden  Namen.  Die 
Gedankenübertragung  ging  bei  diesem  Experiment  so  von  statten: 
Bei  lautloser  Stille  ging  der  Impresario,  nachdem  er  den  Namen 
gelesen  und  die  Karte  in  der  Schatulle  verwahrt  hatte,  in  der 
Nähe  der  Gedankenleserin,  also  unmittelbar  vor  dem  Podium,  mög- 
lichst unauffällig  auf  und  ab;  das  Medium  brauchte  nur 
die  einzelnen  Schritte  des  Impresarios  zu  unterscheiden,  z n  z ft h- 
1  e  n,  nnd  ihr  war  dadurch  der  Name  bald  Ubertragen.  Das  geheime 
Alphabet  wnrde  bei  dieser  VerstSndigungsart  zosammengesetst  dnroh 
die  Zahl  der  vor- oder  rttekwärts  gemachten  Schritte»  wohl 
waren  auch  die  Schwäche  oder  Stärke  des  Auftretens,  das 
langsame  oder  schnellere  Gehen,  schliesslich  anoh  ein  un- 
anffälliges  Bänspern  oder  Httsteln  des  Impresarios  als  Mittel 
der  geheimen  Verständigung  Tcrabredet  nnd  systematisirt  Noch  weitere^ 
aber  ganz  ähnliche  Experimente  füllten  jeweils  eine  Vorst^ung  ans. 

Das  gleiche  Princip  dieser  Art  der  Gedankenübertragung  beob- 
achtete ich  auch  zu  einer  anderen  Zeit  bei  einem  anderen  Gedanken- 
leserpaare.  Damals  wurde  einer  Dame,  die,  mit  dem  Rücken  gegen 
das  Publicum  gewendet,  im  Hintergrund  einer  Bühne  an  einem  Gra- 
viere sass  und  die  von  einzelnen  Leuten  aus  dem  Publicum  ge- 
wünschten Melodien  spielte  bezw.  auch  sang,  natürlich  nur  etwa  10 
bis  20  Tacte  derselben,  von  ihrem  Impresario  jeweils  der  Name  der 
gewünschten,  diesem  ins  Ohr  gesagten  Arie,  Ouvertüre  u.  dergl.  gleich- 
falls „durch  Schritte  übertragen",  wohl  auch  durch  verabredete 
unauffällige  Gesten  des  Impresarios,  die  durch  einen  verborgenen, 
nur  für  die  Ciavierspielerin  sichtbaren  Spiegel  dieser  bemerklich 
gemacht  werden  konnten.  Ebenso  wurde  unter  den  gleichen  Um- 
stünden  einem  Herrn  der  experimentiiettden  Gesellschaft,  einem  Per- 
sonenimitator, vom  Impresario  die  Darstellung  allgemein  bekannter 
Ghaiaktertypen,  historischer  Peisönlichkeiten  u.  A.  auf  Wunsch  des 
Publicums  zur  Aufgabe  gestellt,  die  er  nach  geschehener  Gedanken- 
tlbertiagung  mit  Hfilfe  der  bekannten  Imitationsmittel  (PerräckeD,  Bärte 
u.  dergl.)  zum  allgemeinen  Eretaunen  des  Publicums  löste. 

AteUv  nr  Xilminalaiitliropolo^t.  XIL  17 


246 


« 

XIX.  ScHinDCKSBT 


Psych olopri seil  liedeutsam  ist  bei  allen  diesen  Arten  der 
Gedankenübertragung  die  Nutzbarmachung  der  geschickt  ab- 
gelenkten Aufmerksamkeit  der  Znaebaner.  Die  Leate, 
einmal  in  Staunen  Tersetzl,  haben  keine  Zeit  mehr  zur  Ueberlegung. 
Wenn  aber  die  Yentandeanttebtemheit  wieder  surackgekehrt  ist,  fehlt 
auch  die  Gelqi^eit,  den  Schwarzkflnstlem  „auf  die  Finger  zu 
Beben**,  und  selten  kommt  einer  in  die  Lage,  dieselbe  Vorstellung 
noch  einmal  und  nur  zum  Zwecke  der  Ausforsohung  zu  besuchen. 
Der  Impresario  yersteht  es  sehr  gut  —  wie  jeder  Tascbenkfinstler  — 
die  Aufmerksamkeit  der  Zuschauer  auf  Nebensächlichkeiten  zu  lenken* 
So  verlangt  er  z.  B.,  es  möge  sich  jeder  mit  Schriftstücken  oder  Legitimar 
tionskarten,  deren  Inhalt  das  Medium  lesen  soll,  versehen,  um,  wenn 
die  Reihe  an  ihn  komme,  sie  sogleich  vorzeigen  zu  könnm.  Wäh- 
rend nun  jeder  Einzelne  alle  seine  Taschen  und  Papiere  durchsucht 
nach  einem  geeigneten  Schriftstück,  geschehen  die  „Wunder"*,  die 
man  dann  nur  noch  in  ihrem  Resultat  anzustaunen  Gelegenheit  hat 
Hat  aber  einmal  das  erste  Experiment  die  Zuschauer  in  Staunen  ver- 
setzt, so  hält  dieses  in  der  Regel  auch  bis  zum  Schlüsse  an,  ja,  es 
steigert  sich  immer  mehr  und  hemmt  damit  nothwendig  die  normale 
Denkfähigkeit,  so  dass  der  Impresario  leicht  weiter  arbeiten  kann, 
ohne  ertappt  zu  werden. 

Bewundemswerth  bleibt  ja  immerhin  die  Gabe  der  raschen  Auf- 
fassung der  Abertrsgenen  Gedanken;  aber  unerklärlich  ist  diese  Fer- 
tigkeit keineswegs.  Denn  durch  fortgesetzte  Uebnng  gewöhnt  sieh 
das  GehOr  wie  an  die  Eigenart  fremder  Spraehen,  so  auch  an  ön 
aus  Wörtern  oder  Phrasen  zusammengesetztes  Alphabet,  so  dass  es 
sich  nur  noch  um  ein  Dietat,  um  ein  Vorbuchstabiren  der  ins- 
geheim geSusserten  Gedanken  durch  den  Impresario  handelt 
Wie  sich  das  Gehör  durch  Uebung  an  die  Bedeutung  auch  nicht 
gesprochener  Laute,  Töne  und  Geräusche  gewöhnt,  wissen  wir 
z.B. aus  der  allgemein  gemachten  Erfahrung,  dass  Telegraphenbeamte 
ebenso  leicht  als  sicher  den  Inhalt  der  entstehenden  Depesche 
verstehen,  ohne  dass  sie  sich  unmittelbar  an  dem  'in  Thätigkeit  ge- 
setzten Telegraphen  aufhalten  und  die  dort  entstehenden  Schriftzeichen 
ablesen.  Hierher  gehört  auch  das  Verständigungsklopfen  „nach 
System  M  orse",  von  Gefangenen  vielfach  geübt.  (Vgl.  Gross'  Handbuch 
für  Untersuchungsrichter,  S.  281  f.).  Und  als  Beispiel  dafür,  dass  es  keine 
besondere  Schwierigkeit  ist,  durch  blosse  Zeichen  und  (nbiirdon  (auch 
Mienen),  die  unter  den  Gedankenlesern  verabredet  werden,  sich  im  Ge- 
heimen zu  verständigen,  nenne  ich  die  bekannten  Finger-  und  Zeichen- 
sprachen, wie  sie  namentlich  unter  Bauerufängern  (Falschspielern)  und 


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Ueber  Gedaukenleeen. 


247 


Hocbstaplem  in  Uebung  sind.  Wer  kennt  nieitt  aaeb  das  anf  dem  gideben 
Pnndp  beruhende,  in  GeaellBobaften  viel  geübte  ünterbaltungsspiel,  bei 
dem  «ne  Penon  sieb  der  Ennst  rflbmt,  unter  —  sagen  wir  beispielsweise 
—  drei  gleichen  der  Reibe  naeh  nnteiv  oder  nebeneinander  gelegten 
Geldstttoken,  das  von  einer  dritten  Person  berührte  Geldstftek  beraus- 
snfinden,  ohne  die  BerObrung  selbst  beobachtet  zn  haben?  Hierbei 
gebt  die  Verabredung  sweier  Personen  dabin,  dass  der  , Gedanken- 
leser'', der  sieb  während  der  Berührung  des  Geldstückes  entfernt; 
durch  die  mündliche  Aufforderung  zum  Gedankenlesen  odw  ohne 
Bolclie  durch  geheime  Zeichen  des  bei  der  BerfUirung  anwesenden 
„Verbündeten"  auf  das  betreffende  Geldstück  aufmerksam  gemacht 
wird.  Gewöhnlich  wird  dem  Gedankenleser  das  Geheimniss  so  über- 
tragen, da.ss  der  „Vcrbündcfc",  der  die  Rolle  des  Impresarios  über- 
nimmt, nach  erfolgter  Üeriilirung  jenen  herbeiruft,  z.  B.  mit  den  Wor- 
ten: 1)  „Fertig!"  2)  ,Jetzt  kommen  Sie!"  3)  „Jetzt  können  Sie 
kommen!"  Je  nach  der  angewandten  Redensart,  weiss  der  herbei- 
gerufene „Gedankenleser  '  genau,  ob  das  erste  (oberste,  links  liegende), 
zweite  'mittlere)  oder  dritte  (untere,  rechts  liegende)  Geldstück  von 
einem  unbetlieiligten  Dritten  aus  der  Gesellschaft  berührt  worden  ist, 
und  wird  dieses  nach  einer  scheinbar  genauen,  aber  nichts  bedeu- 
tenden Unteisucbung  bezeichnen.  Falls  die  Gedankenllbertragung 
lautlos  oder  bei  der  „Aufforderung**  durch  einen  Kichteingeweibten 
geschehen  soll,  werden  geheime  Zeichen  verabredet,  so  dass  s.B.  der  „Im- 
piesario'*  ganz  unaufflülig  mit  der  Hand  1)  über  seine  Stime  oder  sdn 
Haupthaar  fithrt,  2)  seine  Nase  berfihrti  3)  sein  Kinn  berührt,  um 
dem  herbeikommenden  „GedankenlcBer''  das  berührte  Gddstfick  an- 
zudeuten. In  noch  unauffiUligerer  Weise  wird  der  „Impresario*^  dem 
„Gedankenleser'^  geheime  Winke  geben  können,  wenn  jener  z.  B. 
roncht  und  eine  verschiedene,  leicht  wechselbare  Haltung  der  Oigaire 
(im  Mund  oder  auch  in  der  Hand)  entscheidend  sein  Ifisst 

Das  sind  wohl  Spielereien,  aber  sie  sind  bei  ihrem  primitiven 
Charakter  doch  so  lehrreich  für  das  Princip  der  complicirten  Ge- 
dankenübertragungsarten, dass  sie  niclit  unerwähnt  bleiben  dürfen, 
zumal  man  ja  stets  geneigt  ist,  bei  der  Erforschung  Anfangs  uner- 
klärlicher Dinge  gleich  mit  den  sohwierigsten,  com]»licirtesten  Nuan- 
cirungen  alltäglicher  Erscheinungen  sich  den  Kopf  zu  zerbrechen. 

Ich  zweifle  nicht,  dass  auch  zwischen  dem  Blumenmedium  Anna 
Rothe  und  deren  Impresario  Jentsch  bei  ihren  spiritistischen  Sitzungen 
eine  mnemotechnische  Verbindung  bestand,  diu  das  Gelingen  vieler 
„Wunder"  fächerte  und  die  Täuschung  des  Publicums  förderte. 
Jenlaoh  war  wohl  schlau  genug,  um  in  ganz  geschickter,  unanfOUHger 

17  • 


248 


XIX.  SCHNEICKEBT 


Wdsei  so  en  paasant  pereönliehe  nnd  FamiliengebeiiiiiuaBe  ansznfor- 
aeben,  die  dann  dem  Medinm  in  einer  der  oben  geBehildeiten  Weise 
ttbertragcn  worden,  so  dass  dieses  „Wnnder  wirken^  und  das  Pnbli- 
onm  leicht  in  Stannen  versetzen  konnte. 

Wenn  man  annimmt,  dass  Anna  Bothe  von  der  Unwahrheit 
ihrer  Behauptungen  überzeugt  war,  so  war  sie  gewiss  strafbar 
wegen  Betrages;  denn  hierfür  reicht  nach  der  herrschenden  straf- 
rechtlichen Meinung  auch  die  Vorspiegelung  einer  unmöglichen 
Thatsache  aus,  z.B.  die  Behauptung,  dass  man  hexen  könnte'). 
Ausschlaggebend  war  bei  der  Verurtheilung  der  Rothe  wolil  die 
Kaffinirtheit  in  ihrem  ganzen  Vorgehen,  die  rücksichtslose,  zum  Ge- 
werbe ausgeartete  Ausbeutung  der  Unerfahrenheit,  der  Dummheit  des 
Publicums.  Den  gleichen  Maassstab  kann  man  daher  unmöglich  an- 
wenden auf  die  Taschenkünstler  und  die  Gedankenleser  der  oben  ge- 
schilderten Art  Diese  gehen  nicht  so  weit,  zu  behaupten,  dass  sie 
sich  zur  Anafilhrung  ihrer  Experimente  mit  Geistern  in  Verfoindiing 
setzen»  dass  sie  persönliche  GebeimniBse  der  Vergangenheit  oder  Zu- 
kunft erforschen  können,  wie  z.  B.  die  Wahrsager,  yiehnehr  machen 
sie  zom  Theil  ganz  obeiilAebliche  Knnststftcke,  ziehen  nur  ganz  all- 
gemeine VerbSItnisse,  objeetiTe  Thatsachen  in  den  Kreis  ihrer  £z- 
perimente  und  können  selten  nur  ihre  «Knnst*^  vertheidigen,  wenn 

Widersprach  im  Publicum  geltend  gemacht  wird,  so  dass  jeder 
gleich  ahnt,  dass  die  «Kunsf^  nicht  weit  her  ist  Durchweg  wollen 
sie  das  Publicum  nur  unterhalten  und  werden  regeUnässig  nur  eng»> 
gilt  durch  Unternehmer  von  Vergnügungsetablissements,  die  man  ja 
nie  mit  dem  Vorsatze  besucht,  durch  die  nur  zur  Unterhaltung  ge- 
botenen Kunststücke  sich  nicht  in  seinem  Vermögen  schädigen  lassen 
zu  wollen.  Und  sieht  man  sich  liier  doch  getäuscht,  so  ist  es  immer  nur 
eine  angenehme  Täuschung,  der  Niemand,  auch  bei  vorheri^^cr  Kennt- 
niss,  ernstlich  aus  dem  Wege  gehen  würde.  Es  thut  gar  nichts  zur  Sache, 
wenn  der  Process  Ilothc  in  dieser  Richluni;  auch  Ausnalimen  constatirt  hat. 

Schliesölich  noch  einige  Worte  über  psychologisches  Ge- 
dankenlesen. Darunter  verstehe  ich  das  Errathenkönnen  der 
Gedanken  einer  Person  ohne  mnemotechnische  Verbindung. 
Es  ist  ja  bekannt,  dass  für  den  scharfen  Beobaehter  ans  den  Mienen 
ond  Gesten  eines  Maischen  nicht  bloss  die  jeweilige  Stimmung  des- 
selben klar  endehtlich  ist,  anch  sichere  Schlflsse  kann  er  oft  daraus  ziehen 
auf  die  angenblicklichen  Gedanken  derselben.  Ich  denke  hier  gerade 
an  dn  geeignetes  Beispiel  aus  meiner  Beobachtung:  Mit  einem  Frennde^ 
den  man  allgemein  wegen  seiner  Torgebengten  KQxperhaltung  tadelte, 

1)  Vgl.  hiena  aach  Frank,  Kommentar  zum  B.St.G.B.  td.§368,  Zfff.IIL 


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Ueber  Gedankentoseii. 


349 


ging  ich  eines  Tag'es  über  die  Strasse.  Plötzlich  schnellte  er  seinen 
Oberkörper  zurück  und  nahm  eine  gerade,  stramme  Küri)erhaltung 
an.  Dies  fiel  mir  auf,  ich  sah  über  die  Strasse  und  erblickte  einen 
Officier,  der  in  gerader  Körperhaltung  seines  Wej^es  ging.  Die  sofortige 
Frage,  ob  ihn  vielleicht  die  musterhafte  Körperhaltung  dieses  Officiers 
an  die  ihm  allgemein  gegebene  Emuüinang,  eine  gerade  Körperhal* 
tang  ammtreben.  efianert  habe,  bejahte  mir  mein  Begleiter. 

Der  Eriminaligt  hak  in  seinem  Beruf  bei  Erforsehiiiig  der  angen- 
btieküehen  Gedanken  einee  Henaohen  dn  Haapigewieht  auf  die  bei 
der  anagesprochenen  LUge  geheim  gehaltenen  Gedanken 
der  Wahrheit  zu  legen.  Prot  H.  Gross'  Eriminalp^ychobgie  ent- 
hmt  hierOber  Einschlägiges  in  dem  Capitel  „PhibiomenologisoheB''» 
S.51ff.,  woran!  ich  hier  ansdrücklieh  hinweisen  mochte. 

Mit  Prof.  Gross  theile  ich  auch  die  Zweifel,  die  er  in  seinem 
„Handbuch  für  üntersuchungsriohter"  (3.  Aufl.),  S.  210,  über  die  in 
oner  photographischen  Zeitschrift  erörterte  Frage  aasgesprochen  hat, 
ob  nämlich  ein  Gedanke  auf  die  photographiscbe  Platte  gebracht 
werden  könne  und  zwar  in  der  Weise,  dass  ein  länger  in 's  Auge 
gefasster  Gegenstand,  'im  speciellen  Falle  war  es  eine  Brief- 
marke), mit  Wirkung  der  Wiedererkennung  auf  eine  lichtempfindliche 
Platte  projicirt  werden  könne. 

Die  Kunst  des  Gedankenlesens  kann,  wie  der  Process  Rothe  darge- 
than  hat,  leicht  zu  unerlaubten  Zwecken  ausgeübt  werden,  so  da.ss  es  ge- 
wiss nicht  unnütz  ist,  die  Kriminalisten  auf  dieses  „Gewerbe"  der  Neu- 
zeit aufmerksam  zu  machen  und  sie  zu  weiteren  Forschungen  aufzurufen. 

Ffir  Jedermann^  insbesondoe  aber  für  den  Eriminalisteo,  ist  es 
von  grosser  Bedentnng,  „Gedankenlesen*  sn  lenien  und  zwar  in  der 
Wesse^  dass  er  in  den  Teischiedensten  Lagen  des  Lebens  nnd  Berufes 
scharf  beobachten  lernt,  dass  er  nie  seine  Anfmerksamkeit  ablenken 
ttsst,  dass  er  insbesondere,  wenn  auch  nicht  den  Inhalt  der  ge> 
heimen  Veralftndignng,  so  doch  znm  Wenigsten  die  zweifeUose  Exi- 
stenz einer  solchen  erkennt  Wer  sich  mit  Unbekannten  in  ein  Ge- 
winnspiel einlässt,  mnss  die  Augen  oder  den  Beutel  aufmachen,  sonst 
wird  er  leicht  betrogen.  Der  Falschspieler  weiss  seinen  „stillen  Ge- 
sellschafter'* im  Gebeimen  genau  zu  verständigen,  z.  B.,  welche  Karten 
er  oder  der  Gegner  in  der  Hand  hat  Hier  geschieht  die  geheime 
Verständigung  entweder  mit  den  Füssen,  indem  der  eine  Falsch- 
s]tieler  dem  Anderen  auf  Grund  eines  veral)redcten  Alphabetes  durch 
Anstossen,  Berühren  des  Fusses  seines  Complizen  den  Inhalt  der 
eigenen  bezw.  der  gegnerischen  Karten  zur  Kenntniss  bringt  Auch 
durch  gewisse  verabredete  Hand-  und  Fingerstellungen,  Mienen  (Augen- 


260 


XIX.  ScmiBICKEBS 


zwinkern)  und  andere,  oben  schon  erwähnte  Winke  läset  sich  eine 
geheime  Verständigung  bewerkstelligen.  Ay^-Lallement  bat  in 
flekem  bekannten  Werke  «Das  denfsehe  Gaimeiihiim*  em  ganzes 
Alphabet,  ans  yersobiedenen  Hand«  und  FingenteUnngen  ziiBammen> 
gesetzt,  bfldlich  dargestellt  YgL  hieiza  aneb  Gross'  „Handbach  für 
UnteranefanngBiichter*',  S.  275tf.,  sowie  meinen  AnfiBstz  „Geheime  Ver- 
stSndignng  dnreh  i^boUsohe  Zeichen  nnd  GebSiden',  im  „Dentsehen 
Hansschatz"  (Pnstet,  BegensbwgX  Jahrg.  1900,  Nr.  58. 

Aehnlich  geht  der  gewerbsmässige  Betrüger  anoh  vor  beim  Ver- 
kauf angeblich  werthvoller,  thatsächlich  aber  ganz  minderwerthiger 
Gegenstände  (namentUch  Raritäten).  Es  liegt  hier  aber  in  der  Natnr 
der  Sache,  dass  die  geheime  Verständigung  zweier  Betrüger  regel- 
mässig in  der  Abwesenheit  des  zu  betrügenden  erfolgt.  Zumeist 
wird  der  Betrug  so  ausgeführt,  dass  der  eine  Betrüj^er  mit  einem 
Dritten  unter  Ilingabe  einer  angeblich  sehr  werthvollen  Ilarität  einen 
„Trödelvertrag'^  abschliesst,  während  der  andere  Betrüger  so  zufällig 
entweder  während  der  Anwesenheit  des  Complicen  oder  später  (wiia 
die  Regel  ist)  sich  bei  dem  „Trödler"  einfindet  und  ein  grosses  In- 
teresse an  der  betreffenden  Rarität  bekundet,  schliesslich  eine  hohe 
Summe  dafür  bietet,  wobei  er  aber  vorläufig  noch  einen  definitiven 
Kauf  geschickt  vermeidet.  Dadurch  wird  auch  das  Interesse  des 
„Trödlers"  geweckt,  so  dass  der  erste  Betrüger,  der  Uebergeber,  der 
ach  gelegentlich  ttber  die  inzwischen  etwa  gemachten  Angebote  er- 
knndigt,  ohne  Schwierigkeit  die  Anszahlnng  dnes  hohen  Preises  für 
die  werthloseBaritit  durch  den  Trödler  erzielt  Dieser  Gaonertric  kommt 
unter  den  vendiiedensten  Variationen  thatsichlieh  sehr  hinfig  vor. 

Ueber  andere  Arten  der  geheimen  Yenlfindignng,  insbesondere 
der  Gefangenen  unter  sidi  oder  mit  ihren  nicht  gefangenen  Mitschul- 
digen und  Angehörigen,  ist  schon  sehr  vieles  bekannt  nnd  veröffent- 
licht worden.  Auf  Einzelheiten  brauche  ich  daher  hier  nicht  näher 
einzugehen  nnd  verweise  auf  die  in  Gross'  „Handbuch  für  Unter- 
suchungsrichter'' im  VII.  Abschnittes.  239 ff.)  eingehend  besprochenen 
„Gaunerpraktiken".  Wegen  ihrer  Neuheit  ist  vielleicht  noch  ein 
Hinweis  auf  die  in  meinem  Werke  „Moderne  Geheimschriften  ')"> 
S.  41  f.  und  S.  77 ff,  besprochene  X ih i liste ngeh ei mschrift  hier 
angebracht;  dieselbe  bezweckt  nämlich,  die  Aufsichtsbeiimten  des  Ge- 
fängnisses nicht  nur  Uber  den  Inhalt,  sondern  sogar  über  das  Vor- 
handensein der  in  einem  hannlosen  Briefe  verborgenen  geheimen 
Mittheilung  zu  täuschen.  Das  Geheimniss  liegt  hier  nicht  in  der  An- 
wendung sogen,  sympathetischer  (d.  h.  unsichtbarer)  Tinten, 

1)  Verlag;  der  Dr.  üaas'schen  DrackereL  Mannheim  190U. 


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Ueber  Gedankenlesen. 


251 


flondem  lediglieb  in  einer  Tembredetea  besonderen  Conatraetion 
der  Schriftzeioben.  A.a.O.  babe  icb  eingehende  Belebrongen 
über  die  MOglidikeit  der  Entdeekung  solcher  geheimen  Hittbeiliingen 
gegeben.  Die  Beachtung  der  in  Gross'  ^,Handbneb  für  üntersachnngs- 
riebter^,  S.  273,  erwähnten  Vorsicbtsmaassregeln  hinsichtlich  des  schrift- 
Hohen  Verkehrs  Gefangener  mit  anderen  Personen  verhindert  aller- 
dings in  den  meisten  Fällen  eine  Täuschung  der  Aufsiclitsbeamten; 
doch  so  lange  nicht  ein  directes  Verbot  jeden  irgendwelche  Ver- 
ständigung hezweokoiden  Verkehrs  der  Gefangenen  mit  in  der  BYei- 
beit  lebenden  Personen  besteht,  ist  auch  eine  Täuschung  nicht  aus- 
geschlossen, so  dass  noch  mancher  Gauner  den  Scharfsinn  seiner 
Aufsichtsorgane  zu  übertreffen  Gelegenheit  haben  wird.  Selbst  die 
gröbste  Vorsicht  könnte  nichts  helfen,  wenn  zur  gegenseitigen  Ver- 
ständigung Geheimschriftmethoden  angewendet  werden,  die  durch  Ab- 
schreiben- oder  Vorlesenlassen,  also  durch  Einwirkung  dritter 
Personen  auf  das  Geschriebene  niclit  entkräftet,  nicht 
spurlos  gemacht  werden  können,  Vergl.  in  dieser  Hinsicht 
z.  B.  meine  beiden  neuen  Geheimschriftinetliodeii  S.  89  und  91  des 
citirten  Werkes.    Allerdings  sind  dies  seltene  Ausnahmefälle. 

Das  gleiche  scharfe  Augenmerk  ist  bei  der  Confrontation 
eines  Beschuldigten  mit  Mitschuldigen  oder  Zeugen  (namentlich  Ent- 
btttnugszeugen)  oderancfa  beider  Hanptverbandlung  an! etwaige 
Versnobe  geheimer  Verständigung  zn  richten.  Hier  sind  ebentslls 
die  strengsten  Vorsichtsmaassr^efai  geboten:  die  Verdächtigen  dttrfen 
sieh  nicht  zn  nahe  stehen,  ihre  Mienen  und  Bewegungen  sind  scharf 
zu  controliren,  nie  dulde  man,  dass  der  Verdächtige  die  Hände  auf 
den  Rficken  lege  u.  deigl  m.  Aber  auch  Belastungszeugen  gegenüber 
ist  dne  geheime  Verständigung  seitens  des  Beschuldigten  bezw.  An- 
geklagten leicht  möglich.  Dabei  handelt  es  sich  aber  meistens  um  eine 
unzulässige  Suggerirung;  denke  man  nur  einmal  an  das  Verhältniss 
des  Zuhälters  zu  seiner  t^  rannisirten,  ihm  auf  den  Wink  gehorchenden 
Dirne.  Ich  habe  darauf  sciion  einmal  gelegentlich ')  hingewiesen. 

Es  wäre  sehr  zu  bedauern,  wenn  der  junge  Kriminalist  bei  der 
zur  Zeit  leider  noch  herrschenden  grossen  Vernachlässigung  des  Stu- 
diums der  strafreciitliehen  Ilülfswissenschaftt'n  sich  keine  Mühe  gäbe, 
zur  erfolgreichen  Beobachtung  und  Bcurtheilung  dieser  so  wichtigen 
Erscheinungen  des  täglichen  Lebens  sich  einen  gewissen  Scharfblick 
anzuerziehen,  und  sich  schon  mit  der  vielleicht  sieher,  aber  doch  sehr 
langsam  kommenden  „eigenen  Erfahrung"  vertrösten  wollte. 

1)  „Das  Recht.''   1902.  5U5. 


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XX 


Aberglaube,  Wahrsagerei  und  Karpfascherei. 

Von 

Dr.  W.  Bohütao,  Gericlitsasaessor  in  Bostock  i.  M. 

Der  fUl  Jinicke  ans  Beriin,  In  dem  ein  thörichtes  junges  Men- 
gohenkind,  das  Aberglaube  nnd  die  Sebnsnclit  nach  Glficfc  und  Beieh- 
tbnm  einem  Wahrsager ,  d.  h.  einem  betrügerischen  Schniken  an- 
gefühlt  hatte^  sdnen  tranrigen  Wahn  mit  dem  Leben  besahltei  dflifke 
noch  frisch  in  aller  Erinnerong  sein,  die  Tagesblätter  haben  ihn  aus- 
giebig  behandelt  nnd  aoeh  die  „Gartenlanbe^  hat  im  Jahrgang  1900, 
Nr.  25  eine  eingehende  Sohildemng  gebrachi  Alle  Tiraden  nnd 
wohlgemeinten  Batbscblä^e,  die  bei  dieser  Gelegenheit  darüber  in 
die  Welt  gegangen  sind,  haben  natürlich  nichts  genützt,  aber  doch 
scheint  es  mir  geboten,  wiedor  und  wieder  alle  einschlagenden  Fälle 
der  Oeffentlichkeit  vorzulegen.  Vielleicht  kommt  die  Richterwelt 
dann  schliesslich  doch  zu  der  Ueberzeugung,  dass  die  beriilimte  Ver- 
theidigung  der  Wabrsagerzunft:  sie  liätten  an  ihre  Kunst  geglaubt, 
eine  plumpe  Unverschämtheit  ist,  die  als  solche  behandelt  zu  werden 
verdient.  Die  uralte  Geschichte  von  den  beiden  Auguren  dürfte  auch 
für  die  Wahrsager  gelten. 

Ganz  so  grausig  wie  die  Thätigkuit  des  Jänicke  war  allerdings 
die  des  früheren  Bäckers  Plessen  nicht,  der  sich  kürzlich  \or  dem 
Rostocker  Schöffengericlit  zu  verantworten  hatte,  aber  sie  hat  u.  A. 
doch  hingereicht,  einem  in  Ehren  ergrauten  Manne  seinen  guten 
Kamen  an  ranben  und  ihn  in  seiner  wirthschaftliehen  Bdstens  schwer 
zn  treffen. 

In  Rnnow  bei  OriTitz  brannte  Tor  etwa  iVs  Jahren  eine  dem 
Erbpftchter  Bose  gehörige  Eommiete  ab.  Die  üntersnchnng  wurde 
sofort  «frigst  betrieben,  da  jedoch,  wie  gewöhnlich  in  solchen  FXUeo, 
der  Platz,  anf  dem  die  Miete  gestenden,  so  sauber  reingebnmnt  war, 
als  sei  er  mit  dem  Besen  gefegt,  nnd  Httlfsmannscbaften  wie  Neu- 
gierige den  Grund  ringsum  festgetreten  hatten  wie  eine  Tenne,  so 


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AbeigUnbe,  Wahiwgvni  und  Empfnacbefci.  268 


liess  sich  wohl  feststellen,  dass  Brandstiftung  vorliegen  müsse,  von 
dem  Tliäter  fand  sich  aber  keine  Spur.  Etwa  zwei  Monate  s})äter 
jedoch  hiess  es  im  Dorf:  ,,Rose  und  sein  Schwager  wollen  morgen 
nach  Rostock  fahren,  da  wohnt  einer,  der  kann  ihnen  sagen,  wer's 
gethan  hat."  So  geschah's.  Als  nach  ein  paar  Tagen  Kose  und  sein 
Schwager  zurückkehrten,  tauchte  erst  leise  und  schüchtern  hier  und 
da  im  Dorf  das  Geracht  auf:  „Gastwirtii  S.  hett%  daha**.  Doch  bald 
war  60  «shon  kein  QttentlioheB  GeheimnisB  mehr,  das  ganze  Dorf 
spraeb  laat  davon ,  and  lawinenartig  anflehweilend  TergrSsBeite  sich 
das  lible  Gerede,  bo  dasfl  bald  ganz  GriTita  und  ümgegend  mit  voller 
BeBtimmtbeit  woBSten:  S.  hatte  die  Ifiete  aagesteekt  Zwar  war 
nicht  der  entfernteste  Grand  za  entdecken,  weshalb  er  die  üebelthat 
bergen  haben  sollte,  denn  das  Korn  war  ja  nicht  das  Seine  ge- 
wesen, er  war  ein  wohlhabender  Mann  mit  altem,  flottgehendem  Ge- 
schäft, und  der  geschädigte  Eigenthümer  war  seit  mehr  als  20  Jahroi 
sein  guter  Freund  und  lohnender  Kunde,  aber  das  machte  nichts,  ge- 
than hatte  er  es  trotzdem,  —  der  kluge  Mann  in  Bostock  hatte  es 
ja  gesagt.  S.  sah  die  Sache  eine  Zeit  mit  an,  in  der  Hoffnung,  das 
alberne  Gerede  werde  sich  schon  verlieren,  aber  Leute,  die  seil  Jahr- 
zehnten in  seiner  Gastwirthschaft  verkehrt  hatten  und  in  seiner  Schmiede 
hatten  arbeiten  lassen,  mieden  ihn  ängstlich  und  andauernd,  und  Rose 
und  sein  iScli wager  gingen  an  ihm  vorbei,  ohne  seinen  Gruss  zu  er- 
widern. Sein  Haus  war  veq)önt,  sein  (Geschäft  ging  zurück.  Schliess- 
lich wendet  sich  der  Mann  in  seiner  Noth  an  den  Staatsanwalt  in 
Schwerin,  der,  nachdem  er  festgestellt,  dass  gegen  S.  thatsächlich 
auch  nicht  der  geringste  Verdacht  bestehe,  und  dass  Plessen  der 
kluge  Mann  in  Bostock  sei,  mir  die  Sache  flhermittelte. 

Ich  suchte  mich  annftohst  Aber  Flessen^  Betrieb  su  nnterriditen. 
Allfiberall  hdrte  man  von  ihm  munkeln.  Er  konnte  nieht  blos  wahr- 
sagen, nein,  er  konnte  auch  bei  Diebstählen  den  Thiter  aus  den 
Karten  nennen  und  ihn  zwingen  das  Gestohlene  surttckbringen,  er 
konnte  geheime  Curen  machen,  war  bald  Spiritist,  bald  Antispiritisl^ 
und  für  6  Mk.  konnte  er  sogar  Geister  erscheinen  lassen,  aber  ob- 
gleich alle  Welt  ihn  kannte,  war  doch  mit  bestem  Willen  nichts  Greif- 
bares festzustellen. 

Ich  wandte  mich  also  an  nneere  Polizei,  die  sehr  bewährt  und 
rührig  und  stets  sehr  entgegenkommend  ist.  Nach  etwa  zwei  Mo- 
naten jedoch  bekam  ich  auf  Anfrage  den  Bescheid,  dass  die  Ermitte- 
lungen keinerlei  Erfolg  gchnbt  hätten.  Da  die  Liste  der  Schutzleute 
ergab,  dass  Drei  von  iimt  n  mit  dem  Besclnildigten  in  derselben  kleinen 
Strasse  wohnten,  einer  sogar  im  selben  Hause,  liess  ich  die  drei 


264 


XX*  SouCtu 


Leute  und  einen  Kriininalserf^eanten  koninienj  der  frülier  mit  Plessen 
zusamnien^ewohnt  hatte,  stellte  ihnen  unter  Darlegung  des  Runower 
Falles  den  Ernst  der  Sache  vor  und  ersuchte  sie  um  sorgfältigste 
Nachforschungen.  Auch  jetzt  aber  erfolgte  gar  nichts,  die  wieder 
vorgeladenen  Beamten  erklärten,  sie  hätten  wohl  yiel  Leute  da  ver- 
kehren sehen,  aber  weiter  kannten  sie  aaeh  niehts  beriehteo.  Der 
eine^  dem  ich  seharf  zu  Leibe  ging,  da  er  als  mehrjabiiger  nnmittel- 
barer  Nachbar  des  Plessen  dessen  in  der  gansen  Stadt  mehbaien 
Betrieb  lingst  kennen  masse,  meinte  endlieh  etwas  veilegen:  ja,  vor 
Jahren  sei  ihm  eb  Fall  bekannt  geworden,  in  dem  in  einer  hiesigen 
kleinen  Kneipe  etwas  fortgekommen  ed,  beziiglieh  dessen  Plessen, 
nachdem  man  ihn  befragt,  den  Verdacht  auf  einen  Verkehrten  gor 
looLkt  hidie,  doch  sei  die  Schenkmamsell  von  damals  ja  sieher  nicht 
mehr  zn  ermitteln  und  der  alte  Gastwirth  nicht  mehr  vernehmungs- 
fähig. Auf  die  Frage,  weshalb  er  die  unerhörte  Geschichte  nicht 
angezeigt  habe,  wie  es  doch  seine  Pflicht  gewesen,  folgt  verlegenes 
Schweigen.  Ein  anderer  Schutzmann  l)rachte  mir  endlich  die  Namen 
von  8  Soldaten,  die  sich  vor  zwei  Jahren  in  Pfingstmarktsstimmung 
bei  Plessen  hatten  Karten  legen  lassen,  das  blieb  alles.  Ich  wandte 
mich  daher  an  den  Aerzteverein ,  da  der  Beschuldigte  u.  A.  im  Huf 
arger  Curpfuscherei  steht,  und  hat  um  Mittheilung  bekannt  gewordt-ner 
Fälle.  Von  hier  habe  ich  gar  nichts  erfahren.  Da  habe  ich  denn 
endlich  den  letzten  Weg  versucht  und  unter  der  Hand  Erkundigungen 
Angezogen,  auf  dem  fand  sich  endlich  der  Anfang  des  Fadens.  Ein 
Bef^iendar  hatte  eine  Tante,  die  hatte  ein  Dienstmädchen,  das  one 
Schwester  halte,  welche  wieder  eine  Freundin  besass,  und  die  war 
bei  Plessen  gewesen.  Nat&rlich  waren  auch  damit  die  Schwierig- 
keiten noch  nicht  behoben,  aber  nnn  gab  doch  Jeder  wieder  seinen 
Gewährsmann,  so  dass  sdiliesslieh  eine  ganze  Anzahl  von  Fällen 
zusammenkam.  Alle  waren  natürlich  äusserst  veisohämt  und  ent- 
setz^ dass  sie  in  dieser  Sache  vernommen  werden  sollten,  die  Frauen 
hatten  Angst  vor  ihren  Männern,  die  nicht  wissen  durften,  dass  sie 
einem  solchen  Menschen  ihr  Geld  hingetragen,  und  fast  jeder  bat: 
„aber  ich  brauche  doch  nicht  in  die  öffentliche  Verhandlung^^  Ein 
Mädchen,  die  sich  nach  ihrem  Zukünftigen  hatte  erkundigen  wollen, 
war  die  erste.  Der  hatte  Plessen  u.  A.  geheimnissvoll  gesagt:  was 
er  könne,  das  krmne  Niemand  mit  Geld  bezahlen,  und  hatte  aller- 
hand Erzählungen  mit  einf Hessen  lassen  von  gestohlenen  Dingen,  die 
er  wieder  verschafft  und  dergl.  Das  Mädciien  hatte  denn  auch, 
nachdem  si<^  für  Geld  und  gute  Worte  den  erw  im  siebten  günstigen 
Bescheid  bekommen,  als  neue  Trompete  seines  Kuhmes  mit  geheimem 


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Abeigtanbe,  Wahnagwei  mid  KtupftudienL  356 


Schauer  sein  Ilaus  verlassen.  Bunt  p:enug  allerdings  hatte  es  da  aus- 
gesehen. An  der  Ilausthür  prangte  ein  Marniorschild ,  das  in  Gold- 
buchsiiiben  den  Namen  des  Künstlers  trug  und  darunter  die  Worte: 
„Prof.  der  Magie",  ein  weiteres  Schild  trug  noch  die  Aufschrift: 
,,Heilraagnetiseur'*.  Zunächst  kam  man  vom  Flur  in  ein  bürgerlich 
einfaches  Empfangszimmer,  an  das  sich  das  Allerheiligste  schloss. 
Der  ans  jenem  Vorgerufene  hatte  sich  hier  auf  ein  Sopha  zu  setzen,  auf 
deBBen  Lehne  neben  ihm  ein  glUhängiger  ausgestopfter  Kater  sasB, 
aof  dem  Tieeh  stand  ein  ScfaAdely  an  dar  Wand  hingen  bloase  Sfibel, 
Bilder  mit  Schlangen  nnd  einem  rothen  Teufel  jl  dergl.  mehr.  Der 
Hexenmeister  selber,  ein  gnft  gewaohsener,  etwas  blasser  Mensch,  etwa 
Mitte  Dreissiger,  mit  grossem  schwarzen  Schnurrbart,  dnnklem  vir- 
tuosenhafiem  Häarwald  nnd  melancholisehem  Blick,  erkundigt  sich 
einleitend  nach  dem  Begehr  und  der  gewünschten  Antwort,  nimmt 
dann  Karten  nnd  Zanberstab  und  sagt  den  Leuten,  was  sie  gern 
hören.  Bei  einer  gestohlenen  Uhr  weist  er  auch  wohl  auf  einen 
Actendeckel unbekannten  Inhalts,  meint:  ja,  die  Sache  sei  nicht  leicht, 
aber  er  stände  mit  dem  Gericht  in  Verbindung  und  verstehe  sich  auf 
80  was.  Scheint  noch  mehr  Ilokus-Pokus  nöthig,  so  muss  die  Frau 
auch  noch  die  Kette  bringen,  an  der  die  Uhr  gesessen  hat,  da  der 
alte  Aberglaube  doch  auch  l)erücksichtigt  sein  will,  dass  man  zur 
Entdeckung  einen  (legenstand  haben  müsse,  der  bei  der  That  vom 
Schuldigen  berührt  sei,  und  endlich  wird  die  geheime  Weisheit  ver- 
kündet, die  je  nach  den  Angaben  des  Plülfesuchenden  z.  B.  lautete: 
Der  grosse  blonde  Jlann  am  Feuer  habe  es  gethan  —  nachträglich 
widerlegte  sich  der  Verdacht  gegen  den  Schmied,  aber  erst  lange 
nachher,  und  nachdem  der  Yerietete  auf  Grand  dieser  Weisheit  Un- 
tersuchung gegen  ihn  und  Haussuchung  Tennhisst  hatte  —  oder: 
der  Thfiter  sei  kein  Bettler  oder  Handwerfcsbursch,  sondern  wohne 
dicht  bei  der  Bestohlenen,  auch  m  es  kein  Hann,  sondern  eine  Iteu 
nnd  zwar  schon  m  filteren  Jahren  —  die  Bathfiagende  hatte  nämlich 
erzShlt,  dass  am  fraglichen  Morgen  nur  eine  alte  Nachbarsfran  bei 
ihr  gewesen  sd  und  Kartoffeln  gekauft  habe;  auch  dieser  Verdacht 
traf  nicht  zu  —  u.  s.  w.  in  langer  Zahl.  Bis  auf  über  zehn  Jahre 
Hess  sich  dies  Geschäft  zurück  verfolgen.  Manche  der  Zeugen  gaben 
ehrlich  oder  auch  zögernd  zu,  dass  sie  an  die  Kunst  des  Mannes  ge- 
glaubt und  ihn  deshalb  bezahlt  hätten,  andere  meinten:  ,je^  se  seggen't 
jo  all,  un  ninn  kann't  je  doch  nich  weeten"  und  nur  einzelne,  be- 
sonders ein  junger  Bursche,  stellten  noch  unter  Eid  in  der  liaupt- 
verhandlung  mit  I^ntrüstung  in  Abrede,  dass  sie  daran  geglaubt  haben 
sollten,  obschon  sie  entschieden  nach  dem  Gegentheil  aussahen.  Von 


266 


XX.  ScuOiu 


allen  hatte  er  Ik'zuhlunf,'  fj^enonimen,  nur  von  den  beiden  Runoweni 
nicht.  Die  Sache  war  ihm  docli  wohl  zu  brenzlich  gewesen;  so  dass 
er  sich  mit  dem  Ruhm  bejrnügt  hatte,  dass  die  Leute  eine  Tagereise 
weit  aus  dem  Lande  zu  ihm  gekommen  waren.  Hezeichnend  war 
die  Antwort,  die  er  ihnen  nach  geschehener  Anshorchung  ertheilt 
batte.  Da  er  weder  im  Dorf  Bescheid  wusste,  noch  die  Fragenden 
irgend  einen  Verdaeht  hatten,  erklärte  er  sehÜeiHlieh,  daae  es  Bnmd- 
atiftang  sei,  doeh  habe  es  keui  BVemder,  noeh  Eneoht  oder  Magd  ge- 
than,  sondern  em  selbBtilndiger  Mann,  der  diebt  dabei  wohne  nnd 
mehr  sein  woUe  als  andere  Lrate.  Anf  das  dritte  Hans  im  Dorf 
aoUten  sie  achten.  Das  batte  nnglilcklioher  Weise  aUes  nur  auf  S. 
gepasst,  nnd  somit  war  er  der  Thäter.  Ueberhaupt  hatte  er  nie  Kamen 
genannt  und  sich  immer  mit  allerlei  verdächtigenden  Andeutnngen 
begnügt  So  z.  B*  aneh  hei  einem  Kellner,  dem  eine  Geldtasche  mit 
30  Mk.  gestohlen  war,  nnd  den  er  anf  die  Hansgenossen  verwies. 

Auch  sonst  suchte  er  sich  zu  decken,  indem  er  seine  Besucher 
vielfach  mit  Redensarten  empfing,  wie:  Kartenlegen  könne  er  nicht, 
aber  wenn  sie  es  gern  wollten,  so  wolle  er  ihnen  ausdeuten,  was  für 
sie  in  den  Karten  stände. 

In  der  Hauptverhandlung  gab  er  rundweg  zu,  dass  er  nicht  an 
irgend  welche  übernatürlichen  oder  aussergewölinlichen  Kräfte,  die 
etwa  in  ihm  wirkten,  glaube,  er  wolle  die  Ixnite  nur  unterhalten, 
wenn  sie  zu  ihm  kämen,  denn  das  Schild  an  beiner  Thür  bedeute 
nicht  „Professor^,  sondern  „Profession ist  der  Magie*'  und  er  sei 
gerade  Antispiritist  Anf  die  Frage,  was  er  sich  denn  fiberhanpt 
nnter  einem  Spuntisten  vorstelle,  vermag  er  nicht  zn  antworten  nnd 
Uber  seinen  Beruf  „HeUmagnetuseur^  weiss  er  nnr  zu  erzftblen,  dass 
er  „KrSfte  ttbertnge'*,  was  für  welche^  wodnrdi,  zn  welchem  Zweck, 
darüber  yerlierea  sich  sdne  Antworten  in  yeriegenem,  zerfahrenem 
Gebhsel  nnd  dem  Gandinm  der  dichtgediSngten  Zuhörerschaft  Er 
entwickelt  aber  weiter,  er  habe  schon  oft  geholfen,  wo  kein  Arzt 
mehr  zn  retten  yennocht  habe,  z.  B.  bei  brandig  gewordenen  Wunden 
und  ihn  ähnlichen  schweren  EKUen.  Und  wo  er  die  Vorkenntnisse 
her  habe? 

Er  sei  einmal  kurze  Zeit  Wärter  in  einer  „epileptischen  Klinik*' 
gewesen  und  das  andere  habe  er  aus  seinen  Büchern,  von  denen  er 
leider  keins  zu  nennen  vermag.  Aber  seine  Kunst  i«^t  noch  nicht  zu 
Ende;  da  er  früiier  zuweilen  auf  dem  Lande  gewesen .  heilt  er  den 
Bauern,  die  zu  ihm  kommen,  auch  ihr  Vieh,  und  in  den  verzwei- 
feltsten Fällen  helfen  seine  Medicinen. 

Dass  die  Praxis  lohnend  gewesen,  ist  anzunehmen,  hat  bie  doch 


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Abeixlube^  Wahrug«Bei  und  KnipfaachereL 


267 


dem  früheren  mittellosen  Bäckergesellen  ein  dreistückiges  eigenes 
Haus  mit  gut  eingerichteter  Wohnung  eingebracht  Die  in  alle  Schich« 
ten  greif^de  jährige  Untettnebniig  Mbeint  ihn  alleidings  ge< 
sehfidigt  zu  habeiii  wenigsteiis  geht  lein  Hans  jetzt  in  Zwangsvoll- 
streeknng.  Dae  jetzt  anch  von  der  Strafkammer  bestitigte  ürtheil 
lautete  auf  6  Woehen  Gettngniw  wogen  Betrugs,  3  Monate  waren 
beantragt 

Das  ist  ja  sioher  ein  greifbarer  Nutzen,  ob  aber  damit  aU  der 
Sehade  gesühnt  ist,  den  dieser  Vielgewandte  in  den  langen  Jahren 
seiner  Praxis  angerichtet  hat?  Ich  glaube  kaum.  Der  Ruf  des  Runower 
Gastwirths  z.  B.  ist  auch  jetzt  nach  Aufklärung  des  Thatbestandes 
und  der  Verurtheilung  nicht  wieder  hergesteilt  wie  ehedem.  Und  nicht 
nur  der  züliflüssig  denkende  Bauer  oder  der  kleine  Handwerker  glaubt 
mehr  an  solchen  Wahrsager  und  Kuqifuscher,  aucli  eine  Dame  in  rei- 
feren Jahren  aus  uraltprciissischem  Adelsgeschiecht  und  ein  deutscher 
Doctor  der  Philosophie,  die  dem  Si)iriti8mu8  huldigten,  sind  in  dunkler 
Nachtstunde  mit  anderen  Gläubigen  einlassbegehrend  an  seiner  Thür 
gesehen.  Wenn  derartiire  Dinge  geschehen,  wenn  gar  in  dem  „auf- 
geklärten'' Berlin  Tausende  zu  Fräulein  Ida  und  Ulrike  Schön  pil- 
gern, die  in  der  Flott  well-  und  der  Bainltergirstrasse  den  lukrativen 
Schwindel  der  Gesundbeterei  nach  Mrs.  Edd}  's  Methode  betreiben  — 
▼on  Amerika  selber  rede  ich  natürlich  gar  nicht  —  und  dort  die 
Tomehme  Welt  Beriins  vereinigen ,  Leute,  denen  alle  Mittel  der  Bil- 
dung zur  Verfügung  stehen,  kann  es  da  Wunder  nehmen,  wenn  die 
Polizeimannschaft,  die  bei  ihrer  geringen  Besoldung  nothgedmngen 
ans  verhAltnissmlssig  ein&ebea,  ungebildeten  Stinden  genommen 
werden  muss^  völlig  den  Dienst  versagt,  sobald  das  verfSngliche  Ge- 
biet des  Abiffglanbens  und  der  Geheimkflnstelet  berührt  wird?  Ja 
von  einem  erfahrenen  Praktiker  ist  mir  einmal  ein  Fall  mitgetheilt, 
iu  dem  die  unteren  Polizeioigane  in  einer  schweren  Sache,  in  der  sie 
sich  nicht  zu  helfen  wussten,  um  der  Ungnade  ihres  Vorgesetzten  zu 
entgehen,  zusammengelegt  und  sich  an  eine  Zauberin  gewandt  haben, 
deren  guter  Rath  ihnen  dann  sogar  auf  die  richtigen  Wege  half. 

Wie  verbreitet  besonders  der  Wahrsagerschwindel  noch  heutzutage 
ist.  dafür  mag  s{)rechen,  dass  allein  in  Rostock,  einer  Stadt  von 
5CtMHi  Einwohnern,  an  officiell  bekannten  weisen  Frauen  und  Männern 
nicht  weniger  al^.  1 3  wohnen.  Meistens  alte,  halbblinde  und  lahme 
Weil)er,  die  ihren  Ernährer  verloren  haben  und  jetzt  mit  Hülfe  dieser  ver- 
botenen Kunst  ihr  Dasein  fristen,  die  Meisten  von  ihnen  mi)gen  sich 
ja  im  Wesentlichen  auf  die  verhältnissmässig  harmlosen  Fragen  nach 
dem  Bräutigam ,  dem  Lotteriegewinn  u.  dergl.  in  ihrer  Auskunft  be- 


268        XX.  Schütze,  Abeiiglaabe,  Wahnagerei  und  Kurpfuscherei. 

schränken,  doch  kann  auch  schon  hierdurch  allerlei  Unfug  und  Un- 
heil angestiftet  werden,  so  dass  es  wflnschenswertli  erscheint,  wenigstens 
eine  Handhabe  zu  beÄsen,  nm  g^gen  sie  anch  einsehreiten  sa  kdnnen, 
wenn  die  übliehen  Begldteiseheinnngen  Ton  Enppdei  n.  dergL  fehlen, 
oder  der  Betmgspaiagniph  versagt  Deshalb  sollte  die  von  den 
Commentstoren  noch  fOr  gftttig  gehaltene  alte  Heoklenbnigisehe 
Landesverordnung  vom  28.  Januar  1681  betr.  „Die  Bestrafung  gottes- 
lästerlicher, abergläubischer  und  unzfiehtiger  Dinge^,  die  auch  das 
Wahrsagen  verbietet,  einmal  praktisch  wieder  erprobt  werden,  es  ist 
jedoch  trotz  des  notorisch  beträchtlichen  Geschäftsbetriebes  dieser 
Kunstgattung  und  trotz  mehrfach  angeordneter  Nachforschungen  nicht 
möglich  gewesen  auch  nur  einen  einzigen  unverjäbrten  Fall  festzu- 
stellen, ^die  Ermittelungen  blieben  erfolglos". 

Das  allein  dürfte  Beweis  genug  sein,  Staatsanwälten  und  Ge- 
richten darzuthun,  dass  energisches  Einschreiten  gegen  dies  bösartige 
eingewurzelte  und  uucontrolirbare  versteckte  Gewerbe  dringend  ge- 
boten ist. 

Vor  Allem  aber  sollten  auch  unsere  Aerzte  nicht  nur  auf  die 
Juristen  schelten,  sondern  uns  lieber  das  Material  an  die  Hand  geben, 
das  ihnen  in  ihrer  Praxis  reichlich  bekannt  wird,  wihrend  es  neh 
uns  entzieht  liessen  sie  ihre  Schee,  such  vielleioht  einmal  als  Zenge 
▼or  Gerieht  zu  müaseii,  etwas  mehr  in  den  Hintergrund  treten,  so 
hätten  wir  längst  aufräumen  können  mit  emer  bedeutenden  Anzahl 
Wahrsager  und  Geheimnisskrämer,  und  auch  eine  ganze  Menge  grosser 
und  kleiner  NardenkStter  wäre  längst  eiledigt  und  abgethan. 


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Kleinere  Mittheilangen. 


a)  Von  Nfteke. 

l. 

Der  Fall  Behuert.  Kürzlich  bat  der  Erste  Staatsanwalt  Dr.  Siefert 
(Bd.  XI,  S.  209)  in  gritaetor  Kllrae  den  Troem  der  RanbrnOrder  Behnert, 
Fonsse  und  Goldsehmidt  borUhrt,  leider  aber  nur  das  Vorleben  des  letzt- 
erwähnten gegeben.  Vielleiclit  wird  er  ein  Cilt  iehes  auch  mit  dem  der 
anderen  Kaubgesellen  thun  und  ;rorad('  liior  wäre  Näheres  sehr  erwünscht, 
leii  habe  selten  von  so  schaurigeu  Mordhuben  gelesen,  die  mit  der  grössten 
KUte  und  Gemlktiiliehkeit  am  geringen  Ftofit  das  Leben  ihrer  HitmeoMhen 
anslGschten!  Da  giebt  es  kein  Fttnkchen  Mitleid!  Das  sind  solche  FUle» 
wo  ich  die  Todesstrafe  angewendet  wissen  möchte,  aber  erst,  wenn  eine 
psychiatrische  Untereuchuug  stattgefunden  hat.  Das  ist,  so  viel  icli  weiss, 
bei  Behnert  und  Fousse  nicht  der  Fall  gewesen,  offenbar  weil  sie  dem 
Riehter  keinen  Anlass  dasn  boten.  Immeriiin  bitte  es  gesehehen  sollen, 
aus  Princip.  Beide  sind  vielleieht  ans  ihrem  Milieu  so  heraasgewachsen. 
Oder  gehörten  sie  etwa  zu  den  sog.  .moralisch  Scliwachsinnigen^,  die  wir 
als  eigene  Krankheitsspecies  nicht  mehr  anerkennen  ?  Wir  werden  das  wolü 
nie  sicher  erfahren.  Jedenfalls  gehörten  sie  nioht  zu  den  «Primitiven"  (Pen  ta). 
Der  Rroeess  bot  aber  sonst  noch  viel  Interessantes  nnd  Lehrreiefaes  dar. 
Fangen  wir  glacfa  mit  Goldschmidt  an.  Schon  in  der  Arbeitsanstilt  ^ord 
er  als  schwachsinnig  erkannt,  noch  mehr  dann  im  Dresdner  Irrensiechen- 
hause,  wo  er  ca.  '/4  Jahr  weilte.  Mehrere  Jalire  wird  er  als  solcher  in  der 
Anstalt  Hnbertnsbnrg  bdiandelt  nnd  also  genugsam  beobaehtet  Dentlieh 
und  klar  gab  ich  als  Sachverständiger  an,  dass  G.  schwaehsinnig  nnd  ver- 
mindert zurechnungsfähig  sei.  Der  2.  Experte,  Prof.  B  ins  wanger,  der  den 
G.  zum  ei-sten  Male  sah.  war  natürlich  ausser  Stande,  ein  Verdict  abzugeben, 
da  der  Angeklagte  wie  gedruckt  sprach  und  antwortete,  was  mau  bei 
leidit  Sehwadisbnigen  ja  oft  sieht  Man  mvss  einen  solehen  erat  niher 
kennen  lernen,  um  die  Risse  seines  Geistes  offen  daliegen  zu  sehen.  Man 
sollte  aber  meinen,  dass,  wenn  zwei  bekannte  Irrenärzte  in  ihren  Anstalten 
So  lange  den  (t.  beobachtet  hatten,  dies  an  sich  hätte  dem  Richter  genügen 
sollen.  Der  Staatsanwalt  aber  untei-stützte  den  Vorsdilag  Prof.  Bins- 
wanger's,  den  Qt.  eist  noeh  in  der  Jenaer  Klinik  eventneU  m  beobaiahten. 
Als  ich  deshalb  gleidi  darauf  privatim  den  toaisanwalt  befragte,  meinte 
er.  icli  li.-itto  mich  ja  nicht  deutlich  darüber  ausgesprochen,  ol»  der  (1.  zn- 
reclmungslühig  sei  oder  nicht,  was  aber  wie  alle  gehört  hatten,  deutlich 
memerseits  gesdiehen,  vom  Staatsanwalt  aber  wegen  seiner  Schwerhörigkeit 


260 


Kleinere  JüttheUuogeD« 


flberhOrt  worden  war!  Man  begreift,  dass  ein  solches  Verfahren  den  beiden 
anderen  Irrenftrzten  g^enttber  als  ein  Mjsstranensvotnm  anfgefasst  werden 

konnte!  Der  Jenenser  Begutachter  ist  später  genan  auf  meinen  Schluss 
der  verminderten  Zurechnungsfälügkeit  g:ekommen.  Ijcider  Imf  Dr.  Sief  er  t 
in  seinem  Aufsätze  aus  meinen  Darlegungen  einen  selir  wiclitigen  Passus 
weggelassen.  Idi  hatte  nimfidi  gesagt,  O.  biete  ein  elassischeB  Beispiel 
für  die  sog.  moral  insanity  dar,  d.  h.  eines  leiditen  intellektuellen  Sdiwädi- 
sinns  bei  tiefem  etliischen  Niveau.  Solrlie  I^outo  f^oliRrten  erfahrungsgeraäss 
schecht  in  die  Irrenanstalt  und  scliloclit  in  die  Gefängnisse.  Für  sie  ratissten 
eigene  Zwischenanstalten  zwischen  GefUngniss  und  Irrenanstalt  erst  gebaut 
worden.  Diesen  Baiz  hatten  dann  die  Zeitungen  andi  als  sehr  wiebtig  et- 
kannt  und  gesperrt  gedruckt.  So  lange  wir  tniii  soleiie  Anstalten  lUeht 
haben,  ist  für  diese  Mensclien  das  Gofänpiiss  dfin  Iirrnlianso  immer  noch 
vorzuzielion,  doch  verlangen  sie  einen  milderen  ötiafvollzug,  sollen  sie  nicht 
sehr  bald  geistig  erkranken.  Goldsclimidt  ward  zu  lebenslängiidiem  Zucht- 
hanse  Terurdieilt,  legte  aber  Revision  ein.  Herroriiebfln  will  idi  endlidk 
noeb,  dass  anf  mdne  Anfrage  mir  erlaubt  war,  aneh  eventuell  tlber  die 
verminderte  Zurechnungsfiibifckeit  mich  anszusprecben.  Das  ist  höclist 
anerkennensw  erth,  da  immer  mehr  die  Notliwendigkcit  einer  solchen  Zwisciien- 
stufe  anerkannt  wird  und  ihre  nominelle  Wiedereinführung  in  unser  Straf- 
gesets  nnr  noeh  ehe  BVage  der  Zeit  sein  wird. 

Dass  solche  Personen,  wie  0.,  leicht  der  Suggestion  zugänglich  smd, 
ist  bekannt.  G.  schildert«'  das  auch  sehr  classisch.  Er  und  Fonsse  hatten 
sogar  versucht,  in  einer  moralischen  Anwandlung  sich  von  Behuert  einmal 
an  trennen,  waren  aber  doch  wieder  an  ihm  gestossen.  Letzterer  war  dw 
Bedeutenden^  der  Soggerireade.  Wir  haben  also  bier  eine  Coppia  erimlnale 
a  tre,  d.  h.  ein  Verbrecherpaar  zu  drei,  wie  Sighele  solche  Vereinigunj^  be- 
zeichnet, vor  uns.  Behuert  giebt  an,  die  Anderen  führen  alles  aus.  Das 
setzt  uatürhch  bei  ihnen  auch  sein:  geringe  Moralität  voraus.  Auffallend 
ist,  dass  unter  den  RanbniOrdem  und  QewaltthStigen  aller  Art  so  viel 
Schlosser,f1eiBolier,  Fabrikarbeiter  u.s.  w.  sind.  So  war  auch  Behnert  Sddoaser. 
Diese  Leute  sind  gewöhnt,  mit  schweren  und  scharfen  Instrumenten  zu 
arbeiten,  sie  verletzen  sich  leicht,  sehen  oft  Blut  füessen  und  das  alles 
scheint  auf  das  >tiveau  ihrer  Moral  seiir  oft  nachtheilig  zu  whrken.  Je 
schwerer  die  Handarbeit,  um  so  melir  ruht  andererseits  aber  andi  der  Qtui, 
um  80  schwerfälliger  wird  er  leicht  uml  untcnlrückt  feinere  Begnügen. 
Namentlich  ist  die  Gefühllosigkeit  der  Fleischer,  Viditreiber,  Bergleute  u.  s.w. 
bekannt.  Die  Psychologie  dieser  schwer  arbeitenden  Classen ,  die  vielen 
Gefahren  ausgesetzt  und  gegen  Schmerz  abgestumpft  sind,  ist  eben  eme 
andere,  als  bei  anderen  Bemfaarten.  Beruf  und  Moral  stehen  also  Bieber  in 
einon  gewissen  Zuaammenhange. 


2. 

In  Saehen  des  Fanatismus.   GewOhnlieh  spridit  man  nur  von 

religiösen  Fanatikern,  doch  giebt  es  ebenso  solche  auf  wissenschaftlichem 
Gebiete  und  im  gewöhnlichen  Leben.  .Teder,  der  aicli  in  eine  specielle  Idee 
verrannt  hat,  Belelu'ungen  absolut  unzugänglich  ist,  ist  ein  Fanatiker.  £r 
kann  dies  nun  in  Theorie  oder  Praxis  sein.  QewObnlicfa  geht  beides  Hand 


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Kleinere  Mittheilangeii. 


261 


in  Hand.  So  lange  der  Mann  aber  still  dahin  lebt,  den  anderen  seine 
vermeiiitliebe  Wahrheit  nicht  anfdifngen  will,  kOnnen  vir  ihn  einen  atiUen, 

harmlosea  Fanatiker  nennen.  Anders  im  ge|j:entheiligen  Falle,  wenn  er  als 
Propagandist  auftritt  und  gar  zu  Feuer  und  Schwert  «rnift,  um  seiner 
Meinung  Geltung  zu  versdiaffeu.  IHe  Psychologie  des  Fanutismus  ist  eine 
sehr  reiche  und  interessante.  Nur  einige  Pignikte  himon  sollen  im  Folgenden 
besproehen  werden.  Ndimen  wir  z.  B.  als  Typus  des  Fanatitmns  den 
Abstinenzler  an,  wie  er  in  seinen  Scliattirungen  bei  dem  letzten  Bremer  Anti- 
alkoholisten-Congresse  sich  breit  machte,  namentlich  in  seiner  abstossenden 
Form  des  rüden  Propagandismus.  Abstinenzler  —  dasselbe  gilt  vom  Vege- 
tarianer,  JagerianerQ.8.  w.  —  wird  man  auf  awd  Wegen.  Entweder  awingt 
einen  ein  Leiden  dazu  und  man  handelt  dann  nur  vernünftig;  oder  man 
wird  08  durch  Lectilre,  Nadiahnuing,  Hetrachtunj;  der  socialen  Folgen  u.  s.  w. 
r)as  hat  dann  einen  altruistischen  Anstricii,  der  aber,  sobald  er  zur  Propa- 
ganda Ubiirgeht,  leicht  einen  sehr  unangenehmen  egoistischen  Beigesdimack 
erfaili  In  idealster  Form  eneheint  es  allerdinga  reiner  Altmiamna  m  son, 
doch  ist  ein  solcher  in  letzter  Instanz  eben  aaeh  auf  Egoismus  zurflck- 
znfnhren.  Wir  wollen  unseren  Willen,  unsere  Meinuni;  Anderen  bei- 
bringen und  das  befnedi-rt  uns  eben,  selbst  wenn  das  höhere  Ziel  allein 
maassgebend  zu  sein  seheint 

Fiat  juBtitia,  pereat  mnndnat 
Dann  aber  giebt  es  sicher  Petaonen,  die  am  Gewinnsucht,  Eitelkeit  n.  s.w. 
Fanatiker  werden,  eine  KoUe  spielen  wollen.  Diese  sind  natürlich  eine  sehr 
verwerfliche  Masse!  Neben  geistesgesunden  —  und  dazu  rechne  icli  einen 
Theil  der  Anarchisten  —  giebt  es  aber  gerade  unter  den  Fanatikern  eine 
Menge  gcMig  minderwerthiger  PenKmen  nnd  gerade  auf  soIdM  wiedennn 
wirken  Fanatiker  am  meisten  ein.  lUn  gehe  z.  B.  nur  in  ein  Speisehaus 
der  Vegetarianer,  um  sofort  solche  zu  entdecken.  Die  gefährlichsten  Fana- 
tiker sind  natUrUch  die  religiösen  und  vielleicht  hat  nichts  soviel  Blut  fliessen 
lassen,  als  gerade  der  fanatische  Religionshaas,  mit  d«n  dar  Aberglauben 
iidi  gorn  venMliwistert,  wie  s.  B.  bd  den  Hexoiprocessen.  IKe  anderen 
Fanatiker  sind  scheinbar  hannloser,  wtLrden  ihre  Gegner  aber  frorn.  wenn  es 
möglich  wäre,  mit  Feuer  und  Schwert  verfolgen,  resp.  in  modernem  Ge- 
wände, ihnen  allen  Schimpf  und  Schande  anthun.  Stand,  Bildung,  Kasse, 
Religion  nnd  andere  Momoite  spielen  mit  Untw  den  Ungebildeten  wird 
man  vielleicht  mehr  Fanatiker  finden,  als  unter  den  Gebildeten,  weil  hier 
das  Ich  ja  ein  viel  einfacherer  Complex  ist.  nml  der  Widei-stand  oft  ge- 
ringer. Becht  gefährlicli  sind  halbgebildete  Elemente,  wie  z.  B.  viele  Volks- 
schullehrer, die  alles  zu  wissen  glauben  und  Uberall  „uutmachen"  wollen. 
Et  sdi^t  franer,  daas  aneh  ^  Rasse  nicht  nnwielitig  ist  Germanen  sind 
schwerfälliger,  daher  im  Allgemeinen  weniger  zu  Eiferern  geeignet  als  Ro- 
manen und  solchen  auch  weniger  znjrän^'lich.  Ein  Ferri,  I. oni  1» ro.t^o  u.s.w. 
würden  bei  uns  lange  nicht  den  Effect  machen,  wie  bei  ihren  heissblütigcn 
Landsleuten,  und  die  fanatischen,  ekstatischen  Heiligen  u.s.w.  fanden  sich  wohl 
Öfters  luer.  Em  merkwürdiges  Geeets  beherrseht  ferner,  wie  ich  glaabe^ 
die  Fanatiker,  wie  alle  Menschen  überhaupt,  nimliefa:  Je  näher  die 
Meinungen,  die  (leschmUcker,  die  Kassen  einand<  r  stehen,  um 
so  mehr  befeinden  sie  sich.  Der  Abstinenzler  hasst  den  Jeniperenzler 
noch  mehr  womöglich,  als  den  Trinker,  was  sich  wieder  in  Bremen 
AnMw  nr  KriBiBdMtlivapoloii».  SU.  19 


202 


Kleinere  Mittbeilangen. 


zeigte.    lOnner  oder  Franen   nrit  eehr  Ihnliobaii  Ohankfeer  stoHen 

sich    ab,   nahestehende  Renen    desgleichen,  was  wir  z.  B.  zwieohen 

DciitHchon  und  Enjrh'indern ,  Spaniern  and  Portnpesen,  Italienern  und 
Franzosen.  Norwop^rn  und  Schweden  n.  s.  w.  sehen,  wobei  allerdinj^  noch 
viele  Fuctureu,  beäonders  die  Religion  uiue  Holle  spielen.  Audi  sehr  nabe- 
itohende  Seeten  befebdea  nah  Ins  auf  den  Tod*  Man  sieht  das  in 
Roesland,  bei  uns,  im  Uam  u.  s.  w.  Wie  ist  dies  mericwttrdigo  Verhalten 
zu  erklären?  Icli  stelle  mir  vor,  dass,  wenn  man  weiss,  daas  der  Partner 
in  so  manohon  I)in*reii  ^undverechiedene  Ansichten  hat.  man  es  gleich  von 
voniheiein  ab  ausäichtttius  aufgiebt,  ihn  m  belehren.  Anders,  wenn  nur 
Uefaie  Differenzen  bestehen.  Dann  ist  mehr  Aossloht  auf  Erfolg  gegeben. 
Gltidct  es  nicht,  wie  meist,  so  wird  man  immer  gereister,  eben  weil  die 
kleinen,  unüberwindbaren  Schwieri^'keitcii  «  inen  melir  Hrgern,  als  die  grossen. 

Um  zu  ihren  Ansichten  zu  bekehren,  i^'pbrauchcn  nicht  selten  Fanatiker 
Uebertrfflbungen  aller  Art,  absichtlich  und  unabsichtlich  falsch  gedeutete  Sta- 
tistikea  v.  s.w.  Dies  trat  aneh  in  Bremen henror.  Es  war  vonuusnsehen,  dass 
witste  Scenen  erfolgen  mussten,  ebenso)  auch  war  der  wirkliche  Ei  fnl*,'  schon 
vorgezeichnet.  Der  Berichterstatter  sagt  darüher  in  der  Krankfurter  Zei- 
tung (21.  April  r.)(i3,  3.  Morgenblatt)  denn  auch  lakoniscli:  „Die  positiven 
Ei^bnisse  des  Cougroäses  sind  ganz  minimal'^.  Man  wird  sicli  hierbei 
vielleieht  erinnern^  was  i«b  Aber  den  Werth  von  Gongressen  flberhaapt  s.  Z. 
sagte  ')  und  man  wird  das  Meiste  auch  in  Bremen  bcstritijrt  finden.  In 
einer  kürzlirlicn  Besprochnng  eines  Huchs  von  Baer  (Hil.  XI,  S.  270), 
habe  ich  meinen,  hoffentlich  von  den  Meisten  getheilteu  Standpunkt  in  der 
Alkoholfirage  dargestellt  und  zwar  auf  Grand  reldiKdier  Erfahrung.  Forel, 
den  man  wegen  seines  Temperaments  in  einer  solchen  Gesellschaft  von 
Extremen,  die  die  ^rrOsste  Objcctivität  und  Diplomatie  der  Spraehc  verlanfft, 
am  liebsten  in  Bremen  nicht  hätte  als  Redner  auftreten  htssen  sollen, 
leistete  sich  z.  B.  den  Satz,  daj>8  jeder  iMensch,  der  einmal  betrunken  ge- 
wesen, geisteskrank  sei!  Ent  spftter,  nadi  vielem  Wtdenpraohe^  reetifieirte 
er  sich.  Es  ist  sichw,  dass  der  Alkohol  sehr  v\e\  schadet,  aber  in  concreto 
ist  dies  stets  erst  ZU  beweisen  und  dies  ist  ^Mr  nicht  immer  so  lei(?lit. 
Wenn  lierausclite  Verbrochen  begehen,  so  liefet  der  Znsammenhang  klar  da. 
Wenn  aber  ein  irinkei'  —  uud  was  rechnen  die  Abstinenzler  nicht  alles 
dasn!  —  deiinqnirt,  so  ist  em  solcher  Zusammenhang  absolut  nodi  nicht 
klar.  Hier  können  die  gewöhnlichen  Arten  von  Verbrechen  stattfinden 
und  der  Alkohol  höchstens  <len  Widerstand  vermindert  haben.  Dies  in 
concreto  nachzuweisen,  dürfte  seh  wer  fallen,  mag  es  auch  noch  so  wiUir- 
scheinlich  klingen.  Wenu  ferner  ein  Trunkenbold  ein  epileptisclies  oder 
idiotiselies  Kind  sengt,  so  ist  nodi  lange  nidit  bewMsen,  dass  der  Alkohol 
an  der  Epil<  psi.-  u.  r.  w.  schuld  ist  Tritt  dasselbe  beim  2..  3.,  4.  Kinde 
ein,  so  wird  dies  allerdinp^  immer  walirselieinlieher,  aber  erst  nach  Ausschluss 
von  sonstigen  erblichen  Behistungsmomenten  bei  den  Eltern,  etwaiger 
schwerer  Geburt  u.  s.  w.  fast  absolut  sicher.  Beim  In:sinn  liegt  das  Ver- 
hftltniss  nur  deutlich  beim  Säuferwahnsimi.  Wenn  aber  ein  Trinker  spiter 
an  F^uvaoia  oder  Melancholie  u. s.w.  erkrankt,  so  ist  nioht  noth  wendig 


1)  Näckc.  Bericht  über  den  Amsterdamer  Krimmalautliropologca-Congress. 
8.  Bd.  S.  91,  gegen  dah  Ende  hin. 


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Kleinere  Hitcfaettinigeii. 


268 


der  Alkohol  daran  schnlfl.  Es  k5nnen  andere  Momente  sein,  eventuell  in 
Konkurrenz  mit  dem  Alkohol.  So  sind  also  die  grossen  Zahlen  cn  bloc, 
weltlie  die  Abetinenzler  für  die  Betiieiligung  dee  Alkdiob  und  Erzeugung 
▼onlrrunn  ond  Verbrechen  nicht  anfObrent eindeutig^  sondern  sehr  vieldratig. 
Damm  kflmmern  sich  aber  die  Herren  nicht !  Die  besten  Reweise  für  einen 
Scliaden  durch  Alkohol  liegen  vielleicht  in  den  expcrinientell-psycholofrischen 
Untersuchungen.  Und  gerade  Forseher  auf  diesem  Gebiete:  Kräpelin, 
Asehaffenbnrg  n.  s.  w.  sind  swar  flberzeugte  Abetinenzler,  sehen  aber 
die  Undurcliführbarkeit  der  allgemeinen  Abstinenz  ein  und  verlangen  nur  Mög- 
liches. Ja  in  der  Schweiz,  wo  am  meisten  trowlililt  wii  d,  siolit  m.in  in  den  Städten 
nur  wie  bescheidene  Veilchen  im  Dunkeln  eiuzcliic  l'ii  iiienschilder  mit  blauem 
Kreuze.  Nacli  wie  vor  wird  doi*t  tupter  gezecht  und  ich  habe  nicht  ge- 
hört, dass  die  Wdnbergbentaer  Uber  Abnabme  ihrw  Weinlirferangen  ge- 
kla<^  hätten.  Als  Curioenm  sei  hier  gleich  erwihnt^  dass  einer  der  haapt- 
silchlichsten  ^  Radauf  ritzen'^,  ^\it•  der  Berliner  sagen  würde,  seine  schönen 
Weinberge  — so  ward  mir  <lort  erzählt  —  nicht  etwa  in  Kartoffel-  oder  (!e 
treidefelder  umwandeln  lässt,  sondern  ruhig  fortfäiirt,  die  Leute  mit  seinem 
CtowSdme  zn  vergiften.  So  lange  Abetinensler  und  MSseigkeitler  rasammen- 
tagen,  w  ird  e^  Radau  geben,  so  in  Wien,  so  jetzt  in  Bremen.  Daher  haben 
in  Zukunft  beide  Parteien  getrennt  zu  arlieiten.  Die  Abstinenzler  sollten 
mit  ihrem  grossem  Erfolge,  die  Kegierungen  und  diis  Publicum  nachdrücklichst 
auf  die  grossen  Schäden  des  Alkohols  aufmerksam  gemaclit  zu  haben,  zu- 
frieden sein  nnd  nlebt  nadi  Utopieen  jagen.  SdiiM^den  hat  mit  sonem 
Götaborg-S}'8tem  Orossartiges  geleistet^  dso  mit  der  Massigkeit,  gewiss  mehr 
als  die  Scheinerfolge  z.  B.  der  amerikanischen  Alwtinenzler.  .le  inflir  die 
Fanatiker  übertreiben/  um  so  mehr  schaden  sie  der  guten  Sache.  Sie  werden 
das  aber  fimKoh  nieht  einsehen,  weit  sie  eben  Fuiatfflnr  sind.  Socialpolitiker 
sind  aus  solchem  Hobse  lüeht  geschnitst! 

3. 

Ueber  Selbstentmannung.  Da  die  Kastration  eine  schmerz- 
hafte nnd  nicht  nngeftiirllehe  Operation  ist^  andern  Niemand  ohne  Weiteres 
sich  seiner  Männlidikeit  begeben  will,  ist  es  nur  natOriidi,  dass  Fälle  von 

8ell>stkastratinn  ausserordentlirli  selten  sind  und  aus  verschiedenen  Gründen 
meist  nur  bei  ( Icisttwkranken  beobachtet  werden.  In  Irrenanstalten  kommt 
solches  hie  und  du  vor  und  vor  einigen  Jahrein  wurde  in  der  Irrenanstalt 
an  Hnbertnsbnrg  folgend«  intwessante  Fall  beobaehtet:  Em  Paralytiker 
hatte  sich  mit  einem  li^en  gebliebenen  Messer  den  Ilodcnsack  fast  durch- 
schnitten. Nach  Zusammennähen  deaselben  riss  er  den  Verband  ab  und 
wollte  nochmals  den  Hodensack  abschneiden,  so  <lass  ihm  die  Hände  be- 
festigt werden  mussten.  Befragt,  warum  er  das  getlian  habe,  sagte  er, 
Gott  habe  ihm  brfohlen  das  Scrotnm  m  entfernen  nnd  ihm  ein  goldenes, 
ein  doppeltes  versprochen  Tagelang  wiederholte  er  in  weinerlichem  Tone: 
„Lieher  (Jott,  gieb  mir  noch  einen  zweiten  S:ick,  meine  Frau  ii^t  mit  einem 
nicht  zufrie<len."  Dieser  Fall,  der  gliicklieher  Weise  keine  perfecte  SelKst 
kastration  betrifft,  ist  in  mehrfacher  Hinsicht  bemerkenswerth.  Bei  Para- 
lytikern sbd  tentamina  aniddü,  emstlich  gemeinte^  sehr  selten,  noch  seltener 
anf  Gcliörstäuschungen  hin,  abnorm  selten  ab«r  Kastrationen.  Die  Moti- 
vimng  in  unserem  Falle  ist  eine  köstliche.    HSnfiger  finden  sich  £nt- 

19* 


Kleinere  MittheUungen. 


maDDungen  beäoudcrs  bei  Paranoikern  und  Melancliolikein,  auf  Grund  vun 
WahnideeD,  Befehlsstnomen,  Yerfolgungswahn  n.  t.  w. 

Sonst  wird  wcmi:  darOber  bericlitet.  In  der  Zeitsdirift  für  >[e(liciiMl- 
beanitc  1902,  in  lieft  16  und  20  wird  je  ein  solcher  Fall  von 
Dr.  »Schmidt  Tctcrsen  und  Dr.  Soibrij?  niitgetheilt.  In  dem  ersten 
handelt  es  sicli  um  einen  40jälirigeu  Mann  mit  zeitweiligen  QemUthsvor- 
stimmimgeii.  Verf.  ▼ermntfaet,  und  wohl  mit  Beeht,  dm  der  Betreffende 
in  einer  Bdehen  den  Act  vor^renoramen  habe.  Dieser  psychopathischc  Zu- 
saranienhanp  erschoint  dem  ^"erf.  um  so  klarer,  als  Patient  ^in  sicli  das 
Blut  von  Vater  und  'r()clit<'r  vereinigle,  bekanntUeh  die  plnstifrsten  Mo- 
mente zur  Degeneration'.  Letzteres  ist  aber  nicht  walir,  da  selbst  Incest 
für  die  Naddcommcnsdnft  niucliidlieli  isty  wenn  l>eide  Elten  gerand  waren, 
und  in  obigem  Falle  ist  dies  nicht  verneint  Dr.  Schmidt-Peterscn 
dafrejren  fand  seinen  Kaatrirten  geistig  gesund  und  kann  sicli  die  Sache 
nur  so  erklären,  dass  Patient  sicli  dies  selbst  zugefügt  habe,  etwa  zur  Hei- 
lung einer  arg  betriebenen  Onanie,  obgleich  für  Letztere  nbiolut  Itein  An- 
lultqNinlct  Toriag.  Patient  leugnete  ^e  That^  und  gab  Tidmehr  an,  die 
Verwnndnn^j:  sei  durch  Zufall  geschehen.  Hinterher  gab  er  aber  zu,  dass 
er  sich  selbst  kastrirt  habe  und  zwar  aus  Spielerei.  Hier  erwähne  ich 
gleich,  daas  mich  neulich  ein  Imbeziller,  der  stark  unanii'te  und  bislier  umsonst 
hieigegen  behanddt  wurde,  frug,  ob  er  seh  oieht  kSnne  traatriren  laaaeOy 
um  von  semem  Leiden  loezukommen.  Es  adieint  alao  in  der  That  beim 
niederen  Volke  der  Erfolg  einer  solchen  Operation  gegen  die  Onanie  ge- 
rühmt zu  werden.  Einen  ganz  merkwürdig  motivirten  Fall  von  Selbst- 
entmannung erfuhr  ich  aber  kUrzlidi  von  einem  Collegen.  Vor  einigen 
Jahren  ward  er  sdilennigst  ni  einem  Ifaane  in  der  Stadt  gerufen,  der  sidi 
dieTfealiIcel  entfernt  hatte  und  stark  blutete.  Grund:  Er  war  ausser  aieh 
gerathen,  als  er  bemerkte,  seine  Fian.  die  schon  mehrere  Kinder  hatte,  sei 
Mieder  schwanger  geworden.  Er  iiutte  dem  fernerhin  dadurch  vorbeugen 
wollen :  Der  Mann  hatte  also  die  That  offenbar  in  einem  Zustande  acuten 
AffectB,  der  einem  Raptna  melandiolieiu  ähnelt,  anageftthrt!  Ana  reUpOsem 
Fanatismus  kann  es  durch  eigene  oder  fremde  Hand  geschehen  (Seopzen), 
docli  kaum  je  bei  uns.  Dann  besteht  z.  Zt  der  That  wohl  immer  eine 
solche  Affectlage,  dass  der  Thäter,  wenn  er  die  Hand  an  sich  legt,  meist 
nicht  zurechnungsfähig  sein  dürfte. 

Für  den  Jnriatan  kommen  dieae  ao  flberaua  seltenen  FUle  y<m  Sdbst- 
kaatration  praktieeh  kaum  in  Betracht.  Man  muss  aber  wissen,  dass  diese 
schwere  Verwundung  auch  durch  einen  Zufall,  endli<']i  von  Seiten  Dritter 
gesclieheu  kann.  Im  Falle  des  Todes,  tiefster  Benommenheit,  Taubstumra- 
hdt,  bei  tiefstem  Blödsinn  oder  Verworrenheit,  Vielieicht  auch  bei  fremdspra- 
ehigen  Menschen,  kann  es  nnter  Umatlnden  schwer  werden  zn  entsdidden, 
ob  eine  Selbstthat  vorliegt  oder  nicht.  Erstere  hat  für  den  Strafrichter  kein 
Interesse,  da  sie  nicht  l)e{<traft  werden  kann,  anders  wenn  die  übrigen  Mög- 
lichkeiten da  sind.  Im  landwirthschaftlichen  und  maschinellen  Geti'iebe 
besondera  ktanen  Entmannungen  aoa  nnglficMidieni  ZnfaDe  leicht  einmal 
geschehen.  Solohe  von  Seiten  Dritter  aus  Radie,  Spielerei,  Neid,  Fahr^ 
lässigkeit  u.  s.  w.  kommen  gewiss  auch  nicht  so  selten  vor.  Hier  könnte 
dann  auch  einmal  der  Fall  eintreten,  dass  (b-r  Uebei-fallene  durch  Schreck, 
Schmerz,  Blutung  u.  s.  w.  nicht  im  iStaude  war,  die  Attentäter  zu  crkcunen, 


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Kleinere  MittfaeUangeii. 


26& 


selblt  wenn  die  That  am  lichten  Tn^e  ^'oächah.  Es  kann  aber  endlich  auch 
godiehen,  dass  ein  Selbstattentäter  (siehe  oben)  aus  irgend  einem  Grande 
die  Tliat  Iragn^ 

Wolter  niQehte  kdi  nodi  als  hierher  gehörig  die  Selbetverletzung  der 
Genitalien  er\s  ilhnen ,  die  nicht  etwa  alle  Versuche  von  Kastrationen  dar- 
stdlen.  So  unglaublich  es  klingt,  so  ist  es  doch  Thatsache;  dass  Manche 
sich  solche  Verletzungen  znfligen,  am  sieh  geselkleolitlieh  ftafsii- 
regen.  So  eniUt  s.  B.  ein  fransOeiMher  Sduriflateller  im  Jahre  1901 
(Notiz  im  Archivio  di  psychiatria  u.  s.  w.  1903.  S.  335),  dass  ein  68  jäh- 
riger Bauer  30  Jahre  lang  zu  diesem  Zwecke  sich  den  1  lodensack  ver- 
letzte, denselben  aufschnitt,  ihn  wieder  zunähte  uud  später  Fremd- 
IcOrper  unter  die  Haut  des  Serotams  bnehte.  Diese  UbemiB  eelteneD  FMle 
sind  wohl  eher  als  ein  anto-eadistisoher  Aet  (Vorstellung,  dass  der  Thäter 
diese  "Wunden  u.  s.  w.  einem  Partner  zum  ZM  Pcke  der  geschlechtlichen  Er- 
regung beibrachte),  als  ein  auto-masochistisciier  zu  bezeichnen  (Vorstellung, 
dan  Urnen  diese  Wunden  von  dritter  Seite  beigebradit  wUi-den).  Darauf 
bemlien  vieDdcht  i.Th.  wenigstens  aneh  gewisse  Voricommnisse  bei  Geistas- 
kranken,  wie  Umaehnfiren  des  Penis,  EinfBliren  von  Fremdkörpern  in  die 
Harnröhre  u.  s.  w  ,  was  allcidinp^  auch  zur  Beseitigung  localer  Heizungen 
und  Schmerzen,  bisweilen  auch  auf  (irund  von  Wahnideen  und  Sinnes- 
täuschungen oder  nur  aus  reiner  Spielerei  vorgenommen  wird. 

Enäeh  konnte  einmal  —  der  FtXL  ist'  aber  bisher  wohl  noeh  nie  be- 
obachtet worden  —  eine  Entmannung  in  einem  Wuthanfall,  eine  Zweek, 
auch  vielleicht  in  einem  epileptischen  u.  s.  w.  Dämmerzustande  vorgenommen 
werden.  In  einer  Notiz  des  Archivio  di  psich.  u.  s.w.  1903,  S.  287,  lese 
ich  nämlich  eine  Mittheilung  ans  einer  spanischen  Gerichtszeitung,  wonach 
ein  leidensohaftfieher  Menseh  in  einem  Momente  blinder  Wuth,  wo  er  alles 
roth  sah,  sich  selbst  schwer  verletzte  (aber  nicht  an  den  Genitalien!),  wonach 
er  Andere  der  That  bezichtete.  Hier  treten  dann  also  sogar  noch  weitere  Com- 
plicationen  hinzn.  Der  Jurist  wird  sich  auch  diese  Fälle  merken  mOasen. 


4. 

Haschisch  und  Verbrechen.  Man  weiss  wohl,  d:uss  (Ipium  und 
Haschisch  —  ein  Hanfpräparat  —  im  Orient  viel  in  verschiedener  Form 
genossen  werden,  davon  das  letztere  namentiioh  in  Aegypten.  Hasehiseh 
als  Droge  ist  für  den  Psychologen  qMciell  interessant  geworden  durch  die 
dem  Genüsse  de8sell)en  folgenden  ganz  merkwürdigen  llallucinationen,  wobei 
namentlich  der  Muskelsinn,  die  ri!eicli<j:ewiciitslage  so  gestört  erscheint,  djiss 
was  oben  ist,  unten,  was  rechts,  links  ei'scheint  und  umgekehrt,  so  dass  die 
Haüncinanlen  ob  ihrer  neuen  Lage  nieht  ans  dem  Entannen  gerathen.  Ifan 
weiss  ferner,  dass  Opium  die  Menschen  körperlidi  und  geiiBtig  herunter- 
bringt, weniger  war  dies  vom  Haschisch  bekannt. 

Nun  hat  W^arneck  (Insanitj'  from  Hashesh.  Journal  of  Ment.il  Science 
1903,  jan.),  Director  der  ägyptischen  Irrenanstalt  zu  Cairo  gezeigt,  dass  in 
Aegypten  diese  Droge  genau  die  traurige  Bolle  beaftgl.  Eneugnng  von  Imfam 
•und  Verbrechen  (ironriegend  gewalttliStige)  spielt  wie  der  Alkohol  in  England 
und  dort  schlimmer  zu  wirken  scheint,  als  in  Indien.  Der  Wirkung  nacli  ähnelt 
sie  sehr  dem  Alkohol,  und  so  unterscheidet  Verf.  einen  Uaschischrausch,  ein 


266 


Deliriam  («  dem  Delirium  tremens),  eine  acute,  cbrouiscbe  Manie,  eiue  ciiru- 
nische  Draoentia  und  die  sog  Gaanabinomaiiie,  die  dem  ehronisclien  Alkobolis- 

mus  an  die  Seite  zu  setzen  wäre  und  eine  allniälilioli  zunehmende  DepravatilMl 
bedeutet,  in  der  der  Betreffende  verlumpt,  bettelt,  flucht,  sehr  rei/har  ist  u.s.w. 
Körperliche  Symptome,  wie  beim  chronischen  Alki)liolismus  bullen  nicht 
auftreten.  Selbstmorde  sind  sehr  selten  und  specielle  Symptome  beim  Ent- 
ziehen dee  Haaehieeh  in  der  AnataU  worden  nicht  beobachtet  Eine  yOUige 
Abstinenz  hält  Verf.  bei  Opium  und  Hascbisdi  ffir  unmöglich,  wohl  aber 
möglichste  Eindämmung.  Man  hat  also  naeli  Obigem  auch  den  Hanf 
als  eminent  krimimogenen  Factor  von  jetzt  ab  anzusehen, 
und  energisoh  zu  bekämpfen. 


Traurige  Folgen  einer  Suggestion  bei  einem  Kinde.  leh 
habe  wiederfadt  mit  Andern  anf  die  getthilidi«!,  beabdehügten  oder  on- 

beabsichtigten  Folgen  einer  Suggestion,  die  nidit  blos  durdi  das  Gehör, 
sondern  auch  durch  das  Gesicht  (=  Nachahmun-r)  geschehen  kann,  hin- 
gewiesen. Ueute  wird  dies  von  Neuem  durch  folgenden  traurigen  Vorfall 
erläutert^  den  ich  dem  „Thie^  nnd  Menschenfrennde*  (1903,  Nr.  3  ond  4) 
entnehme: 

Lasset  die  Kinder  nicht  beim  Sehlachten  zujre;;en  sein! 
Aus  OlmÜtz  in  MäJiren  schrieb  man  uns  am  4.  Februar  H}U3:  .In  der 
Gemeinde  Morkowitz  bei  Prossnitz  ereignete  sich  am  vorigen  Freitag  ein 
grBaalieher  Fall.    ESn  dortiger  Baner  eehlachtete  in  Änweeoiheit  seine» 
3  jährigen  Knaben  ein  Sdiwein.  Bald  darauf  lief  das  Kind  in  die  Woh- 
nung, erfrriff  ein  Messer  und  schhiclitotc  mit  den  Worten:    -Ich  niuss 
doch  sehen,  ol»  die  Marie  auch  so  schreit,  wie  diia  Schwein"  sein  in  der 
Wiege  liegendes  halbjähriges  Schwesterchen.  Das  lund  war  sofort  todt. 
Bier  also  hat  das  Zoedianen  nnwillkürlidi  eme  schanrige  Tbat  ver- 
anlasst. Man  weiBS,  dass  alle  minderwerthi^z^en  und  unentwickelten  Gehirne 
—  und   dazu   froheren  vor  Allem  die  der  Kinder  —  besondei-s  der  Sug- 
gestion, auch  der  unbeabsichtigten,  wie  oben,  leicht  zugänglich  sind.  Alles 
was  das  Kind  sieht,  hört,  wird  mit  Kameraden  sofort  ausgeführt,  meist 
allerdingB  nnr  ab  Spielerei,  aber  oft  genug  mit  tragischem  Ausgange,  wie 
z.  B.  bei  dem  Räuber-  und  Hängeq[nele  u.  s.  av.  Hei  uns  spielen  die  Jungen 
meist  Soldaten   und   das   treht  gewöhnlich  hannlos  ab.    In  Spanien  spielt 
alles  den  Stierkämpfer  und  das  wird  wahracheinUch  weniger  un^^efährlich 
verlaufen.  Ob  auf  dem  Iiande  bei  uns  die  Kinder  auch  ,Schweijieschlacliten^ 
spielfin,  weisB  ieh  nieht  Jedenfdie  ^egt  dies  siemlieh  nahe.  Daraus  ist  die 
Lehre  an  entnehmen,  Kinder  nie  bei  irgendwie  aufregenden 
Scenen   Zuscliauer  sein  zu  lassen,  ihnen  auch  nie  Leetüre 
mit  solchem  Inhalte  zu  geben.  Man  vergiftet  oft  so  ihre  Seele  und 
kann  gcfährOehe  Snggeetionswirkungen  erleben.   Gerade  auf  dem  Lande 
liest  man  die  Kinder  ruhig  dm  rohoi  Scfaw^esdilachten  xosehoi.  Sie 
freuen  sich  Über  die  Qualen  der  Thiere,  wenn  zunächst  aucli  unbewusst. 
Dasselbe  geschiebt  bei  dem  öffentlich  vor  sich  gehenden  Beepnngen  der. 
Kühe  u.  s.  w. 


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Kldnere  Mittheilnugeii. 


867 


6. 

Thier(iiiä lerei  nnil  Aberglauben,  Kürzlich  (ll.Bd.,  S.  256)  habe 
ich  eiiiijje  intt'res.S!inte  Facta  bezüfrlich  (»liijjen  Themas  gebracht  und  bespro- 
chen. Heute  füllt  mir  ah  dazu  gehüriges  weiteres,  instnictives  Beispiel  fol- 
gender Vorfall  m  die  Augen,  den  ieh  ^eidifalb  dem  «Tliier^  nnd  Meneehen- 
frennde  (1003,  Nr.  3  und  4)  entnehme: 

rhierquälerei   aus   Aberglauben.    Aus   Bayern   wird  der 
^Fiankf.  Zl^'."  ;;osclinel)en:  In  einem  Ort  zwischen  den  Städten  Fürth 
und  Erlangen  verurt  sich  ein  Huhn  in  den  Huf  des  Xachbam,  gerätb 
in  den  Stidl  nnd  fliegt  einer  Kuh  auf  den  Rfldcen.  Die  Bäuerin  sieht* b 
nnd  erbleicht  bis  in  die  Lippen;  denn  ihr  wird  eB  mit  einem  Male  klar, 
wanim  ihr  in  letzter  Zeit  dies  nnd  jenes  zngestossen  ist:  das  Thier,  das 
da  oben  anf  dem  Kulirücken  sitzt  und  sie  mit  starrenden  Au]L:en  an- 
blinzelt, itit  keine  Henne,  das  ist  eine  Drud!  Flugs  maclit  sie,  unterstützt 
von  Kwd  handfesten  Mägden  eine  Attadce  gegen  die  Dmdenhenne,  und  naeh 
hartnäckigem  Widerstande  befindet  siel»  schliesslich  das  lluhn  auch  in  den 
Händen  der  keuchenden  Bäuerin,    Um  ein  für  alle  Mal  ein  Ende  mit  dem 
Verhexen  zu  machen,  spricht  diese  das  Tudesurtheil  aus:  sofortiger  Idd 
durch  Verbrennen  bei  lebendigem  Leib!  Die  Mägde  heizen  eigens  den  (^fen 
ehi  und  schieben  das  Huhn  in  die  GIntfa,  wo  es  unter  schmerxtiehem  Ge> 
gacker  bald  verendet.  Jetzt  ist  die  Geschichte  beim  Gericht  anhängig,  weil 
der  Naclibar  Sehadeneraatz  für  die  gemarterte  -Drud"*  beansprucht. 
So  gescliehen  im  Jahre  des  Heils  1903  oder  1902! 
Und  da  spricht  man  noch  von  den  grossartigen  Fortaduitten  der  Cnltur 
und  ridit  mit  Verachten  auf  die  aberglänbisehai  Banmi  Russlands  u.  s.  w.! 
Wer  etwas  mit  der  Volkspsychologie  vertraut  ist,  weiss,  dass  es  noch  vielfach 
finster  ist,  auch  in  nnserer  Volksseele.   Der  Ilexenj-danben  in  specie  ist  noch 
keineswegs  ausgestorben,  besonders  auf  dem  Lande.  Auffüllig  ist  es  allerdings^ 
dass  es  in  obigem  Beispiele  gerade  in  Fhmken  geschah,  was  eine  der  erleudi- 
tetsten  Provinsen  Bayerns  darstellt.  Nebenbei  ist  es  uubegi'eiflich,  dass  die  An- 
zeige nicht  wegen  der  scheusslichen  Tliier(|uälerei  gescliah.  sondeni  des  Scha- 
denei'satzes  ballier,    Vielleiclitwird  liier  aber  doch  der  Staatsaiiw alt  einjn"eifen. 
Wie  aber  ist  die  Frau  zu  bestrafen  V  Eine  gewöhnliche  Henne  liatte  sie  sicher- 
lieh nicht  verbrannt  Ihr  Aberglaube  wird  ilv  also  als  mildernder  Umstand  an- 
gerechnet  werden,  aber  wie  hodb?  Würde  sie  auch  die  That  gethan  haben,  wenn 
es  sich  nm  eine  eigene  H«ine  gehandelt  hätte? 


7. 

Wichtigkeit  einer  genauen  psychiatrischen  Expertise  bei 
gewissen  N'erUrecliern.  Wiederliolt  habe  ich  schon  früher  den  Satz  auf- 
gestellt, dass  jeder  Verhreciier  psychiatrisch  untei-sncht  werden  sollte,  um 
einem  Justizmorde,  d.  h.  hier  einer  unschuldigen  Verurtlieilung  iui  Krankheits- 
fälle, naeh  HOgliehkeit  zu  hegten.  Ldder  ist  dies  m  praxi  aber  undureh- 
führbar  und  wir  können  nur  fordern,  da.s8  bei  bestimmten  Verbrechen,  nament- 
lidi  Sittlichkeitsverbrechen,  dann  bei  jedem  Kapitah  »>rbrechen,eine  psychiatrische 
Untersuchung  stattfinde.  Dies  wenigstens  ist  durchführbar  und  ge^cliieht 
jetzt  glücklicher  Weise  immer  häufiger,  meist  allerdings  vom  Vertheidiger  dea- 


268  Kleinere  Ifittheilmigen. 


Angeklagten  beiinttagt.  Oft  liegen  nun  die  Veriiiiltnisse  so  einfach,  daaa 
der  Experte  nach  ein  oder  mehrereo  Besnehea  beim  Gefangenen  dieeen  siefaer 
für  geisteskrank  eiUlren  kann.  Leider  jedoch  fßAt  es  genug  GrenzfiOIe. 
wo  selbst  nach  lüngerer  Benhaohtunfr  <lio  Meinungen  der  Sachverständigen 
auseinandorgclien,  was  sehr  ungerechtfertigter  Weise  immer  wieder  den  Medi- 
ciuern  vorgehalten  wird,  während  uns  tügUch  wiederaufgehobene  Crericbts- 
urtheile  zeigen,  daas  withm  bei  Jnristen  noeh  viel  hftnfiger  gesehieht,  was 
aber  weniger  Eindruck  anf  das  Pablicum  zu  machen  scheint.  Zu  fordern  ist 
nun,  daas  mindestens  eine  fi wöchentliche  Beobachtung  solcher  Grenzfälle, 
am  besten  in  einer  renommirten  staatlichen  Irrenanstalt  Platz  greife,  da 
Beobaditang  im  Gefibigntase  selbst  immer  etwas  Unnatflriiches  an  sich  hat 
Zu  obigen  Bemerkangen  ▼«lanlaHen  noeh  besonden  die  PHtaideoteiim6rder 
Ouiteau  und  Czolgosz.  In  beiden  Fällen  war  der  Volks wille  so  peremptorisdi 
fnr  eine  baldige  Venirtheilung,  die  allgemeine  Suggestion,  <lass  es  sich  nm 
Geistesgesunde  handle,  so  stark,  dass  auch  die  psychiatrischen  Experten 
danmter  litten  nnd  ihnen  viel  ni  wenig  Zeit  m  genauer  Untersudiung  ge- 
wihrt  ward«  B«de  Mördei'  wurden  bekannüieh  hingeriditet,  da  sie  als 
geiBteageBond  angesehen  wurden.  Hinterher  stellte  es  sich  bei  Guiteau 
heraus,  dass  er  geisteskrank  war  und  jetzt  zweifelt  kein  Mensch  mehr  daran. 
Er  wai'  also  unschuldig  verurtheilt  worden  und  dies  scheint  nun  auch  beim 
2.  Mörder,  Gzolgosz  der  Fall  gewesen  zu  min.  Maedonald  sah  ihn  nnr 
dnige  Maie  und  erklärt  ihn  für  gesund,  3  andere  Sachverständige,  die  ihn 
wiederholt  naliezu  fast  3  Woclien  besuchten,  scheinen  der  gleichen  Ansicht 
gewesen  zu  sein.  Nun  hat  Channing'j  sich  der  [grossen  Mühe  unterzogen, 
auf  das  Genaueste  der  Anamnese  des  Mörders  nachzugehen,  indem  er  bei 
allen  Verwandten,  FVenndrai  nnd  Bekannten  naehfonchte.  Da  ersehdnt 
dann  die  Sache  ganz  anders.  Erblich  belastet,  ron  Kindheit  an  still,  scheu, 
war  er  seit  einigen  Jahren  kränklich  und  bot  geradezu  kindische  »hebe- 
phrenische"  Züge  dar,  mit  total  verändertem  Charakter  u.  s.  w.  Sehr  wahr- 
scheittUch  trat  in  ihm  alimälilich  die  Wahnidee  auf,  eine  grostic  That  aus- 
znftthren,  den  Priaidenten,  der  dem  Volke  ao  aehade,  zu  tOdten.  Er  war 
sicher  kein  Anarchist  und  war  auch  nie  von  den  Anarehfeten  als  der  Ihqge 
anerkannt.  Ki-st  die  genaue  Erhebung  seiner  Anamnese  —  die  den  früheren 
Gutachtern  so  gut  wie  unbekannt  war  —  giebt  den  wahren  Schlüssel  zur 
That  nnd  ieh  muss  nach  der  Leetüre  der  interessanten  Arbeit  von 
Ghanning  sagen,  dass  audi  ieh  den  Gzolgosz  für  geisteskrank  halte^. 
Man  sieht  hieraus,  wie  colossal  wichtig,  besonders  in  Grenz- 
fällen,  eine  genaue  Erhebung  der  Anamnese  ist,  die  freilich  oft 
genug  grosse  Schwierigkeiten  bereitet.  Der  Kuriosität  halber  will  ich  noch 
erwilmen,  dass  ein  QehLngnisgeirtlnher,  Drahms')  den  Mörder  im  Lom« 
brosischen  Suine  fOr  dnen  eehten  ,reo-nato^  hllt  Seme  Arbeit  ist  die 
pure  Phantasie! 

1)  Channing,  The  mental  Status  of  Czolgosz  the  assassin  of  president 
MeKInley.  Amerlean  Jomtial  of  ineanity.  No.  3.  1902. 

2)  Auch  Hughes.  Mrdical  asi)e(  ts  of  the  Czolgoss  csse  (AUenlst and Neu- 
rologist.  No.  1.  1902).  hält  den  M<"ink>i-  für  geistig  abnorm. 

S)  Drabms,  Leon  Czolgosz.  Ibidem. 


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Kleinere  MittheUiingen. 


269 


8. 

Ueber  den  Einflnss  schlechten  Schlafes  auf  die  Zeugen- 
au8sa{;;en.  Nur  selten  liest  man,  daas  hoi  (ionolit3\prliandlungen  der 
liiclitcr.  eher  schon  der  Verteiilif^er,  der  Glaubwürdi'ckeit  eines  Zeu^jen  öffent- 
lich näher  tritt,  wenn  er  dieselbe  auch  bei  seinem  Urtheile  wohl  mit  in  An- 
sehlag  bringt.  Wir  wieeen,  de»  je  oaeh  nneerem  KOrpenmetaade  die  Auf- 
nahme der  SinnesemdrQcke  nnd  ihre  Verarbeitung  nidit  nnweeeiitlich  sioll 
ändern,  ebenso  später  ihre  Heproduction.  liier  will  ich  nur  auf  einen  einzigen 
Punkt  aufmerksam  raachen,  auf  den  die  Juristen  schwerlich  bisher  ge- 
achtet haben.  Es  ist  dies  der  Schlaf.  Nach  schlechtem  Schlafe,  das  weiss 
ein  Jeder,  kt  die  AufmerkBunkelt  am  Tage  eine  geringere.  IXunit  hingt 
es  soBamnien,  dass  die  Sinneseindrücke  weniger  sdiarf  sind,  feinere  ganz 
tlbei-sehen,  andere  geradezu  falsch  aufgenommen  werden.  Hat  Jemand  in 
solchem  Zustande  etwas  gesehen  oder  gehört,  so  mtLssen  sich  schon  jetzt 
Irrthttmer  einschleichen.  Aber  noch  nicht  genug.  SoU  der  Betreffende 
später  ata  Zeuge  aaftretoi,  so  ist  hier  ErinnerongiAisehung  oder  -ttaaehnng 
viel  eher  möglich,  als  bei  andern.  Dann  macht  es  aber  ancli  einen  Unter- 
schied aus,  ob  Einer  nur  einmal  schlecht  geschlafen  hat,  oder  für  gewöhn- 
lich schlecht  schläft  In  letzterem  Falle  ist  die  Sache  oft  noch  prekärer. 
>  Der  Kiehter  wird  atoo  unter  anderem  fragen  mflaeen,  wie  der  Zeug«  ge- 
schlafen hat,  bevor  er  die  That  n.s.  w.  mit  ansah,  aber  aufdi  wie  am  Tage  vor 
Auftreten  als  Zeuge.  Consequenter  Weise  mUsste  man  das  auch  auf  \  iele 
Thäter  ausdehnen,  und  in  dem  voi-angegangenen  schlechten  Seidafe  mit  der  fol- 
genden geringen  Inhibition  von  .Impulsen  u.s.  w.  einen  Milderungsgrund  sehen. 


b)  Von  Siefert 
9. 

Ein  Selbstmord.  Ifi^iellieilt  vom  Errten  Staatsanwalt  Siefert  in 
Weimar.  Der  Fall  ist  vom  Geriehtsarst  Dr.  Hoffmann  ui  Elberfeld  un 
sweiten  Hefte  des  laufenden  Jahrganges  der  Vierteljahrssdirift  fUr  gerichtliche 
Medicin  dargestellt.  Mit  IJecht  wird  gesagt,  (hms  er  wegen  der  Art  der  Aus- 
fflhrung  Anspruch  darauf  mache,  ein  grösseres  Interesse  für  sich  zu  erwecken. 

Die  StaatBanwaUsehaft  hatte  eine  Section  der  Leidie  veranlasst  Das 
irztliche  GuUiehten  lautete: 

Ei-stickongstody  die  ErstidKung  hOehstwahrscheinlich  bedingt  dnreb 
Chloroform. 

Es  drehte  sich  um  die  Lciciie  emes  jungen  Drogisten,  welclie  in  dessen 
Zimmer  gefnndoi  worden  war.   Die  Obdneüon  wnlrde  nach  dem  Sebema 

für  Veigiftuiigcn  ausgefOlirt.  Die  chemisclien  Sachverständigen  stellten  durch 
den  Geruch  fe.st,  dass  in  den  ihnen  übergobenen  I.(eichentlieilen  —  Gehirn, 
Herz,  Milz,  Niereu,  I^ber,  Blut  aus  dem  Gehirn  und  aus  dem  Herzen  — 
Chloroform  enthalten  war.  Auf  dem  blossen  Leibe  dei*  Leidie  befand  sich 
ein  fest  anliegendes  Korsett  Es  tat  an  yennnthen,  dass  der  Drogist  dnrob 
üaa  Anlegen  dieses  beengenden  KleidungsstQdEes  seinen  Tod  um  so  siclierer 
herbeiführen  zu  können  geglaubt  hat.  als  wie  er  gewnsst  haben  wird,  beim 
Chloroformiren  alle  beengenden  Kleidungsstücke  entfernt  werden  müssen. 


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270 


Kleinere  Mittbalanipeo. 


Sonst  wai'  die  Leicüe  nur  mit  einem  weitit>eu  Uemd  bekleidet,  sie  lag 
auf  dem  Bette  «nf  dem  Baudie.  Der  Kopf  war  mit  einem  Tnehe  leidS 
zugedeckt.  Die  Hände  lagen  auf  dem  Kfidcen.  Sic  waren  in  der  Weiie 
gefesselt,  dass  sie  in  einander  gelegt  und  die  Hjindprelonke  von  einem 
Riemen  umschlungen  waren.   Der  Kiemen  verlief  straff  nach  ahwärts. 

Kacli  dem  Umwenden  der  Leidic  fand  man  den  etwa  1,30  m  laugen 
Riemen  glatt  nnter  dem  KOiper  liegen  nnd  diofat  am  Mnnde  des  Toten  das 
Ende  des  Riemens.  Der  Eindraek  der  vier  oberen  nnd  nnteren  Schneide* 
zfthne  war  dentlicli  dtran  zu  ersehen. 

Das  unter  dem  iiesichte  der  Ldche  liegende  Tucb  war  feucht  und 
roch  nach  Erbrochenem. 

Direet  nnter  Mnnd  nnd  Nase  fand  sich  ein  kleines  viereckiges  Papp* 
sehichteldien  von  5  bis  6  qcm  Grösse,  wie  man  sie  beim  Einkaufen  von 
.TnwelierM'aaren  erhält.  Dasselbe  war  mit  rntlifr  Watte  gefüllt,  der  Farbstoff 
war  ausgelaugt  und  hatte  die  untere  Paitie  d^  Gesichtes  und  das  unter 
dem  Geeichte  liegende  Tudi  I^eht  gefärbt 

Anf  einem  Tische  im  Zimmer  wurde  ebe  Flasche  m  76  g  gefonden, 
die  an  einem  Drittel  mit  Chloroform  gefüllt  war. 

Die  Schalen  des  erwähnten  Pappkilstehens  waren  von  dem  Selbstmörder 
mit  Chloroform  gefüllt  worden,  worauf  er  das  Lager  aufgesucht  hat  Idit 
dem  llbergedecktien  Tuche  suchte  er  das  Verdunsten  des  Chloroforms  mOg^ 
liehst  zu  verhindern  und  uabewnsste  Abwehrbewegungen  machte  er  durch 
die  Fesselun«:  der  Arme  unmöglich.  Bei  dem  auf  dem  Gesichte  liegenden 
Mensehen  trat  zunächst  die  ('lilorufonubetäubung  und  dann  in  Folge 
mangelnden  Luftzutritts  der  Erstickungstod  ein. 

Die  Motive  mm  Selbstmorde  wurden  in  ,Famili6nveifaSltnis86&''  gefunden. 

e)  Von  Hahn. 
10. 

Blutiger  Aberglaube.  Von  F.  Hahn,  Untenuchungsrichter  m 

Grodno,  Kii.ssland.  Die  russische  Zeitung  „Oestlicher  Bote"  theilt  mity  dasB 
in  der  Nähe  der  Stadt  Port  Alexandrowsk  zwei  den  Zwanj^'sarbeiten  anf 
der  Insel  Sachalin  entlaufene  Kirgisen  verhaftet  wurden,  in  deren  Keise- 
säcken  man  Stücke  von  Menschenfleisch  fand.  Die  eingeleitete  Unterauchnng 
ergab,  dass  diese  Kirgisen  twei  ebenfalls  enäanfene  StrSfIbge  getOdtet 
liatten,  deren  Leichen  audi  gefunden  wurden.  Die  gerichtliche  Obduetion  der 
Läoben  der  Ermnrdeten  ergab,  dass  an  ihnen  Herz,  lieber  nnd  Finger  fehlen. 

Das  citirte  Blatt  knüpft  an  diese  Mittheilung  die  Muthmaassung,  dass 
man  es  wohl  in  diesem  Fiül  mit  Kannibalismus  und  zwar  mit  gewohnheitS' 
missigem  au  thun  habe^  da  das  Verbreohen  in  der  NIhe  eines  Bergwerks 
verübt  worden  ist  und  die  (iegend  dort  absolut  nicht  so  mensdicnleer  sei» 
dass  die  Kirgisen  nicht  hätten  Nahrung  erhalten  können. 

Man  wird  wohl  niciit  irren,  wenn  man  voraussetzt,  dass  der  Kanni- 
balismus mit  diesem  Verbreehen  nichts  au  Aun  hat  und  dass  der  Doppel- 
mord wohl  zu  abergläubischoi  Zwedcen  verübt  worden  ist,  worauf  das 
Fehlen  von  Herz,  lieber  und  Fingern  an  beiden  Leichen  hinweist,  denn  diese 
Bestandtheile  des  nienschlidicn  Körpers  kann  man  doch  nicht  als  die  ge- 
eignetsten zu  Nahrungszweckeu  ansehen. 


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BeBpreehiiBgeiL 


a)  Bücherbesprechungen  vun  Nücke. 

1. 

Möbius,  Ueber  die  Wirkungen  der  Caetration.   Marhold,  Halle  1903, 

99  Seiten,  2  Mark. 

Verf.  giebt  liier  zwar  keine  eigenen  Versuche  oder  Beobaclitungen  über 
Castration,  aber  dne  sehr  gute  und  klare  Uebersicht  Aber  das  bisher  auf 
dieeem  Gebiete  Geleistete.  Seine  Sprache,  aadi  in  der  Polemik,  ist  niaas8> 

voll,  seine  Urteile  raeist  richtig,  vorsichtig  und  kritisch.  Die  angehängte 
Bibliographie  ist  dankenswerth.  Geschichte  und  die  Wirkungen  der  Caatra- 
tration  au  Mensch  und  Thier  werden  genau  geschildert  und  die  vielen  un- 
gelösten Probleme  angedeutet  Bb  zeigt  sich,  dass  sie  nur  gans  früh  ans- 
gefnhrt,  die  Ausbildung  der  secundären  Geschlechtsmerkmale  hemmt,  später 
ausgeführt  dagegen  kaum  noch.  Gerade  sie  spricht  dafür,  dass  das  specielle 
Geschlecht  nicht  durch  die  Keimdrüsen  bedingt  wird,  sondern  schon  im  (be- 
fruditetenj  Ei  foitgestellt  ist  (Öoma-Theorie),  da  —  bis  auf  Zwitter  —  stets 
die  Zeichen  eines  Geschlechts  prftyaliren.  Die  Keimdrilsen  „fOidem*  abM> 
nur  die  secundären  Geschlechtsmerkmale,  machen  sie  aber  nicht.  Manches 
spricht  für  eine  bisexuelle  Anlage.  Die  IveiindrOsen  wirken  fönlernd  durch 
die  „innere  Secretion".  (Dafür  spricht,  meint  Ref.,  sehr  Vieles,  oltgleich  das 
Wort  jetzt  ein  Sclilag^urt  geworden  ist,  und  auf  alle  möglichen  Drüsen 
und  Gewebe  ansgedehni  wird.  Der  strikte  Beweis  ist  aber  nur  dann  er- 
bracht, wenn  der  „seoemirte'^  Stoff  erst  nachgewiesen  ist.)  Verf.  fügt  end- 
lich noch  einige  sehr  kurze  forensische  Bemerkungen  bei,  Ref.  hätte  nicht 
viel  auszusetzen.  Er  glaubt  nach  wie  vor  mit  Rieger  gegen  Möbius, 
dass  man  bei  sehr  fettem  oder  muskelstarkem  Nacken  die  Connguration  der 
Hinterfaanptssdmppe  nicht  genan  abtasten  kann.  Die  Bedehnng  toh  Klon- 
him,  Hinterhaupt  und  Geschlechtstriel I  ä  la  Gall  hat  sehr  Vieles  gegen  sidi. 
Wenn  Möbius  glaubt,  dass  zwischen  Moralität  und  Keimdrüsen  keine 
engeren  Beziehungen  bestehen,  so  möchte  lief,  ihm  nicht  beistimmen,  da 
der  normale  Geschlechtstrieb  viehnehr  die  Unterlage  emer  gesunden  Moral 
abnigeben  sdiebt.   


2. 

Kluge,  Männliches  und  weibliches  Denken.  Marhold,  Halle  1902,  35  Seiten, 

1  Mark. 

In  äusserst  geisti-eicher  Weise  behandelt  Verf.  sein  Thema,  wobei  er 


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272 


BespFechnngen. 


freilich  der  Kritik  nicht  selten  Blösaen  darbietet.  D;iä  ganze  geistige  Leben 
ttnft  nach  ihm  in  Bewegungsrontonongen  ab  (immor?  Ref.).  Diu  ganze 
Denken  ist  „auf  einen  Vorgang  der  Bewegung  ztirflckzuführen".  Ueberail  sind 
Muskehl  mit  thätig.  ^leh  denke  tliatsilcldich  mit  meinem  I^ibe''  und  die 
eigenthchen  Sinne  sind  somit  beim  Denken  in  den  Hintergiund  ;,'edriingt 
ausser  dem  GefQhlsinn,  der  vuui  Bewegungssinn  unzertrennlich  ist  Die  Be- 
wegangavonldlangen  bd  der  FVan  nnd  dem  Mann  abd  nnn  rendiieden, 
daher  auch  ihr  Denken,  und  zwar  schon  in  die  Jugend.  Das  Weib  denkt 
mehr  in  ^iSituationsbildera'" .  daher  die  rnbeHtän(b'frkeit :  durch  lebhaftere 
Empfindung  \  erlangt  sie  mehr  nach  Neuem,  ist  mehr  subjectiv  und  partei- 
licher. Der  Mann  geht  mehr  nach  Ursadie  tmd  Wirkung,  er  denkt  ruhiger, 
objeetiver,  emator,  grnndUeher.  Ihm  «aehwebt  eine  Zielrotatellang  vor, 
daher  ist  das  weibliche  Dejiken  ein  entschieden  minderwerthi- 
geres"  (V  Ref.).  Aber  auch  ganze  Völker  denken  mehr  weiblich,  so  z.  B. 
die  alten  Griechen  (VRef.j,  wenigstens  später,  aach  die  Börner;  die  semi- 
tisefaen  VSlker.  HandebvOlker  denken  weMeh  (?  Ref.).  In  der  Stadt 
denkt  man  mehr  weiblidi,  anf  dem  Lande  mehr  männlich  (?  Ref.).  IHe 
FVau  soll  nur  solcJie  Benife  ergi-eifen,  wo  sie  weiblich  denken  kann.  Man 
sieht  Möbius  mit  seinem  ..physiulogischen  Schwaclisinn  beim  Weibe'^  macht 
Schule,  freilich  nur  eine  sehr  einseitige  und  fragwürdige. 


3. 

V.  D  U  h r  cn ,  Das  Gesclileebtsleben  in  England  n.  s.  w.  Bandori^  Charlotten- 
burg 1902,  445  Seiten. 

Merkwürdiger  Weise  ist  in  diesem  Archive  (Bd.  X)  der  II.  Band  dieses 
hodibedentBameii  Boehea  besproehen  wwden,  nieht  aber  der  L,  weshalb  ich 
letsterea  hier  kui  anzeigen  will.   Es  ist  em  Bucli,  das  jeder  (Gebildete 

gelesen  haben  mnss,  da  die  Seiten,  die  zunUclist  allerdings  nur  das  eng- 
ILsclie  lieben  beleuchten  sollen,  eben  ganz  allgemeine  Verhältnisse  betreffen. 
In  klarer,  schöner  Sprache,  auf  Grund  umfassender  literaturkenntnisse,  wird 
JOB  ent  der  en^iscfae  Nationaloharakter  in  seinen  gnten  und  bMen  Seiten 
geschildert  und  auf  die  specißsch  hHwBchen  Seiten,  namentlich  die  Bni- 
talitilt,  die  4  specifisch  englischen  sexuellen  Phänomene  zurOck^^efülirt,  näm- 
lich die  Kaufehe,  die  Deflorationsmauie  und  Kinderschändung,  die  Fiagellu- 
maaie  und  die  Hänfij^eit  und  seandaKifle  Verhandlung  der  Ehebrnohspro- 
eesse.  Alle  diese  Dinge^  1^  auf  die  FUigellomanie,  werden  angehend  dar^ 
gelegt  und  man  ist  erstaunt,  wie  viel  Mittelalterliches  noch  jetzt  in  Eng- 
land fortwuchert.  Ein  Gegengewiclit  zu  diesen  traurigen  rhänomen  bietet 
die  Elle  dar,  der  im  letzten  Capitel  allerdings  die  I^ostitution  gegenübei- 
ateht,  die  hier,  ab  «n^iadie  Ftortitntion,  zuerst  flberhaupt  abgehandelt  wird 
und  daher  sehr  vollkommen  ist.  Das  Verhältniss  zwischen  ihr  und  dem 
Verbrechen  wird  den  Richter  speciell  inleressiren.  Endlich  finden  noch  die 
Magdalenenstifte,  die  Abolitionistenvereine  u.  s.  w.  Berührung,  und  ihre 
Nutzlosigkeit  wird  richtig  geschildert.  Der  Kritiker  freut  sich,  au  diesem 
Standard  werk  nur  ganz  Nebensächliches  anfechten  zu  mflssen. 


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Be^Nreohimgen. 


378 


4. 

Liebmann  und  Edel,  Die  Sprache  der  Geisteskranken  nach  stenographi- 
schen Auf/.eichn\in*ren,    Marliold,  Halle  1903.    Is2  Seiten,  4  Mark. 

Jeder  rsychiater,  der  es  mit  seiner  Wissenschaft  ernst  nimmt,  hat  es 
gewiss  oft  bedauert,  beim  Anhören  interessautcr  Kranken  iiidit  ilire  Reden 
nadntenographiren  sn  kOnnen.  Selbst  der  Mbneltat  Schreibende  ist  oft  hier 
zu  folgen  unfähig.  Zum  tieferen  Eingehen  in  dftl  GefUge  der 
Kede,  besonders  nach  psychologischer  nnd  sprachlich-for- 
maler Seite  hin,  ist  die  Schnellschrift  unbedingt  nöthig.  Es 
war  daher  ein  glacklicher  Gedanke^  dass  ein  belcannter  Berliner  Sprachanst 
und  ein  Inrenant  sich  snuuBmeDthjtten  und  die  olnge  LOeke  ansfoilten.  Es 
werden  nns  alle  möglichen  Geisteskranken  vorswtellt  und  nach  knnter 
Skizzirung  der  besonderen  Krankheitsform  ihre  Krankengeschichte  kurz 
mitgetheilt  und  ein  oder  mehrere  stenographirte  Gespräche  mit  ihnen  gegeben. 
SefaoD  diese  lahlreiehen  vaä  meist  gut  gewihlteii  Krankeegeschiditeii  rind 
interessant,  noch  mehr  aber  die  verschiedenen  sprachlichen  und  grammati- 
kalischen Abweichungen,  namentlich  bei  der  Paralyse,  Epilepsie  und  Imbecilli- 
tät,  die  dabei  einem  erst  klar  werden.  So  bildet  denn  obiges  Buch  eine 
sehr  dankeuswerthe  Ergänzung  eines  jeglichen  Lelirbuches  für  Psychiatrie, 
wekihes  Letsterss  gewOhnüoh  gerade  die  sprachliehen  and  stimmlieheD  Eigen« 
heiten  mehr  vernachlässigt,  auf  alle  Fille  nie  so  sehr  darauf  eingeht,  am 
wenigsten  an  der  Hand  von  Stenogrammen,  die  allein  das  Clieh«' 
des  Originals  darstellen  können.  Die  Eintheilung  der  l'sychosen  ist 
wohl  noch  absichtlicli  die  alte.  Trotzdem  sprechen  die  Verf.  von  Dementia 
praeeoz,  yerwendeo  das  Wort  aber  anden  als  Kraepelin. 


5. 

Politisch-anthropologisehe  Bevne.    1*  Jahrgang  1902/8. 

Die  hier  schon  frflber  angezeigte  neoe  Zdtsdirift  hat  nun  ihr  1.  Lebens- 
jahr beendet,  und  voll  gehalten,  was  sie  versprach.  So  ist  es  auch  kein 
Wunder,  dass  sie  in  der  kurzen  Zeit  eine  relativ  enorme  Zahl  von  Abon- 
nenten aufzuweisen  hat,  wie  wohl  kaum  eine  andere  Monatsschi'ift.  Sie 
▼erdient  aber  yollanf  diesen  Znsproeh.  Aneh  nnr  dn  oberflidilicfaer  Bliek 
auf  das  Inhaltsverzeichniss  zeigt  den  Reiditiium  an  zum  Theil  sehr  langen 
Originalarbeiten,  meist  von  bekannten  Autoren.  Wie  sdion  früher  bemerkt 
ward,  sind  endlich  die  vielen  kurzen,  angehängten  Berichte  Uber  aile  mög- 
liciien  Zweige  des  Wissens  sehr  daukenswerth. 

So  Tenichieden  nun  aneh  die  Arbeite  selbst  sbd,  so  geht  doeh  durch 
die  meisten  hindurch  wie  ein  rother  Faden  die  EIntwicklungslehre ,  speciell 
in  ibr  Darwin  sclifti  Ausgestaltung.  Diese  wird  dann  in  den  Dienst  der 
Hitt- Anthropologie  und  Politik  gestellt,  und  zeigt  so  recht,  wie  ungeheuer 
fruchtbar  diese  Hypothese  geworden  ist.  Dass  damit  die  religiösen  Dogmen 
nnTereinbar  shid,  Tersteht  neh  von  selbst,  daher  ist  Religion  von  der  Be- 
traehtong  gajiz  ausgeschlossen.  So  wird  diese  Zeitschrift  in  Hieologen- 
kreisen  freilich  kaum  Anerkennung  finden,  wohl  aber  in  naturwissenschaft- 
lichen und  audei'en  Berufszweigen.    Dabei  ist  selbstverständlich  nicht  ge- 


274 


Besprechungen. 


sagt,  dass  man  sich  zu  jedem  Satze  bekennen  mnas.  Es  giebt  eben  andi 
hier  Heianporae,  die  mit  .IdentitHta-Beweiaen'^  in  Folge  ihrer  Affectiage 
sclmell  bei  der  Iland  sind.  Alles  in  Allem  g^ommoi  ist  obige  Zcitsehrift, 
Jedem  warm  zu  empfehlen,  nicht  am  wenigsten  aber  dem  Juristen. 


6. 

M.  Hirsehfeldy  Der  nmiache  Menseh.    M.  Spohr,  Leip^  1903. 
196  Seiten. 

Hirachfekl,  der  Herausgeber  des  verdienstvollen  Jahrbuchs  für  sexneOo 
Zwisclienstufen,  ist  jedenfalls  derjenige,  der  die  meisten  Homosexuellen  — 
über  1500  bereits!  —  kennt  und  zwar  z.  Th.  seit  Jahren.  Damm  ist  er 
sidier  fan  höchsten  Chnde  eompetent  hi  Sadien  der  gleichgeschleehtUchen 
Liebe.  Daher  ist  seine  obige  Monograplüe,  die  jetzt  sdion  als  Tbeilstüflk 
des  diesjlUiri^ren.  noch  nicht  ])ul»lirirten,  Jahrbuchs  ei-scheint,  als  eine  der 
wichtigsten  Ai  beiten  zu  bezeichnen  und  ganz  hesondera  dem  Juristen 
und  GerichtBAizte  zu  emptehien.  Jede  Zeile  athmet  gesättigte  Erfahrung,  grosse 
Bdeeenheit,  scharfe  Kritik  und  Wohlwollen.  Mit  den  betreffenden 
Bncliern  von  v.  Krafft-Ebing  und  Moll  bildet  das  von  Hirsoh- 
feld  eine  grundlefrende  Trias  ftir  alle  Zeiten,  zumal  darin  auch 
die  vielen  Aufgaben  einer  künfti;ren  Forechung  genau  dargelegt  sind. 
H.  räumt  mit  Yorurtlieilen  gründlich  auf.  £r  zeigt,  dass  die  Juden  nicht 
weniger  Homosexuelle  H.)  haben,  als  die  Ghiteton,  die  Germanen  da- 
gegen wahrscheinlich  mdur  als  die  Romanen.  Die  Homosexualität  ist  stets 
angeboren,  nie  erworben,  Rp(^<'iell  durch  Uebersättigung,  Onanie  oder  schlechte 
Leetüre  ist  sie  nie  zu  erlangen.  Alles  spricht  für  bisexuelle  Anlage  auch 
des  Geschlechtstriebs.  Verfasser  b&lt  die  Aussagen  der  Uomosexuelleu  nicht 
für  eriogen.  Klassiscfa,  wie  wohl  noch  nie  anvor,  wird  das  nmiscfae  Kind 
geschildert,  das  gleich  von  vornherein  anders  geartet  ii^  anderoD  liebhabcrden 
zeigt  U.S.W,  und  damit  eben  beweist,  dass  es  ab  ovo  anders  annrele^'^t  war. 
Die  colossale  Wichtigkeit  der  Träume  für  die  Diagnose  der  Homosexuellen 
nnd  xwar  berots  in  der  Jngend,  wird  speciell  hervorgehen.  Auch  die  Dar- 
stellang  der  Psyche  des  erwachsenen  Urnings  ist  Torxttglieh  gelangen. 
Verbrecher  finden  sich  sehr  selten  unter  ihnen.  Es  giebt  keusche  und  lieder- 
liclie  Homosexuelle,  platonisch  Liebende  (?  Ref.)  und  sehr  sexuelle.  Der 
l'rieb  an  sich  ist  unausrottbar  und  es  giebt  dagegen  kein  Mittel.  Nur  ca. 
25Proc.  HomosexneOe  waren  wbBeh  belastet  Unter  200Homo8raeUen  ftoden 
sich  nur  bei  1 6  Proc.  Degenerationszeichen  nnd  zwar  waren  diese  fast  alle  erb- 
lieh bela.stet.  Die  Homosexualität  hat  mit  Degeneration  also  nichts  zu  thun. 
Verf.  widerlegt  die  vielen  Vorurtheile,  Punkt  für  Punkt,  namentlich  nimmt 
er  Bloch  scharf  ins  Gebet.  Die  Homosexualität  bedeutet  keinen  Atavismus, 
da  die  Zwnchenstnfen  k^en  Rfiekschritt  zum  ein-,  sondern  Tiel  eher  eben 
Fortschritt  zum  mehr-t,<rhli't'litlichen  bedeutet  (?  Ref.)  Ref.  hat  nur  ganz 
wenig  Punkte  gefunden,  die  discutabol  wären,  luf.  bat  natürlich  auch 
nicht  gewollt,  das  ganze  Gebiet  darzustellen,  sondern  nur  die  Uauptkapitel, 
daher  ist  manches  nur  angedeutet. 


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Bdqncchiiiigra« 


276 


7. 

Schnitze:  Die  Stellun':n>al>nie  des  Keiclisp:pnclita  zur  Entmfindigrun}?  wefjen 
Geisteskrankheit  oder  (JeistoK^icliw ;iclie  (§  ß,  Abs.  I,  R.  (1.  15.)  und 
zur  Pflegscliaft  1910,  B.G.B.)  nebst  kritischen  Bemerkungen. 
Juristiscb-psychiatrische  Grenzfragen,  1  Bd.,  H.  1.  IM.  Halle,  Mar- 
hold.   36  S. 

Schnitze,  der  Jurist  unter  den  Medidnem,  besprieht  hier  klar  und  an- 
spreehend  die  Entmündigung^  und  rfloL-^f^liaft  in  F.lllen  von  Seolenleiden 
ond  zwar  mit  Rflcksieht  auf  Koiohsgerielitsentscheidungen.  Seine  daran  an- 
geknüpften Kritiken  und  N'orseliläge  zeigen  den  klaren  Kopf  und  den  er- 
fflfhrenea  Praktiker.  „Oeieteskranläeit*  und  „Oetatesechwidie*  shid  im  Ge- 
aetse  keine  psychiatrischen  Begriffe,  sondern  nur  rein  juristische;  sie  liab«i 
nur  civilreohtlielie  Bedeutung;  jener  Ausdnick  bedeutet  die  schwerere, 
letzterer  die  leichtere  Art  der  Geistesstörung.  Auch  ohne  speciell  darnach 
gefragt  zu  werden,  soll  der  Sacliverständlge  eich  darüber  aussprechen.  Die 
Form  der  Fbyehoee  spielt  bei  diesen  Ansdrftcken  keine  RoUe.  Znr  Ver- 
meidung von  IrrthOmem  wende  der  Ontaditer  nur  neutrale  Ausdrücke  statt 
Geisteskrankheit  an,  wie  SeelenstHninjr  z.  B.  Bez.  der  Pfletrseliaft  meint 
Verf.,  dass  dieselbe  sich  nur  auf  einzelne  ausdrücklich  benannte  Angelegen- 
heiten erstrecken  darf.  ^Die  Fttrsorge  der  Entmündigung  kann  sich  praktisch 
nach  nur  aal  beliebige  einsehie  Angelegenheit«!  belieben,  brandit  es  aber 
nicht,  da  der  Vormund  der  gesetzliche  Vertreter  seines  Mündels  in  allen 
Angelegenheiten  ist."  !>ie  rflegseliaft  sollte  recht  viel  angewendet 
werden;  aucli  bei  jeder  ätiirke  geistiger  Störung  ist  das  zulässig.  WUnschens- 
werth  es  ferner,  wenn  die  Anstalt  ▼<»  dem  Brfolg  der  Entmündigung 
vnd  Pflegsehaft  in  Kenntniss  gesetst  wird,  vielleidit  am  besten  sdtens  des 
Staatsanwalts. 


b)  Büeherbespreehnngen  von  Hans  Gross. 

8. 

Znrechnnng  und  strafrechtliche  Verantwortlichkeit  in  posi- 
tiver Beleuchtung.    Zwei  Vorlesungen  gehalten  in  russischen 

Hociischulen  für  Socialwissensehaften  in  Paris  von  A.  Golden- 
weiser. Hechtsanwalt  in  Kiew.    L.  Prager,  Berlin  1903. 

Die  .sehr  lobenswertlie  Siiirift  zeichnet  sich  vor  ähnlichen  vortlieilhaft 
dadurch  aus,  dass  sie  die  zum  Gegenstande  der  Besprecliung  gewählten 
nemen  nicht  hi  mehr  oder  wralger  metaphysischer,  sondern  natnrwissen- 
Bchaftlich  exacter  Wei.^e  l^ehandelt.  Das  Ergebniss  der  hoohinterSSSanten 
Arbeit  geht  .allerdinfrs  dahin,  das.«*  sich  Verf.  für  ein  FOi"sorgeprincip,  ziem- 
im  Sinne  Vargha's  {„zur  Abschaffung  der  Sti'afknechtscliaft")  entscheiden 
wiQ.   Er  hilt  es  ffir  dorehfOhrbar. 


% 


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276 


9. 

Fritz  Hartwig,  Die  Hechte  des  Anfrekla^en.    Ein  unentl)elniicher  Katli- 
geber  und  Wegweiser  im  Strafprocess.    Kich.  Lipinski,  Leipzig  PJÜl. 

Die  PopulariBirung  der  Wisöensciiaft  hat  dort  ihre  Grenzen,  wo  sie 
»m  SelbetpfudMO  AdIsh  geben  kiiin.   Die  voriiegeode  Sehrift  ist  eine 

Art  kriminalistisches  Naturheilverfalinn,  in  welchem  der  Laie  Yerhaltunge» 
maassregeln  fflr  den  Fall  erliält.  als  er  mit  dem  Strafgesetz  in  Conflikt  ge- 
räth.  Solche  Dinge  sind  stets  bedenldich  —  der  Jurist  bedarf  ihrer  nicht, 
and  der  Laie  veratdit  sie  doeh  nieiit  und  setzt  sieh  durch  diese  Missver- 
«ttndniBse  nur  wesentlidien  Gefahren  aas.  Zudem  entfallt  die  fiklirifli  die 
sdion  in  siebenter  Auflage  erschienen  ist,  recht  elgenthOmliche  Verdächti- 
gungen des  Richterstandes:  , viele  Richter  bilden  sich  ihr  Urtheil  über  den 
Angeklagten  vorzeitig'^  (S.  7);  , manchmal  leitet  der  Vorsitzende  dem 
Belastnogszeugen  ein  tnfmerirases  Otir,  wilvend  er  den  Angeklagten  . . . 
rauh  anfiUirt  and  ihn  wohl  gar  der  Lflge  saht"  (8.  8);  der  Angddngte 
wird  vom  Richter  nnterbrodien,  zur  Kürze  ermahnt,  vielleicht  gar  hart  an- 
gefaliren'^  (S.  S);  ^die  Richter  halten  überhaupt  auf  die  her- 
gebrachte Verhandlungsform  ^  (S.  27);  „hat  nicht  ein  Angeklagter,  der  aus 
der  Landesidrehe  ausgeechieden  nt,  and  sieh  als  Dissident  beaeiehnet,  an 
befürchten,  dass  das  Wort  Dissident  auf  den  Richter  wirkt,  wie  auf  gewisse 
Thiere  und  Menschen  die  rotlie  Farbe V*"  (S.  39);  .politiscli  anrüchijre 
Personen  dürften  keine  Aussicht  auf  Erfolg  bei  einem  Gnadengesuche 
haben (S.  49)  u.  s.  w.  Solche,  in  ihrer  Allgemeinheit  ausgesprochene 
Angriffe  enohattem  in  geflttuiieher  Weise  das  Yertraaen  des  Volkes  sa 
seinen  Riditem  and  Idlnnen  nur  sehid^end  whdcen. 


10. 

Der  Vorsitz  im  Schwurgericht.    Für  den  praktische  Gebraodl  anf 

Grund  des  Gesetzes  und  der  Reichsgericlitsentscheidungen  zusammen- 
gestellt von  Kalau  v.  Hofe,  Landgerichtsdü-ector.  Franz  Vablen, 
Berlm  1901. 

Wur  haben  hier  eme  änsserat  bequem  und  übersichtUch  angeordnete 
Zosammenstellang  alier  Geselle,  Entnheidangen  and  literatarbehelfe,  die 

ein  Vorsitzender  des  Schwurgerichtes  in  seiner  onabeehbar  schwierigen 
Stellung  nöthig  hat.  Die  Schrift  kann  auf  um  so  grOesere  Yerbreitang 
reclmen,  als  sie  für  jeden  Richter  Interesse  haben  muss. 


11. 

Mittheilungen  der  Deutschen  Gesellschaft  zur  Bekämpfung 
der  OesohleehtslE  rankheiten.  Herausgegeben  von  Dr. 
Blanchko,  Arzt  in  BerUn;  Dr.  E.  Lesser,  Prof.  a.  d.  Univ. 
Berlin:  Dr.  W.  Ncisser,  Geh.-Med.-Bath  und  Flrof.  a.  d.  Univ. 

Bresl.ui.    .1.  A.  Barth.  Ix'ipzig  1902. 

Etwas  UiH  i^M  iinUtzigeres  und  Segensreicheres  als  das  Beatrehen  der  ge- 
nannten Gesellschaft  lässt  sich  nidit  deuken.  Abgesehen  davon,  daäs  die 
entsetafieh  weite  Verbrdtnng  nnd  die  nnabsehbare  Gefahr  der  Gesdileohta- 


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Beeprechaagen. 


277 


krankheitea  direct  von  kriminal -antliropologischer  Bedeutimg  iat,  muss  es 
aodi  «k  Pfliebt  aog«Mhen  werden,  allee  ftnfniwenden,  was  nur  Vntet- 

ettttenng  der  Bestrcltun^'en  der  Gesellschaft  denkbar  ist.    Ich  bitte  die 

T^ser  von  diesen  Mittheilun^en  Konntniss  zu  nehmen;  die  Geschäftsstelle 
der  Gesellschaft  ist  Berlin  W.  9,  Potadameratrasse  20,  wo  jede  gewtloschte 
Auskunft  gerne  ertheilt  wird. 


12. 

Ch.  Cartellani,  „Das  Weib  um  Kongo'.  Deutscli  von  Margarethe 
Brune  mit  ^er  ESideitong  und  Anmerkungen  von  Max  Brune 
J.  G.  G.  Bmne,  Minden  i  W.   Obne  Jahreszahl. 

Sdtd^  die  Kriminalpsychologie  als  unentbehrliche  strafrechtliche 
Hülfswissenschaft  eine  so  grosse  Rolle  zw  spielen  bc{?innt,  wird  es  uns  auch 
klar,  das  wir  jene  Gebiete,  welclie  unser  eigenes  Seelenleben  nicht  direct 
betreffen,  nur  anf  Umwegen  gründlich  studiren  kOnnen.  So  iet  s.  B.  das 
peyebiaebe  Weeen  der  Fran,  die  uns  als  Verbreeherin  oder  als  Zengin 
gegenübertritt,  für  uns  nur  dann  wenigstens  theilweise  verstehbar,  wenn 
wir  es  in  Parallelstiidicn  zu  erforschen  trachten.  Die  Frau  ist  eben  ein 
total  anderes  Geschöpf  wie  wir^  ganz  verstehen  werden  wir  sie  nie;  in 
etwas  kfonen  wir  aber  der  FVage  nSher  treten,  wenn  wir  das  IVanenwesen 
an  einfachen  Personen  und  in  einfachen  Situationen  beobachten.  IKe  ge- 
bildete Frau  in  complioirfer  Lajre  wird  uns  nie  völlig  klar  werden ,  wir 
können  aber  lernen  und  werden  dann  vielleicht  weniger  Un^'^erechtigkeiten 
begeben,  wenn  wir  bei  dem  Leichteren  beginnen.  Wir  greifen  deshalb  gerne 
na^  einem  Baehe,  welebes  nns  diesfalls  AnfisehhisB  giebt;  und  ein  solefaes 
ist  das  hiennit  angezeigte.  Haben  wir  es  zu  Ende  gelesen,  so  kOnnen  wir 
nicht  genau  sagen :  man  hätte  gerade  dies  und  jenes  daraus  irejernt  — 
aber  die  Schilderung  der  einfaelieii  Weiber  am  Kongo,  die  so  ;:;uiz  andei"s 
und  doch  wieder  genau  so  sind,  wie  die  Frauen  unserer  linder,  bringt 
die  aligemdne  Eikenntniss  dodi  um  ein  merkliehes  Stttcklein  vorwSrts. 
IKe  Lecttlre  derselben  ist  dem  Kriminalisten  um  so  mehr  zu  empfehlen,  als 
sich  eine  Frau  der  Millic  den  l'ehersetzens  unterzogen  hat,  so  dass  wir  eine 
correcte  Auffassung  der  oft  fjvst  mehr  als  heiklen  Situationen  voraussetzen 
dUiien.  Vielleicht  liegt  gerade  daliin  ein  wesentliches  Moment  der  zu  er- 
wartenden Belebmng. 


13. 

Die  Staatsanwaltsehaft  bei  den  Land-  und  Amtsgeriehten 

in  Preussen.  Form  und  Inhalt  der  Staatsanwaltschaft  nacli  Reichs- 
und Jjjindesrecht,  mit  ilen  einsohlä-^igen  Bestimmungen  im  Wortlaut 
und  mit  Veiiügungsentwürfen.  \  ou  Dr  v.  Marek,  Staatsanwalt 
a.D.,  Professor  in  Qreifswald  und  Dr.  Kloss,  Staatsanwaltschafts- 
ratli  in  Halle  a.  8.  Zweite  vOllig  umgearbeitete,  bis  anf  die  Jetat* 
zeit  fortgeführte  Auflage.  Zwdter  Halbband  Oarl  Ueymann, 
Berlin  li)<>3. 

Das  äussei-st  Itrauchbare  Buch  verfolgt  die  Thätigkeit  desselben  vom 
Anfange  eines  l'rocesses  bis  an  dessen  Ende  unter  Angabe  aller  Be- 
Aithlr  flr  KiiiDlMattllito|iolPti«u  XII.  19 


278 


Besprechungen. 


Btiinmuuj^^cD  dos  Ueicli»-  und  Landeerechts  mit  sämmtlichaii  unzähligen  Nach- 
tragsbestimmiuigen  und  giltigen  Yerordnnngen.  bfc  das  Badi  auch  in 
etster  Linie  für  preussisehc  StaatsanwlUte  bestimmt,  so  werden  es  doch  auch 
andere  deutsche  und  selbst  österreichische  Staatsanwiilte  mit  <rrossem  Nutzen 
atadiron.  Das  ganze  Bild  eines  Processes  tritt  hierbei  klar  und  plastisch  zu 
Tage,  so  dass  das  Bucli  auch  zum  Unterrichte  mit  Yoiüieil  benutzt  werden 
kann«  — 


14. 

Arthur  Dix,  Die  Ju^^endliciien  in  der  Social-   und  KriminalpoUtik. 

Gustav  Fischer,  .leiia  11)02. 

Diese  äusseret  wichtige  Frage  hat  im  \"erf.  eine  sehr  übersichtliche 
und  werthvolie  Beachtung  gefunden;  mit  Recht  spricht  er  von  einem 
gProblem  der  JugendUdien*  und  kommt  in  aoi^gaamerer  BearbdtoBg  der 
hier  maaaagebenden  einzelnen  Momente  zu  dem  Schlüsse,  es  sd  allea  daran 
zu  setzen,  dass  die  verwalirloste  Ju^'end  Zwangserziehung,  die  der  Ver- 
wahrlosung ausgesetzte  eine  geregelte  I^'ürsorgeerziehung  und  die  ganze 
übrige  Ifane  gewerblicbe  Fortbüdnng,  veredehide  Unterhaltung  nnd  Gfll^eo- 
heit  snr  Aufwaduentwiekelung  erhalte. 


15. 

Gerichtliche  tfedicin.   ZwOlf  Vorträge  gehalten  von  Priv.-Doe.  Dr. 

Gottschalk,  Geh.  Med.-Riitli  Prof.  Dr.  Jolly,  Prof.  Dr.  Israel. 
Prof.  Dr.  Koeppcn,  Geh.  Med.-Ratli  l'rof.  Dr.  Liebreich.  Pruf. 
Dr.  Meiulcl,  (ieli.  Med.-Kath  Prof.  Dr.  Mot  li,  Geb.  Metl-Katli 
Prof.  Dr.  Ols hausen,  Oberai-zt  Privatdoceut  Dr.  Puppe  und 
Gerichturat  I¥of.  Dr.  Strasamann  vom  Gentralcomit^  fttr  daa 
irztliclie  Fortbildungswesen  in  Preussen,  in  dessen  Auftrage  redigirt 
von  Prif.  Dr.  R.  Kutner,  Schriftführer  des  Centralcomit(?8.  Mit 
33  Abltil'luiii^eu  im  Text.  Abdruck  aus  dem  klinischen  Jalu'buch. 
Guat.  Fischer,  Jena  1903. 

DiflM  Vorträge  wenden  sich  an  Aerste,  die  mitten  in  der  Arbeit  dea 
Lebena  atehen,  alao  eineiaeita  viel  wa  viel  an  thun  haben,  um  sieh  mit 

Einzelstudien  zumal  über  gerichtliche  MediciB  au  befassen,  die  aber  ander- 
seits solche  Kenntnisse  halten  müssen,  weil  sie  zu  dieafallifren  Dienstleistungen 
herangezogen  werden  können,  in  den  Vorträgen  fUi*  sie  sind  daher  an- 
erkenn«i8werth  wenig  VorkenntniiBe  verlangt,  so  daia  aie  jeder  Kriminaliat, 
der  sich  audi  nur  ungefähr  um  aeine  VerplUehtnngen  gekttmmert  hat,  ver> 
stehen  und  mit  namhaftem  Nutzen  studiren  kann.  Der  erste  Vortrag  (Prf»f. 
Israel)  befasst  sieh  mit  der  Feststellung  des  Todes  und  der  Todesureache 
—  gerade  ein  Gebiet,  auf  welchem  die  Juristen  an  die  Aerzte  oft  die 
thOriehtaten  nnd  nnbeantwortbare  Fragen  stellen,  auf  weldiem  aber  auch 
aus  Unkenntnin  der  Thatsadien  oft  wichtige  und  Uaratellbare  Fragen  an 
atellen  unterlassen  werden. 

Vortrefflich  i^^t  der  zweite  Aufsatz  .Sachverstiindiireatiiätijrkeit  und 
Tedmik  des  Gerichtärnztes"  und  der  dritte  „Gesundheitszustand  in  civil- 
reohtfieher  nnd  atrafireehHidier  Besiehung*^,  b^de  von  Ftof.  Straaemann, 


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Besprechmigen. 


379 


in  welchen  scheinbiu*  selbstveratäudliclie  aber  doch  wichtige  imd  schwierige 
Fragen  einfkoh  und  Uar  sor  BeBpreehinig  kommen. 

Im  Vortrag:  ^TVanmatiBclie  TodeBarten*  von  Dr.  Poppe  wird  der 

Begriff  der  vitalen  Reaction,  welcher  für  den  zuerst  dazü  Gekommenen 
(Gendarm,  Polizist,  Strafrichter)  oft  so  wichtig  ist,  erklärt,  dann  werden  die,  be- 
sonders zu  Beginn  der  Erhebungen  verwirrend  wirkenden  postmoitalen  Ver- 
letiangen  besproeheo  (fibereehen  eiiid  die  hänfigen  Yerieteimgeii  bei  Waaser* 
leieben,  die  dnreh  Hinanfalleii  md  Anachleudern  durch  fliMsendes  Waaaer 
entstehen);  dann  werden  die  agonalen  und  lUe  Verletzungren  durch  ver- 
schiedene Werkzeuge  beliandelt.  Gewagt  fimle  ich  den  vom  N'ortragenden 
in  einem  bestimmten  h\\i\e  gemachten  zwingenden  bcliluss  auf  Ausschluss 
,  yon  Zufall  bd  einer  Verleteong  lediglich  ana  den  R^eln  Ober  die  Spalt* 
barkeit  der  Haut,  zumal  nur  mehr  die  Narbe  zur  Beurtheilung  vorlag. 

Gnt  ist  der  V(»rtrag  über  „Tod  durch  gewaltsame  Ereticknug  und 
abnorme  Temperatur"  von  Dr.  }*upi)e,  ausserordentlich  insti-uctiv  der 
„üeber  die  Beurtlieilung  von  Vergiftungen"  von  Prof.  Liebreich  und  der 
von  Pirof.  Olahanaen  fUhee  Fortpflanzangaflbigkeity  Sdiwangendiaft  ond 
Geburt. 

Abort  und  Kindej^inord  liespriclit  Dr.  Gottschalk  in  sehr  vorsich- 
tiger und  klarer  Weise,  die  psychischen  Fragen  behandeln  Prof.  Mendel, 
Moeli,  Jelly  und  Koeppen. 

ADea  in  Allem  miUB  daa  Baeh  dem  Junten  namenflieh  mit  RttdcbKek 
anf  die  sosusagen  popolire  Form  der  Dairtellnng  varm  empfohlen  werden 


16. 

Dr.  Leo  Müf feimann,  Das  Probien  der  Willensfreiheit  in  der  neneBlen 

deutschen  Philosophie.    Leipzig,  Joh.  Ambr.  Barth,  l'.)02. 

Das  Um  und  Auf  unserer  nioderaen  Sti-afrechtswissenschaft  ruht  auf 
dem  vom  Verf.  besprochenen  IVoblem.  Die  Arbeit  ist  äusserst  fleissig  und 
sorgfältig,  sie  gewihrt  rollen  Ueberbliek  Uber  die  geaammte  litterator  und 
alle  diesfalla  darin  vertretenen  iVnsiohten.  Verf.  mt  Überzeugter  Determiniat 
und  gelangt  zu  dem  Schlüsse:  Der  Determilüsmna  bildrt  die  LQanng  dea 

Problems  der  Willensfreiheit. 

Mit  seiner  Nomiuirung  der  Indeterministen  unter  den  deutschen  Straf- 
reehtiMirem  bin  ieh  insofom  nieht  emveratanden,  ab  ich  Binding  doeh 
ftlr  einen  Deterministen  halte;  gesagt  hat  er  ea  nie  —  aber  em  aorgaamea, 
Stadtilm  aller  seiner  Werke  läoBt  daran  nidit  sweifeln. 


17. 

Geachlecli  t>;k rankheit  en  und  Kecli  tssc  Ii  u  tz.  Betrachtungen  vom 
ürztÜclien.  juristischen  uiul  etliisclit  u  Standpunkt  von  Prof.  Dr.  Max 
Flesch,  Frauenarzt  und  Dr.  jur.  Ludw.  Wertheim  er  in  Frank- 
furt a.  M.   Onatav  FiaeheTy  Jena  1903. 

Dieie  gute  ZnaammeneteDnngy  wekdM  wieder  einmal  die  Yerbrätang* 

und  entsetzliche  Gefahr  der  Geschlechtskranklieiten  recht  energisch  zum  Aus- 
dnick  bringt  —  zu  energisch  kann  dies  niflit  geschehen  —  befaaet  sich 
hauptsächlich  mit  der  privati'editlichen  Frage  des  liechtssdiutzes.  Auf  straf- 

19* 


280 


Beaprechaqgen. 


rechtlicher  Seite  wird  mit  vollem  l'echte  behauptet,  dass  die  §§  223,  224, 
226,  229,  230,  231  KStG.  genügenden  Schutz  gewähren  würden^  wenn 
gie  nur  hiafigcr  und  naohdrlleUiGher  cor  Anwendnnir  kämen. 

In  den^  am  SddOBBe  angeknüpften  -Ethisrhon  Betrachtungen"  kommen 
die  Verf.  zu  der  zwar  schOnen,  aber  platniiiscbon  Feststellung,  dass  nur  von 
einer  Umgestaltung  der  Sitten,  Selbstzucht  und  gehobener  Moral  Besserung 
der  Zustände  zu  erwarten  sei:  Jeder  muss  im  Geschlechtsact  ein  folgen- 
■ehweraiy  von  ihm  ni  Terantwortendes  Handeln  erblieken. 


18. 

«Willensfreilieit  und  Strafrecht*  von  Dr.  Robert  Ton  Hippel, 
o.  0.  Professor  der  Beehte  a.  d.  Unhrenittt  CHNtingeii.  J.  Gnttentag, 

Berlin  1903. 

In  der  ihm  eigenen  einfachen,  klaren  und  alles  eher  als  schwülstigen 
Weise  bespricht  H.  in  einem  Vortrage  diis  so  viel  umsöittene  Them|  und 
bekennt  sich  als  Determinist:  Die  strafrechtlichen  Grundbegriffe  Verantwort- 
liebkeit,  Sehnid,  Znreehnnngeflhigkeit  und  VergeltnngBBlnife  wurden  vom 
Determinismus  anerkannt,  ja  gerade  der  Determinismus  glaubt  diese  Be- 
griffe allein  befriedigend  erklären  zu  können.  Diese  Begriffe  sind  nicht 
bloss  vom  Standpunkte  der  Willensfreiheit  haltbai-,  sie  sind  von  der  An- 
nahme der  WUlensfreilieit  unabhängig.  Weder  Determinismus  noch  die 
Willenabeüieit  ist  an  sich  eine  bestimmte  WeUanadianang,  anoh  gllnbiges 
Cbiistenthnm  kann  die  Willensfreiheit  leugnen  (hdL  Augustinus,  Luther, 
Kant).  Sie  sind  aber  auch  keine  Lebensregel,  sondern  ledijrlich  verschiedene 
Auffassungen  Uber  das  Zustandekommen  der  einzelnen  menschlichen  Hand- 
lungen. 

H.  bewdst  dann,  dass  gewisse  Erseheinnngen,  wie  FVeiheitigefflhl, 

Stimme  des  Gewissens,  Reue,  Verantwortli(  likeitsgefOhl  u.  8.  w.  keine  Be- 
w^eise  für  die  Willensfreiheit  sind  und  dass  der  Determinismus  den  Schuld- 
begriff des  geltenden  Hechtes  nicht  vei*v^'irft,  sondern  bestätigt  und  erklärt. 

Zur  Klai-stellung  m  der  so  sdiwierigen  Frage  ist  kaum  eine  Schrift 
empfehleoBwerlfaer,  als  die  hier  angeieigteu 


19. 

Bitnalmofd  nnd  Eid.  ESn  offener  Brief  an  den  Beiehstagsabgerndneten 

Herrn  Liebermann  von  Sonnenberg  in  Groas-Lichterfelde  des 
Rabbiner  Dr.  Willi.  Münz  in  Oleiwitz.  Vierte  vermehrte  Auflage* 

16. — 20.  Tausend.    Neumann,  (ileiwitz  1902. 

Als  originelles  wissenschaftliches  Beweismittel  wendet  Verf.  den  Eid 
an  und  schwort  f^eriichst,  dass  die  Juden  keinen  Ritualmord  kennen.  Ich 
bin  davon  ttbenengl^  dass  Verf.  mit  bestem  Gewissen  seinen  Eid  abgelegt 
hat,  er  ist  abestf  wie  es  Jeder  in  Exstase  tliut,  viel  zu  weit  gejr.inirf'n  und 
hat  beschworen,  was  er  nicht  bescliw  ön  ii  konnte.  In  der  Tbat  knnnte  dabei 
Münz  beeiden,  dass  er,  aus  einer  liabbinerfaniiiie  stammend  und  alle  rituellen 
Bücher  der  Juden  kennend,  nie  etwas  davon  erfaliren  oder  gelesen  habe, 
dass  die  Juden  einen  Bttualmord  kennen  und  tlb^.  Aber  zu  besohwören, 
«Israel  sei  unschuldig  an  allen  BlutanMagen,  die  man  gegen  dasselbe 


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Beeprechang«n. 


281 


erhoben  habe*'  —  das  geht  zu  weit.  Ich  wiederhole  oft  Gesagtes:  An  einen 
Ritnmlinoid  der  Inden  glaubt  heute  kein  Gebildeter,  aber  der  Blutglaube, 
die  aber^tabische  Benatsimg  von  mflnadiHcheiii  Bloto  nnd  Ton  liehen- 
tfaeüen  ist  panderaiadi,  aUe  Y^Hker  sind  und  waren  deniMlbeQ  unterworfen 
und  die  Juden  anch. 


20. 

Recherches  exp^rimen tales  sur  la  pathog^oie  de  la  mort  par 
brülnrepar  Dr.  £ug«'ne  Stoekis,  asalstent  ä  rüniyerBit^ 
de  Liftge.  Separatabdruck  aus  den  .Arehivcs  internationales  de 
Pharmarodynamio  et  de  tlidrapie"  Vol.  XI,  tuo,  III  U.  IV,  Bro- 

xelles.  II.  l^aniertin,  n.  Doin.  Paris  r.H)8. 

Auf  Grund  sorgfältigster  Beniitziinu'  der  Literatur  und  ausgedehnter 
Eigenbeobachtuug  gelaugt  Verf.  zu  dem  Ergebnisse,  duss  bei  der  Ver- 
brennung eines  hSher  organisirten  thieriBchen  Organisniiu  nieht  eine  ein- 
lieiflidie  Ursache  des  Verhrennungstodes  bestehen  kann  —  man  mttsste 

linterscheiden  zwischen  den  Ui-sachen  eines  plötzüclies  Todes,  den  unmittel- 
baren Ursaclien  und  den  allgemeinen  Symptomen,  die  sich  l>ei  einer  secun- 
däreu  Periode  entwickeiu.  Der  lud  kann  durcli  überwältigendeü  Shuk 
(Setunera)  veranlaaBt  werden,  es  kann,  falb  der  Tod  nieht  sofort  eintritt, 

eine  Läliraung  durcli  functionelle  Störungen  entstehen,  die  zumeist  vom  ver- 
längerten Mark  ausgehen,  und  es  kann  sicli  auch  hol  \  erlängertera  Processe 
eine  verminderte  Widei-standsfiihigkeit  gegen  andere  Schädlichkeiten  ent- 
wickehi.  Eine  Ilypotliese  durch  Ptumainvergiftung  dürfte  auszuschliesseu 
aein.  — 

Die  fleissige  Arbeit  ist  ftir  uns  von  Wichtigkeit,  da  Öe  für  botryoide 
FäUe  die  fVage  der  «ZwiBchenuxBaeben"  beleuditet. 


21. 

Lehrbneli  des  gemeinen  Dentaehen  Straf reehtea.  Besonderer 
Theil  von  Dr.  Carl  Dinding,  ordenüidieni  Profeesor  der  Rechte 
in  L^pzig.  Erster  Band,  zweite,  stark  vennehrte  vnd  umgearbeitete 
Auflage.    Willi.  Engelmaun,  Leipzig  1902. 

So  ferne  sich  die  Leipziger  Schule  feider  unserer  Kiditung  stellt,  so 
sehr  wissen  wir  doeh,  was  wir  ihr  an  verdanken  haben,  nnd  wie  wichtig 
das  von  üir  Gelehrte  ist  Richtig  genommen  ist  der  Unterschied  kern  allsn 
grosser:  wir  glauben  eben,  daas  für  unsere  Wissenschaft  noch  vieles  Andere 
aus  Nachbargebieten  \^iohtig  ist,  und  wenn  wir  dann  deren  Einflüsse  wahr- 
nehmen, 80  müssen  wir  wohl  mit  ihnen  rechnen;  ungereclit  wäre  es  aber, 
an  behaupten,  dass  wir  die  Lehren  der  Andwen  nidit  branehen,  nidit  dank- 
bar hinn^moi  nnd  studuren. 

Dass  Bindung  der  Dogmatiker  par  excellence  ist,  der  mit  wunderbarer 
Klarheit  nnd  Schäi-fe  die  schwierigsten  Lehren  behandelt,  das  wnssteu  wir 
eehon  lange,  aber  das  vorUegeude  neue  Buch  hat  es  uns  auf  s  Neue  be- 
wiesen. Namentlleh  i&e  Art,  wie  B.  die  Lehren  des  neuen  BOB.  in  das 
materielle  Strafrecht  emznflechten  und  zu  verwertlien  wusste,  verdient  Be- 
wondening,  ich  glaube^  dass  anch  die  Leute  vom  Frivatreoht  in  vielfaefaer 


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282 


Besprechungen. 


Riditong  dnroh  die  Beleoditiuig  von  der  strafrechtlichoi  Säte  Erkenntmis 

gewinnen  müssen.  Ebenso  glücklich  ist  die  Einreihung  und  Beliandlung 
des  Stoffes  aller  seither  erfj^ngenen  neuen  strafrechtlichen  Gesetze,  und 
manches,  was  liiuilun^  heute  anders  ansieht,  als  er  es  frülier  gctban  hat 
Kurz,  ancli  Binding  's  Lehrbiidi  in  idner  Denen  Gestalt  ist  dem  modernen 
EnminaliBten  dnfach  unentbehrlidi,  dne  grfindfiche,  ehrliche  Entnlieidnng 
jeder  wichtigen  strafreefatlichen  Fngb,  ohne  Bindung  zu  Bathe  gesogen  zu 
heben,  ist  unmQg^di. 


22. 

Der  Begriff  der  Gerecht  ifi;keit  im  Straf  recht.  Antrittsvorlesung 
gehalten  am  2 S.  April  19U3  an  der  Universität  Bonn  von  Dr.  Jos. 
Heimberger,  Professor  der  Rechte.  A.  Deicfaert's  Nadif olger, 
Lflipog  1903. 

Joseph  Heimbergcr  hat,  alter £Ktte  entsprechend,  an  die  Arbeiten 

seines  Vorgängers  angeknüpft,  er  liat  vor  Allem  das  „^Äissenschaftliche 
Testament^  des  unvergessliclien  Hermann  Seuffert  klargelegt,  und  hat 
dann  so  scharf,  wie  es  vielleicht  noch  nie  geschehen  ist,  den  Unterschied 
iwisehen  der  elawiBdien  nnd  der  nenen  Krinunalistenechnle  festgestellt;  er 
kommt  m  dem  Gardinalpnnkte ,  dass  Gerechtigkeit  nnd  VergeMnngvidee 
nicht  dasselbe  ist,  dass  gerechte  Vergeltung  mit  menschlichem  Können 
und  Wissen  nicht  erreichbar  ist,  dass  Vergeltung  nicht  Aufgabe  des  Staates 
sein  kann,  dass  als  Zweck  der  staatlichen  Straf reciitspf lege  nur  die  Auf- 
rediteifaaltang  der  BeehlBordnnng  angesehen,  nnd  dass  von  diesem  Stand» 
punkte  ans  der  Begriff  der  Gerechtigkeit  im  Strafirecht  beetimnit  weräea 
muss.  Di^e  grundlegenden  Sätze  führt  Heimbergerin  glänzender  Weise 
durch,  und  kommt  zu  dem  Scldusse,  das  Straf^'esetz  sei  Erzcugniss  der 
Nothwendigkeit ,  nicht  etwa  der  abstracten  Geiechtigkeit.  , Warum"  frägt 
Verf.  in  flberzeugendem  Tone,  ^ warum  hebt  der  Staat  aebie  Straf geselM 
nicht  anf?  Gewiss  nicht:  damit  die  Gerechtigkeit  nicht  Schaden  Idde^  aon* 
dem  weil  dann  der  Staat  zu  Grunde  ginge —  -die  eiserne  Nothwendig- 
keit,  nicht  eine  vage  Vergeltungsidee  ist  es,  die  dem  IleiTscher  das  Richt- 
schwert in  die  Hand  drückt".  So  kommt  Heimberger  zur  Ueberzeu- 
gung:  gerecht  ist,  waa  znr  Erhaltung  der  Ordnung  geschehen  mnss,  ge- 
redit  ist  also  die  nothwendige  Strafe. 

Die  bedeutsame  Bede  Heimberger's  ist  geradezu  das  Programm 
der  neuen  Schule. 


23. 

Vorträge  und  Besprechungen  über  „Die  Krisis  des  Darwinis- 
mus*, „Die  so cialethische  Bedeutung  der  Muse"  — 
„ZüT  Erkenntnisstheorie  der  ilsthetischen  Kritik** 
CommiBrion  von  Job.  Ambr.  Barth,  Leipäg  1902. 

Mit  RtldEndit  auf  die  liente  nothwendig  gewordene  natunraaenaehaft- 

liche  Behandlung  im  Studium  des  Strafrechts  ist  jede  der  grossen  Fragen 
der  Natunvissenschaft  für  den  Kriminalisten  wenigstens  insoweit  von  Be- 
deutung, dass  er  den  angebliclieu  Stand  derselben  in  den  weitesten  Um* 


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B«Bprechtiiii^. 


288 


rissen  kennen  iiiiiss.  Se lectinn  udcr  Aiipassuii;:"  jrilt  niclit  bloss  für  Thier 
und  Hlauze,  sondern  für  jede  Ei-:>ciieinung  im  Leben  und  nicht  zum  Min- 
dmten  fQr  die  T«rbTecherlBehen  Momeote,  und  so  Bollen  wir  aneh  hier 
wenigstens  ungefähr  Klarheit  besitzen.  Die  hier  hesprochenen  Vorträge  von 
Kassowitz.  Wettstein,  v.  Ehrenfels  u.  8.  w.  orientiren  auch  den 
Laien  vollständig  und  la.<sen  ihn  sehen,  wie  sidi  heute  angeblich  Darwin 
zurückziehen  rouss,  um  einem  Neu-Lamarckismus  Kaum  zu  geben. 

Ebenso  lint  der  flberans  interesMuite  Vortrag  des  Philosophen  FVfam. 
V.  Ehren f eis  ttber  die  socialethische  Bedeutung  der  Masse  und  die  Ans* 
hiicke  auf  die  Fragen  der  Uebervölkemagy  flbenuis  viele  ErwSgongen 
kriminalpolitischen  Inhalte  zn. 


24. 

AV.  Lexis,  Abhandlungen  zur  Theorie  der  Bevölkerungs-  und  Moi-ai- 
Btatistik.  Hit  10  Abbildiingen  im  Text  Qnst.  Fischer,  Jena  1903. 

Unsere  moderne  Statistik  begeht  den  Fehler^  daas  rie  entweder  zn  früh 
stehen  bidbt,  oder  zu  weit  geht;  ersteres  thut  sie,  wenn  sie  uns  bloss  end- 
lose, verwirrende  und  nicht  zu  verwerthende  Zifferncolonnen  vorstellt, 
letzteres  geseliielit,  wenn  weitgehende,  allzu  kühne  Schlüsse  gezogen  wur- 
den, und  wirklich  werthvoil  aibeiten  jene,  welche  den  Mittelweg  einsclUageu 
nnd  Torerst  nntenneheui  wie  denn  dgentlidi  formell -teehnisdi  die  ZÜfem» 
rohen  verwerthet  oder  besser  gesagt,  erst  einmal  geordnet  werden  sollen, 
M  (i  die  Fehlen[uellen  liegen  und  durch  welche  mathematischen  Formeln  die 
Felller  unscliädlieh  gemacht  werdtn  können.  D;iss  für  uns  alles,  was 
Ki-iminaUtatistik  heisst,  von  grüsstem  Werth  ist,  dass  wir  überhaupt  uns 
den  fflr  nns  heute  allerwiditigst«!  fVagen  gar  nicht  nXhem  kOnneo,  ohne 
mit  den  seltsamen  nnd  oft  wunderbaren  Ergebnissen  dt  i  Statistik  zu  ar- 
beiten—  das  bezweifelt  Niemand,  und  so  greifen  wir  dankltar  nach  einem 
Budie,  wie  uns  der  geistvftlle  Or»ttinger  Xatioiialiikonom  eines  l)ietet. 

Lex  ig  kommt  zu  dem  tagebniss,  dass  die  WalirsdieinUchkeits- 
redmnng  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Demogra])hie  nnd  die  HoralstatiBtik 
nur  den  Zweck  habe,  ein  verständlichfts  Schema  für  die  Vertheilung  der 
Fidle  und  .andererseits  einen  Maassstab  für  die  Staliilität  der  statistischen  Ver- 
hiütiiisszahlen  zn  bieten;  festzustellen,  dass  bei  der  Constanz  moriUstatistischer 
Daten,  das  ihr  zu  Grunde  liegende  Ureachensystem  gleich  geblieben  sei, 
biete  kebe  Erkenntniss,  wohl  aber  geschehe  dies,  wenn  man  diese  Zahlen 
auf  Verhältnisse  bringt,  die  die  Form  von  genetisehen  oder  analytisehen 
\N'ahi'scheiidielikeit8au8drücken  haben,  und  wenn  man  nun  untersucht,  ob 
sich  <lie.se  als  empirische  Ausdrücke  einer  constanten  oder  auch  einer  auf 
bestimmte  Art  veränderUchen  mathematisclien  Wahrscheinlichkeit  ansehen 
lasBOi.  Besonders  wichtig  ist  auch  für  nns  die  Festl^:nng,  dass  wir  so  oft 
von  Entwicklungsgesetzen  sprechen,  wo  es  sich  nur  um  die  einfädle 
historische  Thatsache  einer  bestimmten  Entwicklung  handelt. 

Das  Buch  Lexis'  ist  nicht  leicht  zu  lesen,  man  uiuss  ndt  dem  Blei- 
stift in  der  Hand  mülisam  mitrechnen,  aber  der  Kriminalist,  der  dies  tiiut, 
eihllt  fQr  sdne  grOssten  Firagen  Anregung  und  Gewhm. 


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384 


BeBprechnngen. 


25. 

Richard  Bröbneok,  Die  Arten  des  Masochisrnns.  J.  0.  NiBBan,  Hun- 

bnrg.    Ohne  Jahreszahl. 

Die  T.iteratiir  über  Perverses  im  Sexualleben  steigt  von  Tag  zu  Tag, 
sie  bringt  aber  selten  Neues  und  Belehrendes.  Das  vorliegende  Buch 
bringt  lediglich  Bekanntes  oder  leicht  Variirtes,  und  am  Schlüsse  eine 
AntobSofnmphie  eines  ▼enraekten  llMoefaisten,  der,  eb  TeriEommener  Student, 
doh  fQr  einen  Dichter  hält  und  in  ,,poetisdier  Prosa"  seinen  nSclimerzene- 
weg"  scliildert.  Hierbei  ilfft  er  in  blasphemischer  Weise  die  Bibelworte 
nach,  identificirt  sicli  mit  Christus  u.  s.  w.  So  widerlieh  das  Ganze  ist, 
80  ist  es  doch  ffir  uns  intereBsant:  wir  können  nie  genug  tlber  die  Narr- 
heiten der  Ifenachheit  lernen. 


26. 

Die  Schrift  bei  Geisteskrankheiten.  Ehi  Atlas  mit  81  Handsehrift- 

proben  von  Dr.  Rudolf  K Oster,  kgL  Oberan^  komdt  zur  psych. 

Klinik  der  T'nivei-sität  (iiessen.    Mit  einem  V(Nrwort  TOn  FtoL  Dr. 

Ii.  Sommer.    .1.  A.  Barth.    Ijcipzig,  l'.Mi3. 

Die  unabsehbare  Wichtigkeit  der  wissenschaftlich,  niclit  laienhaft  be- 
triebene Kriminalgraphologie  wird  beute  doch  Yon  jedem  emsthaft  arbeitenden 
Kriminalisten  zngegi^ben,  nnd  so  wie  wur  kaum  noch  ohne  Hülfe  ezacter 
Graphologie  bestehen  können,  so  bedürfen  auch  alle  uns  verwandten  Wissen* 
Schäften  unbedingt  dieser  ebenso  wichtigen  als  liocliinteressanten  Disdplin. 
Am  höchsten  haben  sich  die  Psychiater  für  ihr  Gebiet  die  Graphologie  aus- 
gebildet—  Erlenmeyer,  Preyer,  Kräpelin,  Goldscheider,  Diehl, 
Mayer,  Scholz,  Piper,  Raggi  und  Sommer  haben  sieh  nm  die 
wissenschaftliolie  Ausgestaltung  der  Lehre  die  allergrössten  Verdienste  er- 
worben, und  heute  weiss  man,  dass  eine  correcte  Untersuchung  eines  Geistes- 
kranken, namenthcli  wenn  es  sich  um  sichere  Frühdiagnosen  handelt,  kaum 
gedacht  werden  kann,  wenn  nicht  die  Schrift  des  Betreffenden  emer  exaeten 
Prflfnng  nntenogen  wurde.  FOr  uns  Juristen  hat  die  IVage  aber  in  anderer 
Richtung  grosse  Bedeutung.  Das  wichtigste  Momoit  in  unserer  Arbeit  ist 
die  Schuldfr:i<re  und  diese  theilt  sich  in  die  Tliatfrage  und  die  Zurechnungs- 
frage, beide  siud  gleich  wichtig.  Zu  entscheiden  hat  die  letztere  im  Punkte 
des  Geisteszustandes  allerdings  der  Arzt,  aber  zu  veranlassen,  dass  die  Saehe 
in  ihn  gdangf^  dass  die  Frage  Iliwriianpt  zur  Erörterung  gelangt^  ist  Sache 
des  Juristen  und  nirgends  haben  wir  eine  grössere,  dnrdi  Jahrhundorte  an- 
gehäufte Seliiild  abzutragen,  als  trernde  hier;  zu  veranlassen,  dass  ein  Be- 
schuldigter gerichtsärztlich  untersucht,  und  sein  Geisteszustand  festgestellt 
werde,  ist  Sache  des  Untersuchungsricliters,  allenfalls  noch  desTondtienden; 
beide  Imudioi  keine  whtiiehen  p^ehiatrischen  Kenntnisse  zu  haben,  aber 
so  vid  mnss  dn  modemer  Kriminalist  Iiiervon  sein  eigen  nennen,  dass  er 
weiss,  wann  er  den  Psychiater  zu  fragen  hat,  er  muss  also  so  viel  von 
Psychiatrie  verstehen,  dass  er  weiss,  wann  ein  Beschuldigter  oder  ein  wichtiger 
Zeuge  verdächtig  ist,  nicht  normal  zu  sein.  Wer  sich  hierum  niofat  bemttht, 
handelt  ebenso  nnverantwordich,  wie  die  Richter  yergaDgener  2Mt,  In  der 
ungezählte  Narren  fOr  die  Gewissenlosigkeit  ihrer  nngebildeteo  Richter  bfissen 


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Beipracbmigen. 


885 


musaten.  AUenlinp^  ist  es  leicht  {resagt:  „Der  Kriminalist  muss  erkennen, 
wann  er  den  Arzt  zu  fragen  hat'  —  mehr  braucht  er  nicht  zu  wissen, 
«8  irt  *b€r  das  sdion  viel  und  so  mun  der  Jnrirt  dankend  zngrdfen,  wenn 
ihm  BO  anagezeichnete  und  exacte  Hfllfe  geboten  wird,  wie  in  dem  an- 
gektindiprlen  Buche.  Köster  hat  in  hOolist  übersichtlicher  Weise  Sl  sehr 
sauber  ausgeführte  Faksimile  von  Schriften  Irrer,  lauter  prägnante  und  deut- 
liche Beispiele  unter  Voraussendung  kurzer  Kiaukeugeschichteu  gesammdt 
nnd  flbenll  ndt  wenigen  Worten,  aber  atete  leieht  TentSndBeh  und  beatimmt 
moseinandergrenxt^  wenn  das  Signifieante  des  Anormalen  liegt  Beaondeia 
wichtig  sind  die  sogen.  Früluliagnosen,  bei  welchen  schon  aus  wenigen 
Fehlern  der  Schrift  gezeigt  wird,  dass  eine  Geisteskrankheit  im  Anzüge  ist, 
obwohl  süusLige  Merkmale  noch  fehlen.  Die  Schrift  seiner  Beschuldigten 
ateht  dem  Riiiter  immer  znr  Verfügung:  hat  er  KMwi  Boeh  dnrehgeaehen, 
so  müssen  ihm  kennseiehnende  Anomalien  sofort  aoffaMen  nnd  seinen 
Verfladit  rege  machen.  Hat  er  dann  —  aufmerksam  gemacht  —  den 
Oericht.^arzt  befragt,  so  hat  er  seine  Pflicht  gethan,  er  hat  nichts  weiter  zu 
verantworten. 

lob  mSehte  jedem  Krinunaliaien  daa  Stodinm  dieaea  aorgfältig  ana- 
faatattoton  Bnehea  dringend  empfehlen. 


27. 

Die  allgemeinen  Strafverschär fungsgründe  des  Dentaehen 

Militärstraf geaetzbuch  es.  Von  Max  Ernst  Mayer,  Dr.  phil. 
et  jur.  R-ivatdocent  der  Keclite  a.  d.  Universität  in  Strassborg. 

C.  L.  Hii-schfeld.    L<iii.zig  r.tOll 

In  einer  Zeit,  in  welcher  keines  der  besteheudeu  Gesetze  mehr  genügen 
will,  in  der  an  ihnen  allen  gelndert  nnd  gebeaaoi  wird,  kann  der  Bfiek 

nicht  weit  genug  anagedehnt  werden^  um  Dinge  walu^nndimen,  die  geprüft 
nnd  vielleicht  aufgenommen  werden  solleri.  Und  wenn  heute  vom  Kriminalisten 
mit  Nachdruck  verlangt  winl,  dass  er  auf  allen  (irenzgelnoten  seines  Wissens 
Umschau  hält,  um  Dinge  zu  lernen,  die  er  für  seine  .tUbeit  brauchen  kann, 
es  mnaa  nm  ao  mehr  von  ihm  gefordert  werden,  daaa  er  aich  nm  legialative 
Schöpfungen  kümmert,  die  sein  Fach  direet  bertlbren,  wenn  sie  ihn  aneh 
nicht  unmittelbar  angehen.  Es  kann  uns  zinn  Vf»rwurf  gemacht  werden, 
dass  wir  ein  modernes,  noch  nicht  3  Jahre  altes  Tlesetz ,  die  Deutsche 
Militärstrafgericlitsordnung,  bis  jetzt  ziemUch  vernachlässigt  haben,  obwohl 
ea  wichtige  Momente  entiUUt,  die  nns  nicht  ^eiebgUltig  Ueiben  dUrfen  nnd 
aus  denen  wir  viel  lernen  können,  ^^'ir  sind  daher  dem  Strassborger 
Kriminalisten  zu  lel)haftctn  Danke  vei-pflichtet,  wenn  er  eine  liochinteressante 
Paiüe  des  genannten  (iesetzes  bearbeitet  hat,  zumal  dies  in  mustergültiger 
nnd  höchst  belehrender  Weise  geschehen  ist  Es  handelt  sich  um  die  so- 
genannten allgemeinen  Btnfvenehlrfungsgründe,  welche  in  eigenthttmlieiier 
Weise  das  ganze  Gesetzbuch  dnrdidringen  nnd  mit  allen  Voraehiiften  dea- 
aelben  in  Beziehung  stehen. 

Mayer  charakterisirt  sie  als  schulderlirdicnde  gesetzliche  Tliatum.stände, 
die  den  iüchter  zwingen,  in  gewissen  Fällen  einen  strengeren  gesetzlichen 
Strairahmen  cor  Anwendung  au  bringen;  ihre  Anwendung  iat  vom  Geaelie 
befohlen.  Sie  nntoaeheiden  rieh  alao  s.  B.  von  den  „allgemeinen  Enehweranga- 


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886 


BMIffMhllllUM. 


umständen'*  des  österr.  StG.  dadurch,  dass  bei  ihnen  ein  anderer  Straf- 
rahmen zur  Anwendung  kommt,  während  bei  den  ,^gemfliBflii  BnNiiwiraiig»> 
QiDstliiden*'  noch  immer  der  gewöhnfiefae  Strafrahmen  oieht  UberaehritteB 
werden  darf. 

Die  vorli«3j^end  besproclienen  Strafverachärfunfjen  jrehen  vom  selben 
Gnindgedauken  aas,  dass  alle  Handlungen  besonders  strenge  zu  strafen 
tiady  durch  weiche  zugietch  specifische  müitäriaehe  Pfliehteo  veitolat  werdeii. 
Im  Verianfe  beapriefat  Verf.  den  aoaierordiiitlieheii  Strafrahmen  (|  55)»  di» 
einzelnen  Strafverschärfungsgrfinde  und  die  Androhung  der  eriiOhten  Strafe 
im  besonderen  Theil  des  Gesetzbuches  —  alles  in  streng  wissenschsiftlicher 
und  interessanter  Weise.  Ein  Studium  der  werthvoUeu  Sciuift  ist  dringend 
zu  empfelüen.   


28. 

Die  Reform  des  Straf  rechtes.  Von  Dr.  L.  v.  Bar,  Prof.  an  der 
Univereität  Göttingen.  Julius  Sprinj;er,  Herlin  l'.»03. 
Der  berühmte  Göttinger  Kiiminalist  suctit  in  einem  in  Berlin  ge- 
haltenen Vortrage  darsothnn,  daaa  die  Gmndsltse  der  nenen  Kriminalisten- 
schule  ftlr  die  Reform  eines  Strafgesetses  nieht  brauchbar  seien  nnd  legt 
seine  Vorschläge  kurz  zusammen;  hiernaeli  w.lre  das  Strafensystorn  eines 
neuen  St(j.  ziemlich  complicirt,  die  heuti;:en  Bestimmun^jen  ütjer  Analogie» 
internationale  Anwendung  des  StG.,  wäre  ganz  beijuem  zum  Theile  bei- 
mbehalten,  gleiehmissige  Besfrafrmg  aller  Theflnehmer  eines  Delietes  sei 
faiseh,  für  manche  F^e  wäre  kOrzere  Verjähmngsfrist  festzustellen,  die 
Bestimmungen  über  den  Zweikampf  seien. zn  Indem,  die  Uber  Majesttts^ 
beleidigung  einzusduränken. 


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XXL 


Zur  PhyBio -Psychologie  der  Todesstimde. 

▼ob 

Medicilialradi  Dr.  F.  Näoke  in  iiubeitusburg. 

Wer  je  am  Todesbette  eines  Mitmenschen  stand,  wird  den  Ein- 
diuck  des  Todeskampfes,  wie  er  ja  meist  vorhanden  ist,  nie  wieder  ver- 
gessen. Noeh  nnaiulSsehUeher  wird  sieh  diese  aufregende  Soene  einprlr 
gen,  wenn  es  sieh  nm  einen  Familienangehörigen  handelt  Um  so  wunder- 
barer erscheint  es,  dass  wir  bezttgtich  der  letzten  Vorgänge  in  der 
Todesstunde  eines  Menschen  so  weni<^  Genaues  wissen,  und  Syste- 
matisches hierüber,  namentlich  Psychologisches,  ist  mir  nicht  bekannt 
geworden.  Nur  Vereinzeltes  und  dazu  oft  sehr  Allgemeines,  Vages, 
findet  sich  hie  und  da  in  der  Literatur  vor').  Das  erklärt  sich  wohl 
am  einfachsten  daraus,  dass  die  Anfcehörigen  in  ihrem  Schmerze 
meist  wenig  zur  ruhigen,  psychologischen  Betrachtung  der  Vordränge 
geeignet  erscheinen,  vor  Allem  aber  selten  psychologi^cli  irt-schult 
sind.  Den  Tod  sieht  vielleicht  am  häufigsten  der  katholische  (Jeist- 
liche  eintreten.  Er  ist  meist  aber  kein  l^sycholog.  Nach  ihm  sieht 
gewiss  der  Arzt  die  meisten  sterben,  natnrntlieli  als  Spitalsarzt.  Aber 
auch  er  ist  nicht  immer  Psycholog,  immerhin  aber  ein  naturwissen- 
schaftlicher Beobachter.  Schade,  dass  er  so  selten  seine  Heobach- 
tungen  veröffentlicht!   Der  Jurist  endlich  wird  selten  in  der  aller- 

1)  Aua  der  neuesten  Literatur  dnd  mir  die  leider  nicht  saginglidi 

gewesenen  folfrendcn  Arlu'itcn  bekannt  frewescn:  1.  Vascliide  et  Vnrpas, 
Coiitribution  ex peri mentale  A  la  physiologie  <le  la  niort.  ('(»niptc-rendu  de  l'Aca- 
demie  des  Scionce«.  2so.  15.  19u3.  2.  Wilson,  Tiic  sense  uf  dauger  and  the  fear 
of  death.  The  Monist  April  19C8.  Dagegen  habe  ieh  eine  hüiMche  orientirende 
und  populäre  Skizze  von  Dr.  Giessler,  Ueber  das  StwbMi  (Dlnstrirte  Zeitung, 
14.  Mai  1903)  mit  boifieksirlitii,'pn  kr>nnen.  Auch  bei  unseren  p^rosnen  Dichtern, 
namentlich  Shakejipeare  wird  man  viele  feine  Hemerkungen  über  da-s  Sterben  und 
Beschreibungen  finden,  nicht  weniger  in  uiaucheu  Koniancn,  obgleich  oft  genug 
eniditlieh  ist,  data  die  Schriftsteller  nnr  Wenige  sterben  sahen  und  kdne  ge- 
schulten Beobaobter  und  Pqrdudogen  waren. 

Infalv  llr  KilahMlutiinpoUigliu  XII.  20 


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288 


XXL  Sacke 


letzten  Minute  gerufen  und  ist  ausserdem,  bis  jetzt  wenigstens,  niclit 
rsycliolog  geuug,  um  den  Feinheiten  der  scheidenden  Psyche  zu 
folgen. 

Nur  bei  einer  einzigen  Clasae  Ton  Menschen  sind  wir  fiber  die  letzten 
Augenblicke  y  besonders  in  psycbologisdier  Hinsiebly  ziemlich  gat 
unterrichtet:  das  sind  die  Hingerichteten.  Doch  ist  hier  sowohl  das 
Individuum  oft  ein  abnormes  und  monströses,  als  auch  die  Todes- 
stunde «ne  künstlich  herbeigeftthrte^  also  mit  normalen  YerhiUtnissen 
schwer  Tergleichbar. 

Vorab  müssen  wir  unser  Thema  genau  begreneen.  Was  heisst 
Todesstunde?  Ich  fasse  das  Wort  hier  wörtlich  auf,  will  also  nur 
die  Zeit  betrachtet  wissen,  die  eine  Stunde  vor  erfolgtem 
Tode  liegt,  nicht  aber  weiter  hinaas.  Wenn  man  im  Allgemeinen 
von  ^Sterbenden''  spricht,  so  denkt  man  dabei  gewöhnlich  an  einen 
Zeitraum  von  Stunden,  ja  Tagen.  Für  diesen  sind  wir  natürlich  bezw. 
der  einzelnen  Vorgän^re  besser  unterrichtet  In  die  eigentliche  letzte 
Stunde  fällt  ganz  oder  theilweise  der  „Todeskampf,  die  „Agonie**,  der 
aber  einerseits  sich  ziemlich  lanj^  ausdehnen,  andererseits  auch  einmal 
ganz  fehlen  und  in  verschiedener  iStiirke  auftreten  kann.  Es  verändern 
sich  die  Gesichtszüge,  es  zeii^t  sich  die  Facies  hippocratica,  Röcheln  auf 
der  Brust,  Bewusstlosigkeit  u.  s.  w.  Vorher  erlahmen  sclion  mehr  oder 
weniger  deutlich  die  Muskeln,  sie  sterben  von  unten  nach  üben  ab,  wie 
auch  die  Blutcirculation.  Es  scliwinden  nach  und  nach  die  Empfindung 
und  die  Sinnesorgane,  die  Ilaut-  und  Scbleimhautsensibilität  scheinbar 
zuallerletzt.  Nach  dem  alten,  p:enialen  Psychologen  Burdach 'i  soll 
sich  unter  den  Muskeln  die  willkürliche  Bewegung  der  Hand  am 
längsten  erhalten;  „zuletzt  erscheint  noch  ein  leises  Beben  der  Lippen". 
Selbst  wenn  die  äusseren  Sinne  bereits  scheinbar  geschwunden  sind, 
reagiren  die  Sterbenden  noch  auf  EndpcD  der  Haut,  Injectionen 
u.  8.W.  Die  Empfindlichkeit  der  Cmgnnctiya  und  der  Hcmhant  ist 
die  letzte  fieaction.  Von  den  Sinnesoiganeii  vergdien  zuerst  der  Ge- 
ruch und  der  Geschmack,  wohl  weil  sie  beim  Menschen  viel  weniger 
ausgebildet  sind,  als  Gesicht  und  Gehör.  Letzteres  erhält  sich  am 
längsten.  Am  besten  studirt  sind  wahrscheinlich  die  Temperaturver- 
änderungen,  am  wenigsten  von  den  p^ehologischen  Vorgängen  die 
VeEänderungen  der  Sprache  und  dar  Stimme.  Merkwürdig  ist  es» 

l)Burdacli,  Der  Mtnsdi  nach  (Ion  verschiedenen  Seiten  seiner  Natnr. 
^'eue  Auflage.  iStuttgait  Ibbi.  Nach  liuscufeld's  üutcreuchungon  bleibt 
finUieh  die  elektrische  EmsfaAckdt  uoh  '/s— 8,  naeh  Andern  bis  n  6  fitoaden 
beetehw,  zuletzt  im  AugeBidiHewnuHkeL  Nadi  Ihm  soll  die  elektilMhe  Dhip 
gnoae  des  Todes  die  sidierste  sein. 


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Zar  niysio-PBydiologie  d«r  Todeastnnde. 


889 


dass  hiöweileu  das  Herz  noch  kurze  Zeit  sclilä^i,  wenn  der  Atliem 
schon  aufjjeliört  hat.  Festj^estcHt  ist,  dass  auch  naeh  erfuli^lein  Tode 
die  Flinimerzellen  in  den  Luftwegen  noch  längere  Zeit  functioniren 
und  die  Spermatozoen  noch  auf  viele  Stunden  hin  lehensfäliij?  sind. 
In  den  Bereich  der  Fabel,  die  leider  auch  Gi essler  wiederholt,  g;e- 
hört  es  dagegen,  dass  nach  dem  Tode  Hart  und  Ilaare  wachsen 
sollen.  Dies  geschieht  nur  scheinbar,  indem  die  Muskeln  der  1  laar- 
bälge in  der  Todesstarre  sich  verkürzen  und  so  das  Haar  aus  der 
Haarscheide  treiben.  Nebenbei  bemerkt,  giebt  ee  kein  abeolut  sicheres 
Zeusben  te  weben  erfolgten  Todes.  Kur  anfgetretene  dmHidie 
TodMfleefcen,  Todtenttanr»  «ad  BliilgeriiiDungen  in  den  Adern  tind 
eindeotig.  Bis  dahin  ist  die  Möglichkeit  einea  Scheintodee  noch  ge- 
geben. QanK  seltsam  sind  die  meikwOfdigen  SteUnngen,  in  denen 
biswcalen  todte  AbgestBizte,  BlitsetsohkigeDe  oder  Krieger  anf  dem 
Schlaohtfelde  gefonden  wurden,  wie  aneh  Qiessler  erwfthni  Die 
ErUlmng  ist  eine  sehwierige;  wahrseheinlioh  bandelt  es  sieb  hierbei 
stets  um  directe  oder  indirecte  Verletzungen  des  verlängerten  HaU* 
marks.  Ob  das  Gesicht  dabei  wirklich  dem  im  Augenblick  des  Todes 
bestehenden  Geinüthszastande  entspricht,  erscheint  mindestens  sehr 
fraglich.  Viel  h&ufiger  sind  abnorme  Leichenstellungen  bei  Cholera 
beobachtet,  wo  man  geradezu  von  ^Fechterstellungen^  sprach.  Sie 
bilden  sich  meist  nach  dem  Tode  ans,  wohl  durch  einen  letzten 
Kranijjf  der  noch  nicht  ganz  abgestorbenen  Muskeln,  welche  Stellungen 
dann  durch  die  Todtenstarre  nur  noch  mehr  fixirt  werden. 

In  der  Reihenfolge,  Stärke  und  Mischung  dieser  allgemeinen  Er- 
scheinungen zoi^ren  sich  aber  gewiss  auch  Unterschiede,  je  nach  der 
Person,  dem  Alter,  Geschlecht  und  nach  der  Krankheit,  Unterschiede, 
die  freilich  noch  sehr  wenig  bekannt  sind.  Erst  ganz  kürzlich  haben 
Vase  Iii  de  und  Vurpas'j  bei  2  Fällen  chronischer  Chorea  das 
Verhalten  der  spontanen  Muskelzuckungen  in  den  letzten  4  Tagen 
studirt.  Wie  sich  da.s  alles  bei  den  vielen  Nerven-  und  Muskelkrank- 
heiten genauer  verhält,  wissen  wir  nicht;  die  Jahrbücher  schweigen 
darüber  wohlweislich. 

Za  dem  rein  psychologisehen  Theilo  memes  Tbsmas  kann  ich 
zwei  interessante,  mir  binterbraehte  Hittheilnngen  lieleni.  Im  enten 
Falle  ilUlt  em  schwer  henkmnkes  Mädchen  Ton  22  Jahren  im  Betaein 
der  Hntter  der  Schwester  in  die  Arme  mit  dem  Ansmfe:  „Mntteri  mir  läuft 

1)  Vaschidc  et  Viirpan,  Cüntrif)utii>n  a  la  ])sycho-i)liysiülügio  des  luou- 
raut».  Deux  m  de  cüorec  chronique.  iiüvue  Meurologique.  1U02.  15.  mai.  In 
den  ^en  FiUe  fand  aidi  hierfQr  eine  anatomlMhe  BegrOsdiiiig  vw.  (Bevue  de 
IMyehlatrie  etc.  190S,  p.  222.) 

20* 


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XXL  SÄoat 


es  eiskalt  über  dem  Ivückenl"  und  fast  unmittelbar  darauf  war  sie  eine 
Triebe,  ohne  weiteres  g:e8procben  zu  haben.    Ein  Herzschlag  (oder 
Embolie?)  hatte  sie  getroffen.    Das  letztbekannte  geäusserte  Sinnes- 
gefühl war  also  eine  plötzlich  aufsteigende  Kälteempfindaog  gewesen, 
und  dann  hatte  sie  momentane  Bewuastlosigkeit  und  der  Tod  umfangen. 
Aehnfiohe  Aeoflseningen  Uber  aufsteigende  Kilte  hSrt 
dem  Tode,  doch  entspricht  dies  dann  desi  aUmShücheD  Absterben 
und  Erkalten  der  Glieder  doich  Bttckflnss  des  Blutes  >).  Nieht  selten 
wird  auch  durch  Schleim  der  Athem  sehr  enechwert  nnd  Patient 
nift  dann  nach  Loft    Der  zweite  IUI  betrifft  eine  Sterbende^  die 
pUMzlich  ausrief  sie  höre  jetzt  Kettengeraasd  nnd  5  Minuten  darauf 
▼erschied  de.  Also  scheint  auch  hier  das  Gehttr  der  lulelzt  schwin- 
dende Sinn  gewesen  zu  sein.  Das  Merkwürdige  liegt  darin,  dass  es 
sich  hier  sehr  wahrscheinlich  um  eine  irgendwie  bedingte  endogene 
Reizung  der  Hdrephäre  handelte,  also  um  dne  Gehörstäuschung.  — 
Man  begegnet  femer  nicht  selten  don  Worten:  „ich  muss  Sterben*^, 
kürzere  oder  längere  Zeit  vor  dem  Tode.   Andt  ro  sagen  es  zwar 
nicht,  nehmen  aber  von  den  Ihrigen  Abschied.  Das  wird  dann  wohl 
auch  als  ^ Todesahnung''  bezeichnet.   Hier  aber  ist  es  nur  ein  sehr 
erklärliches  CJefühl.    Es  ist  der  Ausdruck  der  Wahruehmung,  dass 
die  Schwäche  immer  mehr  zuninirat,  die  Sinne  schwinden,  die  Be- 
ängstigungen sich  einstellen  u.  s.  w.    Ein  schwer  T^eidender  sieht  so 
schon  seinen  Tod  vor  Augen.  Dagegen  stehe  ich  den  eigentlichen 
Todesahnungen,  d.  b.  bei  Gesunden,  mehr  als  skeptisch  gegenüber. 
Unter  10  Malen  trifft  die  ..Ahnung''  vielleiciit  nur  einmal  ein  und  auch 
hier  Hesse  sich  sicher  ein  psychologischer  Zusammenhang  construiren, 
wenn    man  genau  die  Person,   ihre  Gedanken   und  Gefühlswelt 
in  einem  gegebenen  Moniontc  kennen  würde,  ohne  also  der  Meta- 
physik zu  bedürfen.    Ganz  m  das  Bereich  des  Unmöglichen  muss 
ich  aber  folgenden  Ausspruch  Burda  eh 's  (I.e.;  bannen:  „Die  Macht 
der  Seele  ftber  das  Leben  zeigt  sich  auch  auf  andere  Weise  darin» 
dass  die  Phantasie  den  Tod  beschleunigen  oder  verzögern  kann, 
wenn  man  sich  fest  einbildeti  zu  einer  bestimmten  Stunde  sterben  zu 
müssen.*^  Nein,  dazu  ist  selbst  der  stärkste  Wille,  die  flppigste  Phan> 
tasie  ausser  Stendel 

Dass  das  Gehör  oft  noch  sehr  lange  erhalten  bleibt,  sieht  man 
in  den  fUllen,  wo  schon  umflortes  Bewusstsein  besteht^  aber  auf 
starkes  Anrufen  bei  bereits;  halberloschenen  Augen  doch  noch  auf 
Fragen  sinngemässe  Bewegungen  mit  dem  Kopfe^  den  Lippen,  den 

1)  So  lint  Bich  der  steibeiide  Fibtiif  ,  aaeb  der  EnlUang  der  Vim.  Hnitig» 
Kissen  anf  seine  B^e  legen,  weil  ^ese  kalt  waren. 


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Zar  Phyrio-Pbydioloc^e  der  Todentonde. 


291 


Häoden  erfolgen  oder  gar  vernünftige  Worte.  Das  Licht  dagegen 
BChwindet  meist  früher,  wohl  weil  die  Hornhaut  sich  baUl  trübt  oder 
die  Circulation  des  Bluts  nach  der  Netzhaut  nachlässt  blanche  kla^n 
deshalb  über  Xebel  oder  Dunkelheit  vor  den  Äußren  und  das  bekannte 
Wort  Goethes:  „Mehr  Licht!"  wird  wohl  mit  mehr  Recht  so  inter- 
pretirt,  als  wenn  die  Literarhistoriker  dies  Wort  auf  den  Wunseli  nach 
geistigem  Lichte  beziehen.  So  ruft  auch  in  Balzac's  Meisterwerk: 
„Eugenie  Orandet**,  der  sterbende  Vater  seine  Tochter  herbei|  die  er 
nicht  mehr  sieht,  obgleich  sie  vor  ihm  kniet. 

Uns  interessirt  aber  vor  Allem  der  Zustand  der  Psyche  in  der 
Todesstunde.  Nur  zwei  Fälle  sind  denkbar:  Klarheit  des  Geistes  bis 
zum  letzten  Atln  nizu^'e  oder  mehr  minder  t^tarke  Trübun«;  (h's  Be- 
wusstscins  kürzere  oder  längere  Zeit  vor  dem  Tode.  Ersteres  soll 
bisweilen  stattfinden.  Wie  der  Göttinf^er  Kliniker  Eich  borst  be- 
richtet ')?  ^vird  bei  Cholera  das  Bewusstsein  gewölinlicli  bis  zum 
letzten  Augenblicke  erhalten.  Dies  dürfte  sonst  nur  ganz  ausnahms- 
weise geschehen^).  Ich  selbst  sah  es  nie  und  auch  Bern  dt  3)  zweifeh 
sehr  an  dieser  Möglichkeit  Bisweilen  dagegen  tritt  Klarheit  des 
Oeiflte«  naeh  ataiker  TlUbniig  momentaa  wieder  auf.  Häufiger  sind 
spontane  positive  und  negative  Bewnsstsemsschwanknngen  bei  leich- 
terer UmfloTnng  zn  finden.  Die  Trübung  selbst  tritt  wohl  nie  plStz- 
lieh  auf,  sondern  mehr  oder  mindor  langsam  nnd  in  veischiedener 
Tiefe. 

Es  lassen  sich  dann,  wie  ich  gbuibe,  2  Typen  der  BewnsstseinB- 
trfibnng  unterscheiden.  Entweder  der  Sterbende  verfiUlt  in  eine  Art 
von  Traumzustand.  Das  sind  wohl  die  FSlle,  die  Burdach  ohne 
wdteres  mit  ,,SoUaf^  identifizirt  Der  Sterboide  liegt  ganz  rahig 
da  und  nur  einzelne  abgerissene  Worte,  SlUze  oder  Gesten  —  soweit 
letztere  nicht  bloe  unbewusste  Schmenreactionen  sind  —  weisen  auf 
einen  Tnuminhalt  hin.  Leider  wissen  wir  flber  letzteren  fast  nichts. 
Bisweilen  nur  in  einem  klaren  Angenblicke,  sagt  der  Moribunde,  er 
habe  Süsses  geträumt,  vom  Paradiese,  ans  seiner  .Tugendzeit,  von  den 
Eltern.  Namentlich  wäre  es  interessant  zu  erfahren,  ob  das  geistige 


1)  Eichhorn,  Artikel  (^olen  in  Euienburg's  Bealencyklopädie  der  ge- 
sammteu  Ueilkuude.  IbbO. 

2)  Ein  aohduM  Be^el  lünfllr  bietet  der  berühmte  französische  In-euarzt 
Baillarger  dar.   (Siehe:  Mtgnftn,  iloge  de  Baillaiger.    Amulee  m^dioo- 

psychologiques  etc.,  1908.)  Seine  Tuchtcr  las  ihm  vor:  ^La  lecture  achev^e  il 
fit  avec  une  lucidif«'  pai-faite  quelques  reflexions  sur  ce  qu'il  vcnait  d'eutendre, 
il  se  retouma  sui*  rureillei*  et  s'eteiguit  doucciucut,  s^auä  a^^uulc.  . 

3)  Berndt,  Krankheit  oder  Verbrechen?  Wiest,  Leipzig  (1902?).  1.  Bd. 


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898 


XXL  Niens 


Auge  mehr  rot-  oder  rückwärts  schweift  Streng  yon  diesem  ersten 
Typus  miu8  man  eine  sehr  ähnliche  Form  trennen,  wo  nur  Pseudo- 
Bewusstlosigkeit  herrscht.  Hier  liegt  Patient  zwar  auch  mit  ge- 
schlossenen Augen  da,  ist  aber  dabei  klar,  kann  nur  vor  Schwäche 
nicht  sprechen  und  sich  rühren,  giebt  jedoch  auf  Anrufen  jederzeit 
zu  erkennen,  dass  er  alles  hört  und  versteht. 

Beim  zweiten  Tyi)us  —  wie  mir  scheinen  will,  der  seltenere  — • 
deiirirt  der  Sterbende,  träumt  laut  scheinbar  Unzusaninienbängendi'S, 
in  unbewussteni  oder  halbbewusstem  Zustande.  To  u  1  o  u  s c  ' j  l)eschreibt 
diesen  Typus  ziemlich  gut  Er  glaubt,  dass  die  Ursache  davon  Cir- 
culationsstörung  und  Selbstvergiftung  der  Asphyxie  sei.  Vielleicht, 
meine  ich,  spielt  auch  die  Inauition  eine  Kolle.  Das  Deliriuni  ist 
meist  ein  monotones  und  Hallucinationen  und  Illusionen  treten  iiier- 
bd  auf.  Es  entspricht  also  ziemlich  gut  den  Iksohöpfungs-  oder 
FleberdeUrien^.  Ob  der  Inhalt  sieh  mehr  anf  die  Vergangenheit  oder 
Gegenwart  bezieht,  weiss  ich  nicht  Es  ist  wohl  möglich,  ja  wahr- 
scheinliGh,  dass,  wie  alle  Empfindungen,  Sinne  nnd  Orgaue  vom 
Complidrten  immer  mehr  smnEin&ehen  absterben,  so  auch  hier  die 
jüngsten  Gedlcbtnissofaichten,  d.  b.  also  die  Gegenwart,  schwindet  nnd 
die  alten,  TieDeiebt  schon  seit  Jahrzehnten  mhenden  Jngenderinne- 
rongen  wieder  anftanoben').  Dem  eats^idit  es,  dass  die  Mntterspnobey 
die  in  fremdem  Lande  vielleiebt  DeoennieB  hat  schweigen  mfisaen, 
so  dass  man  glaubte,  sie  mflsste  ganz  vergessen  worden  sein,  wieder 

1)  TouloQse,  Lm  emsM  de  la  folie  ete.  Paris  189S. 
3)  Ein  nenlich  gatm  Bd^ptol  hi«rfBr  bittet  das  Irat«  D^um  de«  «Hannele*. 
Nur  edidnt  mir  der  ganze  Honolog  zu  lang  und  zu  logisch  und  zusammenhingend 

zn  sein,  nm  n!s  wahr  zn  imponiron.  Wie  anders  und  classisoh  erscheint  dagegen 
Shakespeare!  Frau  Hurtig  erzählt  in  König  Heinrich  V.  (Act  11,  Sc. 4)  den  Tod 
lUatalPa.  Sie  lagt  da  nntw  andefcm:  ,nnd  ab  Idi  Ilm  auf  der  Bettdecke  her> 
nmtJHrtfff  sah  and  mit  Bhimen  apieieii  und  seine  FfaigenpHaen  aidlahiibi . .  . 
and  er  sciiwatzte  von  grünen  Feldern  ...  da  rief  er  Gott,  Gott,  Gott,  drei  oder 
vier  Mal  ..."  Man  sieht  wie  der  Geist  abwesend  ist,  Gesichtshiülucinationen 
auftreten,  Patient  heiountastet,  kurz  wie  ein  Ficbeitlelirant  sich  verhält.  Ich  führe 
obige  Woite  nach  der  ausgezeidmeteD,  anonymen  Shakeapeaie-Üebeiaelzang: 
«DentNfae  Volkaaosgabo,  nea  diudigesehen  o.  a.  ir.  von  Ifax  Molti^e*,  Beriin  189S, 
Nenfdd.  £tte  ateht  weit  fiber  der  S<'h1(>jurcl-Tick'8chen  Uebersetzang  and  ist  un- 
endlich viel  genauer,  meist  ganz,  wörtlich,  wie  ich  mich  wiederholt  am  Urtexte 
fiberzeugen  konnte.  Ausseixlem  enthält  sie  noch  die  äonnctte  und  die  übrigen 
Shakespeare  zugeschriebenen  Dramen  nnd  Dfehtongen.  Wenn  ieh  den  Dichter 
dtife,  so  geadddit  ea  nadi  obiger  Ansgabe. 

8)  Der  gewöhnliche  Tranm  beschäftigt  sich  schon  gern  mit  der  früheren 
Lebenszeit,  wie  schon  >faury  »cfr.  Kevue  de  psychiatrie  etc.  1 '•<»:;,  p.  is:!i,  be- 
merkte. Ein  Gleiche:^  kOnnte  wohl  auch  in  jenem  delirantem  Zustande  eintreten, 
ohnc^  dass  mau  zu  jener  oben  geäusserten  H^-pothese  greifen  mllaatek 


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Zur  Phyfio-Ptoyehologie  der  Todewtonde. 


998 


erwacht  und  damit  die  cnp:  associirten  Jugenderinnerungen.  fJerade 
solche  Vorgänge  legen  die  Frage  nahe,  ob  denn  wirklich  ein  Erleb- 
lebniss,  das  in  das  Unterbewusstscin  einging,  ganz  verloren  gehen 
kann?  Ich  glaube  es  nicht!  Jahrelang  kann  es  versteckt  liegen,  und 
nicht,  trotz  aller  Mühe,  zurückgerufen  werden  —  und  siehe  da,  eines 
Tages,  z.  B.  auch  in  der  Todesstunde,  ersteht  es  in  alter  Kraft!  Diesem 
Problem  haben  die  Psychologen  leider  bis  jetzt  zu  wenig  nachgeforscht. 

Was  al)er  ausser  den  Jugenderinnerungen  noch  am  tiefsten  haftet, 
das  sind  die  Leidenschaften,  gute  und  böse,  besonders  letztere.  Die 
Mutterliebe  bleibt  fast  bis  zuletzt  erhalten,  aber  auch  Geiz,  Habsucht, 
Haas,  Neid  n.  &  w.  Der  alte  Geizhals  Grandet  in  Balzac's  gleich- 
namigem Bomaa  maebt  eine  fibermeDwdüiche  Anstrengung,  um  das 
ihm  Tom  Geisdieben  zam  Kflssen  dargebotene  emaillirte  Enuifix  in 
seiner  Goldgier  m  ergreifen,  eine  widrige^  aber  wahre  Seenel 

Hier  ist  TielleiGht  am  besten  der  Ort,  nm  die  f^rage  su  ventUnen, 
ob  der  meist  bewnsstloee  Zustand  tot  dem  Tode  Bewnsstlosigkeit 
oder  eehter  Sefalaf  ist  Es  ist  sehr  schwer,  hier  physiologische  oder 
psyehologiscbe  Unteraehiede  antnf&hren,  da  es  in  betden  Znstlnden 
Tcnohiediiie  Giadstnfen  giebt,  die  sieh  ansserordenflieh  Ahnefai.  Schlaf 
ist  freilich  ein  physiologischer,  Bewusstlosigkeit  ein  pathologischer 
Vorgang.  Der  nalürlicbe  Schlaf  entsteht  durch  ErmQdnngsprodncte 
im  Körper,  wenigstens  sehr  wahrscheinlich.  Diese  sind  nun  von  den 
pathologischen  Stoffwecbselproducten,  wie  sie  bei  verschiedenen  Krank- 
heiten und  gewiss  auch  vor  dem  Tode  entstehen,  femer  von  ein- 
geführten Drogen  und  Giften,  nur  quantitativ  verschieden.  Jene  sind 
auch  Gifte,  wenngleich  normale  und  milde.  Nehmen  wir  einen  Schlafenden 
oder  bewusstlos  mit  geschlossenen  Augen  Daliegenden  her,  so  lässt  sich 
physiologisch  kein  scharfer  Unterschied  nachweisen,  da  auch  im  Schlafe 
einerseits  Unregelmiissigkeiten  der  Atiimung,  des  Piilsrs  u.  s.  w.  ein- 
treten können,  wie  in  der  Bewusstlosigkeit  so  oft,  in  letzterer  anderer- 
seits auch  ruhige  Athmung  u.  s.  w.  beul  »achtet  wird.  Auch  psycho- 
logisch besteht  kein  Unterschied.  Wahrscheinlicii  besteht  in  der  Bewusst- 
losigkeit sogar  auch  Traum,  doch  wissen  wir  hierüber  nichts.  Wie  es  alle 
Grade  des  Schlafes  giebt,  so  aiidi  solche  der  Bewusstlosigkeit.  Auch  der 
Schlafende  kann  unter  Umstünden  —  freilich  pathologischer  Art  —  mit 
geschlossenen  oder  offenen  Augen  herumlaufen  und  anscheinend  äusser- 
fieb  wie  ein  Wählender  sich  gebenlen :  in  der  Somnambidie.  IHes  tbut 
andererseits  ancb  der  Halbbewnsste  in  den  Yerschiedenen  Dämmemngs- 
znstftnden,  die  meist  yOUige  Amnesie  zurftcklassen.  Bei  pldtzlicbem 
Eintreten  redet  man  allerdings  gewöhnlich  von  BewQSsUosigkeit,  z.  Bw 
nach  Kopfstnrz  oder  nach  Gehirnschlag,  während  der  gewöhnliche 


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294 


XXI.  ^ÄCKE 


Schlaf  sich  mehr  ^einschleicht".  Kurz,  man  sieht,  wie  schwierig  diese 
Begriffe  festzulegeu  sind  und  insofern  könnte  man  deQ  Zustand  vor 
dem  Tode,  aaoh  den  delirirend^  Sdilaf  nennen.  SiMesalieh  kommt 
auf  den  Kamen  wenig  an!  Gewöhnlich  wird  man  allerdings  den 
deUrirenden  Zustand  nicht  Schlaf  nennen,  obgleich  manche  Schlafende 
ebenso  laut  nnd  nnznaammenhängend  sprechen.  Eher  könnte  man 
noch  anführen,  dass  der  bewnsstlose  Znstand,  wenn  er  nicht  zn  tief 
ist,  leicht  unterbrochen  wird,  der  Schlaf,  wenn  er  nicht  ganz  ober- 
fiSehlich  sich  zeigt,  aber  möht  Es  giobt  also  klinisch  und  psychologisch 
keinen  prinoipiellen  Unteischied  zwischen  Beiden,  wohl  aber  bezüglich 
der  Genese  und  der  Prognose.  Sicher  ist  aber,  da»  auch  der  Sterbende 
vor  Ermüdung  einnicken  kann.  Unser  erster  Typus  steht  dem  Schlafe 
jedenfalls  sehr  nahe,  ist  damit  sogar  vielleicht  identisch.  Einen  Tod  im 
wirklichen  Schlafe  sehe  ich  dagegen  ganz  unzweideutig  in  denjenigen 
Fällen,  wo  mitten  im  Schlafe  eine  Gehirnblutung,  Gefässverstopfoog 
des  Hirns,  eine  heftige  Lungen-  oder  Magendarmblutung  u.  s.  w.  dem 
Leben  plötzlicli  ein  Ende  macht,  Fällt",  die  freilich  sehr  selten  sind. 

Bei  leichtem  Umflortsein  des  Geistes  irelangt  der  Sterbende  wohl 
öfters  auf  sehr  kurze  Zeit  zur  vollen  Klarheit  und  man  hört  dann 
oft  Reden,  die  die  Anwesenden  in  Erstaunen  setzen  '}  und  die  Ster- 
benden l)isweilen  geradezu  in  den  Geruch  der  Proplietie  gebracht 
haben.  Sogar  eine  Steigening  der  Erinnerungsfähigkeit  und  der 
Geisteskraft  wird  ihnen  angedichtet  und  Burdach  spricht  von  einer 
zuweilen  zu  beobachtenden  „eigenen  Erhebung  des  Geistes".  Das 
erklärt  sich  aber  wiederum  sehr  einfach.  Wenn  der  Kranke  sich 
klar  geworden  ist,  dass  er  dahinscheiden  soll,  wenn  er  die  kleinUchen 
Sorgen  des  Lehm  abgeschttttelt  hat,  wom  die  Schmerzen  nach- 
gelassen haben,  gewmnt  er  leicht  einen  freieren  Blick  über  die  Lebena- 
verhältnisse  nnd  kommt  dann  wohl  auch  einmal  zu  Schlüssen,  die 
den  Andern  wunderbar  erseheinen,  es  aber  im  Grunde  nicht  sind, 
weil  eben  viel  hemmende  Momente^  die  gute  Gedankencombinationen 
erschweren,  wegfallen.  Dasselbe  sieht  man  vielleicht  noch  besser  in 
Träumen,  wo  man  bisweilen  über  seuie  eigenen,  hsi  genialen  Ideen 
staunt ;  auch  hier  smd  alle  hemmenden  Vorstellungen  entfernt  ^und 
zweckentsprechende  und  seltene  Association  möglich  geworden.  Bei 


Ii  Vau  dassiMlit s  Bti^iiicl  liierfür  i>t  (Ur  Tod  Attinghausen'*  im  Williolin 
Teil.  Es  ist  aber  physiologisch  fast  uniiir»«j;lich .  dass  ein  Greis  \  on  *^."»  Jahren 
uniiiittcibar  \  or  seiuem  Tode  uoth  eine  relativ  »o  lauge  liede  hält  uud  psychulogisjcli 
schwer  gUinbhaft,  das»  er  dnen  so  weiteD  Sdiarfblick  in  zukünftige  Eieignisse 
hat  SdiiUer  überhaupt  hat  oft  goong  gegen  psychologische  Gesetze  gefehlt, 
Shakespeare  dagegen  kaum  je! 


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Zur  Phyaio-PbyidioiQgie  der  Todeestunde.  t9b 

leichter  Trübun«:  des  Uewusstseins  vor  dem  Sterben  ^vird  dies  viel- 
leicht sogar  noch  elier  eintreten,  als  bei  voller  Klarheit,  ähnlich  wie 
im  Traum,  weil  dann  eben  die  p;anzen  letzten  Ereignisse  mit  der  sie 
beweo;enden  Gedanken-  und  Sorgenwelt  verwischt  wurden  und  ein- 
fachere, natürliche,  hier  nur  halbbewusste  Gedanken -Verknüpfungen 
entstehen,  die  die  Umwelt  in  Erstaunen  setzen  und  zwar  noch  mehr 
als  bei  bestehender  völliger  Klarheit.  Auch  könnte  einmal  nach  starker 
Uebermüdung  ein  kurzer  Schlaf  eintreten,  aus  dem  Patient  gestärkt 
aufwacht  und  die  Dinge  dium  klarer  sieht. 

Es  wäre  freilich  nicht  ganz  undenkbar,  dass  durch  abnonnen 
Stoffwechsel  vor  dem  Tode  razende  Stoffe  im  Blute  kreisen,  die  längst 
MUammemde  Erinnemngeii  an&nweokoi  im  Stande  wSreiif  vidleidit 
aneh  wirkfioh  emmal  den  Mhwindenden  Cteiatoekrlfteii  eineii  knnen 
Ebui  Tetldhen  kSnneni).  Näher  liegt  aber  immer  noch  die  £r- 
kUrong,  dsss  die  Anweienden  in  ihrem  Affectzostande  den  Werth  der 
letzten  Aensseningen  eines  Sterbenden  zu  hoeh  einBchttzen.  Es  mnas 
aber  entsehieden  betont  werden,  dass  alle  genannten  flUle  ausser- 
ordenilioh  selten  sind.  Meist  wird  Tom  Sterbenden  nur  Un- 
bedeutendes und  Gleichgttltiges  gesprochen,  was  die  Be- 
deutung der  so  fälschlich  in  den  Himmel  gehobenen  „letzten  Worte" 
der  Moribunden  zu  Schanden  werden  lässt.  Auch  hier  sehen  wir 
wieder,  dass  starker  Affect  unser  Gedächtnis  fälscht.  Eine  einzige 
Scene  sogenannter  Prophetie  prägt  sich  tief  ein,  besonders  beim  Un- 
gebildeten, und  lässt  aus  dem  Gedächtnisse  die  unendlich  zahlreicheren 
Fälle  verschwinden,  wo  nichts  Aehnliches  geschah.  Der  eine  Fall  wird 
dann  zu  leicht  verallgemeinert.  Dazu  kommt,  dass  die  meisten  über- 
haupt wenig  Leute  sterben  sehen,  also  keinen  rechten  Vergleich  haben. 

Das  anseheinend  so  ühenius  seltene  Rekapituliren  der  ganzen 
Jugendzeit  oder  einzelner  Af)schnitte  daraus  in  der  Todesstunde  wird 
auch  öfters  von  Erhängten,  Ertränkten  und  Abgestürzten  berichtet,  die 
noch  mit  dem  Leben  wegkamen.  Es  ist  hier  wohl  ähnlich  zu  erklären 
wie  dort,  nur  dass  bei  Erbängten  und  Ertränkten  sicher  schon  Be- 
wusstseinstrübung  herrschte,  beim  Abgestürzten  dageiren  nicht,  wie 
allgemein  berichtet  wird.  In  letzterem  Falle  dürfte  aber  doch  wohl 
eine  Art  Schwindel  den  Menschen  erfassen,  wie  beim  Schaukeln, 
schnellen  Fahren  u.  s.  f. ,  der  einer  leichten  Geistcasumnebelung  sehr 
nahe  kommt^  und  Ton  den  meisten  angenehm  empfunden  wird.  Darauf 

1)  Nat'h  Fr  10  (>ic'lie  Git-jisler  I.e.)  soll  (lies  durch  den  Zustand  der  moto- 
rischen Uebentizung,  der  kurz  ^"o^  dem  Tode  in  den  Nerven  und  Muskehi  ein- 
tritt und  dem  psychische  Erregung  entspricht,  zu  erkläreu  seiu.  Sicher  ist  dies 
aber  nur  die  AnBnahme  und  nidit  ^  Regd! 


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296 


XXI.  Nacks 


beruht  wahrscheinlich  auch  das  angenehme  Gefühl  des  ^ Angeheitert- 
seins**. Auch  der  halbhewusste  Zustand  im  Anfange  des  Erhängens 
soll  sehr  angenehm,  namentlich  mit  erotisclien  Vorstellungen  verknüpft 
sein,  weshalb  im  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts  in  London  ein 
„Club  der  Erhängten*'  existirt  haben  soll,  aus  alten  und  jungen  Kou^^'s 
bestehend,  die  schliesslich  noch  auf  diese  Art  sexuelle  Kitzel  im  Hängen 
^auf  Zeif*  suchten  und  angeblich  auch  fanden!  Gierade  mit  Abge- 
stürzten haben  sich  verschiedene  Autoren  näher  boiebäftigt,  so  c  B. 
Heim,  Sollier,  Egger  (siehe  Qiessler).  Prof.  Heim  bat  auf 
Grond  von  Umfingen  bei  Abgestüizten  festgestellt,  daas  bei  ihnen 
1.  das  Gelahl  der  OlttekBeligkeit  besteht,  2.  der  EmpfindiingBldfligkeit 
des  Taat-  und  Sebmerzsumea,  3.  anaserordentliehe  SehneUigkeit  der 
Gedanken  und  der  Einbildang  nnd  4.  oft  em  Erseheinen  ihres  frahem 
Lebens  ak  einer  Art  von  Panorama.  Nr.  1  glanbe  idi  erklärt  an 
haben,  dnrob  eintretendes  leichtes  Sohwindelgefähl.  Dies  sebeint  nur 
besser  zn  sein,  aJa  andere  Erklämngen  durch  S ollier,  Egger  n.8.w. 
Xr.  2  die  Tast-  und  Schmerzunempfindlichkeit,  die  sich  ja  nur  auf 
das  Auffallen  auf  Stein,  Schnee  und  Eis  oder  in  eine  Spalte  beziehen 
kann,  scheint  mir  mehr  als  problematisch  zu  s«n.  Ich  wüsste 
sie  nicht  befriedigend  zu  erklären !  Auch  Nr.  3,  die  annerordentliche 
Schnelligkeit  in  Gedanken  nnd  Phantasie  scheint  mir  sehr  fraglich 
und  blos  eine  Selbsttäuschung  zu  sein.  Nur  bei  den  so  seltenen 
„Visuellen"^  wäre  es  allenfalls  möglich.  Xr.  i  wäre  endlich  nicht  be- 
sonders auffallend.  Geschieht  ja  Rekapituliren  einzelner  Lebens- 
ereignisse aus  früherer  Zeit  oft  genug  bei  Jedem  in  besonderen, 
namentlich  ernsten  Zeiten ^  schlaflosen  Stunden  u.  s.  w.  Auch  beim 
Kinde  tritt  dies  sicher,  wenn  auch  seltener  und  rudimentärer  ein,  wie 
ich  es  beobachtete.  Wahrscheinlich  auch  beim  Wilden.  Je  älter  man 
wird,  um  so  öfter  und  umfassender,  eindringlicher  tritt  spontane  Rttck- 
erinnerung  auf.  Beim  Abstürzen  dürfte  dies  aber  wohl  nur  selten 
stattfinden,  du  das  Abstürzen  zu  schnell  vor  sich  gebt,  ja  so  schnell, 
daas  gewiss  oft  nicht  einmal  Schreck  oder  Furcht,  sondern  eher  ein 
angenehmes  Scbwindelgefühi  entsteht  Beim  Krtrinken  n.  s.  w.  dauert 
die  Sadie  länger.  Ich  erinnere  mich,  dass,  ab  ich  vor  Jahren  beim 
Schwimmen  in  der  Seine  dem  Ertrinken  nahe  war  nnd  ein  ander 
Mal  über  dem  Bhonegletscher  in  der  Dunkelheit  mich  auf  der  Uoiftae 
Terstiegen  hatte,  ich  mir  Uber  die  Todesgefahr  sofort  klar  wnrde^ 
trotzdem  aber  merkwürdig  ruhig,  resignirt  war,  gesammelt  Ob 
dabei  Erinnerungen  an  mein  früheres  Leben  oder  an  meine  Familie 
auftraten,  weiss  ich  nicht  mehr.  Dieses  Gefühl  der  Buhe,  Beeignatton 
wird  man  aber  nicht  Glückseligkeit  nennen. 


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Zar  niyaio-Pqrdiologte  der  Todesstunde. 


297 


Tn  einem  Referat  Uber  eine  Arbeit  von  F^r^i)  heisst  es  wQit- 
lich  „il  est  presque  de  rögle  dans  la  suhmersion  que  les  noyös  aient 
avant  de  niourir  unc  sorte  de  vision  retrospoctive  des  principaiix 
^v^nements  de  leur  vie  anterieure''.  Dieser  iSatz  ist  widersinnig'  «;e- 
greben  nnd  kann  natürlich  nur  so  fredeiitet  werden,  dass  die  vom  Er- 
trinkunijstode  ?]rretteten  solches  erzählten.  Die  Fällt',  wo  sie  kurz 
darauf  starben,  dürften  sehr  selten  sein.  Ferr  bemerkt  aber  weiter, 
dass  eine  Art  von  „aura  psychique"  vor  dem  epileptischen  Anfalle 
darin  besteht,  dass  die  Kranken,  wie  es  im  Referate  heisijt:  .  un 
eertain  nombre  depih'ptiques)  .  .  ont  une  sorte  de  r<jminiscence  de  leur 
Tie  passee"'.  Ich  seihst  habe  solches  nie  gesehen,  ebenso  wenig  ein 
Kollege,  der  jahrelang  mit  vielen  Epileptikern  zu  thun  hatte.  Auch 
in  der  Literatur  dürfte  dieser  interessante  Vorgang,  wenn  überhaupt, 
Bor  sehr  MHeii  Tennerkt  sein,  so  dase  ich  ihn  fOr  gans  abnorm  aeltai 
baiton  tmm.  För6  glaubt,  dan  dies  auch  beim  Henuinahen  des 
natiirfifilien  Todes  erfolge,  was  ich  aber  nnr  als  Ansnabme  erachte. 
Er  sab  ferner  bei  einer  grösseren  Zahl  ron  bewnssHosen  Sterbenden 
unter  dem  Eindmek  von  eingespritzten  Aetfaer  momentan  das  Bewnsst- 
sein  znriekkehren,  so  dass  sehr  genaue  Anskonft  tkber  grOnere,  weit 
snrHeUi^gende  Ereignisse  ihres  Lebens  gegeben  .woide,  weshalb  dies 
Mittel  in  gewissen  FUlen  mit  viel  Nntsen  nach  dieser  Bichtang  hin 
gebraneht  werden  könnte.  „Tont  donne  lien  de  eroire/  heisst  es  in  dem 
betreffendem  Referate,  „qne  Pinjection  d'^ther  ne  fait  ici  qa'acoentaer 
nne  disposition  natarelle.'^  Der  Schlass  scheint  mir  ein  sehr  gewagter, 
wenn  er  vom  Referenten  richtig  wiedergegeben  wurde.  Ich  habe 
öfters  Sterbenden  Aetherspritzen  gegeben  oder  geben  lassen,  ohne 
jemals  ähnliches  zu  erleben. 

Bemerken  nniss  ich  endlich,  dass  1.  die  meisten  Berichte  über 
das  blitzartige  Auftauehen  der  Jugenderinnerungen  bei  den  erwähnten 
Kategorien  von  Menschen  aus  früherer  Zeit  stammten,  wo  man  im 
Ganzen  leichtgläubiger  war  als  jetzt  und  2.  gewiss  ein  grosser  Theil 
der  vom  Erhängungs-  und  Krtränkungstode  Erretteten  wenig  glaub- 
würdig erscheinen.  Um  so  werthvoller  sind  dagetren  die  Berichte 
Abgestürzter,  weil  sie  meist  der  neuesten  Zeu  angehören  und  gewCdin- 
lich  Gebildete  betreffen.  Wer  al)er  viel  mit  subjectiven  Angaben  zu  ar- 
beiten gezwungen  ist,  wie  der  Arzt,  speeiell  der  Psychiater,  der  V»j- 
cholog,  der  Richter,  weiss,  wie  vorsichtig  alles  erst  auf  Glaubwürdig- 
keit hin  zu  untersuchen  isL   Auch  ohne  lügen  zu  wollen,  können 

1)  Fere,  De  l'etat  mental  anx  approches  de  la  inort.   S(»o.  do  Blolo<rio. 
f6vr.  1S89.  Nach  Kef.  im  Bulletia  de  la  SociCtö  de  MC-decine  mentale  de  Bei- 
gique.  1889.  p.  101. 


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298 


XXL  Naokx 


sich  Erinnerun;i-8täu8eliunt;en  und  -F'älsdiungen  einsclileielien ,  i)eson- 
ders  wenn  Iän;;ere  Zeit  seit  dem  Erlebniss  vergangen  ist;  darum 
grösste  Vorsicht! 

Es  wird  auch  öfters  bericlitet,  dass  das  (Besicht  Sterbender  zu- 
letzt sic'li  förmlich  verkläre,  was  gewuhnlicli  auf  Gottseligkeit  l)ezo^ren 
wird.  Eine  andere  Erklärung  liegt  aber  näher.  Wenn  nach  scliwereni 
Todeskamj)f  mit  etwa  vorhergehenden  physischen  oder  psychischen 
Schmerzen,  der  dem  Gesioht  den  Stempel  höchster  Angst  anldrBekt, 
ein  sanfter,  ja  yerkUrter  Avadniflk  auf  dm  Gesiehtoxllgeii  lagert,  so 
wild  dies  diinsh  das  Kaehlassen  des  Moskeltonus  erklSitidi.  Dies 
wird  bei  solchen  mit  vorher  durehgeistigtem  Gesiehte  noeh  denflicher; 
die  kuz  vorher  noch  vezzenten  Muskehi  kehren  in  ihre  alte  Lage 
znriiok,  um  freilich  m  der  Todteostane  bald  wieder  sich  sn  verindeni. 
Ob  ein  Mher  wiridieh  htatiches  Gesicht  dnrch  den  Tod  schOn  wer- 
den kann,  ist  mir  sehr  nnwahrsoheinUch.  Wohl  kann,  wie  wir  sahen, 
Yor  dem  Tode  der  gdstige  Gesidilaansdnick  snrttckkehren  und  so 
das  Gesicht  wieder  verschönem.  Vielleicht  kann  sogar,  wie  dies 
Balzac  in  Eiig6nie  Grandet  bemerkt^  der  Tod  einmal  gewisse  Ecken 
des  Gesichts  verstreichen  lassen,  mehr  abrunden.  Jeder  hat  natür- 
lich über  scliön  und  hässlich  seine  eigenen  Ideen,  und  so  wird 
Mancher  das  Gesioht  eines  Sterbenden  oder  Toden  schön,  friedlich 
finden,  wenn  es  ein  Anderer  nicht  sieht.  Hier  spielt  die  Affectiage 
der  Trauemden  eine  grosse  Rolle.  Ich  habe  selten  ein  Todtengesieht 
gesehen,  das  einem  ruhig  und  friedlich  Schlafenden  geglichen  hätte, 
höchstens  nur  unmittelbar  nach  dem  Tode.  Durch  seine  marmorne 
Blässe,  Glätte  und  Ausdruckblosigkeit  wirkt  es  meist  wenig  ästhetisch, 
besonders  im  späteren  Alter.  Daher  machen  denn  auch  Photographieen 
von  Todten  fast  immer  einen  abstossenden  Eindruck.  Und  nicht  mit 
Unrecht  sagt  Shakespeare  (Maass  für  Maass):  „0,  der  Tod  ist  ein 
Meister  im  Entstellen". 

Bezüglich  der  Todesstunde  Geisteskranker  wissen  wir  gleichfalls 
wenig  Näheres.  Vergessen  wir  zunächst  nicht,  dass  die  meisten  unter 
ihnen,  ebenso  wie  die  Geistesgesunden,  an  intercurrenten  Krankheiten 
sterben,  nur  wenige  an  AltersschwfifChe  oder  allmählicher  Auflösung 
in  Folge  von  H^zsohwiche.  Soweit  idt  nun  beobaditet  habe  —  and 
anch  hier  besitze  ich  ziemliche  ürCahrung  —  sind  die  physio- 
nnd  psychologischen  Erscheinungen  der  Sterbestunde  bei 
Geisteskranken  und  Geistesgesunden  sehr  ähnliche.  Ge* 
rade  ganz  kfiizlich  habe  ich  hierbezttgUcb  einen  recht  interessanten  Fall 
beobachtet  ESn  Faranoiker  hatte  unter  lebhaften  Sinnestftnschnngen 
einen  erneuten  Erregungsznstand  bekommen  und  war  wieder  in  unsere 


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Znr  Pbyaio-Pisrdiologie  der  Todesstunde. 


299 


Anstalt  gebracht  worden.  Er  collabirte  bald  und  die  Agone  zog  sich 
ziemlich  lange  hinaus.  Schon  kurz  vor  dem  Schwächezustande  war 
er  mit  Abklingen  der  Erregung  klarer  geworden  und  gab  passende 
Antworten.  Noch  3  Stunden  vor  dem  Tode  verstand  er  die  Um- 
stehenden und  auf  die  Frage,  ob  er  sie  kenne,  nickte  er.  Ich  sah 
ihn  ca.  1'  4  Stunde  vor  dem  Ilxitus.  Er  röchelte,  zeigte  die  typische 
Facies  hippocratica,  schien  absolut  bewusstlos  zu  sein,  sprach  nicht 
und  reagirte  auch  nicht  auf  lautes  Anrufen.  Die  Augen  waren  ge- 
schlossen, aber  die  Uornhaut,  wie  auch  die  Körperoberfläche  und  das 
Gesicht  auf  Berührung  noch  sehr  empfindlich  (er  litt  schon  vorher 
an  Ueberempfindlicbkeit  der  Hautdecken).  Beichlichefi  AuftiSnfeln 
Ton  Oiinatmctar  auf  den  Zungeurftdran  blieb  ohne  jede  Beaetion. 
Abo  war  der  Geeebmaek  Yeracbwundeii.  Oeffnen  einer  Flaeobe  mit 
SehwefeUttber  nnd  einer  anderen  mit  Kampferspiritot  unmittelbar  Tor 
einem  oder  dem  anderen  Kasenlocfae  blieb  gleiohfalls  wiiknngsloe, 
also  war  aneh  der  Gemeh  abhanden.  Hier  beataad  folgtieh  bis  sn- 
letzt  nur  die  SeanbiliiSt  der  Haut  und  Homhani 

Brown-Söqnard  (siehe  die  iUbeit  von  F6r^  berichtet,  daas 
Kranke  mit  ongamseher  Verletenng  des  Gehinw  im  Sterben  ihre 
▼snige  Empfindfichkei^  MotilitSt  nnd  ihren  Intellect  wieder  gewinnen 
können;  er  habe  solche  Fälle  schon  1874  veröffentlicht  Wahrschein* 
lieb  trite  dies  in  Folge  ziemlich  wichtiger  Veränderungen  in  der 
Blntzusammensetzung  und  in  der  Emährong  der  Organe  ein.  Ja, 
der  alte  Bnrdaeh  (1.  c)  sagt  sogar:  .  wie  denn  auch  Geisteskranke, 
selbst  wenn  organische  Fehler  des  Gehirns  die  mehrjährige  Krankheit 
verursacht  hatten,  in  den  letzten  Stunden  ihres  Lebens  meist  zum 
vollen  Gebrauche  ihrer  Verstandeskräfte  kommen.'*  Jedenfalls  dürfte 
dies  bloss  selten  eintreten  und  wohl  nur  bei  functionelleni  nicht  aber 
grob  organischen  Veränderungen. 

Hier  ist  dann  aber  noch  weiter  zu  unterscheiden  zwischen  einer 
rein  zufälligen  Aufhellung  des  Geistes  und  einer  durch  die  bevor- 
stehende Auflösung  selbst  bedingten,  b'tzteres  könnte  man  mit 
einiger  Sicherheit  nur  bei  cli ronisch  ganz  Verworrenen  oder  anderer- 
seits tief  Blödsinnigen  —  in  diesem  Falle  würde  es  sich  aber  nur 
um  Pseudo-Demenz  handeln,  nicht  um  wirklich  organisch  bedingte  — 
annehmen  y  da  alle  Psychosen  sonst  so  viel  grössere  oder  kleinere 
seitliche  Schwankungen  im  Bewussteeinsiiistande  nnd  in  ihrem  sonstigen 
Verhalten  aufweisen,  dass  eine  etwa  eintretende  Aufhellung  des  Geistes, 
knnes  I^bleiben  von  Wahnideen,  Sinnestäuschungen,  Stimmnngs- 
aaomalien  u.  s.  w.  knrz  vor  dem  Tode  eben  nur  eine  solche  Schwan- 
kung bedenten  k((nnten,  also  der  reine  Zufall  wSien,  mithin  nichts 


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800 


XXI.  Nacks 


AnffiUliges  dubietan.  So  gesohab  dies  atuh  sioher  in  dem  obea 
berichteten  Falle.  Nur  wenn  ein  aoleher  Uebetgaog  in  scheinbare 
Vernunft  hier  ganz  plötzlieb  erfolgte^  könnte  man  ihn  ab  meriLwttrdig 

legistriren,  obgleich  dies  auch  sonst  im  Laufe  einer  Psychose  bis- 
weilen beobachtet  wird.  Ein  College  erzählte  mir  neulich  einen 
me^wUrdigeo  Fall.  Eine  chronisch  geisteskranke  Frau  fällt  in  Schlaf, 
erwacht  daraus  gestärkt,  klar,  ruhig,  sprach  mit  dem  Arzte  über  ihr 
TCfgangenes  Leben,  wie  es  ihr  doch  im  Ganzen  wohl  gegangen  sei, 
wie  nur  das  Schicksal  ibrer  minderjährigen  Kinder  sie  etwas  bedrücke, 
doch  würden  sie  gewiss  gut  aufgehoben  sein.  Sie  werde  wieder  bald 
in  »Sclilaf  verfallen  und  aus  demselben  nicht  mehr  aufwachen.  Und 
so  geschah  esl 

Haben  aber,  so  wird  man  vielleicht  fragen,  alle  diese  und  ähn- 
liche Untersuchungen  an  Tkistesgesunden  und  Geisteskranken  auch 
einen  gewissen  praktisclien  Werth?  Ich  glaube  es  sicher,  besonders 
für  Juristen.  Civilrechtlich  handelt  es  sich  zunäclist  um  Aufsetzen 
von  Testamenten,  was  freilich  meist  mehrere  Stunden  vor  Eintritt  d^ 
Todes  geschieht  Aber  auch  bei  Beactionslosigkeit,  wie  gewöhnlich 
in  der  eigentfi^jbenTodiHtonde,  mlMeii  Ant  und  Biehtor  inieniieiwB, 
ob  diow  eine  wirkliche  oder  nur  scheinbare  igt  und  ob  eine  tiefe 
oder  oberflächliche  BewiiMtieiiietrflbnng  Torliegt  In  lelifteren  EUle 
könnte  man  noch  hoffen,  daae  momentan  das  Bewnsataein  wieder- 
kehrt nnd  der  Patient  dnreh  annentaprechende  Geaten  oder  Woite 
aeine  Znatimmnng  zu  gewiaaen  TeetamentBbeatimmiuigen  geben  kann  >)• 
Es  wire  wohl  hierEU  noch  nach  FM  die  Anwendung  einer  Aether^ 
apritie  empfoblaosweKdi,  obgleich,  wie  schon  geaagt,  ich  dem  nielit 
aehr  traue.  Ea  handelt  aich  andereraeila  vielleicht  auch  um  achnelle 
Eheachliessungen ,  Anerkennung  ron  unehelichen  Kindern  n.  s.  w., 
wozu  einige  klare  Momente  genUgen  können.  Doch  ist,  wie  Bernd t 
richtig  bemerkt,  eine  Suggeationawirknng  gerade  hier  aehr  nahe  liegend, 


1)  Mir  nicht  recht  klar  ist  eine  hierher  gehörige  Entscheidung  des  O.L.G. 
zu  Stuttgart  vom  25.  März  1901,  die  ich  der  Schrift  von  Schultze  (Wichtige 
Entacfaeidnngen  anf  dem  Gebiete  der  geriehtlichen  Psychiatrie  Oltriiold,  Halle 
1902,  S.  3),  entneiime:  ^Zugelassen  ist  nnr  eine  Erklinrng  dnich  geeprodieDe 
Worte,  nldit  darch  Zeichen ,  so  das»  ein  Testament ,  bei  dem  der  Errichter  sein 
Einvcretändniss  lediglich  durch  Kopfnicken  zu  erkennen  gegeben  liat ,  nichtig 
iat.''  Psychologisch  ist  das  Kupfuicken  —  wenn  solches  orfahruugagemäss  recht« 
ainnig  erfolgte  —  dem  Worte  giddurasteUen.  Aach  bei  Letzterem  ist  erst  an 
'  nnteiBuehen ,  ob  ea  in  richtiger  Weise  gebrandit  wnrde.  Der  Sterbende  ist  aber 
oft  zum  Worte  ans  Srhwiichc  nicht  mehr  zu  bringen  und  dann  sollte  man  sich 
durchaus  mit  bhissnii  K<>nt"iiie-ken  bcgnntrcn.  lürWoit  und  Nicken  plt  ültriircii:* 
das  im  Texte  gleich  zu  ErwiUmcude  bezüglich  einer  mOglichen  iSuggesUuut>wirkuug. 


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Znr  Pbysio-FBjrdiologie  der  Todeattnnde. 


SOI 


besonders  wenn  nicht  völlige  Klarheit  besteht;  und  so  ist  die  Dispositions- 
filhigkeit  wohl  nie  g:anz  klipp  und  klar.  Aber  auch  strafrechtlich 
wären  ein  paar  klare  Augenblicke  unter  Umständen  sehr  wichtig. 
Bei  einem  Morde  z.  B.  könnte  kurz  vor  dem  Tode  bei  erhaltenem 
Bewusstsein  —  wie  namentlich  oft  bei  Verblutungen  —  oder  bei 
Wiederkehr  desselben  vielleicht  der  Name  oder  die  Beschreibung  des 
MördeiB  u.  s.  w.  erfoncbt  oder  irgendwelche  nützliche  Anhaltspunkte 
m  weitwer  Kaefafonehimg  gegebeo  werden.  Einige  klare  Momente 
würden  endfidi  andi  fBr  dieFamifie  sellMt  werthrell  ton,  nmlmnen 
AnftinhItiM  über  den  Verbleib  gewieier  Papiere,  Scblflasel  n.  b.  w.  zn  er- 
langen. Endlieh  Tennöohte  anoh  der  katholiaehe  Prieeler  einen  Augen- 
bliÄ  des  VentSndnineB  für  die  Beichte  nnd  die  ledte  Gelang  er- 
haaehen. 

Anaser  den  Tielen  schon  Torher  angeworfenen  Fragen  lieesen 

sich  aber  noch  manche  andere  anführen.  Worin  z.  B.  besteht  die 
Todesfurcht,  die  schon  Viele  bei  dem  blossen  Gedanken  an's  Sterben 
er&sst  und  die  sicher  auch  die  Schwere  des  Todeskampfes  oft  genng 
mit  bedingt?  Sie  scheint  vorwiegend  ein  Product  det  Ooltur  zu  sein. 
Der  Wilde  kennt  sie  wahrscheinlich  nicht  oder  nnr  wenig,  trotidem 
Beobachtungen  über  die  Todesstunde  yon  Wilden  kaum  vorliegen. 
Todesfurcht  wird  verschieden  verursacht.  Bald  ist  es  Angst  vor  dem 
Sterben')  als  solchem,  der  mächtige  Ausdruck  des  Selbsterhaltungs- 
triebes, bald  sind  es  Zweifel  über  die  \'orgänge  im  Jenseits,  besonders 
Furcht  vor  einer  künftigen  Wiedervergeltung  der  Sünden,  bald  ist  es 
Trauer,  die  Seinen  und  sein  Hab  und  Gut  verlassen  zu  müssen.  Bald 
sind  diese  Motive  nun  entweder  einzeln  vorhanden,  oder  zusammen, 
in  verschiedener  Stärke  und  Mischung,  von  vielen  Momenten  ab- 
hängig. Die  Hauptmotive  der  Todesfurcht  dürften  aber  obengenannte 
sein.  Man  wird  leicht  begreifen,  d-dsa  ein  Wilder  davon  nur  wenig 
berührt  wird,  am  meisten  vielleicht  noch  von  der  Trauer,  die  Seinen 
nnd  sein  Gnt  zu  verlassen,  weniger  schon  der  Furcht  halber  vor  dem 
Tode  selbst,  kaum  je  wegen  Zweifel  an  ein  Jenseits,  selbst  wenn  die 

1)  Sehr  Bchun  beisst  es  in  Shakespc.-irc's  ..Mnass  für  Maaw": 

„Die  schwerste  Last  von  Leben.sinüh  likuiedeu, 

Die  Alter,  ElcuU,  iSchmerz,  Eiukcrkeruoj^, 

Dem  HeDtohflD  «nferiegt,  toi  ein  Pandies 

Verglichen  mit  des  Todee  Schrecken.* 
Und  Edgar  in  König  Lear  saprt:  „(denn  so  siis« 

l&t's  Leben,  das»  wir  stündlich  i  odesqual 

Eh'r  dulden,  als  mit  Einem  Male  sterben)." 
Ebemo  ssgt  Ciasr  (Julius  Giasr):  «Der  Feige  Bdibt  nfaon  vielmal,  eh' 

er  8tirt»t*' 


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'602 


Idee  an  em  solchesi  die  meist  nur  sehr  oobeetimmt  ist,  beetebt  Es 
wild  TielfRch  bericbtefc,  dass  der  Neger  oder  cbineeiBobe  Verbrecher 
mbig  seinea  Kopf  anl  den  Biebfbloek  legt,  und  ohne  Zodsen  den 
Todeestreich  empföngt  Er  hat  ja  selten  hier  etwas  sn  yeilieienl 
Hinzn  komml^  dass  nameofUeh  N^er  nnd  Mongolen  physisehen  nnd 
peyohischen  Sohmemen  gegenüber  abgestampfter  an  sem  seheinen, 
als  die  Weissen.  Aneh  der  Greis»  der  des  Altörs,  der  SehwSehe  halber 
von  den  Wilden  in  das  Gebfisch  znm  Verhnngem  ansgestoesen  wird, 
nimmt  diese  Todesart  mhig  bin;  er  ist  mit  diesen  Sitten  ja  schon 
längst  vertraut  und  bat  es  mit  seinen  Eltern  auch  nicht  anders  ge- 
tban>).  Der  Indianer  wieder  geht  ruhig  dem  Tode  enl^fegen  ans 
Trotz,  nnd  weil  es  seine  Würde  verlangt,  ihm  winken  ausserdem 
die  Jagdgründe,  wie  dem  Moslem  die  Henris.  Der  altersschwache 
oder  todtkranke  Hindu  schleppt  sich  mühsam  znm  Ganges,  um  ruhig 
in  seine  heiligen  Fluten  zu  versinken,  aus  religiösem  Gefühle.  In 
den  letzten  Beispielen  spielen  aber  bereits  andere  Motive  mit,  wie 
man  sieht.  Wie  die  Wilden,  so  kennen  auch  die  Kinder  kaum  Todes- 
furcht. Es  ist  mir  endlich  aufgefallen,  wie  gleichgültig  oft  Leute 
niederer  Schichten  dem  Tode  <;ep'nül>er,  z.  H.  in  den  Krankenhäusern, 
sich  verhalten,  ebenso  aber  auch  in  den  eigenen  Familien,  selbst 
wenn  der  Glaube  an  ein  Jenseits  wenig  vorhanden  ist.  Der  Arme, 
Gedrückte,  empfindet  das  Verlassen  dieser  Erde  oft  als  Erlösung  und 
vergesse  man  auch  nicht,  dass  die  Emjifindunj^en  und  Gefühle,  nament- 
lich höherer  Art,  bei  dem  niederen  Volke  weniger  ausgeprägt  zu  sein 
scheinen,  als  bei  den  oberen  Schichten. 


1)  Woltaaaon  (Poittfadw  Aiithn>pologie.  1908.  Thüringische  Yeriagaamtilt 
Eiaenaoh  mid  Leipidg)  aagt:  «D«r  Kumibalinniis  ist  in  Wirklichkeit  nicht  so 
gnuttam,  wie  es  onseiTn  fcinfQhlcnden  Bewusstecin  dünkt  In  kannibalischen 
Sriimincn  wachsen  die  ^tensdipn  trcwohnhcitsraässi}?  von  Kindheit  an  in  dem  Ge- 
danken auf,  dass  sie  dem  l  üde  und  dem  Fest-  und  üpferschmaus  verfallen,  wenn 
de  in  die  HSnde  der  Fdnde  gerathen.  Dieselbe  Empfindong  bemefat  bei  anderen 
Stibnmen  sndi  der  Venklavnng  gegenfiber.  Nur  so  sind  die  Beiidite  der  Reisen- 
den za  verstehen,  dass  Gefangene  willif?  der  Sklaverei  sich  fugen  und  sogar, 
wenn  sie  zn  einer  Siegepschmanserei  dienen  sollen,  sieh  ruhig  mästen  lassen  und 
ergeben  der  Abschlaebtung  entgegensehen.*"  Und  der  Aegyptoiog  Wiedemann 
(die  Todten  nnd  ihre  Reidie  im  Gbnben  der  «1^  Aeg>'pter.  Hinridu,  Leipzig 
1902.  Der  alte  Orient  II.  2)  sagt:  „.  .  .  die  Gedanken  der  Aegypter  sidi  viel 
und  gern  mit  dem  Tode  beschäftigten,  der  für  sie  ebensowenig  wie  für  den 
modenien  Oncntalen  einen  grossen  Schrecken  besasa"*.  Dasselbe  wissen  wir 
aueh  im  Allgemeinen  von  Griechen,  Körnern  und  Germanen,  daher  z.  Th.  auch 
der  Todesmutii  im  Kampfe.  Gans  dm  Todesgedanken  gegenftber  abgestumpft 
erscheinen  aber  die  Gladiatorm,  wie  nodi  heutigen  Tages  mehr  minder  die  8lier> 
kimpfer. 


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Zur  Phydo-Psyehologie  der  Tod«Mtimde. 


808 


Mit  der  Cultur  wächst  zweifelsohne  der  Selb8terhaltiing:strieh  und 
die  Liebe  zum  Leben,  weil  das  Leben  seil)st  einen  reicheren  Inlialt 
gewinnt  und  somit  nielir  Werth  erhält  i).  Es  ist  ein  schlechtes  Zeichen 
einer  Zeitperiode,  wenn  dieser  Trieb  sich  abschwächt  und  die 
Selbstmorde  sich  häufen.  Damit  hat  natürlich  die  stoische  Ruhe  des 
Helden,  des  Philosoplien  nichts  zu  thun,  die  ruhip:  dem  Todesen^i^el 
in'B  Angesicht  schauen.  Hier  hat  der  Wille  den  Trieb  zum  Leben 
ans  edlen  Motiven  oder  innerer  Ueberzeugung  der  Nothwendigkeit 
unterdrliekt.  Und  wenn  Gläubige  dasselbe  thun,  so  winkt  ihnen 
drüben  die  Verbeissnng  und  ISast  sie  das  hier  Znrflekiidaasende 
leichter  Termiasen.  Wer  aber  an  mt  Jenadts  nicht  glaubäi  kann? 
Dem  freilich  wird  ein  starker  Trost  abgehen,  deshalb  darf  man  aber 
nicht  den  Trngschlnss  begehen,  ein  Jenseits  ans  der 
Todesfurcht  ableiten  zu  wollen!  Es  giebt  genug  Atheisten 
und  Materialisten,  die  ruhig  sterben.  Fttr  die  mohamedanisehe  BYau 
gilt  das  Gleiche,  obgleich  ihr  kein  Jens^  winkt  wie  dem  mSnnlichen 
Moslem.  Man  sieht  daraus  jedenfalls  so  viel,  dass  der  Glaube  an 
ein  Jenseits  nicht  absolut  sum  ruhigen  Sterben  vonnOthen  ist,  eben- 
sowenig wie  zum  richtigen  Handeln  hienieden.  Wenn  endlich  der 
Kirche  jahrelang  Entfremdete  auf  ihrem  Todeslager  sich  bekehrten, 
so  ist  das  auch  nicht  ohne  Weiteres  für  die  Wahrheit  eines  Dogmas 
zu  verwerthen.  ^Es  kann",  wie  Bern  dt  (I.e.)  sehr  richtig  bemerkt, 
^wohl  auch  der  Schluss  gezogen  werden,  dass  vor  dem  Gefühl  des 
herannnlM'nden  Todes  die  Klarheit  des  interesselosen  kühlen  Erkennens 
zurücktrat,  dass  die  elementaren,  in  der  Jugend  eingeimpften  reli- 
gi(")sen  Eni}»fin(]uniL,'f'n  über  die  während  des  reiferen  Alters  mühsam 
emin^'enen  Denkresultate  die  Oberhand  gewannen."  Auch  s{)richt 
starke  Todesfurcht  noch  nicht  ohne  Weiteres  etwa  für  schwere  Ge- 


1)  Damit  süiouit  Th.  weiiigäten»  uueh,  daa&  im  Ailgemeinen  die  Germanen 
mehr  am  Leben  hängen,  als  die  weniger  gebildeten  8fidromanen  oder  gar  die 
SltTen.  Doch  a|rielt  hier  die  Baaee  waiiiadieiiiliah  die  grteaera  Bolle.  Merk> 

würdig  ist,  dam  die  Semiten  dem  Tode  meist  mit  Gleichmuth  entgegcnj^olien. 
der  Jude  aber  nii'ht.  Sollte  bloss  die  Coufcssion  daran  -»chuld  sein?  Walir- 
Bchcinlich  ist  hier  der  arische  Einschlag  von  (Auioritor  von  Luächau)  dai-an 
Sdiiild.  Bekannt  ist,  daw  eben  wegen  Äugst  vor  dem  Tode  ^e  Juden  gern 
«geadMoe  Patienten  dnd,  da  «le  die  Aente  b^  Jedem  unbedeutendem  Anlaaae 
rufen  laaaeni  prompt  und  gut  bezahlen.  Die  Zumiadiung  arabii^clicn  Bluts  hat 
beim  Spanier  walirsclieinlich  mit  bcwirict,  dass  er  scheinbar  norli  luelir  dem  Todi* 
gegenüber  abgestumpft  ist,  als  z.  B.  der  ItiUiener.  Doch  tliut  aucli  die  Gcwohu- 
halt  an  Stierkampf,  Mord  noch  ebi  Uebriges,  so  daaa  in  Spanien  eb  Henachen* 
leben  nicht  viel  werth  erschmt  Andwe  hingen  wieder  ao  zäh  am  Lel)en,  daaa  aie 
auch  sogar  in  extremis  dieHoffnung  nodi  nicht  ainken  laaaen,z.B.der  grosse  Brahma. 
AroUr  m  Kiiminabuithnipologi»  XIL  21 


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304 


XXL  NXcu 


wissenshisae,  bo  dass  die  Worte  Warwick's  in  Shakespeare 'g  Hein- 
rich VI.  (II.  Th.):  „Solch'  grauser  Tod  verriUh  ein  grauses  Leben* 
durchaus  nicht  immer  zu  Recht  bestehen.  Fkrebtaame  werden  cet 
par.  Bekwerar  in  den  Tod  geben,  als  Huthige,  ja  Forebt  kann  den 
Tod  besoUennigen,  sogar  einmal  erzeugen.  Biobar  d  IL  (Sbakespeare) 
sagt  scbon:  ^Die  Furebt  giebt  Tod"  nnd  es  sind  wobl  bie  nnd  da 
SeblagfiUle  nnd  Tod  in  der  änssenten  Todesangst  bekannt  geworden. 
Es  will  mir  endlieb  aneb  sobeinen,  obgleieb  iob  selbst  Protestant  bin, 
dasB  die  Katholiken  dadorofa,  dass  fast  Jeder  noch  bei  mehr  oder 
weuger  Bewnsstsein  die  letzte  Gelang  erhält,  dies  weiss^  alltiglieb  last 
siebt  nnd  sich  so  mit  dem  Tode  schon  seit  Langem  gewissermassen 
befreundet'),  oft  ruhiger  in  den  Tod  gehen,  als  die  Protestanten,  von 
denen  viele  doroh  das  blosse  Nahen  des  Geistlichen  vor  ihrem  Tode 
tief  erregt  werden,  weshalb  denn  mit  Beeht  in  allen  Krankenhäusern 
ärztlich  darauf  gesehen  wird,  dass  ohne  speciellen  persdnlioben  Wonseh 
der  Geistliche  nicht  fi^enifen  werden  darf. 

Ist  aber  der  Tod  sclimerzliaft  und  ist  er  deshalb  zu  fürchten? 
Wenn  auch  das  leiden,  das  zum  Tode  führte,  es  war,  so  kann  man 
wohl  mit  absoluter  Sicherheit  sauren,  dass  bei  einjretretener  Bewusst- 
losigkeit  nichts  mehr  j^efiihlt  wird,  der  eijren 1 1  ic  h  e  Tod  also 
schmerzlos  sein  muss^j.  Viele  Analogien  lassen  sich  dafür  bei- 
bringen, ebenso  Aussagen  von  Sterbenden,  die  wieder  einige  klare 
Augenblicke  gewannen.  Wir  sahen  schon,  dass  vor  dem  Tode,  ja 
oft  meist  schon  vor  Eintritt  der  lkwusstlosigkeit,  die  Functionen  des 
Körpers  allmählich  nachlassen,  damit  auch  die  Schmerzempfindang, 
letztere  allerdings  oft  nnr  erst  in  der  Bewosstlpsigkeit  Ermüdung 
ist  hierbei  im  Spiele,  noefa  mehr  aber  die  sieb  anbinfende  Menge 
▼on  Koblensftore,  worauf  die  so  hftaf  ige  Cyanose  der  Gesiebter  deutet 
Fkeilieb,  aneb  dann  siebt  man  niebt  selten  noeb  Sebmeizänssenuigen, 
ein  Qesiobtsznoken,  StObnen,  Sebrden,  doch  dürflen  dies  nur  Aensse- 
mngen  rein  refleetorischor  Natur  sein,  die  also  die  Hirnrinde,  den 
Sitz  des  eigentlicben  Bewussiseins,  nicbt  mehr  treffen.  Trotz  allen 
Baisonnements  bescbleicbt  aber  Viele  die  Todesfurcht  und  bei  Ein- 
zelnen kann  sich  im  späteren  Leben  geradezu  eine  Art  von  Thanato- 
phobie  ausbilden,  sobald  sie  nur  an  ihr  Ende  denken. 

Wie  steht  es  nun  mit  der  Todesstunde  bei  Thieren?  Wissen  wir 
sehon  von  deren  Psychologie  überhaupt  noch  sehr  wenig,  so  haben 
wir  hier  ein  unbescbriebeneB  Blatt  vor  uns.  Prot  D ex  1er  (Prag) 

1)  In  Sicilien  kun  der  Sterbende  eventuell  logir  aebi  eigeoee  Sterbe- 

gUtckchcn  iftuten  hören! 

2)  Bchon  Shakfspo.in'  (Maas«  für  Iüumb)  sagt  sehr  richtig:  «Des  Todee 

Schmerz  liegt  iu  der  \  urstciluDg.** 


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Znr  Phyaio-PiTciiologle  der  Toctesttiuide. 


805 


sagte  mir,  dass  bez.  dieser  Frage  nur  die  Beobachtungen  an  frei  leben- 
den Thieren  Werth  hätten,  nicht  von  demestizirten,  deren  Psychologie 
eben  eine  anders  geartete  sei.  Wir  wissen  nur,  dass  auch  bei  ihnen 
ein  Todeskampf  eintreten  kann.  Nähere  physiologisclie  Daten  fehlen 
wohl  ganz.  Vielleicht  bestellt  liie  und  da  eine  Art  Todesfurcht  Wir 
wissen  nämlich,  dass  Thiere,  die  zur  Sehlachtbank  geführt  werden, 
sobald  sie  Blut  riechen  und  die  Kadaver  sehen,  am  ganzen.  Leibe 
zittern  und  sioh  dem  Eintritt  In  das  Sehkushfhant  Mhr  widenetzen; 
offenbar  wübl  ans  Todesforebi  M erkwflidig  ist  die  Thalsaohe^  dass 
manehe  Thiere,  z.  B.  Vögel,  sich,  wenn  sie  leidend  sind,  absondern, 
gerne  m  die  Bfisehe  n.8.w.  begeben  nnd  dort  rerboigen  starben. 
Daher  kommt  es  X.B.,  dass  Ton  den  Millionen  nnserer  Vögel  so 
selten  emmal  ein  Kadayer  gefunden  wird.  Sie  sind  eben  venleekt! 
Prof.  Dexler  erzählte  mir  ftbrigene^  dass  aneb  die  Anstralneger  sieb 
snm  Sleri)en  in  die  Bllsehe  begeben.  Dies  sei  so  bekannt,  dass,  als 
er  einen  Weissen  darob  befrag,  dieser  ihm  sagte:  they  all  do  like 
tiie  erows!  Was  die  Tbiere  zu  dieser  sonderbaren  Absonderung,  die 
einem  Tnatinkte  fast  gleichkommt,  treibt,  wissen  wir  nicht,  ebenso 
wenig,  warum  die  meisten  Thiere  ihre  kranken,  noch  mehr  aber  ihre 
sterbenden  Kameraden  schnöde  verlassen.  Ist  es  ästhetischer  Abschen 
oder  sind  es  etwa  unangenehme  Gerüche  des  Sterbenden?  Wolt- 
raann  (1.  c.)  berichtet,  dass  nach  G.  Jäger  kranke  Thiere  von  ihres- 
gleichen we^en  ihrer  üblen  Ausdünstung  in  der  Rc<;el  instinctiv  ge- 
mieden, nicht  selten  sogar  mit  Gewalt  fortgetrieben  wurden,  z.  B.  bei 
Hühnern,  Rehen.  Die  Affen  sollen  kein  Mitleid  mit  kranken  und 
schwachen  Thieren  haben.  Ob  übler  Geruch  wirklich  dabei  eine 
Rolle  spielt,  ist  mir  sehr  fraglich.  Prof.  Dexler  sah  ein  wildes  Pferd 
in  Australien,  djxs  an  Strahlenpilz  des  Kiefers  litt.  Die  übrigen  Pferde 
der  Heerde  sehlugen  es  sehr  bald  tudt.  War  es  das  Aussehen  oder 
ein  gewisser  Geruch,  das  sie  dazu  veranlasste?  Ja,  der  Abscheu  kann 
sogar  soweit  gehen,  dass  selbst  die  Vogelmatter  ihr  krankes  Kleine 
ans  dem  Neste  wirft,  dasselbe  sogar  nieht  einmal  wieder  annehmen 
will,  sobald  dies  von  einem  Henseben  berObrt  wmde,  oder,  ans  dem 
Neste  gefollen,  von  emer  mifleidigen  Hand  znr&el^pebnMht  ward. 
Hier  haben  wur  kein  pi^ohologisehes  Verständniss  mehr!  Manehe 
Thiere  besebnobem  aneb  ihre  todten  Kameraden,  z.  B^  Hnnde  nnd 
wenden  sieh  gewOhnlioh  mit  Absehen  ab.  Gans  fthnlieh,  wie  viele 
Thiere  sich  kranken  nnd  sterbenden  Angehörigen  gegenüber  vec^ 
halten,  handeln  aneb  manehe  Wilde.  Sehurtz^j  z.  B.  ssgt:  „..treiben 

1)  Beek,  Die  bldogisohen  Wmnela  der  meneehUchen  OemdiiBehalt  PolU 
Haeh-aathropologiaehe  Bevae.  1903.  IL  Jahig.  Nr.  2. 

21» 


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S06 


XXL  Nlcn 


die  Kaffem  Kranke,  an  deren  Aufkommen  sie  zweifeln,  in's  Dickicht, 
damit  sie  dort  elend  zu  Grunde  geben.  Alles  was  nicht  normal  und 
deshalb  i)edenklich  erscheint,  ist  in  Gefahr  durch  diese  innere  Reak- 
tion ausgeschieden  zu  werden:  Zwillinge,  Albinos,  Kinder,  die  un- 
regelniässig  zahnen  .  .  Vielen  Völkern  gilt  überdies  der  Todte  als 
unrein  und  muss  daher  möglichst  schnell  beerdigt  werden,  so  z.  B. 
bei  Arabern  und  Juden.  Absehen  vor  dem  entseelten  Körper,  Angst 
Tor  der  Wiederkehr  der  entflohenen  Seele,  Fnreht  vor  der  Verwesung 
nnd  andere  MotiTe  noch  mögen  hier  dne  BoDe  spielen. 

Es  ist  femer  bekannti  dass  der  Emtritt  in  das  Leben,  d.  L  die 
.Gebnrtsstnnde,  bei  den  meisten  in  den  Nacfatstnnden  erfolgt.  Wanun? 
Das  wissen  wir  nicht  nnd  nvr  nngentlgende  Hypothesen  wurden 
hierüber  aufgestellt  Wie  ateht  es  nun  aber  mit  der  Todesstunde? 
Es  sind  hierüber  Yersohiedene  Statistiken  rorhanden..  Die  grOsste 
(57  000 Fälle)  bearbeitete  Schneider  in  Berlin.  Erfand  denTod  amhftn- 
figsten  früh  zwischen  4—7  Uhr  eintreten  nnd  damit  stimmen  auch  die 
meisten  anderen  überein.  Auch  bierfür  ist  es  schwer  einen  triftigen  Gnind 
anzugeben.  Sollte  vielleicht  die  während  der  Nacht  angesammelte 
schlechte  Luft  im  nngdüfteten  Zimmer  die  Todesstunde  beschleunigen? 

Und  so  liessen  sich  noch  eine  ganze  Beihe  interessanter  Fragen 
aufwerfen. 

Bisher  betrachteten  wir  den  Sterbenden  selbst.  Nicht  ohne  psy- 
chologisches Interesse  wäre  jedoch  auch  das  Studium  dir  Anwesenden. 
Alle  Nuancen  von  der  Gleichgültigkeit  bis  zum  stillen  und  lauten 
Schmerze  würden  sich  vorfinden,  je  nach  der  Stellung  des  Menschen 
zum  Sterbenden  und  je  nach  seiner  Gemüthsbeschaffenheit.  Oft  wird 
sich  die  wahre  Grösse  eines  Menschen  erst  hier  zeigen,  und  auch  der 
hinzugezogene  Arzt  wird  erbaut  oder  entsetzt  das  Verhalten  der 
Familie  beobachten.  Hier  will  es  mir  gleichfalls  scheinen,  als  ob  in 
den  unteren  Volksschichten  mehr  Gleichgültigkeit  zur  Schau  getragen 
würde  und  wahrscheinlidi  auch  besteht,  als  in  den  oberen. 

Jedoch  noch  andere  Folgen  bei  den  Anwesenden  sind  öfters  vor^ 
banden.  Bekannt  isl^  dass  durch  den  physischoi  Schmerz  der  Appetit 
hei  Vielen  kürzere  oder  längere  Zeit  damiederliegt,  doch  kommt  anch 
das  Entg^engesetzte  vor:  Termehrter,  mindestens  nnverminderter 
Appetit^  wie  ich  es  z.  R  an  mir  selbst  wiederholt  erfahren  habe.  Es 
könnte  aber  weiter  der  heftige  Affect  bei  Disponirten  eine  nervOse 
Krankheit,  Tielleieht  allein  oder  im  Vereine  nut  andern  Momenten, 
sogar  eine  Psychose  erzeugen,  ja  selbst  einmal  Selbstmord  nnd  andere 
Unthaten.  So  lese  ich  in  den  Dresdner  Nachrichten  Yom  13.  Mai  1903 
folgende  Notiz,  die  wahrscheinlich  hierher  gehört: 


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Zur  Phjflio-Piyohologie  der  TodeBStonde. 


807 


„Magdeburg;  (Priv.-Tel.j.  Die  Scliuhmachci-seliefiau  Bartels  erdrosselte 
aus  Verzweifluug  über  den  bevorstekendeu  Tud  ihres  Ehemaones  ilir  Töchter- 
«hen  and  ertrinkta  ihr  Sdhnelieii  in  einem  Eimer;  darauf  erhängte  sie  sieh 
aeibat  an  einer  Thflikfinke.'' 

Viele  schfittetn  sich  noch  vor  Grausen,  wenn  sie  an  eine  mit- 
erlebte Todesstunde  zurückdenken.  Der  heftige  Eindruck  kann  bei 
Vielen  unruhige,  schwere  Träume  erzeugen,  aber  scheinbar  nur  sehr 
selten  einen  Traum  auslösen,  worin  der  Todte  als  solcher  erblickt 
wird.  Das  ist  psychologisch  hochinteressant !  Vor  mehreren  Jahten 
machte  U.  Ellis*)  wohl  zuerst  darauf  aufmerksam^  dass  wir  von 
todten  Freunden  und  Verwandten  überhaupt  bloss  sehr 
selten  träumen  und  dann  fast  nur  als  lebend,  nicht  als 
todt.  Ich  kann  dies  aus  eigener  und  fremder  Beobachtung  nur  be- 
stätigen, und  zwar  scheint  ein  solcher  Traum  unmittelbar  nach  dem 
Tode  eines  Angehr>rigen  noch  seltener  einzutreten  als  später.  Wanim? 
Schon  von  unseren  lebenden  Kam ilien gl iedern  träumen 
wir  selten  genug,  was  zu  erklären  bereits  schwierig  ist 2).  Sind  sie 
aber  todt,  so  erscheinen  sie  uns  als  lebend  oder  höchstens  —  und 
das  nur  gegen  die  normale  Zeit  des  Aufwachens  hin  —  sind  wir 
erstaunt  und  fragen  uns  wohl  im  Traume,  ob  denn  der  Betreffende 
wirklich  lebe,  nehmen  aber  schliesslich  das  Factum  des  Lebens  ohne 
weitere  Kritik  mhig  hin.  Einmal  tziamte  ioli  Ton  meiner  Teratorbenen 
Mutter  als  noch  leibend  und  freute  mich  nnbSndig  darttber,  ohne  aber 
irgend  eine  kritische  Frage  anfauwerfen.  Hier  war  jedoch  die  durch 
die  Tmuui'Handlung  selbst  als  aolohe  ganz  nnmotivirie  ttbermfiasige 
iVeude  achon  ^e  halbe^  unbewuaste  Kritik  gewesen.  Da  nun,  wie 
wir  sagten,  das  Erscheinen  von  uns  nahe  stehenden  Verstorbenen  in 
Tz&nmen  überhaupt  ein  sehr  seltenes  Ereigniss  ist,  ao  glaube  ich,  im 
Gegensatze  zu  Spencer^  dass  die  Idee  an  ein  anderes  Leben,  an 
Geiater,  Seelen,  Gespenster,  die  aich  aus  solchen  Träumen  ableiten 
lassen  sollte,  schwerlich  eine  starke  Wurzel  in  dieser  Erscheinung 
gehabt  hat 

1)  Haveloek  Ellis,  On  dreaming  of  tfae  dead.  The  Psychological  Re- 
view, isns.  No.  5. 

2)  Sehr  wahr  erzählt  daher  G.  Keller  im  „(Jrrinen  Heinrielc*  (IV.  Hil. i: 
nim  Yeriaufo  der  Zeit  hatte  sie  (sc.  die  Aiuttcr) . .  .  wiederholt,  aber  immer  uur 

'  nach  jahrelangen  ünterbreohanKen  vom  Vtter  getrlwnt,  vieUeidit  2-  oder  8  mal, 
gleichsam  zum  Wahrzdohcn,  wie  selten  solche  geheimnissvolle  LichtbHckc  tiefsten 
Glückes  vergönnt  siml."  Ks  wird  dann  beselirirben,  wie  sie  ihn  lebend  als  Ab- 
schied winkenden  Wanderer  sielit,  was  sie  sehr  traaripr  stimmte.  Hier  sehen  wir 
ein  leises,  aber  deutliches  Eriuueru  au  den  Tod  sich  geltend  machen. 

S)  CoUinB,  ^itome  der  Speocer'sohen  Philosophie,  üebenetzt  von 
y.  Ganae.  Neomami,  Ldpslg  1900. 


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808  XXL  Häckm,  Zur  PbyauhPtycfaologie  der  TodeMtonde. 

Spencer  spricht  allerdings  nur  von  Erscheinen  der  ^Verstor- 
benen in  Träumen'^,  spricht  sich  also  über  deren  Verwandtschafts- 
beziehungen nicht  aus,  während  Wundt ')  nur  von  todten  „Genossen" 
spricht,  also  sicher  auch  Kameraden,  Freunde  darunter  versteht  und 
chnin  den  üispmng  des  sogenannten  „Animismiis*  aieht  Aber  aneh 
nur  BVennde  oder  Bekannt^  die  geetorbea  sind,  erBchemen  meiner 
EifaliruDg  nach  eeHen  genug  im  Tiaome  und  swar  fast  mir  lebend. 
Also  anch  sie  können  keine  sehr  grosse  Bolle  spielen.  Um  so  mebr 
trgnmen  wir  von  Lebenden.  Nun  ist  allerdings  sweierlei  meht  zn 
yergessen.  Bratens,  dass  wenn  ein  Wilder  einmal  von  einem  todten 
Verwandten  oder  Genossen  als  lebend  träumt»  dies  auf  ihn  einen  ent- 
schieden tieferen  Emdmek  maohen  muss,  als  auf  uns>  wie  wir  dies 
ja  schon  bei  unseren  ungebildeten  Kreisen  sehen.  Zweitens  wird  viel- 
leicht cet.  par.  der  Wilde  relativ  häufiger  Ton  ihnen  tiSnmen  als  wir, 
da  sein  ganzer  Vorstellungsinhalt  dem  unserigen  gegenüber  ja  recht 
annselig  ist,  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  das  eine  oder  andere  Ele- 
ment daraus  im  Traume  wiederkehrt,  also  eine  grossere  ist,  als  bei 
uns.  Spencer  und  Wundt  haben  offenbar  die  oben  angezogenen 
Sätze  der  Traumpsychologie  nicht  gekannt  und  so  diese  Wurzel  des 
Animismus  gewiss  überschätzt. 

Der  Leser  wird  sich  hoffentlich  davon  Uberzeugt  haben,  dass 
auch  unser  engeres  Thema  sehr  reich  an  physiologischen  und  psycho- 
logischen Thatsachen  ist,  noch  mehr  freilich  an  Problemen,  von  denen 
nur  einige  hier  gezeichnet  werden  konnten.  Er  wird  femer  gemerkt 
haben,  dass  Verf.  eine  reiche,  eigene  Erfahrung  mitsprechen  Hess. 
Dies  sind  allerdings  aber  alles  nur  rohe  Bausteine!  Wir  müssen  noch 
viel  mehr  und  besser  auch  hier  beobachten  lernen,  alles  aufzeichnen 
um  statistische  Erhebungen  zu  gewinnen,  die  allein  über  die  Häufig- 
keit der  dnzdnen  Sympttmie  Bedmnng  ablege  und  so  allein  uns 
ein  wahres  Bild  liefern  könn^.  Wo  es  möglich  ist,  haben  wir  an 
messen,  zu  wfigen,  GurFen  zu  oonstruiren,  Zahlen  beizubringen.  Dann 
erst  stehen  wir  auf  festem  Grund  und  Boden  und  sind  nieht  blosse 
Empiriker,  wie  jetzt  Fieilieh  wnd  es  uns  sieher  nidit  gelingen,  mit 
obigen  Mitteln  an  alle  p^ydiologischen  IWigen  heranzugehen,  ge- 
sohweige  denn  an  metaphysisefae,  aber  Vieles  werden  wir  doch  so 
verarbeiten  können.  Aus  blossen  „Anecdoten-Jägem'',  ^Eindmoka- 
Menschen*^  werden  wir  dann  erat  zu  wirklieh  vrissensehaltliehen  For> 
Schern  werden. 

1)  Wundt,  Gmadiln  d«r  Peychologie.  8.  Aufl.  Engelmami,  LtipagiSW. 


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xxn. 


Die  Yerfolgmig  flüehtiger  Verbreeher. 

Yott 

Lcndriebter  BMunoMor  in  Zwidnn. 

Bei  den  ziemlich  oft  TOikommenden  Anzeigeii,  in  denen  der  Be> 
gehvldigte  als  flüchtig  bezeichnet  wird,  lassen  die  Strafveifolgungt* 
bebOrden  regelmässig  es  beimAiMacbreibendes  Beschuldigten  bewenden 
ohne  erst  durch  Erörterungen  klarznateU^,  ob  die  Besch uldiprung  in 
thatsächlicher  Beziehung  überhaupt  ausreichend  begründet  ist 

Da  fast  die  Hälfte  aller  Untersuchungen  erfahrungsgcmäss  zur 
Einstellung  des  Verfahrens  füljrt,  hat  die  ohne  Nachprüfung  der  in 
der  Anzeige  berichteten  Thatsachen  erfolgte  Ausschreibung  des  Be- 
schuldigten in  einer  nicht  geringen  Anzahl  von  Fällen  zur  Folge, 
dass  der  auf  Grund  des  Ausschreibens  festgenoniniene  und  zur  Haft 
gebrachte  Beschuldigte  in  ihr  bleibt,  bis  durch  die  dann  erst  in  An- 
griff genommenen  Erörterungen  seine  Unschuld  dargethan  worden 
ist  oder  es  sich  ergeben  hat,  dass  der  Schuldbeweis  wider  ihn  nicht 
geführt  werden  kann. 

Die  VerbaftuDg  nnd  damit  eine  längere  Dauer  der  Freiheil»- 
enteiefanng  kann  ja  nnn  allerdings  nur  reifttgt  werden  dnroh  den 
nitindigeQ  Richter.  Da  aber  in  eiaseben  BondeeBlaalen  auf  Grand 
landeegeeetalieher  VorBebriften  anch  die  noch  im  Vorbereitongadieoite 
stehenden  Jnisten  mit  der  Wahinehmnng  liehteitieher  Geschifte  be- 
anftnigt  werden  können  nnd  von  diesem  Beehte  von  den  Jnslisyer- 
wa3tnng8beh9iden  anch  in  weitem  Um&nge  Gebranch  gemacht  wird^ 
so  ist  thalsichlich  die  Entsehlieasang  über  den  Erlass  Ton  Haft- 
befehlen in  sehr  yielen  FSllen  in  die  Hfinde  Fon  Beamten  gelegt,  die 
noch  nicht  dnrch  Ablegnng  der  Bichterprttfnng  den  Nachweis  ihrer 
ausreichenden  Befähigung  zn  diesem  Amte  erbracht  haben.  Denn 
entweder  haben  jene  Beamten  wegen  ihrer  Jugend  noch  nicht  die 
dnroh  lingeren  Dienst  erworbene  Erfahrung  oder  sie  gehören  zu  denen» 
die  zwar  schon  älter  sind,  aber  trotzdem  der  Biehterprfifnng  sieh 
noch  nicht  mit  Erfolg  unterzogen  haben. 


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310 


XXIL  Hausbiixb 


Die  durch  diese  Verwendunjr  von  liefcrendaren  ganz  «nvcrmeid- 
lichcn  Missgriffe  bei  ricliteriiciien  Eutscliliessungen  werden  nun  zwar 
manchmal  dadurch  vermieden,  dass  ein  älterer  richterlicher  Beamter 
sich  den  Fall  vortragen  lässt  und  sich  die  fintschliessnng  wegen  dee 
Erlasses  von  Haftbefehl  vorbehslt.  Wer  aber  keiii  richtiges  Urtheil 
hat,  kann  auch  keinen  richtigen  Vortmg  halten,  denn  er  kann  eben 
nicht  benrtheilen,  was  wesentlich,  was  unwesentlich  ist.  Es  werden 
deshalb  auch  trotz  eines  Vortrag«  an  einen  älteren  Richter  bei  solcher 
Verwendung  der  noch  im  Vorberettnngsdienste  stehenden  Juristen  aige 
MisBgriffe  mit  unterlaufen  müssen. . 

Ich  selbst  erinnere  mich  eines  Haftbefehls,  der  wegen  des  Ver- 
dachts des  Versuchs  der  widernatürlichen  Unzucht  von  einem  noch 
im  Vorbereitungsdienste  stellenden  richterlichen  Beamten  erlassen 
worden  war.  Unkenntniss  des  Gesetzes  kann  aber  dem  Beschuldig- 
ten, der  von  einem  noch  nicht  genügend  befähigten  Richter  yemommen 
wird,  auch  dadurch  gefährlich  werden,  dass  der  Richter  aus  Unkennt- 
niss  des  Strafprozesses  von  der  sofortigen  Erhebung  der  die  Unschuld 
des  Beschuldigten  dartlnienden  Beweise  absieht. 

Die  grösste  (iefalir  lie^M  jedoch  darin,  dass  ein  solcher  unfähiger 
Beamter  die  Wichtigkeit  der  vom  Hesclmldi^itt  n  zu  seiner  Vertheidigung 
vorgebrachten  Thatsachen  nicht  ausreichend  erkennt  und  d<'shalb  nicht 
in  das  über  seine  Vernehmung  abzufassende  Protokoll  mit  aufnimmt 
Den  Uebelstäuden,  die  durch  Verwendung  von  noch  im  Vorbereitung»- 
dieuste  stehenden  Juristen  bei  einer  so  wichtigen  Untersuchungshand- 
lung  wie  der  Vernehmung  und  Entschliessung  wegen  Verhaftung  des 
Beschuldigten  entstehen  müssen,  kann  nur  durch  die  Justizverwaltungs- 
behSrden  oder  aber  im  Wege  des  Gesetzes  abgeholfen  werden.  Beides 
steht  aber  wegen  der  Kosten,  die  durch  die  damit  notfawendig  wer- 
dende Vermehrung  Ton  Bichtem  erwachsen  mUssen,  in  absehbarer 
Zeit  nicht  zu  erwarten. 

Um  so  dringender  eigiebt  sich  aus  dem  bestehenden  Zustande 
fttr  die  StrafverfolgnngshehSrden  die  Pflicht,  mSglichst  vor  dem  Er- 
lasse von  Ausschreiben  Erörterungen  darQber  anzustellen,  ob  der  in 
der  Anzeige  geäusserte  Verdacht  auch  wirklich  thatsSchlich  begründet 
ist.  Selbst  wenn  durch  die  Erörterungen  solches  dariretlian  worden 
ist,  ist  gleichwohl  in  zahlreichen  Fällen  noch  nicht  der  Fluchtverdacht 
begründet  und  ist  deshalb  auch  ein  Ausschreiben  des  Beschuldigten 
noch  nicht  jrerechtfertiirt,  denn  die  Thatsache  der  Abwesenheit  des 
Beschuldigten  braucht  durchaus  noch  nicht  als  Flucht  vor  drohender 
Strafverfolgung  ausgelegt  zu  werden. 

£s  kommen  zahlreiche  Fälle  vor,  wo  nicht  die  Flucht  zum  Zwecke 


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Die  VerfoigoQg  flOdttiger  Verbrecher. 


811 


der  Vereitelung  der  Strafverfolgung,  sondern  ganz  andere  Umstände 
einen  Wechsel  des  Aufenthalts  des  Beschuldigten  veranlasst  haben. 
Es  erscheint  deshalb  durchaus  geboten,  dass  die  Straf verfolgungsbe- 
hörden,  ehe  sie  das  Ausschreiben  des  Beschuldigten  verfügen,  zunächst 
alles  vmiohen,  um  den  Aufenthalt  des  Beeebnldigten  mit  anderen 
Mitteln  m  «rfonohen.  Welche  Mittel  dazu  geeignet  siad,  soll  im 
Folgenden  dargelegt  werden: 

Wohl  jede  Anzeige  enihftlt  Angaben  Aber  die  Person,  den  Ge- 
burtsort und  den  Geburtstag  des  Beschuldigten.  Fehlen  sie  in  ihri 
so  sind  sie  regehnissig  leicht  durch  Erkundigung  bei  der  Polizei' 
behörde  des  letzten  Aufenthalfsoits  in  Erfahrung  zu  bringeo.  Die 
Kenntnias  des  vollen  Namens»  des  Geburtstages  und  des  Geburtsorts 
des  Beschuldigten  giebt  nun  auch  Klarheit  darüber,  ob  der  Beschul* 
digte  sieh  im  niilitärpflichtigeu  Alter  befindet.  Ist  das  der  Fall,  steht 
der  Beschuldigte  im  Alter  von  20  bis  za  39  Jahren,  und  das  ist  die 
Mehrzahl  aller  männlichen  Beschuldigten,  so  muss  über  sein  Militär- 
verhältniss  entschieden  sein.  Es  empfiehlt  sich  deshalb  in  solchen 
Fällen  an  die  Polizeibehörde  des  letzten  Aufenthalts  die  Anfrage  zu 
richten,  was  dort  über  die  Militärverhältnis.se  des  Beschuldigten  be- 
kannt ist.  Sehr  oft  kennen  die  Polizeibehörden  die  Militärverhältnisse 
sehr  genau,  weil  der  Militärpass  viel  zur  Lejritiniation  hei  der  polizei- 
liehen Anmeldung  benutzt  wird  und  s(»lchL>s  in  den  polizeilichen  Unter- 
lagen über  die  erfolgte  Anmeldung  vermerkt  worden  ist.  Kann  die 
Polizeibehörde  aber  die  erbetene  Auskunft  nicht  geben,  so  kann  sie 
doch  wenigstens  durch  Er('>rteningen  leieiit  in  Erfahrung  bringen,  ob 
der  Beschuldigte  Soldat  war  oder  nicht  und  als  was  er  gedient  hat. 
Ist  aber  so  über  das  Militärverhältniss  des  Beschuldigten  Genügendes 
in  Eiftihrang  gebracht  worden,  so  braucht  bloss  das  für  den  letzten 
Aufenthaltsort  zustän^ge  Bezirkskommando  unter  Bezugnahme  auf 
die  über  die  MilitirrerhSltnisse  des  Beschuldigten  ermittelten  That- 
sachen  um  Auskunft  fiber  den  Aufenthalt  des  Beschuldigten  ersucht 
werden  und  in  neunzig  you  hundert  Fällen  bringt  man  ihn  dadurch 
in  Erfohmng. 

Es  stellt  der  miÜtirisohea  Endehung  ein  gllnzendes  Zengniss  aus, 
dass  mit  yerschwindenden  Ausnahmen  die  Vorschriften  der  militSrischen 

Controlle,  denen  die  Personen  des  Beurlaubtenstandes  unterworfen 
sind,  insbesondere  die  Meldung  des  Aufenthaltsortes!  von  ihnen  be- 
folgt werden. 

Kommt  aber  wider  Erwarten  vom  Bezirkscomroando  die  Auskunft 
zurück,  dass  der  Aufenthalt  des  Beschuldigten  dort  unbekannt  sei, 
oder  ergiebt  die  Antwort  der  Militärbehörde,  dass  sie  über  den  wahren 


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812 


XML  ÜAuaumt 


Aufenthalt  des  Gesuchten  falsch  unterrichtet  sein  muss,  so  empfiehlt 
es  sich,  in  etwa  einem  Monate  und  dann  in  gewissen  Zwischenräumen 
wiederholt  Nachfrage  zu  halten.  Sind  auch  diese  Nachfragen  ergebniss- 
los, 80  ist  es  lathsam,  in  der  Zeit  vor  den  im  April  oder  November 
alQSbifieh  absahaltenden  Oontrolversammlungen  der  Militärbehörde 
anziueigen ,  dafls  der  Besohiüdigte  gesucht  weide.  Da  die  MihOr- 
behOrde  diese  Controlvenammlungen  aneb  tat  ErmittelaDg  der  Per- 
sonal benuMy  die  sich  ihrer  Cootrole  entaiehen»  indem  sie  an  die  zur 
Gontrole  Tcrsammelten  Mannschaften  die  allgemeine  Frage  richtet^  ob 
der  Aufenthalt  dieses  oder  jenes  Besenristen  oder  Landwehimaanes 
etwa  bekannt  sei|  so  wird  nicht  selten  dnrch  Mheie  Arbeitsgenossen 
oder  Eamoaden  des  Gesachten  dessen  Aufenthalt  bei  der  Gelegen- 
heit gemeldet 

Igt  aber  mit  Hülfe  der  Militärbehörde  der  Aufenthalt  des  Beschul- 
digten nicht  in  Erfahrung  zu  bringen  oder  steht  er  Oberhaupt  in  keinem 
MililSrverhältnissey  so  ermöglicht  doch  die  Kenntniss  seines  Namens, 
seines  Geburtstags  und  seines  Geburtsorts  die  Herbeiziehung  der 
Strafliste.  Ans  ihr  ersieht  man,  ob  der  Beschuldigte  vorbestraft  ist 
oder  nicht.  In  der  Mehrzalil  der  Fälle  liefi:en  Vorstrafen  vor.  Dann 
zieht  man  auf  Gnmd  der  in  der  Strafliste  angegebenen  Actenzeichen 
von  den  dort  benannten  Behörden  die  letzten  oder  nach  Befinden 
auch  mehr  gegen  den  Beschuldifrten  ergangene  Acten  herbei.  Sie 
liefern  regelmässig  ein  klares  Bild  der  gesanimten  persönlichen  Ver- 
hältnisse des  Beschuldigten.  Ergeben  sie,  dajss  seine  Eltern  noch  leben, 
so  richtet  man  an  die  Polizeibehörde  des  Geburtsorts,  oder  aber,  da- 
fem  in  den  Acten  sogar  der  Aufenthalt  der  Eltern  bekannt  ist,  an 
dessen  Polizeibehörde  daa  Ersuchen,  bei  den  Eltern  des  Beschuldigten 
nach  ihm  forschen  zu  lassen.  Sehr  oft  erfährt  man  dadurch,  wo  der 
Beschuldigte  weilt  oder  aber  doch,  ob  sein  Auftothalt  den  Ekern 
nur  TorftbergehtAd  oder  aber  seit  Uageier  Zeit  unbekannt  ist  FsUs 
dor  Beschuldigte  nur  seit  kOraerer  Zeit  seinen  Eltern  Uber  sei  en  Ver- 
bleib kerne  Auskunft  hat  ankommen  lasseii|  empfiehlt  es  sich  in  einigen 
Wochen  und  besonders  an  den  Zeiten  nachfragen  zu  lassen,  wo  an- 
nehmbar jeder  sich  des  Eltemhausea  erinnert  Solche  Zeitpunkte  sind 
▼or  allem  das  Weihnachtsfes^  Ostern  und  Keigahr.  Auf  gleichem 
Wege  kann,  dafem  die  Eltern  des  Beschnidigten  bereits  imtorben 
sein  sollten,  durch  Vermittelung  der  Polizeibehörde  der  Aufenthalt 
der  Geschwister  des  Beschuldigten  und  bei  denen  nach  ihm  selber 
gefoiBcht  werden.  Ergeben  die  Voracten,  dass  der  Beschuldigte  einen 
Vormund  haben  muss,  so  kann  bei  ihm  oder  beim  Vormundschafts- 
gerichte  sehr  oft  der  Aufenthalt  des  Beschuldigten  in  Erfahrung  ge- 


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IMe  Verf olgnir  flttdil^^  VeriwedMr. 


818 


bracht  werden.  Erhellt  aus  der  Strafliste,  dass  der  Beschuldigte  mehr- 
fach und  längere  Freiheitsstrafen  verbüsst  hat,  so  zieht  man  die  Acten 
der  Strafanstalten  herbei,  die  die  Freiheitsstrafen  vollstreckt  haben. 
Da  wohl  nur  äusserst  selten  ein  Gefangener  Monate  oder  Jahre  lang 
ohne  jede  Beziehung  zur  Aussenwelt  bleibt  und  die  während  der 
Gefangenschaft  an  ihn  gekommenen  Briefe  bei  den  Anstaltsacten  ver- 
wahrt werden,  kann  man  aus  ihnen  entnehmen,  zu  wem  der  Beschul- 
digte BezieboDgen  unterhält  Bei  diesen  Personen  Ifiast  man  durch 
die  PofiiälidiSide  dmIi  laiiem  AvfcntiMlte  ftnsdien.  Aus  der  Stnf- 
ligle  des  Betehnldigtan  eiriebt  man  wäter  aber  aneh,  ob  er  Bettler 
oder  lasdBlnieher  ist  In  wlehem  FaUe  ist  Ton  den  bisher  empfohlenen 
Mitteln  kein  Erfolg  zn  erwarten.  Dann  mnss  neben  der  Steekbriel^ 
naehiieht  auch  Anssehieiben  eriiwen  weiden.  Entere  ist  in  solchem 
lUIe  nm  desswillen  sehr  scbiteenswerth,  weO  ein  Bettler  oder  Laad- 
Blieidier  in  der  Bogel  imd  oft  rttohlUlig  wird  nnd  seine  Strafiiste 
wegen  der  wegen  des  Betteins  m  Fmge  kommenden  Ueberweisung 
zumeist  yon  der  diese  Üebertretung  verfolgenden  Behörde  herfoeige- 
zogen  wird,  wobei  dann  auch  die  Steckbriefsnachridit  Erfolg  hat 
Zeigt  die  Strafliste  aber,  dass  der  Beschuldigte  auch  wegen  Gebrauchs 
falscher  Papiere  verurtheilt  worden  ist,  so  ist  wenig  Aussicht  vorhanden» 
ihn  mit  den  bisher  mitgetheilten  Mitteln  zu  erlangen.  Immerhin  müssen 
sie  in  wichtigen  Fällen  versucht  werden  nnd  darf  besonders  Folgendes 
nicht  verabsäumt  werden: 

Erlass  der  Steckbriefsnachricht. 

Ausschreiben  mit  dem  Hinweise,  dass  der  Beschuldigte  auch 
falsche  Papiere  benutzt,  und  Durchsicht  sämmtlicher  gegen  ihn  er- 
gangener Acten  der  Gerichts-  und  Polizeibehörden.  I^'tztere  findet 
man  theils  aus  der  Strafliste,  theils  aus  den  Gerichts-,  theils  aus  An- 
staltsacten.  Sie  verrathen  regelmässig,  mit  welcher  Art  gefälschter  Pa- 
piere der  Beschuldigte  sich  auszurüsten  pflegt  und  ob  er  bestimmte 
falsche  Namen  zu  wählen  pflegt,  was  merkwürdiger  Weise  recht  oft 
der  Fall  ist  Oft  aber  macht  man  in  den  Polizeiacten  Entdeckungen, 
^  ohne  Wdteree  znr  Ermittelung  des  Besehuldigten  führen.  So 
habe  ich  i.  B.  ans  ihnen  den  Namen  der  Goneobine  des  Besdnik 
digten  nnd  durch  sie  dessen  Anfenthalt,  oder  durch  den  Besehuldigten 
betreffende  Anfragen  oder  Ersuchen  answSrtiger  Behörden  seinen 
Aufenthalt  in  Eifidirung  gebracht  Wenn  der  Beschuldigte  s.  B.  auf 
der  Wanderschaft  erkrankt  und  der  öff entlicfaea  Fürsorge  zur  Last 
flült,  entwiekdt  sich  rcgdmissig  wegen  des  KoBtenpunktes  ein  von 
den  PoliieibehSrden  des  Aufenthaltsorts  des  Beschuldigten  ausgehender, 
die  Ermittelung  des  Unterstaizungswohnsitzes  bezweckender  Schriften* 


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814 


XXli.  ÜAussinDi 


weeliBeL  Gerichts-,  Folisei-  und  Anstattaaeten  geben  aber  aneh  oft 
AitBkaiift  ftber  aus  der  Toifiegenden  Anzeige  nieht  m  entaebniende 
kOrperiiohe  MSogel  oder  besondere  Erkennnngsseiehen  des  Beschnl- 
digten,  die,  wenn  schliesslich  sein  Ansschreiben  doch  nicht  umgangen 
werden  kann,  doch  wenigstens  geeignet  sind,  seine  Eigrafnng  zn 
erieichtem,  indem  man  im  Ansschreiben  ihrer  S^fihnnng  thni  öfters 
findet  man  in  den  Yoracten  aneh  Bilder  des  Beeohnldigten,  die  man 
dnem  schliesslich  zn  erlassenden  Steckbriefe  beifügen  kann.  Bedarf 
man  eines  Bildes,  so  kann  man  zunächst  versuchen,  es  von  den  An- 
gehörigen zu  erlangen.  Gelingt  das  nicht  und  ist  oder  war  der 
Beschuldigte  verheirathet,  so  kann  man  nach  £miittelnng  der  Eltern 
der  Frau  und  des  Orts  der  Trauung  durch  sie  in  sehr  vielen  Fällen 
am  Orte  der  Trauung  ein  l^iUl  des  Gesuchten  durch  die  PoHzei- 
hehörde  von  dem  Photo^'raplien  herbeiziehen  lassen,  bei  dem  die 
Neuvermählten  seiner  Zeit  sich  liaben  aufnehmen  hissen.  Bilder  solcher 
Personen,  die  noch  nicht  lange  vom  Mihtär  entlassen  sind,  erlangt 
man  mit  Hülfe  ihres  früheren  Feldwebels,  der  leicht  zu  ermitteln  ist, 
sobald  man  die  Militärverhältnisse  des  Beschuldigten  in  Erfahrung 
gebracht  hat.  Regelmässig  lassen  sich  nämlich  die  aus  dem  activen 
Militär  Verhältnisse  Ausscheidenden  vorher  gemeinsam  pliotographiren 
und  aus  solchem  Gruppenbilde  lässt  sich  leicht  eine  Figur  vergrüssern. 

Wer  nach  Ausweis  über  ihn  ergangener  Voracten  Empfänger 
regelmässiger  Leistungen  ist,  kann  bei  ihrer  Erhebung  erlangt 
werden.  — 

Bei  Weibern,  die  gesucht  werden,  geben-  nicht  selten  die  Vorscten 
Auskunft,  dass  sie  gdboren  haben  und  wo  ihr  Kind  wdlt  oder  wo 
Uber  dessen  Aufenfbalt  etwas  zu  afohren  isL  Ist  er  bekannt,  dann 
ist  damit  sehr  oft  auch  die  Mutter  ermittelt  Diese  lelzterwfihnten 
Httlfsmittel  werden  sich  allerdings  nur  dann  empfehlen,  wenn  die 
Wichtigkdt  der  Sache  das  erheischL 

Anfrage  bd  der  Militärbehörde^  Herbeiziehung  der  Stnfliste  und 
Prüfung  etwaiger  Voracten  dürften  aber  in  kdnem  Falle,  wo  der 
Aufenthalt  eines  Beschuldigten  unbekannt  ist,  unterbleiben.  Die  da- 
durch verursachte  Mühe  ist  gering.  Viel  grösser  wird  die  Mühe,  die 
erwächst  durch  Feststellung  des  objectiven  Thatbestandes  und  die 
weitere  Strafverfolgung  nach  Ermittelung  des  Aufenthalts  des  Be- 
schuldigten.  Sie  darf  aber  nicht  gescheut  werden,  denn  das  an  vielen 
Stellen  geül)te  Verfahren  der  alsbaldigen  Beilegung  der  Anzeige  „wegen 
Abwesenheit  des  Beschuldigten"  nach  Aussclireibung  des  Beschuldigten 
erschwert  zum  Mindesten  die  Verfolgung  strafbarer  Handlungen,  weil 
nach  Ermittelung  des  Beschuldigten  also  oft  eist  nach  längerer  Zeit 


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Die  yerfolgmig  flllclitifer  Veibncher. 


315 


angestellte  Erörterangen  natürlich  keine  so  zutreilenden  ErgebniBse 
liefern  können,  wie  alsbald  vorgenommene. 

Es  hat  aber  auch  dieses  Verfahren  den  weiteren  ganz  ausser- 
ordentlichen Nacbtheil,  dass  es  die  Fahndungsblätter  mit  Ausschreiben 
überlastet  und  damit  in  den  Fällen,  wo  das  Ausschreiben  als  letztes 
Tlülfsmittel  gewählt  werden  muss,  den  Fahndungsbehörden  ihre  Auf- 
gabe erschwert.  Denn  wenn  ihre  Aufmerksamkeit  auf  U)(\  oder  200 
Personen  gelenkt  wird  statt  auf  50,  müssen  sie  ihren  Eifer  und  ihre 
Zeit  zersplittern,  statt  ihn  besser  und  deshalb  annehmbar  auch  mit 
grösserem  Erfolge  den  gesuchten  50  Pefsonen  widmen  zu  können. 
Endlieh  aber,  und  das  ist  der  allerwiehtigste  Grand,  der  aOem  selion 
die  BekSmpfung  jenes  Yei&bTens  reebtfertigt,  wird  die  Gefalir  er- 
bebfich  verringert  y  daas  grandios  Besoliiildigle  eine  UnterBaohongs- 
hafl  erleiden,  nor  um  deswiHen,  weil  die  StnfverfolgungsbehSrde 
das  Aosschieiben  des  Besehaldigten  verfOgt  hat,  ohne  klaizastdlen; 
ob  die  in  der  Anzeige  behanpteten  Thatsaehen  aneh  zatieffmid  sind 
nnd  ob  llberhanpt  die  Thataaehe  der  Abwesenhot  des  Bescholdigten 
den  Verdacht  seiner  Flucht  rechtfertigt  Würde  zam  Mindesten  in 
jedem  Falle,  wo  der  Beschnldigte  in  der  Anzeige  als  abwesend  ge- 
meldet wird /wenigstens  seine  Strafliste  herbeigezogen,  so  könnte  es 
auch  nicht  vorkommen,  dass,  was  nicht  allzu  selten  geschieht,  der 
Amtsanwalt  irrthümlioh  sich  für  zuständig  hält  and  die  endgültige 
Beilegung  der  Anzeige  wegen  Verjähmng  verfügt,  obschou  die  Vor- 
aussetzungen des  Rückfalls  gegeben  sind  und  Verjährung  deshalb 
noch  gar  nicht  in  FiagQ  kommt 


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xxm. 


Zur  Statistik  der  SittUchkeltgTerbredien. 


Ton 


MedldBAlrath  Dr.  KatthMB  in  HabortoBbuig. 


WfthieDd  meiner  Mheren  Th&tigkeit  ab  Amt  an  der  growen  Straf- 
aaatalt  (Minnersnehtfasos)  in  WaMheim  habe  ich  ee  yersucht,  die 
wegen  Sittlielikeiteverbredien  Vemrtheilten  einer  eingehenden  Unter- 
sw^nng  zu  unterwerfen.  Leider  and  mir.  von  den  damals  ge- 
sammelten Notizen  viele  verloren  gegangen,  nnd  wenn  ich  midi 
dennoch  entachloBsen  habe,  die  noofa  vorhandene  Tabelle  zn  be- 
arbeiten und  zu  veröffentlichen,  80  geschieht  dies  auf  Bath  von  be- 
rufener, befreundeter  Seite,  welche  der  Meinung  ist,  das8  auch  ein 
Torso  im  Stande  ist,  Bausteine  zum  Gebäude  der  Kriminalpsycho- 
logie und  -Antliropolofrie  zu  liefern,  eine  Ansicht,  welcher  ich  mich 
nicht  verschliessen  konnte.  Es  ist  nicht  versucht  worden,  irgendwelche 
Schlüsse  aus  dem  vorhandenen  Material  zu  ziehen,  da  dasselbe  keinen 
Ansprach  auf  Vollständigkeit  machen  kann  und  die  Fragen,  welche 
bei  einer  derartigen  Untersuchung  sich  aufdrängen,  nicht  erschöpfend 
behandelt  werden  konnten. 

Die  Tabelle  umfasst  53  Verurtbeilte  männlichen  Geschlechtes,  von 
diesen  waren 


Am  hänfigsten  waren  also  nach  meinen  Zahlen  die  Verbreeher  im 
Alter  vom  21, — 50.  Leben^ahre,  n&nlich  mit  je  26,4  Froo. 

Dem  CiTilstande  nach  waren  ledig  25  »  47,1  Proz.,  verheiratfaefc 
20  »-  37,7  Proc^  verwitfcwet  3 5,7  Proe^  geschieden  4  —  7,5  Proe^ 
unbekannt  waren  die  FamilienverhältniBse  bei  1  =  2,0  Proc. 

Von  den  Verheiratheten,  Verwittweten  nnd  Geschiedenen  hatten 


im  Alter  bis  mit  20  Jahren 


2 
14 
14 
14 
8 
1 


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Zar  Statistik  der  8ittlic]ikflitBverbi«ebe&. 


817 


16  Kinder,  von  den  I-edigen  einer  1  Kind,  die  Uebrigen  waren 
kinderlos.  Ihrem  Berufe  nach  stammten  aus  dem  Lehrerstand  1, 
Handarbeiter,  Tagelöhner,  Tagearbeiter,  Dienstknecht  waren  13, 
Schreiber,  Agent  je  I,  Strumpfwirker  7,  Seiler  1,  Restaurateur,  Kellner 
je  1,  Bäckermeister  2,  Nachtwächter  1,  Schuhmachers,  Webermeister 
2,  Barbier  1,  Kfiflereibesitzer  1,  Marktbelfer  1,  Eisenhobler  1,  Holz- 
puloffetmadier  i,  Dnhtadiflr,  Hadenttunmier  je  1,  Schneider, 
Tiflohleff|  Poaamentirer  je  1,  Maurer  1,  Mnnker,  Marionetteiispieler 
je  1,  Glasmaler,  Handebmaim  je  1,  WeiehensteUer  1,  ArmeobäiiBler, 
PriTatier  je  1,  Beruf  anbekainit  bei  1.  Von  diesen  allen  kennen  wir 
annehmen,  dass  ihre  Bildung,  mit  Ausnahme  der  des  Lehrers,  kdne 
höhere  war  and  dass  nnr  der  Privatier  nnd  vielleieht  die  beiden 
B&okermeister  sieh  in  besseren  VerbSltnissen  befanden.  Leider  ist 
darüber  nichts  Näheres  angegeben. 

Vielleicht  war  es  anch  richtig,  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen, 
dass  sich  der  oder  jener  von  den  Verheiratheten  m  dem  Sittlichkeits-' 
verbrechen  binreissen  Hess,  weil  der  Gesundheitszustand  seiner  £hefran 
ihm  die  normale  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  nicht  gestattete^ 
so  zwar,  dass  das  Versagen  der  normalen  sexuellen  Tbätigkeit  ge- 
wissermaassen  zu  einer  explosiven  Entladung  in  den  nnzüchtigen 
Handhinjiren  mit  Anderen  führte.  In  Erwägung  dieses  wurde,  so  weit 
es  geschehen  konnte,  nach  dem  Gesundheitszustande  der  Ehefrau  ge- 
forscht, aber  es  fand  sich  nur  ein  Mal  in  den  20  Fällen  verheiratheter 
Verurtheilter  eine  Erkrankung  der  Eiiefrau  angegeben  und  zwar  Vor- 
fall der  Gebärmutter.  Der  Betreffende  war  wegen  Unzucht  mit  Mäd- 
chen unter  1  \  Jahren  im  Zuchthause,  auch  bereits  wegen  unzüchtiger 
Handlungen  mit  der  eigenen  Pflegetochter  mit  Gefängniss  vorbestraft. 
Von  Wichtigkeit  wäre  es  auch  gewesen,  zu  erfahren,  ob  in  einzelnen 
Ffäka  die  Eh^u  filter  war  .als  der  Mann,  da  man  dann  a  priori 
hStte  annehmen  kdnnen,  dass  ach  der  Bebe^nde  im  bejahenden 
lUle  leichter  au  dem  Ezcesse  resp.  Verbredien  yerleiten  lieea.  Be- 
dauerlicher Weise  finden  sich  darüber  keine  Angaben  in  der  lM»eUe. 

Die  Art  des  Verbrechens  war  folgende: 
veiBUchte  Nothsueht  allem  4  Mal 

Tersachte  Kothsncht  und  Unsucht  mit  Hfldcben  unter  14  Jahren  1  Mal 

Mord,  Nothzucht  und  Unzucht  1  Mal 

Blutschande  3  Mal 

vollendete  Nothzucht  allein  4  Mal 

vollendete  Nothzucht  und  Unzacht  mit  Mädchen  unter  14  Jahren  3  Mal 

Unzucht  mit  Knaben  1  Mal 

Unsncht  mit  Mädchen  unter  14  Jahren  36  Mal. 


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818 


XXUL  Matthaes 


Was  das  Vorleben  der  Bestraften  anbelangt,  so  war  in  der 
Tabelle,  wie  folgt,  notirt:  nicht  vorbestraft  waren  15  =  2S,:i  I'roc. 
die  übri^^en  :iS  «=  71,7  Proc,  meiner  Fälle,  batten  bereits  Bekannt- 
schaft mit  dem  Strafgesetz  gemacht,  und  zwar  waren  bestraft  wegen 
Diebstahls  19,  wegen  Diebstahls  und  Unzucht  .3,  wegen  Diebstablb  und 
ünzncbtsrennclis  I ,  w  egen  Unzucht 5,  wegen  Unzucht  und  Uebertretung  1 , 
wegen  Uebertretung  und  RnheitOrnng  1,  wegen  Betteins  und  Vagirens  2, 
wegen  Körpenrerietznng  1,  wegen  Goneabinat  1,  wegen  Unterschlagung 
%  wegen  fieleidigiing  1,  wegen  nnbelngten  BiBimtweüiBeluuikes  1. 
Hervorgehoben  ist,  dass  11  »28,9  Proo.  bereits  wogen  Sittüohkeils- 
yerbreehen  Torbestaift  waren. 

Ueber  Art  der  Verbrechen  nnd  Alter  der  Verbiecber  giebfr  nach- 
stehende  Tabelle  Anftchlnss: 


Im  Alter 
unter 
20J. 


Versuchte  Notlizuolit  .   .  . 
Venuchte  Nothzucht  a.  Un- 
zucht m.  Mldeban  nntU  J. 

Moni,  T^nznchtdndNoÜlsncht 

Blutschande  

Vollendete  Nothzncht .  .  . 

Vollpjulete  Notlizuclit  u.  Un 
zucht  m.Miidclun  imt.  14  J. 

Unzucht  mit  Knaben  .   .  . 

Unzucht  mit  Mfidchcn  unter 
14  Jahren  


Sa.: 


1 

2 


11 


2 
l 

0 

14 


2 

1 

10 
14 


Jahren 
51-60 

61— TO 

Summa 

1 

4 

t 
l 
S 
4 

MM 

1 

1 
1 

3 
1 

5 

86 

1  8 

l 

^58 

In  der  Stadt  lebten  30  =  56,6  Froc.,  auf  dem  Lande  22  — »  41,5, 
unbekannt  war  die  Herkunft  bei  1  V^erurtheiiten. 

Uebermässifcer,  gewohnheitsgemässer  Schnapsgenuss  wurde  nur 
in  3  IlUlen  zugegeben,  und  zur  Zeit  der  Tbat  wollte  nnr  einer  be- 
tranken gewesen  sein,  mfiasigem  Sohnapsgennss  waren  5  «geben, 
nnd  man  wird  sicher  nicht  fehl  gehen,  wenn  man  auch  bei  den 
Uebrigen  gewohnheitamSssigen  Alkoholgennss  annimmt,  jedenfiüls  ist 
von  einer  Abstinenz  nichts  bemerkt  worden. 

Die  p^chische  Beschaffenheit  der  Untersnchten  war  in  den 
meisten  Fällen  eine  normale,  als  „schwachsinnig'',  anf  „niedrigem 
geistigen  Niveau  stehend",  „sehr  beschränkt"  finde  ich  im  Ganzen 
nnr  3  angegeben,  ?on  einem  über  61  Jahre  alten  Verurtheilten  wird 
direct  gesagt,  dass  er  an  senilem  Blödsinn  leide,  einer  wird  als 
Quaerulant  bezeichnet,  einer  als  äusserst  sinnlicher  Mensch.  Viel  an 
Kopfschmerzen  gelitten  hatten  2.  Psychologisch  interessant  ist  auch 


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Zur  Statiidk  der  SittHdikeiteverbreolien. 


819 


die  Bemerkung:,  dass  einer  die  eijrene  Ehefrau  zur  Anzeigre  veranlasste 
mit  der  Begründongi  er  hätte  sonst  keine  Hube  mehr  und  müsse  es 
dann  selbst  thun. 

Abweichun^an  auf  körperlichem  Gebiete  fanden  sich  folgende 
vor:  Asymmetrie  der  Gesiclitshälften  in  5  Fällen,  progrenäer  Schädel 
in  1  Fall,  Kurzsiulitigkeit  in  5  Fällen,  Femsichtigkeit  in  3  Fällen, 
Schwerhörigkeit  in  3  Fällen,  Lungenemphysem  in  2  Fällen,  Herz- 
erweiterung in  2  Fällen,  Herzfehler  (ohne  nähere  Angabe)  in  1  Falle, 
LeistenbrOche  in  4  FSllen,  Yaricooele  In  1  Falle,  Hambeschwerden  in 
1  lUle,  Phimoos  in  t  F^e  nnd  ünteraefaeokelgeBchwflie  in  1  Fall 
8  Mai  waren  also  kiankhafle  Yeiinderangen  in  der  Nfthe  der  GenUal* 
Sphäre  resp.  an  dieser  selbst  rorlianden,  welche  TieUeieht  reisend  anf 
die  Geedileehtatheile  in  einzelnen  IlQlen  eingewiriLt  haben  kannten. 

Soweit  reidien  meine  AnEniohnnngen,  sie  sind  Ifickenhaft,  dienen 
aber  vielleioht  dazn,  zn  weiteren  nnd  erschöpfenderen  Untennohnngen 
anzuregen. 


InÜT  fBr  KrinlBabuittiopolaglt.  ZU.  22 


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I 


XXIV. 

Ein  abschenlicber  Fall. 

Der  Waaenineister  Ignaz  Bauer ' )  in  Neudorf  zeigrte  im  Ver- 
kehre mit  BeineD  Mitbürgern  ein  sUssliclies  Wesen,  er  stand  aber  im 
Bufe,  gegen  seine  g:utmüthige,  etwas  geistesbescbränkte  Ehefrau  Marie 
die  äusserstc  Kohheit  an  den  Tag  zu  legren.  Im  Sonnner  des 
Jahres  1902  verbreitete  sich  in  Neudorf  das  Oerücht,  dass  lijnaz 
Bauer  jrejren  seine  Eliefrau  Handlungen  vorgenommen  liahc,  die  von 
einer  kauTn  auszudenkenden  sittlichen  Verwilderung  zeugen;  das  Ge- 
rücht fand  (ilauhen  und  veranlasste  die  Einschreitung  eines  Straf- 
verfahrens ^'egen  Ignaz  Hauer.  In  diesem  Verfahren  wurden  folgende 
Thatsachen  für  erwiesen  erachtet : 

„Ignaz  Bauer  le^^te  an  einem  nicht  mehr  näher  festzustellenden 
Tage  des  Jahres  1901  in  seiner  Wohnstube  seine  Ehefrau  zu  Boden, 
hob  ihre  Köcke  und  ihr  Hemd  hinauf  und  suchte  den  in  der  Stube 
anwesenden,  einem  Nachbarn  gehörigen  Hühnerhund  mllniiüelien 
Gesebleohts  so  auf  die  Frau  binzuriohten,  dass  der  Hnnd  die  Frau 
geachleobtlieh  gebrauchen  könne.  Da  es  dem  Hunde  nicht  gelang, 
an  die  liegende  Frau  heranzukommen,  führte  Ignaz  Bauer  die  Frau 
in  das  an  die  Wohnstube  anstossende  Schlafzimmer,  lehnte  sie  an 
ein  Bett,  entblösste  ihren  Unterleib  und  legte  wieder  den  Hund  an 
sie  hin.  Die  Flau  weinte  und  bat,  ihr  eine  solche  Schmach  nicht 
anzutbun,  versuchte  auch  sich  zu  wehren,  aber  Ignaz  Bauer  drohte 
ihr  mit  Schlägen  und  hielt  sie  fest,  so  dass  sie  sich  fügte.  Der  Hund 
merkte  anfänglich  nicht,  was  Ignaz  Bauer  mit  ihm  wolle.  Dieser 
ergriff  daher  das  männliche  Glied  des  Thieres  und  führte  es  in  die 
Scheide  der  Frau  ein.  Nun  erfasste  das  Thier,  worum  es  sich  handle, 
und  begann  an  der  Frau  den  Geschlechtstrieb  zu  befriedigen,  es 
machte  sieh  an  der  Frau  mehrere  Minuten  lang  zu  schaffen.  Ignaz 
Bauer  stand  wälireud  dieses  Vorgangs  dabei,  hielt  seme  Ehefrau  fest 

1)  Die  Namen  sind  fingirt. 


Digitizcü  L-y  CjOO^Ic 


Ein  ftbadieulicher  Fall. 


821 


und  sah  der  Sache  zu.  lu  der  Folgezeit  Hess  I*^naz  Bauer  noch  etwa 
fünf  bis  sechs  Mal  den  Hund  die  j,'leichen  Handlungen  an  seiner  Ehe- 
frau vornehmen.  Diese  suchte  jedes  Mal  sich  zu  wehren,  galt  sicli  aber 
schliesslich  auf  die  Drohungen  ihres  Mannes,  er  schlage  sie,  wenn 
sie  sieh  nicht  still  verhalte,  zu  den  Unzuchtsluuullungen  her,  weü  sie 

glaubte,  dass  ihr  ein  weiterer  Widerstand  doch  nichts  nütze  

Der  Hühnerhund  nahm  —  nach  Wahrnehmung  von  Leuten,  die  ihn 
beobachteten,  —  um  die  Zeit,  in  die  die  Handlungen  des  Bauer  gegen 
seine  Ehefrau  fielen,  —  die  Gewohnheit  an,  dass  er  sich  mit  anderen 
Hunden  nicht  abgab,  auch  nicht  mit  den  vier  Hunden  Bauers,  unter 
denen  eine  HflbidtB  war.*^ 

Eb  ist  mit  Sieberheit  nicht  festzustellen,  ob  Ignaz  Bauer  ans  nn- 
sSglicber  Bohbeit  und  Bosbeit  oder  zum  Zwecke  der  Befriedigung 
seiner  Sinneninst  bandelte.  Das  abnrtbdlende  Geriebt  neigte  zu  der 
Anscbannng,  dass  das  letztere  der  Fall  ist  Die  Frage  kann  nne^ 
Srtert  bleiben,  ob  der  Pangrapb  des  Strafgesetzbuchs,  anf  Grund 
dessen  das  Gericht  eine  Strafe  gegen  Bauer  aussprach,  anf  den  für 
erwiesen  erachteten  Saeh?erhalt  richtig  angewendet  wurde.  Diese 
Frage  ist  eine  juristisch -technische;  sie  entbehrt  des  allgemeineren 
Interesses,  weil  wohl  gehofft  werden  darf,  dass  ein  ähnlicher  Straf- 
fall nicht  so  bald  wieder  ein  Gericht  beschäftigen  wird.  Der  Einsender 
glaubte  aber  den  Lesern  des  Archivs  den  abgeurtheilten  Fall  deshalb 
nicht  vorenthalten  zu  sollen,  weil  er  ein  neuer  Beweis  dafür  /u  st  in 
scheint,  dass  sich  auf  dem  Gebiete  der  menschlichen  Verirningen 
Dinge  ereignen  können,  die  man  fast  für  undenkbar  halten  möchte'). 
—  Der  Umstand,  dass  das  Geschlechtsleben  des  fraglichen  Hundes 
eine  Ablenkung  in  der  Zeit  erfahren  zu  haben  seheint,  in  der  er 
^heterosexuell'^  verkehrte,  wurde  von  Leuten  beobachtet,  die  vermöge 
ihres  ländlichen  Herufcti  schärfere  Augen  für  das  Geöchlechtsleben 
der  Hausthiere  haben. 

1»  Die  berichtete  Strafsaclie  scheint  gegen  die  Richtigkeit  de;»  Satzes  ^uil 
uovi  8ub  aolc"  zu  sprechen.  Dass  dieser  Satz  aber  doch  auch  wieder  seine 
Bichtlfkoit  bebilt,  daffir  sei  g«8tatt«t,  darauf  htamweiaen,  dass  sich  für  den 
Kriminalfall  der  Therese  lluuibort  und  Genoiaen,  den  man  aacli  ffir  ein  noviun 
8ub  solc  halten  möchte,  ein  Vorg-finger  findet,  Fiber  den  in  der  Zeitschrift  für  die 
gcsammte  Idtrafrechtswissenschaft,  Bd.  1  (1S81)  S.  597,  berichtet  isL 


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XXV. 


Genie»  Dandysm  und  YerbrecherÜiDm. 

Einige  {»qrchoIogiBche  Anregaogeo. 

Von 
ICaz  Bruns. 

Als  ioh  DoatojewikyB  ^Memoiren  ans  einem  Todtenhgnae* 
gelesen  hatte,  maebte  idi  mir  darttber  unter  anderen  die  folgendoi 
Notizen: 

Dostojewsky  ist  ein  socialer  Charakter  nnd  also  ein  Optimist 
( —  ich  glanbe,  dies  „nnd  also'^  wird  kaum  unberechtigt  sein  — ); 
das  füllt  am  stärksten  aof,  das  ganze  Buch  hindurch.  Er  bemängelt 

an  anderen  Adeligen,  die  mit  ihm  im  selben  „Ostrog'*  waren:  „Sie 
sahen  in  den  Ostrogstrfiflingen  nur  das  Thierische  und  konnten 
und  wollten  nicht  einen  einzigen  guten  Zug,  nichts  Menschliches 
in  ihnen  entdecken/  —  Er  selbst  sucht  stark  das  „Menschliche'* 
und  „Gute",  und  sucht  es  mit  der  vorgefassten  Ucberzeugung,  dass 
er  es  finden  werde.  Wo  er  es  findet,  schildert  er  es  eingehend; 
wo  er  es  nicht  findet,  ist  er  ziemlich  wortkarg.  Er  gieht  also 
schlies-slich,  streng  betrachtet,  keine  Psycholugie  des  eigentlichen 
Verbrechers,  unter  dem  ich  im  rigorosen  Sinne  den  Nihilistenmenschen 
verstehe,  sondern  viel  mehr  eine  iSchilderung  des  Lebens  unter 
Gelegenheitverbrechern.  Denn  dies  ist  durchaus  zu  unterscheiden 
(und  es  ist  das  richtige  Gefühl,  das  Lombroso's  unrichtige  Bücher 
entstehen  Hess):  Jeder  Mensch  kann  wohl  durch  Gelegenheit  zum 
Verbrecher  werden  —  besser  gesagt:  er  kann  bei  Gelegenheit  wider 
das  Gesete  fehlen;  aber  nnr  bestimmte  Chaiaktere  nnd  a  priori 
„veiforeeherisch*'.  —  Auch  solehe  waren  natflrlich  mit  Dosto- 
jewsky  im  Ostrog;  aber  er  sagt  von  ihnen  nicht  Tie!,  kann  es 
übrigens  anch  gar  nicht:  denn  sie  sagen  ilber  sich  selber  nichts 
ans,  nehmen  an  nichts  theil,  schliessen  sich  Niemandem  an.  Dies 
Eine  aber  —  ihre  stohse  Zurfickgezogcnheit  —  hebt  Dostojewsky 
allerdings  genngsam  hervor  —  nnd  diese  Stellen  waren  mir  fast 


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Genie,  Daadyam  und  Verbrecherthnm. 


823 


die  interessantesten  und  anregendsten  des  ^janzen  Buches:  Sie  offen- 
baren den  Dandy  im  Verbrecher!  Baudelaire  meint,  jedem 
genialen  Menschen  sei  ein  gewisser  Hang  zum  Dandysm  natürlich 

—  und  nun  sehe  ich  klar,  dass  er  es  auch  jedem  Verbrecher  ist 
Es  wdat  dies  auf  cton  gemmnttmen  Eotsteheusgrund  des  Daadysm: 
Antisoeialilftt  ans  stolzer  YeiacbtuDg  der  „Geringeren",  die  die 
grosse  Masse  bilden;  denn  sie  sind  tbatsüchlich  in  jedem  I^e  ge- 
ringer —  einmal  an  Intelligenzi  einmal  an  Thatkraft  —  nnd  beide 
Male  binzntretend  nnd  im  tiefiBten  Omnde  an  IdealitSt,  an  Be- 
geistenmgftbigkeit  — :  an  eingeborenem  Hang  snm  Grenzenloeen, 
an  Dnrsto  naob  Anheben  im  Unendlichen,  im  Uferlosen,  im  ySllig 
Unbegrenzten  nnd  Unbeschrankten.  Hierin  stehen  Genie  und  Ver- 
brecher nebeneinander  gegen  die  Masse,  gegen  die  „Geeeilscbaft**. 

—  DoRtojewsky  »begreift"  diese  Menschen  nicht,  wie  er  selbst 
des  Oefteren  sa^t ;  nur  einer,  der  Raubmörder  Orioff,  lässt  sieh  mit 
ihm  ein  —  Dostojewsky  ist  der  Neugierige,  der  jenem  mit 
scheuen  Fragen  kommt,  Orloff  der  Stolze,  „Erhabene",  der  sich 
nicht  ohne  Verachtung  zum  Antworten  herablässt  — :  da  aber  ge- 
steht Dostojewsky  nicht  ohne  innerlichstes  Erschauern,  das  sei 
ein  ganz  aussergewöhnlicher  Mensch  gewesen.  Was  Dosto- 
jewsky aber  stets  begreift  an  diesen  Dandys,  diesen  er/. verbreche- 
rischen Charakteren,  das  ist  ihre  ihm  unheimliche  Antisocialitüt. . . 

Ich  halte  nicht  für  ausgeschlossen,  dass  der  Ton  dieser  Tage- 
buchnotiz von  Kriminabsten  sonderbar  gefunden  werden  könnte,  und 
wirklich  liegen  ja  auch  wohl  „Werthungen"  darin  angedeutet,  die 
objectiv  stark  anfechtbar  sein  werden.  Da;^  lasse  man  dem  Tage- 
buche hingeben;  nicht  die  etwa  angedeutete  ^Werthung"*,  nicht  die 
dem  Thataächlichen  gegenüber  empfundene  Sympathie  oder  Antipathie 
wolle  man  hier  beachten,  sondern  einzig  das  Thatsäcbliche  selber. 
Und  da  man  meinen  Wortgebrauch,  ich  meine  den  Sinn,  in  dem  ich 
gewisse  Worte  gebranoh^  nicht  missrerstehen  wird,  so  nehme  man 
anch  ihn  —  nnd  sei  er  ungewohnt  —  eben  um  dieses  Sinnes  willen 
hin.  Kriminalisten,  denen  die  F^chologie  des  Autors  der  „Blumen 
des  Bdsen^  Charles  Baudelaire's,  nicht  fremd  ist,  werden 
auch  meine  Auffassung  des  .Dandysm'^  nicht  befremdlich  finden. 

Wir  wollen  das  Wort  stehen  lassen  —  denn  dient  es  der  ye^ 
stindignng,  so  genilgt  es  seinem  Zwecke  —  und  wollen  etwa  den 
Sinn  damit  rerbinden :  unantastbar  starrer  FormaliBmus  des  äusseren 
Wesens  gewisser  seltener  Charaktere^  die  im  tiefsten  Grunde  antispcial 
sind  und  sich  in  jenen  Formalismus  aus  stolzer  Verachtung  einkapseln. 
—  Diese  Thatsache  besteht;  bezeichnen  wir  sie  als  „Dandysm*^, 


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324 


XXV.  Bbcms 


so  fassen  wir  dieses  Wort,  wie  ich  schon  andeutete,  in  Baude- 
laire's  Sinne  (vielleicht  noch  etwas  prägnanter,  als  er  es  that,  was 
seiner  Verständlichkeit  gewiss  nicht  Abbruch  thut),  und  das  ist  viel- 
leicht gerecht:  Von  allen  neueren  Literaten,  die  zugleich  Psychologen 
waren,  bat  kein  Anderer  sich  so  intim  mit  den  Nachtseiten  deB  menach- 
lieben  Lebens  (speciell  des  Oromeladtlebens),  mit  dem  Laster  nnd  — 
mit  dem  Dandysm  bescblftigt,  wie  Baudelaire  (1821^1867}, 
der  fiber  diesen  letzteren  ein  eingebendes  Weik  sn  sobreiben  plante, 
za  dem  noeb  yiele  Notizen  sieb  in  seinem  Naeblass  fuiden  —  unter 
andeien  znm  Beispiel  diese: 

«Der  Dandy  mnss  obn'  ünteilass  dem  erbabenen  Wesen  sieb 
anznnftbem  streben.  Er  muss  leben  und  scblafen  vor  einem  Spiegel.'^ 
Mdebte  der  Nachsatz  den  Gedanken  an  blosse  weibisebe  Eitelkeit 
nabelegen,  so  steht  dem  eine  andere  Maxime  starr  entgegen  —  diese: 
„Das  Weib  ist  das  Ge^^entheil  vom  Dandy."  . . .  «Das  Weib 
ist  ,natürlicli' ,  das  heisst  abscheulich.   Also  ist  es  immer  Tolgfir, 
das  heisst  das  Gegentheil  yom  Dandy/ 
Weiterhin  heisst  es: 

..Ich  habe  keine  Ueberzeugongen.'*  .  .  .  „Tn  mir  ist  keinerlei 
Basis  für  eine  Ueberzeugung."  .  .  .  ^Allein  die  Briganten  sind 
ül)erzeii<;t ,  —  wovon?  Dass  es  ihnen  gelingen  muss.  Und  also 
gelingt  es  ihnen.'* 

Diesen  Dandysni  findet  man  übrigens  in  den  Schriften  Oscar 
Wilde's  noch  weiter  ausgebildet,  systematisch  durchgebildet  muss 
man  wohl  sagen,  und  zwar  in  ganz  unverkennbarer  Anlehnung  an 
Baudelaire.  VoUkomnu  n  uhorein  stimmen  sie  namentlich  in  dem 
bezeichnenden  Ausspruche  aus  Baudelaire's  Tagebuche: 

„Ein  nützlicher  Mensch  ist  mir  immer  als  etwas  recht  Hftss- 
liches  und  Garstiges  erschienen;*' 
für  welebe  Maxime  man  bei  Wi  1  d e  eine  ünmenge  von  Pendants  findet 
Noeb  dentlicber  tritt  der  ansgesproeben  antisooiale  Obaiakter  in 
einer  Stelle  der  Bandelaire*seben  AnCseiobnnngen  zu  Tage,  wo 
er  fiber  Geister  spricbt, 

„die  gemacbt  sind  ffir  die  Disciplin,  das  heisst  ffir  die  Gleicb- 
förmigkeit,  geborene  Domestikenseelen,  die  nur  in  Gesellsobaft 
denken  kSnnen." 
ünd  dem  entspricbt  noeb  dies  hier: 
^Die  Welt  setzt  sich  aus  Leuten  zusammen ,  die  nur  in  Ge- 
meinheit, nnr  in  Horden  denken  können.  So  giebt  es  auch  Lente^ 
die  nnr  im  Trupp  sieh  amttsiren  können.  Der  wahre  Held  eigOlzt 
sich  ganz  allein." 


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Genie,  Dandyam  und  Vcrbrcdierthnm. 


325 


Wer  Edgar  Poe,  den  Meister  Baudelaire's,  gelesen  bat,  wird 
Mi  bei  diesen  letzfen  Worten  der  AvBfÜbniDgen  Poe's  Über  den 
Schwindler  erinnern,  in  denoi  es  heiast: 

„Der  echte  Schwindler  yollftthrt  alles  mit  einem  Grinsen«  Dies 
sieht  jedoch  Niemand  als  er  selbst.  Er  grinst,  wenn  er  sein  Tage- 
werk vollbracht  —  wenn  er  die  geplanten  Thaten  ansgefübrt  hat 

—  Abends,  in  seinem  Schlafdmmer,  zn  Seiner  eigenen  Privatunter- 
haltnng.  —  Er  geht  nach  Hans.  Et  schliesst  die  Thfir  hinter  sieb. 
Er  entledigt  sich  seiner  Kleider.  Er  KSscht  die  Kerze.  Er  begiebt 
sich  zu  Bett    Er  senkt  seinen  Kopf  auf  das  Kissen.  Er  grinst 

—  Das  ist  keine  Hypothese.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache. 
Ich  schliesse  a  priori,  nnd  ein  Schwindel  ohne  Grinsen  wfire  kein 
Schwindel." 

Hier  überall  also  das  bewusste  Anderssein  als  die  Menge  —  das 
üeberlegenheitgefühl  über  die  Menge  —  die  Verachtung  der  Menge, 
die  Antisoeialität,  bcwusst  und  gepflej^t  -  und  dann  also  das  einsame 
Vergnügen :  einmal  das  künstlerische  Schaffen,  bei  dem  der  Antisociale 
die  Menge  vergisst  —  einmal  das  Verbrechen,  bei  dem  der  Antisocialc 
an  der  Menge  „sich  rächt".  Die  Unterschiede  liegen  in  Bildung  und 
Intellect  —  und  in  der  Fähigkeit  und  Stärke  der  Phantasie  und  dem 
Schaffensvermögen;  das  Gemeinsame  in  der  Gesinnung  —  ich  wieder- 
hole es  — :  in  der  antisocialen  Charakteranlage,  erwachsen  aus  dem 
Durst  nach  Schrankenlosigkeit.    Ich  wenigstens  stimme  Baude- 
laire —  um  ihn  nun  nochmal  zu  citireu  —  durin  bei,  wenn  er  sagt: 
„Ja  wahrhaftig!  Die  Laster  dea  Menschen,  so  grauenvoll  man 
«6  aneh  finden  mag,  enthalten  die  Gewähr  —  und  sei  es  nur  in 
ihrer  grenzenlosen  Expansion!  —  für  seinen  Hang  zum  Unend- 
lichen, znm  Unbegrenzten;  es  ist  das  freilich  ein  Hang,  der  oft- 
mab  auf  Irrwege  geräth.*^ 
Ich  wfisste  nichts  warum  man  dieser  ^metaphysischen*^  Idee  sich 
▼eischliessen  sollte,  obwohl  ich  hinfig  den  Eindrnck  gewann,  dass 
Kriminalisten  der  Metaphysik  gern  entrsthen.  Man  lasse  sich  nicht 
dnroh  S^Iagworte  mit  Blindheit  schlagen:  Ich  glaube,  käne  noch 
so  materialistische  Theorie  ist  eng  genug,  dass  diese  Baudelaire  'sehe 
These  darin  unmöglich  wäre. 

Noch  einen  Beitrag  zu  der  in  Rede  stehenden  AntisocialitSt  möchte 
ich  hier  geben,  eine  Stelle  aus  Przybysze  wski,  der  über  die 
Psychologie  des  Genies  mancherorts  geschrieben  hat;  er  gebraucht 
freilich  lieber  die  Bezeichnung  „das  Individuum^,  fasst  sie  aber, 
wie  er  ausdrücklich  angiebt,  „im  socialen  Sinne,  etwa  gleichbedeutend 
mit  dem  vagen  und  abgegriffenen  Worte  Genie*".  Er  spricht  Ton 


4 


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326 


XXV.  Bbcns 


der  Haaaalodgkdt  im  Empfindongleben  des  Individibmis:  „Maaadoe 
im  Schmerz  und  maassloB  in  der  Fkende"  —  nnd  fShrt  dann  fort: 
„Diese  intense  Empfindangweise  ist  es^  welche  das  Individnun 
darauf  anweist,  allein  nnd  einsam  zn  sein.  Nicht  das  Indiyidnnm 
sondert  dch  ab,  sondern  es  ist  schon  von  Tomherein  abgesondert 
Es  empfindet  anders  als  alle  Mensehen,  es  empfindet  dor^  wo  andere 
Menschen  nichts  empfinden,  und  weil  die  Gehirne  seiner  Mitmenschen 
selbst  nicht  einmal  dort  in  Mitseliwin^n^en  geratheni  wo  das  In- 
dividuum sich  in  heftigster  Vibration  befindet,  so  ist  es  eben  onsam 
nnd  allein. 

Das  Tieftragische  im  Individuum  ist  das  Missverhältniss,  in 
welchem  es  zu  seinen  Mitmenschen  steht.  Aus  diesem  Missverhält- 
niss erklärt  sich  dann  sein  Menschenekcl  und  Menschenhass,  sein 
Missbehagen  und  seine  Sehnsucht,  seine  Selbstflucht  und  seine  Krank- 
heit, und  an  diesem  Missverhältniss  gebt  das  Individuum  zu  Grunde*^ 

Dieses  Przyby szewski^sebe  „Individuum'*  ist  tbatsächlich  ein 
Mittelcbarakter  zwischen  (lenie  und  Verbrecher,  oder  wenigstens,  es 
zeigt  das  beiden  gemeinsame  Charakteristikum:  die  Antisocialität. 

Diese  Antisocialität  macht  nun  also  das  Genie  zum  Dandy:  es 
unterstreicht  bedeutsam  sein  Anderssein,  es  vernachlässigt  nichts,  was 
die  Kluft  zwischen  Gesellschaft  und  Einzelpersonbchkeit  noch  ver- 
stärken könnte,  es  pflegt  —  wiederam  ein  Baudelaire'scher  Aus- 
druck —  „das  aristokratische  Vergnügen,  zu  missfaHen**;  denn  nichts 
wäre  ihm  grSsslicher,  als  der  BdCsll  der  Menge,  der  doch  stets  die 
,,nfltz]ichen''  Minner  ehrt  nnd  nach  dem  einzig  das  Talent  geizt: 
denn  dieses  gehört  selber  der  Menge  an,  es  besitzt  die  EigenschafleQ 
der  Menge  in  mehr  oder  minder  starker  Potensimng,  es  denkt  nnd 
wirkt  also  innerhalb  der  Menge  nnd  ihrer  Gesetze  —  nnd  kann,  ja 
mnss  ihr  daher  „nfitzen^  was,  wie  wir  sahen,  das  Genie  für  gemein, 
ordinSr,  bSsslich  h81t 

Ich  habe  das  Bedürfniss,  hier  nochmals  die  Bitte  auszusprechen, 
man  wolle  meinen  Worten  in  dem  Sinne  folgen,  in  dem  sie  —  ^vie 
ich  lioffc  verstlbidlich  —  gebraucht  sind.  Man  fasst  das  Genie  ja 
oftmals  anders  auf  (wie  auch  den  Dandysm),  man  könnte  —  ich  gebe 
das  hier  zu,  obscbon  ich  es  für  unbewiesen  nnd  zweifelhaft  halte  — 
man  könnte  sogar  einwenden,  dann  gäbe  es  ja  Genies  erst  in  der 
neueren  Kunstgeschichte;  es  giebt  solcher  rorsönlichkeiten  aller- 
dings iu  neuerer  Zeit  mehr,  als  es  sie  frülier  gegeben  zu  haben 


I  i  r>ei  diesem  Punkte  wünle  ich  einsetzen,  Avcnn  ich  über  di€  BeÜcilllllgBn 
■von  Gemalität  und  Verbrechelthum  zum  Irrsinn  reden  sollte. 


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Geniel  Dandyam  und  Yerbrecherthnm. 


Ü27 


scheint.  Und  Eins  hat  mein  Wortfrebrauch  entschieden  für  sich  — 
Nücke  sagte  kiirzHch  in  einer  Besprechung  von  Löwenfeld's 
Werke  „Ueber  die  geniale  Geistesthätigkeit":  „Mit  Recht  erklärt  er 
das  Genie  dem  Talent  gegenüber  nicht  als  ein  absolut  Heues''  — 
fiihrt  dann  allerdings  fort:  „yerlangt  aber  fttr  Entores  das  Hervor- 
bringen eines  Neuen,  Originellen,  für  die  Menschheit  KfUzUehen.** 
Dieser  Naehsalz  erBeheint  mir  anfechtbar  in  folgender  Art: 

1.  Wenn  das  Genie  dem  Talent  gegenfiber  an  sich  nichts  ^Nenes^ 
ist,  so  wird  es  anch  schwerlich  ein  „Nenes'^  herrorbringen  können 
dem  Talent  gegenfiber  —  es  sei  denn  eben  das  hier  mit  „Geniel  Be- 
zdohnete  ein  sehr  starkes  Talent  mit  in  hoher  Potenz  gesteigerten 
TalentfiQiigkeiten. 

2.  Ist  „originell^  ein  fest  nmrissener  Begriff?  Hat  er  selber 
keine  feste  Definition,  so  kann  er  anch  einen  anderen  Begriff  nicht 
definiren  helfen. 

3.  I8t  Micheiangelo's  David,  ist  Chopin's  Fis-moU-Polonaise 
„ein  für  die  Menschheit  Nützliches^?  —  Man  wird  schwerlich  mit 
Ja  antworten  mögen. 

Es  scheint  mir  nicht  rathsam,  bei  nur  quantitativen  Unter- 
scheidungen ein  neues  Wort  in  Anwendung  zu  bringen,  wenn  man 
sich  dabei  eines  Ausdruckes  für  ({ualitative  Unterscheidungen  be- 
raubt. Warum  ein  st  lir  starkes  Talent  plötzlich  als  Genie  bezeichnen, 
wenn  dann  für  ausgesprochen  antisociale,  in  ihrem  Wirken  scheinbar 
unnütze  Künstler  —  wie  etwa  Leopardi,  Swift,  Poe,  Baude- 
laire, Flaubert,  d'Aurevilly,  Huysmans,  Przyby szewski. 
Wilde  —  jegliche  Bezeichnung  fehlt?  Dass  die  mit  dem  Worte 
„Genie"  bisher  so  häufig  verbundene  „Wertliung"  nun  eine  starke  Ver- 
änderung erfahren  müsste,  ktinn  für  uns  hier  kein  Grund  gegen  die 
Annahme  des  von  mir  gemeinten  Wortsinnes  sein;  denn  wir  wollen 
hier  nicht  werfteni  wir  wollen  objectiy  eonslatiren.  Für  den  Kttnsder 
mag  der  Verbrecher  eine  Bewnnderong  heischende,  fOr  den  Socio- 
logen  eine  yerabflcbeuenswerthe  Erscheinung  sein  —  fOr  den  Veya^ 
logen  ist  er  ein&ch  eine  interessante  Thatsaohe.  Und  so  auch  das 
Genie.  —  Unterscheiden  wir  aber  nm  der  Psychologie  des  antisodalen 
Individuums  willen  Oenie  und  Talent,  so  mfissen  wir  natfirlich  anch 
um  eben  dieser  Psychologie  wiUen  so  rigoros  wie  irgend  möglich 
nntesBcheiden:  es  zeugt  tou  erfaizmlichstem  Oharlatanismus,  wenn 
Lombroso  ein  Weck  über  das  Genie  schreibt  und  selber  emgestehen 
muss,  dass  er  zur  Stütze  für  seine  bezfiglichen  Thesen  oftmals  das 
Talent  herangezogen  liabe;  man  konnte  ebensogut  ein  Werk  über 
die  Physiologie  des  Affen  schreiben  und  dabei  in  sein  Beweismaterial 


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328 


XXV.  Bbums 


Daten  aus  der  Anatomie  der  Schildkröte  aufnehmen:  Das  wäre 
schliesslich  genau  dasselbe.  Ist  das  Qenie  ein  Mal  als  Degeneration- 
amhebnng  genommen,  so  hat  man  eben  damit  swd  Lager  ge- 
schaffen nnd  sich  selber  gezwungen,  auf  die  robusten  Arbeiter  am 
Werke  der  CiTilisation  Veizicht  zu  leisten,  wenn  es  gilt,  für  das 
Gegentheil  vom  robost  arbeitenden  Manne,  eben  für  den  Degenerirteo, 
Bebpiele  zu  bringen.  • 

Ich  fflhite  an,  daas  das  Genie  stets  einen  gewissen  Hang  nun 
Dandysm  in  sieh  tragen  soUe^  und  dafflr  wire  manches  Beweisende 
mitzntheilen,  doch  genttgt  mii^s  hier,  den  Gmnd  für  diesen  Hang  ein 
wenig  beleuchtet,  ihn  also  glaubhaft  constatirt  zu  haben.  Ueber  den 
Dandysm  des  Verbrechers  —  des  Nihilistenmmchra,  wie  ich  oben 
sagte  —  möclite  ich  aber  eingehender  sprechen,  oder  vielmehr  ich 
möchte  den  darüber  sprechen  lassen,  der  diesen  Dandysm,  ohne 
ihn  freilich  zu  „begreifen",  so  offensichtlich  aufgedeckt  bat.  Wenn 
auch  das  Werk  Dostojewsky's  in  jedes  Kriminalisten  Händen  ist, 
so  wird  es  vielleicht  doch  nicht  für  uninteressant  p^chalten  werdeu, 
unter  diesem  l)esonderen  Gesichtswinkel  noch  ein  Mal  jene  Stellen  — 
oder  auch  nur  eine  beschränkte  Auswahl  der  markantesten  —  Revue 
passiren  zu  lassen,  die  den  Dandy  im  Verbrci  iier  charakterisiren,  das 
will  also  sagen:  die  uns  ein  im  tiefsten  Grunde  antisociales  Wesen 
zeigen,  das  eine  aufmerksiime  lieobachtunir  und  peinliche  Pflege  ge- 
wisser Formen  des  Benehmens  erkennen  Uisst,  mittelst  deren  es  eine 
—  als  imponirend  beiibsichtigte  —  Isolation,  ein  merkliches  Abstechen 
von  der  grossen  Menge,  von  der  „Gesellschaft'',  zu  erreichen  trachtet 
Folgen  wir  der  Reclam'schen  deutseben  Ausgabe.  Schon  im  ein- 
leitenden Capitel  (1.  Das  Todtenhaus)  finden  wir  (S.  18)  eine  höchst 
ebarakterifltiflehe  Stelle: 

„Die  FShigkeif^  sich  fiber  Nichts  zu  wundem,  galt  hier  ab  die 
höchste  Tugend.  Alle  waren  nur  darauf  veisessen,  wie  sie  sich  be- 
nehmen wollten;  indessen  finderte  sich  auch  die  anfgeblaaenste 
Aussenseite  nicht  selten  mit  der  Schnelligkeit  des  Blitzes  zur 
allerkleinmflthigsten.^ 
Dieser  Nachsatz  tteaiebt  sieb  offenbar  auf  die  „nicht  seltsnen'' 
Gdegenheitsflnder.  Der  folgende  Satz  aber  unterscheidet  von  diesQi 
die  von  mir  gemeinten  wahren  Verbrechematuren  mit  ihrer  Yt^ 
einigung  von  nihilistiselier  Antisocialität  und  Dandysm: 

„£s  gab  in  der  That  einige  in  Wahrheit  starke  Naturen  bei 
nn^i,  diese  aber  waren  einfach  und  beugten  sich  nicht.  Seltsam  war 
jedoch  das  Eine,  dass  selbst  von  diesen  standhaften,  starken 
Menschen  einige  bis  zum  äussersten  Grade,  fast  bis  zur  Krank- 


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Genie,  Dandysm  nnd  Verbrediertbimi. 


329 


haftigkcit  der  (irosssprecherei  huldigten;  die  Prahlerei  und  das 
Aeussere  galten  ihnen  vor  Allem* 

Nehmen  wir,  wie  aus  allem  Folf^enden,  die  ohjectiven  Con- 
statiniDfi-en  heraus,  und  lassen  wir  die  sich  ein(lriini;en(leu  suhjeetiven 
Werthun^en  Dostoje  w  sky 's  bei  Seite  —  zumal  sie  objcdiv  als  um 
80  Werth  loser  erscheinen  müssen,  da  der  Autor  selber  gesteht,  er 
habe  jene  Charaktere  „nicht  begreifen"  können.  —  Bald  darauf  spricht 
er  Ton  dem  „besonderen,  eigenthUmlicbea  Selbstgefühl**  fast  aller 
StrSflinge:  „Der  Stritfling  stellte  gewuBennaasseii  eineii  geBenaebaft- 
Kehen  K^iug  dar  und  beaaae  Geltang.*  Dies  aber  besieht  sieh  offenbar 
80  ziemlich  auf  Alle,  die  zur  Classe  der  „Gavner"  gehören,  mögen 
sie  es  durch  „Gelegenheit^',  mögen  sie  es  ans  „Beruf*  sein.  Der  wah^ 
haft  Antisociale  stiebt  aneh  noch  im  Ostrog  abl 

Von  anem  Menseben,  der  nach  einem  aosseh weifenden  Leben 
ans  Habgier  seinen  Yater  ermordet  batte^  beisst  es  (S^  24): 

„Die  anderen  Sträflinge  veraebteten  ihn,  nidit  wegen  seines 
Verbrechens,  von  dem  keine  Bede  war,  sondern  weil  er  sieb  nicht 
m  benehmen  verstand." 
Dem  entspricht  jene  spätere  Stelle,  wo  der  gemeinsame  Auszag 
zur  Arbeit  geschildert  wird: 

„Ein  Einzelner  war  über  irgend  etwas  ausserordentlich  froh 
nnd  aufgeräumt;  er  sang  und  hätte  beinahe  auf  dem  Wege  getanzt, 
bei  jedem  seiner  Sprünge  mit  den  Ketten  klirrend  .  .  .  Seine  un- 
gewöhnlich heitere  Stimmung  erweckte  natürlich  sogleich  bei 
einigen  Anderen  im  Trupp  Unwillen;  ja  man  fühlte  sich  sogar 
fast  beleidigt  davon.  ,Genug  gebrüllt!'  meinte  einer  der  Arrestanten 
den  die  Sache  übrigens  durchaus  nichts  anging"'  u.  s.  w. 
Hier  ist  deutlich  zu  bemerken,  wie  dit  se  ,^einigen  Anderen''  auch 
unter  dem  Trupp  der  (iauner  sich  nicht  wohl  fühlen  und  sie  ver- 
achten als  eine  niedere  Gesellschaft.    „Der  wahre  lield  vergnügt 
sich  ganz  allein." 

„Ich  begriff  entschieden  nicht"  —  S.  1 2 1  —  „warum  man  sich 
über  Skutaroff  ereiferte,  und  überhaupt  nicht,  warum  alle  Lustigen 
sich  gleichsam  in  einer  gewissen  Veiaditung  befanden.*' .  .  .  „Ihr 
Zorn  rfihrte  daher,  dass  Skutaroff  kernen  strengen,  hocbmüthigen 
Ausdruck  eigener  Würde  zur  Schau  trug,  von  welcher  der  ganze 
Ostrog  bis  zur  Pedanterie  angesteckt  war.^ 
Dies  „angesteckt^  schemt  mir  sehr  bezeichnend.  Halten  wir  uns 
die  Unterscheidung  zwischen  den  zahbrdchen  blossen  Maulhelden  und 
den  wenigen  fjoi  Wahrheit  starken  Naturen'*  gegenwärtig,  so  werden 
wir  zu  dem  Schlüsse  geführt,  dass  bei  diesen  letzteren  der  Dandysm 


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330 


XXV.  Bbuks 


ihrer  Katuranlage  entspringt,  indess  die  grosse  Horde  der  Gauner 
dieses  ihnen  imponirende  Geremoniell  nur  naohäffi  ~'  nn  es  gerade 
in  kritischoi  Angenblieken  fahren  an  lassen.  Aach  ist  diese  ngrosse 
Horde"  nicht  so  starr  in  dem  uns  interessiienden  FormalismnB.  So 
meldet  Dostojewsky  yon  einem  StrifUnge  (S.  308) : 

„Er  war  stets  lustig  und  guter  Dinge,  ab  er  gleichwohl  achtete 
,man'  ihn  in  Folge  einer  gewissen  praktischen  Kenntnissroutine." 
Dies  „man"  ist  wohl  kaum  identisch  mit  ,,aa8nahmelos  Alle"  — 
und  dann  bliebe  auch  noch  die  Frage:  Achtete  „man"  ihn  in  Folge 
seiner  Routine  —  oder  achtete  man  an  ihm  die  Routine? 

Sehr  charakteristiscli  ist  die  Stelle,  wo  von  der  bevorstehenden 
Ostrogrevision  erzählt  wird,  also  einer  Angelegenheit,  die  in  dem  trostlos 
einförmigen  Strüflingleben  —  wie  vermuthet  werden  sollte  —  all- 
gemeines Interesse  erregen  musste  und  denn  auch  ziemlich  all- 
gemeines Interesse  erregte.    Aber  dann  heisst  es  doch: 

„Die  Nachricht  von  dem  Revisor  verbreitete  sich  in  einem 
Augenblicke  durch  den  Ostrog.    Auf  dem  Hofe  liefen  die  Leute 
umher  und  Iheilten  sich  gegenseitig  die  Xachrieht  mit.  Andere 
schwiegen  absichtlich,  ihre  Gleichgültigkeit  bewahrend,  im  Versuch, 
sich  damit  offenbar  eine  höhere  Würde  zu  geben  —  oder  ver« 
harrten  der  Sache  gegenüber  völlig  indifferent." 
Diese  Situation  scheidet  also  mit  einem  Schlage  die  socialen 
Chanktere  von  den  antisocialen.  Jene  „denken  im  Trupp*'  —  diese 
?erharren  inditferent,  in  stolser  Wfirde:  NU  admlraril  AUci  Meosdi- 
liohe  ist  ihnen  fremd.  Sie  denken  und  träumen  einsam. 

Sie  denken  und  trftnmen  einsam  —  wie  die  Genies.  Eben  die 
Alt  ihres  Denkens  und  Tittnmens  ist  es ,  die  sie  rereinsamt  —  und 
diese  „Emsamkeit^,  die  ihnen  als  identisch  gilt  mit  Erhabenheit,  halten 
sie  starr  fest 

„Hier  waren  eben  alle  Denker^  —  S.  336  —  „und  dies  sprang 

in'sAuge.  Man  empfand  es  schmerzhaft"  —  dies  „man**  bedeutet 
also  eigentlich  wohl:  ich  —  „hauptsächlich  deshalb,  weil  dieses 
Denken  der  Mehrzahl  der  Leute  im  Ostrog  einen  mürrischen  und 
düsteren  Ausdruck  verlieh,  ein  ungesundes  Aussehen.  Die  un< 
geheure  Mehrzahl  war  schweigsam,  bösartig  bis  sum  Haas^  — 

man  wird  sich  erinnern,  dass  die  Sträflinge  gegen  Dostojewsky 

speciell  diese  Eigenschaften  hervorkehrten,  weil  er  .,ein  Adliger*'  war; 

diese  Aeusserung  hier  muss  also  als  stark  subjectiT  gefi&rbt  auf- 

gfiioimiit.'n  werden  — 

.,und  liebte  es  niclit,  ilire  Hoffnung  zur  Schau  zu  tragen.  JEanfacb- 
beit  und  Aufrichtigkeit  waren  verächtlich.** 


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Genie^  Dandyam  nnd  yeibrecheftinim. 


881 


Einfachheit"^  heisst  hier  natürlich:  Naivetät,  Treuherzigkeit,  Un- 
coniplicirtheit.  „Einfach"  nannte  der  Autor  auch  jene  „wenigen  in 
Wahrheit  starken  Naturen";  da  aber  soll  das  Wort  wohl  bezeichnen, 
dass  bei  ihnen  das  Versessensein  auf  „Iknehmen''  nicht  als  Aefferei, 
sondern  mehr  als  natürlich  wirkt,  lieber  einen  Sträflii^  äussert 
Dostojewsky  die  bezeichnende  Vermuthun^^  (S.  H48): 

„Ich  glaube,  er  würde  selbst  zu  seiner  Hinrichtung  mit  einem 
gewissen  Chic,  einer  Art  von  Cocetterie  p:ej?angen  sein." 

Wir  hätten  hier  die  Steigerung  des  Dandysni  zur  Paradoxie, 
zur  Verbindung  von  Cynismus  und  eleganter  Form.  Man 
findet  sie,  wie  ich  nebenher  bemerken  möchte,  in  starker  Ausprägung 
bei  Oscar  Wilde,  mehr  noch  als  in  seinen  Werken  in  seiner  Per- 
sönlichkeit: in  seinem  Auftreten  vor  Gericht  znm  Beispiel  (vgl.  „Der 
Fall  Wilde",  Leipzig,  Spohr).  Ob  die  Yermathung  Dostojewsky's 
sieh  bestätigt  hitte^  ist  ja  fraglich,  aber  dass  er  sie  anstellt,  dass  sie 
ihm  kam,  ist  doch  nicht  nnbedentsam.  Mir  ist  allerdings  wenig  wahr- 
scheinlich, dass  der  yerstockte  Antisociale  an  der  Pflege  dieser  Form 
des  Dandysm  yiel  Interesse  haben  sollte.  Vielleicht  steckt  zoTiel 
blosse  Eitelkeit  in  ihr  —  nnd  Eitelkeit  nimmt  ron  der  Gesellschaft 
mehr  Notiz,  als  der  Antisociale  es  tbnt:  Dem  Eitlen  ist  am  Befall 
der  Menge  gelegen.  Ich  glanbe,  diese  —  Wilde'scbe  —  Form  des 
Dandysm,  die  Paradoxie,  wie  ich  sie  oben  charakterisirto  (als  ^Ver- 
bindung von  Qynismus  und  eleganter  Form")  wird  mehr  in  anderen, 
gewissermaassen  halbsociaien  Kreisen  gepflegt,  etwa  unter  „Künst- 
Uxu*^  nnd  namentlich  unter  Oircnsleuten.  Der  Antisociale  nimmt  sich  zu 
ernst,  ist  auch  wohl  riel  zu  emsthaft  für  diese  Paradoxien.  Ihm  liegt 
mchis  an  Eleganz  —  nur  an  Würde,  an  einer  Würde  vor  sich  selber. 

Aus  einer  späteren  Stelle  sei  schliesslich  noch  Folgendes  bierher- 
gesetzt (S.  386 ff.): 

„. . .  Gelächter  ertönte ;  einige  stellten  sich ,  als  wollten  sie 

nichts  von  dem  ganzen  Gespräche  hören  Das  Uichen  wurde 

stärker.  Die  Emstgestinimten  schauten  mit  noch  grösserem  Unwillen 

drein   Man  begann  zu  lachen;  zuerst  lachten  nur  Wenige, 

schliesslich  fast  Alle,  mit  Ausnahme  einiger  Ernster  und  Cha- 
rakterfester, die  unabhängig  dachteu  und  ihre  Meinung  nicht 
durch  Spott  beeinflussen  Hessen.  Diese  blickten  mit  Verachtung 
auf  die  leichtsinnigen  Massen  nnd  schwiegen  sttU.*^ 
Interessant  ist,  was  Dostojewsky  Uber  seinen  Abschied  ans 
dem  Ostrog  schreibt,  wo  man  ihn  znn&chst  mit  so  starkem  Miss- 
tränen,  ja  mit  GehSssigkeit  aufgenommen  nnd  wo  er  im  Laufe  der 
Jahre  so  manche  mehr  oder  minder  starke  Sympathie  sich  errungen 


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382 


ZX7.  Bbühs 


hatte  —  seitens  derer,  die  „nicht  allein  denken  k^mnen"*  und  also  social 
Bind,  niü^'^en  sie  auch  ^egen  die  Gesetze  der  Societät  gefeldt  liahen. 
^Viele  von  ihnen  waren  mir  ergeben  und  liebten  mich  auf- 
richtig;. .  .    Doch  es  {xab  auch  mürrische  und  unfreundliche  Personen 
bis  zum  letzten  Aug;enblick,  denen  es  wohl  offenbax  schwer  wurde, 
mir  ein  freundliches  Wort  zu  sagen  —  Gott  weiss,  weshalb.'^ 
Schon  dieser  naive  Stossseufeer  zeigt,  wie  nnbegraiflioii  duse 
Menschen  dem  Autor  waren  —  und  zeigt  anch  sogleich,  dass  sie  auf 
keine  andere  Wose  begriffen  werden  kOnnen  als  dnrch  die  Annahme 
einer  angeborenen  Antisocialitit 

Und  nnn  der  Absebied  selber:  „Am  anderen  Morgen  Mb 
dnrehsebritt  ich  alle  Kasernen,  um  von  allen  StrSflingen  Absobied 
an  nehmen.  Viele  schwielige,  starke  Hände  streckten  sich  mir 
freundlich  entgegen;  manche  drückten  mich  freundschaft- 
lich, doch  waren  ihrer  nicht  Viele.  Andere  wussten  recht  wohl, 
dass  ich  im  Begriff  stand,  wieder  ein  ganz  anderer  Mensch  zu 
werden  als  sie;  sie  wussten,  dass  ich  von  hier  sogleich  zu  den 
„Herren^  ging  und  neben  diesen  als  ein  Gleichberechtigter  Plats 
nehmen  würde.  Sie  wussten  es  und  verabschiedeten  sich  von  mir 
wohl  höflich,  selbst  freundlich,  aber  bei  Weitem  nicht  als  Kame- 
raden, sondern  wie  von  einem  Herrn.  Manche  wandten  sich 
mürrisch  ab  von  mir  und  antworteten  nichts  auf  meinen 
Gruss;  mehrere  blickten  mich  sogar  mit  einem  gewissen 
Hasse  an.*' 

Mir  ist  es  zweifellos,  dass  alle  jene  im  Grunde  so  oft  gutmüthigen 
Gauner,  bei  denen  gelegentlich  so  viele  „menschliche"  Züge  hervor- 
brechen, sehr  gut  in  der  Gesellschaft  möglich  sind,  vielleicht  in  einer 
etwas  anders  gearteten  Gesellschaft,  Auch  Dostojewsky  hat  sich 
dieses  Gedankens  ja  nie  erwehren  können,  so  lange  er  unter  den 
Sträflingen  lebte.  Es  sind  schliesslich  „Menschen  wie  wir'',  und  ich 
wüsste  nicht,  wie  man  es  anstellen  möchte,  ihre  besondere  „Ps^'cho- 
logie*^  zu  schreiben,  die  von  der  Psychologie  der  breüen  Masse  oder 
Ton  der  „Psychologie**  bestimmter  Berufe,  Erwerbsarten  und  Lebens- 
führungen wesentlich  verschieden  sein  sollte^).    Es  würde  so 

1)  Darum  wohl  ist  es  auch  Gross  gar  nicht  eingefallen,  in  seiner  „Krimiual- 
ps^'choIu^Mc"  z.B.  eine  Psyehoiogio  des  Vcrbrochors  zu  schreiben;  er  giebt,  wie 
auch  im  .üaadbaoh'' ,  höchstens  BoitrSge  zur  Psychologie  dos  Zigcanere,  des 
PferdedieiMBt,  des  bemfsmSssigcu  Bfnbraehere,  dee  Landstreichera ,  des  „patho« 
fonnen"  Lü^niers,  im  Wcscntlii  luii  reine  Psychologie  der  Kriminalität 
der  meuschiichcu  Seele;  uud  eiiizig  darum,  acbmtmir,  sind  koiue  Werke  so 
wertfavoll  und  —  so  umfassend  dabei.  Der  „  verbredier*,  vom  Gfaaner  nnd  vom 
GelcgenheitsOnder  psycholo^riscli  gf'j>onderf,  bietet  nur  ein  enj^cs  Feld.  Weil 
Lombroso  umfassoud  sich  geben  wollte,  darum  gab  er  —  Oberflächliches  und 
WertUoflee. 


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Öeaie,  Dandysm  und  VeitirediorthitiD. 


888 


schwer  halten,  w'w  otwa  oine  ^Psycholojrie  des  Talents'*  zu  schreihen. 
Auch  hier  könnte  man  der  Ijreiten  Masse  «rejjreniiljer  nur  prraduelle 
Unterschiede  verzeicboen,  die  in  dieser  ihrer  Gradualität  ewig 
fliessend  sind. 

Anders  —  und  das  ist  natürlich  —  liege's  mit  den  Antisocialen: 
dem  Xihilistenmenschen  (als  welcher  er  den  Socialen  erscheinen 
muss)  und  dem  (lenie.  Wollen  wir  in  Jenem,  und  nur  in  Jenem, 
den  ^greborenen  \'erl)recher"'  sehen,  so  Hesse  seine  Psycholog^ie  sich 
sehr  wohl  schreiben  —  wie,  streng  in  diesem  Sinne  gefasst,  auch 
die  Psychologie  des  Genies  zu  schreiben  wlie.  Man  liesse  dann  aber 
wohl  die  Fn^en^  hier  nach  den  Benebnngen  zam  ^Irmaaf^f  dort 
nach  jenen  zur  Proetitntion,  znnäebBt  am  besten  ans  dem  Spiele.  Statt 
derer  ergeben  sich  ron  selber  Beziehungen  zwischen  ^Genialitftt'^  and 
„Verbrecherthnm'*.  Man  hat  oft  die  künsderisohe  Zengnng  in  Be- 
ziehnng  gebracht  zur  physischen,  man  hat  gefragt,  wie  wot  m 
Kunstwerk  wohl  einem  unterdrflckten  Geschlecfatsact  seine  Entstehnng 
verdanken  konnte;  pqrcfaologisch  interessanter  und  bedeutsamer  er- 
schdnt  mir  die  Flage,  ob  nicht  oft  die  künstlerische  Zeugung  —  die 
physische  Zerstörung:,  das  Verbrechen  also,  paralysirt  Und  hier- 
für müsste  die  Psychologie  des  Genies  Material  eri)ringen  —  und  sie 
erbrächte  es.  Ich  glaube  nicht,  dass  Johannes  Brahms  ein  sonder- 
lich feiner  Psychologe  war;  und  doch  vermochte  er  den  chaiakteristi- 
schen  Ausspruch  über  Beethoven,  zu  thun:  „Beethoven  wäre 
besser  ein  grosser  Verhrcclicr  geworden I*"  —  zu  welchen  Worten  ein 
Musikhistoriker  (.Max  Grafj  bemerkt:  „und  gewiss  stand  Brahms 
dem  Kerne  der  Beethoven'schen  Kunst  näher  als  irgendeiner.  . 
—  Man  müsste  Poe  und  Baudelaire,  man  müsste  Przy byszewski 
und  Iluysmans,  müsste  Beethoven  und  Michelangelo,  müsste 
Jonathan  Swift  und  Scheerbart,  müsste  Flaubert  und  D'Aure- 
villy  Studiren,  um  jene  Beziehungen  aufzudecken  und  überall  zu 
verfolgen.  Und  in  Thomas  driffith 's  Wainewright  würde  man 
dann  die  feynthese  von  (ienialität  und  V'erbrecliertlium  finden,  in 
jenem  eleganten  Dandy,  der  zugleich  der  feinfühligste  Kunstliebhaber 
und  Sammler,  der  sensibelste  Stilist  in  der  Kunst  und  der  empfindung- 
loseste Giftmischer  innerhalb  seiner  Familie  war.  (Osear  Wilde 
hat  in  seinen  „Fing^eigen**  ihm  euien  Essay  gewidmet,  betitelt: 
Stift-,  Gift-  und  Schriftthum).  Und  auf  dem  Grunde  all  dieser  Cha- 
raktere wfirde  man  den  vereinsamenden  unbezwinglicben  Hang  zur 
Grenzenlosigkeit  gewahren  —  und  die  Moralisten  würden  ihn  viel- 
leicht brandmarken  als  gemeinen  E^ismus. 


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XXVI. 


Zor  Frage  Yom  psyehopathiselien  Aberglanbeiu 

▼oo 

Hans  Qroso. 

.  Mein  yerehiler  College^  der  Paydiiator  Gabriel  Anton  in  Graz, 
maeht  mich  auf  dnen  Fall  der  ilteren  Liteialnr  anfmerksam,  welcber 
m  den  von  mir  in  der  Abhandlang  ^Peychopathischer  Abeiglanbe^ 
(Band  IX  pag.  253ff.  dieses  Archivs)  besprochenen  FiSllen  zu  passen 
scheint,  obwohl  bei  demselben  das  Mitwirken  von  Aberglanben  ans- 
drücklich  nicht  erwähnt  ist  — 

Die  Anamnese  wurde  von  Gauster  im  Handbuch  der  gericht- 
lichen Medicin  von  Masch ka  ^Die  gerichtliche  Psychopathologie'^ 
bearbeitet  von  Schlager,  Emminghaus,  Kühn,  Gauster  und 
K raff t- Ebing,  Tübingen  1882  fpa-  489)  sehr  gut  dargestellt;  die 
Krankengeschichte  (von  der  Zeit  an,  al.s  der  Betreffende  im  Prairer 
Trrenhause  untergebracht  war),  hat  mir  gütigst  Professor  A  n  t  o  n  ver- 
schafft.   Ich  entnehme  diesen  beiden  Quellen  den  Thatbestand.  — 

Anton  Tirsch  wurde  etwa  ISlu  geboren,  im  Armenhause  aufge- 
zogen, besuchte  etwas  die  Schule,  ward  Ilirtenjunge  und  1S31  assen- 
tirt.  Wegen  Diebstahl  und  Disciplinarvergehen  wurde  er  wiederholt 
bestraft,  darunter  4  Mal  (iassenlaufen  durch  300  Mann  (=  1200  HiebenX 
einmal  60,  einmal  SO  Stockstreiche.  1839  sali  er  ein  lOjähriges Mädchen, 
beschloss  sie  zu  nöthzüchtigen  und  der  Kleider  zu  berauben.  £r  warf 
sie  zn  Boden,  stiess  den  Finger  in  die  Scheide,  nothzttchtigte  sie  aber 
mcbf^  dann  stemmte  er  das  Knie  auf  den  Hals  des  Kindes  und 
schnitt  ihr  mit  dem  Messer  den  Zopf  ab,  nm  sich 
daraus  eine  Bürste  zn  machen.  Er  wurde  erwisch^  zum 
Tode  Temrtheilt  und  zn  20  Jahren  Schsnzarbeit  begnadigt  — 

Während  semer  Stratzdt  war  er  sehr  heftig  und  roh,  jShsomig 
bis  zum  Wahnsinn  und  wurde  wegen  Insultimng  seiner  Vorgesetzten 
und  lebensgefährlicher  Bedrohung  des  Profossen  bestraft. 


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Zur  Frage  vom  |wycfa<q>athi8chca  Aberglauben. 


335 


Im  Militärdienste  hatte  er  einen  starken  Hufscl)lafc  j^^egen  den 
Kopf  bekomnjen  und  überstand  eine  „mit  Fieber  verbundene  Kopf- 
kiankheit*.  Von  da  blieben  ihm  Schwerhörigkeit ,  Ohrenfluss  und 
grenzenloBe  WnthanfiUle^  namentlieb,  wenn  Jemand  in  maex  Gegen- 
wart pfiffi  Ans  Wnth  zerstörte  er  dnmal  ein  Gürtehen,  einmal  rannte 
er  mit  dem  Kopfe  gegen  die  Wand,  einmal  nss  er  alle  Kleider 
vom  Leibe. 

Nacli  abgebttsater  Strafe  kam  er  in  ein  Sieohenbans  nnd  ye^ 
ricblete  Handlangerarbeiten,  benahm  sieh  roh,  finster  nnd  schamlos, 
war  aber  ein  fldssiger,  guter  Arbeiter.  War  er  im  Zorn,  so  prügelte 
er  Weiber,  Terfluchte  die  Matter  Gottes,  spie  ein  Kruzifix  an.  Spfiter 
wollte  er  heiiathen  nnd  da  er  abgewiesen  wurde,  gerieth  er  in  solchen 
Zorn,  dass  er  verspraeh,  „schlechte  Wege  zu  betreten  und  das  Kind 
im  Mutterleibe  nicht  zu  scboncn.** 

Am  8.  September  1864  verHess  er  seine  Wohnung,  mit  der  Ab- 
sicht ^irgend  Jemanden,  der  ihm  in  den  Wej^  kommt,  zu  tödten.'*  Er 
begegnete  einem  16jährigen  Mädchen,  that  ihr  abor  nichts,  da,  wie 
er  später  sagte  „damals  noch  nicht  der  Blitz  in  ihn  gefahren  war". 
Dann  begegnete  ihm  eine  altere  Frau.  Er  verlangte  von  ihr  Oostat- 
tung  des  Heischlafes,  da  sie  dies  aber  ablehnte,  zo^''  er  sie  in  den 
Wald,  warf  sie  zu  Boden  und  da  sie  sich  wehrte,  gerieth  er  in  Wuth 
und  drückte  ihr  mit  beiden  Händen  die  Kehle  zu,  bis  sie  todt  war. 
Dann  schnitt  er  ihr  die  Brüste  und  Geschlechtstheile  ab,  packte  dies 
und  die  Kleider  zusammen  und  brachte  alles  nach  Hause.  Die  Kleider 
verbarg  er  in  seiner  Truhe,  Brüste  und  Geschlechtstheile  briet  er  und 
ass  davon  mit  saurer  Brähe  3  Tage  lang,  angeblich  ohne  Ekel  zu 
Terspflren.  Das  Geld,  das  er  bei  der  FVau  gefunden  hatte^  verbrandite 
er,  die  nSehsten  Tage  trieb  er  sich  in  der  Stadt  hemm,  arbeitete,  be> 
suchte  die  Kirche  und  sprach  gleicbgfiltig  ?on  dem  mittlerweile  be- 
kannt gewordenen  Mord. 

HitderweUe  wurde  er  verdächtig,  man  verhaftete  ibu  und  er  ge- 
stand sofort  die  That  mit  allen  Einzdheiten.  Er  habe  die  alle  Fnea 
ans  Zorn  und  Bache  gegen  die  Menschen  getSdtet,  er  „habe  einen 
Pick  gegen  die  Frauenzimmer*^  —  warum  er  Kdrpertheile  der  Frau 
abgeschnitten  und  gegessen  habe,  wisse  er  nicht,  „es  war  eine  inner- 
liche Gier/  Er  verlange  sonst  nichts  als  den  Tod,  er  sei  immer  ein 
Verstossener  gewesen,  ihn  freue  nichts,  er  wolle  sterben. 

Die  Gerichtsäizte  erklärten  den  Mann  für  geistesgesund  und  zu- 
rechnungsfähig, wegen  Wichtigkeit  des  Falles  wurde  aber  ein  P'akul- 
tatsgutachten  eingeholt,  welches  Masch ka  erstattet  hat.  In  demselben 
wird  festgestellt,  dass  Antou  Tirsch  ein  in  der  Erziehung  vemach- 

Archiv  iüi  KriminaJanUiropologio.  XII.  23 


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336 


XXVL  Gm 


IfiSMgtes,  leideuscliaftliches,  rohes,  mehrfach  bestraftes  Individuum  sei, 
das  sich  für  von  der  Gesellschaft  Verstössen  ansehe,  mürrisch  und 
lebensüberdrüssig  sei.  Seine  Verstimmung  erreiche  oft  den  (irad  \  on 
Watb,  die  nch  dum  in  heftigen  AuBbrücben  Luft  verschaffe;  es  sei 
zweifellos  periodische  Tobsucht  TOThandea,  die  anl  der  Basis 
eiaes  melaacholischea  Zastaades  eatwiokle  aad  aas  demselbeB  her- 
TOigiage;  die  letzte  That  war  gewissermaaseea  auf  eiaer  Stafealeiter 
anderer  Thaten  begangea  worden,  Tirsch  sei  bei  der  That  anzniech- 
nnagsfithtg  gewesen,  aber  ia  hohem  Giade  gemeiiigeffthrlich. 

Gauster  sehliesst  sich  diesem  Gutachten  nicht  TÖllig  an,  und 
findet,  daas  man  es  anofa  mit  einer  Schwacbsbnsform  and  Art  mo- 
laliscfaen  Irrsinns  zu  thnn  habe;  es  liege  grosse  Bdzbarkeit,  starker 
Egoismus,  instinktive  Handlung  unmittelbar  neben  schwachsinnigem 
Gebahren,  moralische  Verkehrtheit,  Hyperästhesie  gegen  gewisse  Sinnes- 
eindrflcke  (Pfeifen  n.  s.  w.)  vor  —  hiermit  sei  allerdings  nicht  die 
Diagnose  angeborenen  oder  erworbenen  Schwachsinns  in  Form  mora- 
lischen Irrsinns  ganz  unanfechtbar  gesichert,  jedenfalls  lägen  aber 
viele  Symptome  vor,  die  auf  das  Vorbandensein  einer  Entartung  deuten, 
einer  Entartung,  die  durch  die  Periodizität  u.  s.  w.  angedeutet  wird. 

Die  Krankengeschichte  der  Irrenanstalt  in  Prag  beginnt  mit  dem 
auch  in  der  Darstellnnir  des  Falles  durcli  Gau  st  er  genannten  Datum 
des  12.  März  18()5  und  endet  mit  der  Notiz  iibf^r  den  nach  11  Jahren 
(28.  December  IS7  1)  erfolgten  Tod  an  (loiiix  lseitijrer  Lungenentzündung, 
nerzhypertrojdiie  und  chronischer  Meningitis.  Der  letztgenannte  Be- 
fund dürfte  wohl  Masch ka"s  Diagnose  als  richtig  hinstellen.  — 

Nach  dieser  Krankengeschichte  klagte  Tirsch  über  Schmerzen 
und  .Sausen  im  Kopf,  ist  schwach  und  iiinfällig;  er  erklärt  besonders 
an  periodischen  Kopfschmerzen  zu  leiden,  dann  sei  er  schwerhörig 
und  das  Pfeifen  anderer  Leute  bringe  ihn  in  Wutb,  weil  er  es  nicht 
vertragen  kSnne.  Es  wird  erzählt,  dass  er  sich  meistens  ruhig  ver- 
halte  und  offen  die  von  ihm  begangenen  Greudthaten  erzähle,  ohne 
sie  zu  beschönigen:  „Er  habe  sich  nicht  anders  helfen  können.*^ 
Durch  Pfeifen  eines  anderen  Menschen  werde  bei  dem  Patienten  ein 
Wuthansbmch  veranlasst,  der  so  arg  sei,  „dass  hierseits*  (also  in 
dem  grossen  Prager  Irrenhause)  „ein  grösserer  Wutansbruch  kanm 
bei  irgend  einem  Kranken  verzeichnet  vorkomme^.  Er  mnss  „in 
Jadse  gelegt  und  gegurtet  werden''.  Er  verwünscht  die  Richter,  weil 
sie  ihn  nicht  gehenkt  haben  und  verlangt  den  Tod.  Wiedwholt  wird 
verzeichnet,  dass  er  Kranke  misshandelt  habe  und  dass  er  gegurtet 
werden  musste,  da  das  Pfeifen  eines  Kranken  u.  s.  w.  einen  Wuth- 


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Zar  Fntge  vom  ptyvhopathischen  Abeiglaaben. 


887 


anfall  ausg:elüst  habe.  Sonst  wird  vermerkt,  dass  er  häusliche  Arbeiten, 
besonders  im  Karten  fleissif?  verrichtet,  geilen  Aerzte  ist  er  bereitwillig 
und  höflich,  vergreift  sich  aber  gegen  Wärter  und  Kranke,  die  seine 
Werkzeuge  berühren  oder  eine  Blume  pflücken;  dem  Director  droht 
er  mit  einer  Gewaltthat,  „weil  er  ihn  anblicke,  wie  einen  Hnnd'^.  — 
Im  Uebrigen  werden  nur  Symptome  seines  Langen-  und  Herz- 
leidflBi  und  Bein  niohes  Vei&tteD  Botirt 


Sehen  wir  nns  nun  die  TeilirecbenielMB  Tfaaten  des  Anton  Tirsob, 
soweit  sie  uns  interesBiren,  näher  an,  so  kOnnen  wir  wahraehmeo, 
dass  et  in  beiden  FSUeii  etwas  von  seinem  Opfer  railgenomnien  hat 

Im  ersten  IWle  (mit  dem  lOjähiigen  MSdobeB)  hat  er  das  Kind 
nicht  getOdtet,  es  ist  aber  kaum  annmehmen,  da»  er  dies  nicht 
thun  wollte.  Wenn  ein  Soldat,  also  ein  krftftiger  Mann,  ein  Kind  zu 
Boden  wirft  und  sein  rechtes  Knie  so  lange  auf  den  Hals  des- 
selben stemmt,  bis  er  ihm  alle  Kleider  vom  Leibe  gezogen  und 
mit  einem,  offenbar  erst  zu  suchenden  und  zu  öffnenden  Messer  den 
Zopf  abgeschnitten  bat,  so  ist  es  befremdlich,  dass  das  Kind  mittler- 
weile nicht  erstickt  ist  —  T.  musste  also  auch  annehmen,  dass  sdne 
Handlungsweise  den  Tod  des  Kindes  bewirken  werde.  Es  scheint 
auch,  dass  das  Kind  nur  deshalb  mit  dem  Leben  davon  kam,  weil 
Leute  herannahten,  sodass  Tirsch  fliehen  musste. 

Stellen  wir  diese  einzelnen  Thatliandlungen  bei  dem  ersten 
Factum  zusammen,  so  können  wir  sagen,  dass  doch  nur  ein  Theil 
dessellien  mit  „Wuth"  zu  erklären  ist,  Dass  er  das  Kind  zu  Boden 
warf,  mit  dem  Finger  in  die  Scheide  fuhr,  auf  dessen  Hals  kniete 
und  die  Kleider  lierabriss  —  das  Alles  kann  mit  einem  Wutlianfall 
erklärt  werden.  Dass  er  aber  den  Zopf  des  Kindes  abschnitt,  um 
sich  daraus  eine  Bürste  zu  machen,  dass  ist  mit  einem  Wuth- 
anfall doch  nicht  zu  erklären.  Man  hat  den  Eindruck,  als  ob  Tiersch 
zugeben  musste,  dass  er  sich  des  Zopfes  des  IQndea  bemichtigen 
wollte,  dass  er  es  aber  nicht  gestehen  wollte,  wozu  er  denselben  be- 
nOthigte,  und  so  gab  er,  da  man  ihn  offenbar  zur  Angabe  eines 
Grundes  gedrängt  hat,  als  Motiy  seines  Handelns  an,  er  wollte  sich 
dne  Bfiiste  machen.  Das  klingt  fast  Ificherlich,  sicher  unglaubwürdig. 

Wir  kommen  also  bei  dem  ersten  Falle  zu  dem  Schlüsse:  Tirsch 
wollte  sich  eines  Theiles  seines  Opfers  bemächtigen  und 
diesen  mit  sich  nehmen,  wir  haben  aber  von  ihm  ein 
glaubhaftes  Motiv  fär  diese  Handlung  nicht  mitgetheilt  er- 
halten. 

Kommen  wir  zum  zweiten  Fall,  so  sehen  wir,  dass  Tirsch  der 

2S» 


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338 


XXV  I.  ÜBUSS 


ennordeten  Frm  alle  Kleider  weggenommen  nnd  heimgetragen  hat^ 
obwohl  er  diese  weder  yerwertben  noeh  yerkanfen  konnte  (allerdings 
hat  er  «noh  das  gefondena  Geld  genommen  nnd  Teibnuioht)|  nnd 
ansserdem  bat  er  ihr  Brüste  und  Geseblechtstbeile  abgesebnitlen  nnd 
mitgenommen.  Wenn  Tirscb  sagte,  er  habe  die  Tbat  ans  Zorn, 
Baebe  nnd  „inneriieber  Giei^  begangen,  so  mag  dies  angenommen 
werden  fOr  das  Faetam  des  Mordes  seltMt  nnd  des  Abschneidens  der 
betreffenden  Theile.  Aber  wenn  Tirseh  sngiebl^  dass  er  diese  Fleisoh- 
tbdle  beimgebraebt,  nmstSndfiob  zubereitet  und  im  Lanfe  yon  drei 
Tagen  yerzebrt  babe^  dann  Ungte  das  angegebene  Motiy  nieh^  ein  Wutb- 
anfall  und  sei  er  aucli  noch  bo  lange,  dauert  nicht  3  Tage;  ausserdem 
wdss  man,  dass  Tiersch  in  dieser  Z&t  in  der  Stadt  herumgegangen  ist, 
mit  Leuten  verkehrt  hat  u.  s.  w.  —  alles  das  schliesst  Wuthanfall  aus. 

Wir  können  also  auch  für  den  zweiten  Fall  sagen:  Tirschhat 
sich  eines  Theiles  seines  Opfers  und  seiner  Kleider  be- 
mächtigt und  mit  sieb   genommen,  wir  haben  aber  ein 
glaubhaftes  Motiv   für  diese  Handlung  nicht  erfahren. 
Dass  ein  Wiithanfall  und  die  von  ihm  behauptete  „innerliche  Gier" 
drei  Tage  andauern  und  damit  enden  sollte,  dass  er  die  Körpertheile 
sorgfältig  zubereitet  und  im  Verlaufe  von  drei  Tagen  verzehrt,  dass 
wird  niemand,  wie  schon  erwähnt,  glauben  wollen.  —  Legen  wir  nun 
beide  Thaten  dos  Tiersch  zusanuiit'n,  so  finden  wir  das  Gemeinsame, 
dass  er  Frauens])ersoncn  überfällt,  sie  tödtet  oder  zu  tödten  versucht, 
sich  ihrer  Kleider  bemächtigt  und  Theile  ihres  Körpers  mit  sich 
nimmt.  Wenn  wir  nun  lediglich  sagen  wollten :  „Für  diese  seltsamen 
Vergehen  haben  wir  kein  glaubhaftes  Motiv  zu  hören  bekommen, 
folglieh  ist  es  aus  Aberglauben  geschehen"  —  so  wäre  dies  yiel  zu 
weit  gegangen,  denn  es  können  andi  andere,  uns  unbekannte  Hotiye 
vorgelegen  sein.  Aber  es  giebt  doeb  gewisse  Vorgänge  bei  menscb. 
lieben  Handlungen,  welche  schon  nach  ihrem  Susseren  Ansehen  zwar 
nicht  unbedingt  in  eine  grosse  Eat^rie  yon  Eansiemngen  gebSren 
roflssen,  bei  welchen  aber  per  exdusionem  die  Annahme  erlaubt  ist, 
dass  sie  nur  yon  einem  ganz  bestimmten  Beweggrunde  aus  yeranlaast 
worden  sein  müssen.  Seine  Geisteskrankheit  an  sieb  erklärt  die  Vor- 
gänge nicht.  —  Sehen  wir  uns  die  Vorgänge  in  unserem  Falle  an: 
Aneignung  des  Zopfes,  um  sich  eine  Bürste  zu  machen  und 
Aneignung  yon  Fleischtheilen,  weil  eine  innere  Gier  dazu  an> 
trieb,  so  müssen  wir  sagen:  „Die  angegebenen  Gründe  sind  offen- 
sichtlich nicht  richtig,  der  Vorgang  ist  sonst  so  zwecklos  und  so  auf- 
fallend ähnlich  mit  bekannten  Vorgängen  des  sog.  Blutglaubens,  dass 
wenigstens  vermuthet  werden  dai'f,  es  sei  hier  Aberghiuben  im  Spiele. 


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Zur  Fnge  ▼om  ]wychoi>athlBeh«ii  Aberglanbco.  339 


Ich  wiederhole,  zum  Theile  schon-  in  der  Eingangs  genannten 
Abhandlung  Gesagtes: 

Aberglauben  ist  überaus  und  mehr  verbreitet,  als  in  der  Regel 
angenonimen  wird;  es  lice:t  in  der  Xatur  der  Sache,  dass  zum  Aus- 
führen abergläubischer  Manipulationen  Din^e  verwondet  werden  müssen, 
welche  nicht  allzu  leicht  zu  haben  sind,  weil  sonst  die  Unrichtigkeit 
der  abergläubischen  Vorsclirift  zu  rasch  erwiesen  wird.  Deshalb 
werden  so  häufig  Körpertheile  seltsamer  und  nicht  leicht  zu  erlan- 
gender Tbiere  verlangt:  vollkomnun  schwarzer  Plund,  vollkommen 
schwarzer  Hahn,  Fledermaus,  Maulwurf,  Schlangen  u.  s.  w.  oder 
Theile  von  Menschen. 

Wenn  nun  ein  Mensch  sich  durch  eine  abergläubische  Handlung 
einen  Vortheil  zuwenden  will,  so  wird  es  sich  stets  darum  handeln, 
ob  in  ihm  die  ethiaehen  HemmungSTorsteliungen  stark  genug  sind, 
um  ihn  von  dem  betreffenden  Thim  abBuhalten.  Befindet  sich  der 
Betreffende  in  gewöhnlichem  Znslande  nnd  ist  er  normal  veranlagt, 
so  wird  der  BeiZ|  sich  den  fraglichen  Vortheil  znznwenden,  dann  die 
Oberhand  gewinnen,  wenn  die  ethischen  Hemmungen  kernen  grossen 
Widerstand  zu  flberwinden  hatten.  Wenn  also  Einer  glaubt,  dass  er 
im  Spiele  gewinnt,  wenn  er  das  Herz  einer  Fledermans  anter  der 
Achsel  tiSgt,  so  wird  auch  ein  genügend  einftltiger,  aber  geistig 
normaler  Mensch  sich  das  Herz  einer  Fledermans  yersohaffen,  weil 
seine  ethischen  Hemmungen  diesfalls  nicht  viel  zu  Überwinden  haben. 

Wenn  er  aber  glaubt,  dass  er  fliegen  kann,  oder  unsichtbar  wird, 
wenn  er  das  Herz  eines  unschuldigen  Kindes  gegessen  hat,  so  wird 
er  sich  ein  solches  im  Wege  eines  Mordes  nur  dann  verschaffen, 
wenn  entweder  äussere,  sehr  gewaltige  Momentei  etwa  alleräusserste 
Xoth,  oder  innere  Momente,  psychopathische  Zustande  die  ethischen 
Hemmungsvorstellungen  überwinden.  Ich  meine:  auch  der  normale 
abergläubische  Mensch  glaubt,  dass  er  fliegen  kann,  wenn  er  ein 
Kinderherz  isst,  er  glaubt  daran  nicht  besser  und  nicht  schlechter 
als  ein  geistig  abnormaler,  er  würde  es  auch  gerne  tliun,  um  einen 
solchen  Vortheil  zu  erlangen,  aber  seine  gesunde  Psyche  verbietet 
ihm  ein  scheussliches  Verbrechen  wegen  eines  irdischen  Vortheiles 
zu  begehen;  der  psychopatisch  Veranlagte  unterliegt  aber  dem  Drange 
und  begeht  das  Verbrechen. 

Wenn  wir  also  zu  dem  Schlüsse  kommen:  Der  absolut  zweifellos 
geisteskranke  und  unzurechnungsfähige  Anton  Tirsch  hat  vielleicht 
seine  beiden  Verbrechen  lediglich  begangen  um  zu  abergläubischen 
ZweckeaTheilenienachlidierKdrperzuerlangen— so  haben  wir  praktisch 
allerdings  nicht  yid  erreicht,  aber  erkenntoisstheoretisch  kQnnte  dies 


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840      XXYL  GBoas,  Zur  Fngp  vom  iMycbopathiBcbCB  Abcfglanben. 

nicht  ganz  gleichgültig  sein.  Vor  allem:  wo  ist  die  (irenze  zwischen 
geistig  noniiai  und  geistig  abnormal  —  dann:  wo  ist  die  Grenze 
dessen,  was  die  ethischen  Heniniungen  des  normalen  Menschen  noch 
hindern?  Wenn  wir  hei  dem  Vorkonniien  derartig  grausiger  Ver- 
brechen einfach  sagen  dürften:  „Das  hat  ein  Narr  gethan,  den  Narren 
straft  man  nicht,  sondern  giebt  ihn  m  ein  Irrenhaus"  —  wenn  es 
damit  sein  Genügen  hätte  und  haben  dürfte,  dann  hätten  wir  nicht 
weiter  zu  forschen.  Aber  es  giebt  gerade  der  unausgesprochenen 
Fülle  am  meisten,  Fälle,  die  von  Halbnarren  begangen  wurden,  von 
Tennindeit  ZnfoehnmigiflUiigen,  von  zweifielliall  ZnreehBnngflfähigeD 
und  in  diesen  ilSen  mim  tot  Allem  die  Triebfete  in  entdeeken 
geeaeht  weiden.  Wir  werden  die  Leute  nicht  strenger  und  nicht 
milder  strafen,  wenn  wir  wissen,  das»  Aberglaaben  sie  getrieben  und 
ein  schwaches  oder  ganz  fehlendes  Ethos  nicht  abgehalten  hat,  aber 
wissen  woUen  wir,  ob  es  wiifclicfa  Aberglanben  war,  von  den  aoa- 
gegangen  wurde. 

Schliesslich  ist  aber  aneh  das  {»aktische  Moment  nicht  gans 
gteichgUtig,  weil  schon  ans  dem  objectiven  Thatbestand  zwar  kein 
Schluss  gezogen,  aber  eine  Annahme  gemacht  werden  darf.  Liegt 
nimlich  ein  Hergang  vor,  bei  welchem  anlfiaslieh  eines  Mordes  Theüe 
vom  Körper  des  Getödteten  oder  dessen  mehr  oder  ^voniger  weith- 
losen  Kleider  beseiligt  oder  hemm  gelegt  wurden,  so  darf  vermuthet 
werden,  daas  es  sich  um  eine  Tbat  aus  Aberglauben  handelt  —  leider 
haben  wir  nicht  dnmal  einen  Anhaltspunkt  dafür,  welcher  Art  dieser 
Aberglauben  ist'). 

Als  zweites  zu  berücksichtigendes  Motiv  ist  der  Umstand  anzusehen, 
ob  zur  That  eine  aussergewöhniiche  Ueherwindung  dagegen  stehender 
ethischer  Ilemmungsvorstellungen  nothwendig  war  (über  grosse  Grau- 
samkeit ,  Ekelhaftigkeit  u.  s.  w.)  —  ist  das  der  Fall,  so  darf  entweder 
besonders  grosser  äusserer  Dnick  fgrösste  Noth,  Verzweiflung)  oder 
innerer  psychischer  Druck,  also  Geistesstörung  vorausgesetzt  werden. 

Ueberblicken  wir  nun  die  seiner  Zeit  (Band  IX,  S.  253)  und 
die  heute  besprochenen,  zusammengehörigen  Fälle,  so  fällt  es  viel- 
leicht auf,  dass  es  sich  in  diesen  acht  Fällen  (und  wenn  man  die 
weiteren  Tbaten  des  Johann  Holer  (Band  IX,  8.  260)  dazu  nimmt, 
sogar  10  raien),  um  ein  einziges  mlnnhciies  Opfer  handelt:  es 
liegt  die  Vecmuthung  nahe^  dass  in  diesem  einzigen  Falle  neben  Aber- 
glauben und  Geisteskrankheit  auf  Seite  des  Thfiters  auch  sexndl 
perrerse  Triebe  mitgewirkt  haben  könnten. 

1)  Vgl.  A.  Kemanitscb,  «Ein  Kannibale"  in  diesem  Archiv.  T.Bd.  S.SOOff. 


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XXVII. 


Naebtrag  zu  Bd.  III  8. 175ff. 


Zn  meiner  Abbandlnng:  „Die  Technik  des  StempelflUBohen*^ 
n.  8.  w.  in  Band  12  S.  175ff.  dieses  AichiTS  möchte  ich  Folgendes 
nachtrSgfich  bemerken: 

Auf  Ersuchen  nm  Blickgabe  der  Acten  und  nm  knisen  Bescheid 
am  8.  Jnni  ist  mir  nach  Schlnss  des  Dmckes  (2&  Jnni  d.  J.)  ein 
eingehender  Bericht  ron  der  yorgeseteten  Behörde  des  S.  187ft. 
a.  a.  O.  bezielten  Arbatshanses  ttbermittolt 

Danach  hat  auf  meinen  Vortrag  vom  28.  Dezember  1902  vom 
3. — 5.  Februar  1 903  eine  genaue  Prüfung  der  fraglichen  Anstalt  durch 
einen  Strafanstaltsdirector  stattgefunden.   Dieser  hat  den  Fälschungs- 
betrieb bestätigt,  ist  jedoch  —  allerdings  in  Widerspnich  mit  der 
Auskunft  des  Polizeiamts  zu  Plön  und  den  Angaben  der  Kunden  — 
zu  der  Ansicht  gelangt,  dass  er  sich  auf  die  Zeit  von  1899—1901 
beschränke.    Die  ühnji^en  Angaben  haben  sieb  theihveise  bestätigt» 
theils  nicht  mehr  nachprüfen  lassen,  nianclies  ist  als  zu  weitgeliend 
oder  unrichtig  widerlegt.    Dauernde  Beseitigung  des  Schadens  ist^ 
wie  der  Reriebt  selbst  hervorhebt,  auch  jetzt  nicht  gesichert,  das  dort 
vorgeschlagene  Aufgeben  des  Bedruckens  von  Briefbogen  allein  kann 
nicht  helfen,  wie  die  Tbatsacben  bewiesen  haben,  nur  gänzlicbe  Auf- 
hebung der  Druckereien  und  womöglich  Umwandlung  der  Anstalten 
nach  Bodelschwing-sVorsclilägen  kann  wirklichen  Nutzen  schaffen. 
Wenn  die  Aufsicht  in  der  Anstalt  bisher  im  Gegensatz  zu  den  mir 
gemachten  Schilderungen  thatsfichlich  zum  mindesten  nicht  schlecht 
gewesen  ist,  so  spricht  das  um  so  knter  nnd  beweisender  gegen  die 
Duldung  derDrookereien,  da  deren  HiBsbraneh  nachgewiesenermaassen 
ein  gana  erheblicher  gewesen  ist  Endlich  d&rften  diese  VorfiUle  als 
neuer  Beweis  fOr  dieSch&dlichkeit  der  Gemeinschaftshaft  gelten  können» 
Nebenbei  ist  bei  dieser  Gelegenheit  auch  wieder  heryorgetreten,  wie 
berechtigt  die  Warnung  Krohne's  —  Lehrbuch  der  GefSAgnisskunde» 
Stuttgart  1889  S.  528  f.  —  ist,  keine  Hänslinge  oder  StrKflinge  als 
Schreiber  oder,  wie  hier  geschehen,  gar  als  Eassenschreiber  m 
beschäftigen. 

Bestock,  28.  Juni  1903.  Dr.  Schütse. 


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Kleinere  Mittlieilungen. 


a)  Von  Medicinalratli  Dr.  P.  Näcke. 

1. 

Adnexe  für  irre  Verhrochcr  an  Strafanstalten  oder  an 
Irrenhäusern?  In  dem  „Generalanzeifrer  für  Lcipzip:  und  l'iTifirobunf^* 
vom  27.  Juni  1903,  liest  man  unter  Berlin,  Ueu  2(>.  Juni  1903,  daäö  in 
der  Inreoamtelt  Henberge  bei  Berfio,  io  dem  Hans  8,  wo  81  gefsteBknoke 
Verbrecher  nntergebraebt  sind,  eine  scliwere  Revolte  ansbni^  wobei  61 
Kranke  jrofr»^n  IS  AVflrtcr  sich  wandten  und  0  dor  letzteren  mit  Schläf^en 
tüchtig  traktiit  winden.  Einer  davon  wurde  sogar  ernstlieh  verhauen. 
Solclie  Auflehnungen  hat  llerzberge  in  seinem  Adnexe  schon  öftei'  erlebt 
mid  Xoeli  in  9Smm  Bnehe  Aber  irre  Verbreeher  bringt  noeh  maneheriei 
Material  hierilber  bei.  Es  bandelt  sich  hierbei  meist  um  Gewolmhdte- 
verbrecher,  ,^chwere  Jungen",  die  im  l^aufe  ihrer  langen  (Jefängnisscarri^re 
vollends  verdorben  wurden  und  dies  geschieht  in  der  ürossstadt  schneller 
und  gründlichei'  als  wo  anders  zumal  sehr  viele  dieser  (  iesellen  Grossstadt- 
frttdito  ibid.  In  Herzberge  hat  num  sich  gezwungen  gesehen,  immer 
acb&rfere  Massregeln  und  Sicherheitsvoiriditungen  zu  treffen,  freilidi,  wie 
das  neueste  Erei^^iiss  zeijrt.  nicht  immer  mit  Erfol-r.  riewnlmlicli  gehen 
solelie  Jievölten  iniuier  nur  von  einzahlen.  Itcsondcis  1  >urrlitiiol)riien  und 
Bösartigen  aus  und  die  Anderen  „maclicu  mit"  oder  werden  einfach  dazu 
verfshrt  Es  fingt  eicb  nim  unter  aolefaen  Umsttnden,  ob  oieht  Ad- 
nexe an  Strafanstalten  fttr  irre  Verbrecher  besser  sind  als 
an  Irrenanstalten.  Ich  glaube  es  sicherl  Man  behalte  dort  alle 
unbotmiLssigen ,  bösartigen  Elemente  zurück,  bis  sie  harmlos  geworden  sind 
und  gebe  sie  dann  erst,  wie  auch  alle  die  übrigen  —  und  es  ist  die  Mehr- 
zahl! — ,  die  es  am  Anfang  mdir  oder  weniger  waren,  an  die  IrrenhSnser 
ab,  wo  sie,  in  nicht  zu  grosser  Zahl  nnd  riditig  vertheil^  Iceinen  oder  nnr 
unbedeatenden  8cliaden  anrichten  werden. 


2. 

Aenderung  des  Charakters.  Neulich  eret  habe  ich  diesen  Gegen- 
stand in  einer  kleinen  Mittheilung  in  dieser  Zeitschrift  gestreift  und  eine 
Erldämng  für  gewisse  FtUle  gegeben.  Heute  ronss  ich  ein  gleiches  für 
andere  Fälle  thun.  Kürzlich  Maren  alle  englischen  Zeitungen  von  dem 
Ereignlss  erfüllt,  daas  der  tapfere  Generalmajor  Sir  Uector  Mao  Donald, 


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Kleinere  Mittheilangeii. 


848 


der  sich  nie  etwas  hatte  za  Schulden  kommen  lassen,  wegen  unzUclitij^er 
Handlungen  angeklagt,  ridi  entleibt  hatte.  Wie  war  dies  mOglieh  b«  diesem 
Abgotte  seiner  Soldaten»  dem  tadelloeen  Menschen?  Manche  Zeitung^en 
wiesen  aber  offenbar  auf  den  riditi-ifen  We^  bin.  30  Jahre  lang  hatte  er 
sieb  in  den  Tropen  berunigesclilagen  und  das  dürfte  an  sich  schon  genüj^en, 
manchen  Gesunden  geistig  und  köiperlich  niederzuwerfen.  Wer  weiss,  ob 
der  General  niobt  andi  Malaria  nnd  Ruhr  durdigemaeht  hatte.  Die  mebten 
Engländer  leben  ausserdem  in  den  Tropen  nichts  woni<ror  als  abstinent 
—  ob  das  von  Mac  Donald  ^It,  weiss  ich  nicht  —  und  (bis  nniRs  die 
Nerven  noch  mehr  herunterbringen.  Was  am  ehesten  und  mcisteu  leidet, 
sind  die  letzten  Erwerbungen  auf  geistigem  Gebiete  d.  h.  die  etJuschen 
Seiten.  IMe  Moral  rinkt  mid  die  stete  Berlihning  mit  nnterworfenoi  nnd 
halbwilden  Völkern  muss  sie  noch  mehr  zum  Sinken  bringen.  Auch  der 
Kitzel  des  Ilen-schens  kommt  dazu.  IMn  erete  Etappe  auf  dem  abschüssijren 
We{j;e  bietet  der  sogenannte  .,  Tropenkoller*',  von  dem  ja  auch  unsere  jun^^en 
deutschen  Kolouieen  heimgesucht  wurden  und  werden.  Es  wandelt  eben 
niemand  ungestraft  nnter  Falmen!  Dass  Personeni  die  sehen  erblieh  be- 
lastet, sclmeller  zusaromenbreeheu  werden,  ja  sogar  in  G«steskrankheit 
verfaUen,  ist  natflrlicb.   


3. 

Die  Kosten  einer  Grossstadt  für  ihre  Verbrecher.  Folgende 
Interessante  Notixen  entnehme  idi  dem  Jonntal  of  Mooital  Faihology, 
voL  IV.,  N.  1—3,  1903,  |>ag.  82.  New-York  mit  3>/2  Millionen  Eünwohnem 

unterhält  ein  Heer  von  fast  35  000  Verbrecliem.  Auf  den  Kopf  der  Ein- 
wohner kommt  durehsobnittlich  10  Dollure  =  40  Mark  Unterhaltun}j:s- 
kosten  für  die  Verbredier,  während  fUr  Erziehung,  Reinigung  der  Strassen, 
Feuerwehr,  ffiblMbdE,  Parkanlagen,  SanltllsTORiditHngen  susammen  vid 
weniger  verausgabt  wird.  Allein  die  Polizei  kostrt  der  Stadt  mAt  denn 
11  Millionen  Dollars  jährlich.  Hier  sind  7000  Personen  angestellt,  jährlich 
geschehen  fjist  100000  An'estatinnen  und  f:ist  loOOO  Verbrecher  werden 
in  Gefängnissen  unterhalten  (^stimmt  nicht  mit  obigen  350U0.  Näcke.). 
Jlhilidi  werd«!  ansaerdem  5  MDBonen  Dolkun  an  Geld  odor  Oeldeswerdi 
gestohlen  nnd  2  Millionen  an  Eägenthum  nnd  durch  Brandstiftung  zerstOrt 
Ausser  dem  Polizeipereonale  giebt  es  noch  2000  „watchmen"  und  Hunderte 
von  l'nvatdotectivs.  1  Million  Dollai-s  werden  für  Verltrerlion  iM^kiinipfende 
(fesellöchalteu  ausgegeben;  4  Millionen  für  Geldschränke  (^safesj;  3  Mil- 
lionen für  AdTokateokorten,  1  Milfion  fttr  S<dilOiser  und  mehrere  lOlGonen 
auflsei'dem  für  andere  Schutzmittel.  Und  trotzdem  wird  die  Stadt  in  ew^er 
Furcht  vor  Verbrechen  gehalten.  Das  sind  mächtig  sprechende  Zahlen, 
die  die  ganzt^  sociale  (lofabr  dos  Verbrechortliiinis  in  das  hellste  Licht  setzen. 
Gegenüber  diesen  ungeheuren  Kosten  und  dem  relativ  so  geringen  Erfolge 
wlfd  man  immer  mdir  an  die  Nothwoid^eit  der  Reformen  im  Straf-  und 
Oefingnisssystem  ennnert  und  energisch  mnss  man  ddi  gegen  die  Gefflhls- 
duselei  wenden,  die  immer  mehr  das  Heim  der  Vcrl)recher  verschönen  und 
ihr  Dasein  daselbst  so  angenelini  als  niöirlicb  gestalten  will,  mit  niöglichst 
guter  Kost  u.  s.  w.,  wählend  Tausende  \  on  ehrhchen  Leuten  drausseu  am 
Ilnngertnche  nagoi.   


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844 


Kleinero  Mittfadlniigen. 


4. 

Immer  frecheres  Gebahren  auf  dein  sexiu'llen  Verkehrs- 
Markte.  Kürzlich  schickte  mir  ein  Freund  aus  Holland  fol^'cnilo.  jedenfalls 
der  letzten  Zeit  angeliörij^e  Briefkasten-Ausschnitte  aus  dem  ,^ladderadatäeli% 
die  icli  hier  selbst  zum  Abdrucke  bringen  lasse. 

1.  Spandau.  Z.:  Im  ,,Berliner  Local- Anzeiger*'  (Nr.  29)  liest  mau: 
„GaTalier^  23,  Mittelfigiir,  theatralisebes  Ansseheii  urie  Goethe, 
wünscht  BfduuDDtidiaft  behiib  Hdnlh  mit  nur  sehr  TenaOgender 

Dame." 

2.  Z.:  Im  „Berliner  Ta^'eblatt"  (Nr.  21)  wird  anpezeifrt:  „Junge  Dame, 
hier  fremd,  wünscht  IVeundin.  ^Lesbos'  Morgenpost,  Uackesclier 
Ifarkt'*  Q.  8.  w. 

3.  In  der  «YoeeiBehen  Zeitung''  (Nr.  5)  wird  angezeigt:  ,,Jiinge  Wittwe, 

die  später  nach  Berlin  kommt,  mit  heiterem  Temperament,  guter 
Wirthschaft,  einem  Knaben  von  8  Jahren,  tadellosem  Ruf  und  einigen 
Tausend  Marie,  wünfl4sht  die  Bekanntschaft  gut  situierteu,  auch  ältei-en 
Herni  mit  disoretom  Fehler.  Nur  entt^emeinte  Briefe  nnter  £.E. 
1000.  Altona.  Postamt  I,  Poststrasse." 

4.  Berlin.  L.:  Im  „General-Anzeiger  für  die  Berliner  Abonnenten  des 
Berliner  Tageblatt  (sie!)  und  der  Berliner  Morgen-Zeitung"  iNr.  112) 
liest  man:  „Manicure,  nur  bessere  Herrschaften.  Fräulein  Maso- 
ehiean  Kremson,  Unter  den  Linden  27,  m.** 

Wenn  man  mebe  früher  yerOffentiiditen  Sammlungen  von  homo- 
sexuellen Annoncen  mit  den  hier  gegebenen  vergleicht,  so  sind  letzt«-c 
Aea  anderen  allerdings  „weit  Über"  und  lassen  an  Deutlichkeit  kaum  etwjis 
za  wünschen  ttbrig.  Während  als  Chiffren  fUr  Homosexuelle  schüchtern 
hie  nnd  da  „NardssuB,  Sappho  xl  s.  w."  auftreten,  sehen  whr  hier  fai  Kr.  2 
direct  den  Namen  „Lcsbos''  und  in  4  wohl  das  erste  Mal  den  Namen 
Sacher  Masochisraus  unter  dem  nur  wenig  veränderten  Namen  „Masochisan** 
auftreten.  Natürlich  handelt  es  sich  dabei  um  eine  Manicure,  und  der 
Kladderadatsch  fügt  obiger  Annonce  sehr  richtig  bei,  dass  Sacher  Masocli 
ach  zum  Schutzpatron  d«r  Manienren  nnd  MasBeneen  vortreffKefa  eigne. 
Schon  frilher  innes  ich  darauf  hin,  wie  sehr  gerade  dies  Gewerbe  der 
Kuppelei  aller  Art,  besonders  für  sexuell  Perverse  verdächtig  sei,  und  die 
lYauen  sind  hier  verdächtiger  vielleicht  noch  als  die  Männer.  Aehnlieh, 
aber  wohl  niciit  so  schlimm,  treiben  es  manche  Barbiere  der  Grossstädte. 
Bedaneriich  ist  es  nnr,  daas  auch  solide  BUUter,  wie  die  „Yossisciie  Zdtnng'y 
solche  zweifelhafte  Annoncen  nihig  aufnehmen.  Was  unsere  Nr.  1  mit  dem 
„theatrnlischen  Aussehen'*  wie  Goethe  bezweckt,  ist  nicht  reclit  klar.  Wenn 
nicht  ausdrücklich  eine  reiche  Heirath  gesucht  würde,  hätte  man  an  einen 
Homosexuellen  denken  können,  wie  solche  gera<lc  unter  den  Schauspielern 
nidit  so  selten  ridi  vorfinden.  Wie  tief  mnss  aber  moraliseh  der  Betreffende 
Stdien,  wenn  er  sich  nicht  entblödet,  von  Goethe  als  Lockvogel  nur  das 
äussere  Bild  in  einem  gewissen  I^ebensalter  hinzustellen,  losgelöst  von  allem 
geistiLTcn  Inhalte,  der  eine  ganze  Welt  bedeutete!  In  Nr.  3  intriguirt  un- 
willkürlich der  „discretc  Fehler".  Was  ist  wohl  damit  gemeint  V  Icl»  denke 
an  Impotenz,  doch  kann  es  anch  anders  sein«  Jedenfalls  wird  dieser  Fehler 
durch  Geld  anfgewogen.  Non  olet! 


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Kleinen  HitdieOaiigcn. 


346 


b)  Von  Hans  Gross. 

5. 

Verdächtige  Anaonceu.  Mein  verehrter  Freund  und  Mitarbeiter 
Medidnalraih  Dr.  Nieke  bemüht  sidi  schon  seit  längerer  Zeit,  auf  die 
ZeHongssanoneen  homosexuellen  Inhaltes  In  verdienstlichster  Weise  anf- 
merksam  zu  machen.  loh  folf^e  sciiiein  Beispiele  und  will  auf  die  jetzt 
überaus  verbreiteten  AnkUndigimgeii  verweisen,  welche  andere  Zwecke  ver- 
folgen. 

Im  Inseratentheile  einer  sehr  grossen  Zeitnng  (ich  wül  dem  Staats- 
anwalt nidit  Arbeit  verursachen  and  nenne  sie  nicht)  erscheinen  Tag  fttr 

Ta^  Annoncen,  in  welchen  Hebammen  ihre  Dienste  anemjjfehlen.  An 
einem  einzigen  Tage  fanden  sich  knapp  hintereinander  drei  Annoncen  von 
fast  wörtlich  gleichem  Inhalt,  so  ähnlich,  dass  man  sie  als  von  derselben  Person 
ausgehend  ansehen  wftrde,  wenn  nicht  andere  Adranen  angegeben  wftren: 
sie  shid  unterschrieben:  ^Frau  L.  M.  X-Strasse  15,  2.  Stock,  Thür  Xr.  15''  — 
^Frau  H.  0.  Y-Strasso  20,  Mezzanin,  Thür  1^  —  .Frau  X.  L.  Z-Strasse  4, 
2.  Stock,  Thür  5''  — .    Der  Inhalt  lautet  mit  kleinen  Verschiedenheiten. 

g Damen  von  Distinction,  die  des  Beistandes  oder  der  freundlichen 
Information  in  allen  discreten  Angelegenheiten  bedürfen, woHen 
sich  nnr  ganz  TertranensToII  an  eine,  an  der  Universität  geprüfte 
Hebamme  von  strengster  Discretion  und  grüsster  Praxis  wenden.* 
Folgt  eine  der  obengenannten  Untei-schnften. 

Der  „Beistand''  kann  ja  ganz  programmmässig  sein,  aber  die  „freund- 
liehe Information  in  aHen  disoreten  Angelegenheiten/'  die  den  »ganz  Ter- 
trauensvoll"  sich  :üi  die  Frau  »von  strengster  Discretion"  Wendenden  zn 
Tlieil  werden  snil  —  die  kann  sich  doch  einzig  und  allein  nur  auf  Ab- 
ti'eibung  beziehen.  Offenbar  hahen  wir  da  wieder  etwas  aus  Amerika  be- 
zogen; es  ist  bekannt,  dass  man  jenseits  des  grossen  Uäringsteiclies  un- 
geschent  nnd  noch  viel  nnreiblfimter  „frenndUdie  Informationen**  sabietet; 
die  meisten  Zeitungen  bringen  dorartige  Annoncen,  Niemand  schent  steh, 
ganz  deutlich  zu  sagen,  was  man  meint,  es  bedarf  keiner  Auslegungen. 
Aber  bei  uns  ist  das  bislang  nicht  Sitte  gewesen,  und  wenn  man  auch 
hier  schon  seit  Langem  in  verschämter  Form  Derartiges  iui kündigte,  so 
war  es  doch  nicht  so  dentHch,  wie  in  Amerika  nnd  anch  nieht  so,  wie 
j^it  bei  uns.  Man  mählte,  dass  in  einer  snderen  grossen  Stadt  vor 
eini£:en  Jahrzehnten  ein  Chirurg  sich  in  den  Blättern  zur  „Abtreibung  von 
BuniUs  ürniem''  empfahl.  Aber  er  dachte  au  keinen  Bandwurm  und  — 
wurde  auch  veretanden. 

leb  meine,  dsss  die  Zeit  lüdit  ferne  bt,  in  äar  man  die  Abtreibung 
der  Leibesfirudit  nicht  mehr  bestrafen  wird,  und  wenn  man  wflsste,  wo  die 
Grenze  zu  stecken  sei,  d.  h.  bis  zu  welcher  Zeit  von  der  Enipfängniss  an 
gerechnet,  die  Straflosigkeit  bewilligt  sein  sollte,  so  wäre  diese  Auffassung 
noch  viel  näher.  Aber  heute  existirt  das  Gesetz  noch  und  solange  dies 
der  Fall  ist,  sollten  Venpottangen  des  Oesetzes,  wie  es  solche  Annoncen 
sind,  nidit  gediddet  werden. 


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I 


BeBprechuDgen. 


a)  BUcherbesprecbungen  von  Näcke. 

1. 

WoItmaiiD:  Politische  Antluopulogie.  Eine  Untenuchung  Uber  den  Ein- 
flois  der  Descendenzlehre  auf  die  Lehre  von  der  politischen  Entw  ick- 
lung der  Völker.  1903.  Thiü-ingische  Vei'lagsaoatalt  Eiseoacli  und 
Leipzig,  6  Mark,  326  Seiten. 
Woltmanot  Der  verdienstvolle  Herausgeber  der  i^PolitiBdien  anthro- 
polo<^ischen  Revue*^  bat  soeben  oben  genanntes  Werk,  dessen  Onindzag 
schon  in  seinem  oi-storon  Titel  gegeben  ist,  herausgegeben.  Es  ist  dies 
ein  sehr  wichtiges  Buch  für  jeden  Gebildeten,  da  es  die  g^mmte 
Entwicklung  der  Menschheit  in  Kunst,  Wissenschaft  und  Gesdiiehte  in  einem 
neaen,  modernen  lidite  erBchdoen  iBsst.  In  19  Ki4»itetai  werdeo  die  Fak- 
toren der  organischen  Batwicklung,  die  physiologiidien  Grundlagen  der 
Variation  und  Vererbung,  die  natürliche  Variation  und  Vererbung  beim 
Menschen,  die  VervoUkonimung  und  Entartung  der  Ii^lssen,  die  biologischen 
Grundgesetze  der  Kulturentwicklung,  die  Entwicklung  der  Famüienreclite, 
die  sociale  Gesehicble  der  Stlade  nnd  Berufe,  die  politische  Entwicklang 
der  Völker,  die  anthropologischen  Orundlagen  der  politischen  Entwicklung 
und  endlich  die  p(»litisclien  l'arteien  nnd  'riicorieen  abgehandelt.  Alles  ge- 
schieht in  grosser  Klarheit,  möglichster  ()bjecti\ität  und  auf  Grund  einer 
grossen  Belesenheit  und  mancher  eigenen  Beobachtungen.  Es  ist  dies  Werk 
aber  nicht  bloss  eine  ebfache  Compilation,  sondern  ein  reillieh  Uber-  vod 
dnrchdacht^  Opus. 

Als  rother  Faden  ziehen  sich  duich  ih\s  ganze  Bucli  zwei  Theorien: 
I.  Die  Anwendung  der  D(«ceudenzlehre  auch  auf  alle  sozialen politischen 
und  rechtlichen  Gebilde  und  2.  der  Fundamentalsatz  der  Ungleichartigkeit 
der  Rassen.  Als  die  doidg  dvifiBatorisdie  wird  die  indogermanische  —  vnd 
hier  wiederum  die  gennuiseiie  Banse  hingestellt  —  die  im  Norden  Europas 
entstand.  AufbltÜien  und  Vergehen  der  Völker  und  ihre  Kultur  han^'^t 
vorwiegend  mit  Zu-  und  Abnahme  der  germanischen  Elemente  zusammen. 
Der  reinen  oder  modifizii'ten  Darwin 'sehen  Hieorie  in  ihrer  Anwendung 
anch  auf  sociale  Gebilde  n.  s.  w.  kann  man  gewl»,  meint  Referent,  ab 
der  bestmöglichen  nur  znstimmeii.  Auch  ihre  Anwendung  auf  das  Recht 
ist  nur  eine  Frage  der  Zeit.  Viel  weniger  gut  fundirt  da^'-egen  ist  der 
zweite  Hauptsatz  des  Verfassers.  Ziendich  sicher  ist  wohi  eine  Ungleich- 
artigkeit der  Basseu,  dem  Werte  nach,  anzunehmen,  aber  bedenklicli  ist 
esy  nnd  gewiss  noch  lange  nicht  Uber  allem  Zweifel  erhaben,  dass  die  Ger- 


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BeapFCcbongeii. 


347 


nianeo  die  auserwälilte  liaase,  das  Fermeut  der  Kultur  sind,  noch  mehr 
aber,  dtts  alle  Indogermanen  ans  dem  Norden  EmrofMS  und  den  Germanen 
entstammen.  Freilich  sind  die  dafür  sprechenden  Daten  immerhin  gewich- 
tiger, als  die  entpej^enstehenden ,  doch  von  W  ah  rschein  Ii  oh  k  oit  l)  is 
zur  Sicherheit,  wie  es  die  Theorie-Fanatiker  Wilser",  Ammun,  Penka, 
L  a  p  u  u  g  e  u.  b.  w.  prukhuuiren,  ist  es  noch  ein  weiterSchritt 
ond  jedenfalb  ist  diese  Hypothese  lange  nidit  so  gnt  beseugt,  wie  die 
Darwinsche.  Gefährlich,  mindestens  cweifelhaft  ist  es  ferner,  gewisse 
T^angköpfe,  hlaue  Aufjen,  helle  Haut  u.  8.  w.  ohne  weiteres  als  \  oin  ;rer- 
manisclien  Typus  vcrerltt  zu  erachten,  da,  wie  Verfasser  einmal  riclitijr  l)e- 
merict,  da&  eine  oder  andere  reine  Keimesvariation  sein  kann. 
TTnd  wie  soll  man  diese  von  echter  Verert»ang  unterscheiden?  Das  ist  ja 
auch  die  Hauptschwierigkeit  in  der  Vererbnngsftage»  da  jedes  eben  anch  nur 
Keimesvariation  sein  kann!  Gar  naeli  Rflsten,  Bildern,  Mflnzen  u.  s.  w.  ent- 
scheiden zu  wollen,  ob  ganz  oder  theilweis  in  dein  einen  oder  anderen 
Helden,  Künstler,  Cielehiten  germanisches  Blut  rollt,  ist  melir  als  gewagt. 
Von  Napoleon  z.  B.  existiren  ganz  versdiiedene  Bilder  o.  s.  w.,  anch  von 
Goetiie  und  Shalcespesre.  Welches  ist  das  richtige  V  Man  nehme  x.  B.  die 
Büste  Napoleons  von  der  grosslierzoglichen  Bibliothek  zu  Weimar,  welclies 
als  absolut  authentisch  gilt,  und  man  wird  Napoleon  nicht  mehr  wiederer- 
kennen! Wissenschaftlich  können  nur  genaue  Messungen 
oder  QypsabdrIIcIce  verwerthet  werden  nnd  auch  diese 
sind  beziehentlich  der  Raas  en  an  gehO  r  i  gk  e  i  t  nicht 
absolut  eindeutig.  Dass  also  z.  B,  Napnioon,  Michelangelo,  Lio- 
nardo,  Dante  reine  (lornianen  sein  oder  germ.uiisclics  Misclililut  haben  sollen, 
wie  W  o  1 1  ui  a  n  n  meint,  sclieint  mir  absolut  noch  unerwiesen;  nur  wenn 
Ahnentaffeln  vorhanden  wirm,  könnte  es  fflr  mich  dn  Beweis  sein.  Das 
Aeoflsere  trOgt  eben  leicht! 

Hei  dem  ungeheuren  Mafcriale,  das  Verfasser  \  erarbeitet,  ist  es  natür- 
lich klar,  dass  man  ihm  niclit  in  Allem  K'eclit  geben  wird,  was  aber  dem 
ganzen  sicherlich  nur  wenig  schadet.  Idi  glaube,  es  wiixl  nützlicli  sein, 
*  wenn  idi  hier  Einiges  davon  knrs  bertthre.  Ob  der  Kampf  des  Minnchens 
um  das  Weibclien  zur  Zeit  der  Brunst  so  allgemein  ist,  wie  Verfasser 
sagt,  ist  mir  sehr  fraglich,  ebenso  ob  durch  das  bunte  Federkleid,  Stimme 
u.  s.  w.  das  Weibchen  wirklich  gewonnen  werden  soll.  Vielmehr  scheint 
mir  hier  folgender  Causalnexus  näiier  liegend.  Durch  die  Brunst,  durch 
die  Reifung  nnd  Anhiufnnif  des  Sunens  wird  der  ganze  Stoffwechsel 
so  ge&ndert,  dass  als  AnsQiUB  derselben  anch  die  Vertndemngen  an  den 
Federn,  der  (Jesang  u.  s.w.  auftreten.  Letzterer  ist  also  nur  rein  secnndlr 
und  wahi-scheinlicli  auch  weniger  wichtig,  Jils  die  Energie  bei  der  sexu- 
ellen Annäherung,  die  durch  die  Brunst  erzeugt  wird  und  dem  Weibchen 
eventnell  als  soldie  imponirt 

Auch  möchte  ich  mich  dagegen  ausspredicn,  dass  Drillinge  ein  Hück- 
sdilagszeichen  sind.  Die  von  Vcrfa.'^ser  angeführten  ..obstetrischcn"  Ent- 
artungszeichen von  Larger  sind  zum  grossen  Theil  sicher  falsch,  wie  ich 
das  frUhei*  schon  in  einer  Kritik  besprach.  Ob  die  (irUnde,  warum  die  un- 
gesdilechtliche  m  die  geeehleehtliche  Fortpflanzung  überging,  wiriilieh  die  von 
Verfasser  angeführten  sind,  möchte  ich  nodi  in  dubio  stellen.  Das  letate: 
warum ?  ist  uns  sidier  unbekannt   Weismanns  Theorie  vom  ewigen 


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348 


KeimplMma  ist  auch  mir  sehr  sympathisch,  dagegen  ist  seine  Erkläinmg 
doroh  Determmanten,  Idea  11.B.V  äae  Mhr  gwehraabte  and  wird  wohl  Bur 

Yon  wenigen  ohne  weiteres  angenommen.  Aadi  idi  glaube  nicht,  dlM  in 
aDgemeinen  Vorlotzungen  vererblich  sind.  Aber  aus  Amerika  sind  so  massen- 
haft Fälle  von  .luden  ohne  Vorliaut  bei  «ler  (teburt  gemeldet,  d:ws  sidit  r 
kein  blosser  Zufall  vorliegt.  Man  kann  hier  aber  recht  wulii  auuelimen, 
daas  die  früh  vorgenonuneBO  Operation  aneli  die  io  nahegelegeneB  Keim« 
Zellen  beeinflussen  konnte.  Ob  ans  den  Negern  wifUioh  sicher  die  Mittel- 
länder  und  Nordcurop.^er  8tufenm.l8sig  hervorgingen,  wie  Verfasser  sagt, 
ob  die  ^alpine  Hiussv"  Mon^'^oloide  sind,  ist  wohl  kaum  bewiesen  oder  zu 
beweisen.  Bei  allen  solchen  Fragen  —  und  dies  gilt  noch  viel  mehr  von 
der  Herknnft  nnd  der  VerwandtBchaft  der  anegeBtorbeoen  Menaoheiiraaieo 
—  iat  immer  nui*  höclistena  von  einer  gewissen  Wahrseheinliehkeit  zu 
reden,  nie  von  einer  Siclierheit,  was  leider  nur  zu  oft  vergessen  ^^ird. 
Auch  über  die  anfrobiicbe  I'nveränderlichkeit  der  Indices  .sind  die  Aeten  noch 
lauge  nicht  geschlossen  und  hier  möchte  ich  auf  eine  wichtige  Uutersuchungs- 
meäode  hinweisen,  die  mir  gegenüber  der  Tentorbene,  ansgeaeidmete  An^ 
thropolog  Mies  henrorhob.  Er  meinte,  um  der  obigen  Frage  nflher  an 
kommen,  wäre  es  sehr  widitig,  die  Sefaftdel  in  Er)>grüftcn  zu  untersuchen, 
wo  also  mehrere,  genau  bekannte  Generationen  zusammenliegen  und  hier 
die  Ascendeuz  und  Desceudeuz  auf  die  Indices  hin  zu  prüfen,  was  bisher 
leider  noeh  nie  geschehen  wtre.  Besiehentlieh  der  Insncfct  haben  Peipers 
und  P6uot  -  Verfasser  erwihnt  sie  leider  nicht!  —  nachgewiesen,  dass 
die  Inzucht  bei  Menschen,  wenn  beide  Tlieile  gesund  sind,  unschndlicb  bt, 
.  da*«  ferner  viele  'I'abellen,  welche  die  Gefährlichkeit  daratellten,  ganz  ein- 
seitig waren.  Ob  aber  aucli  unter  obigen  Umständen  bei  Menschen  die 
Gonstitntionskraft  alhnihiieh  nachliaBt,  wie  Woltmann  es  sagt,  das  ist 
wohl  noch  nicht  bewiesen!  Anoh  ist  die  Theorie  der  PromisknitSt  noch 
lange  nicht  abgethan,  wie  Verfasser  mdnt;  ja  nacli  P  ^  n  0 1  und  Andwn 
sogar  viel  wahrscheinlicher,  als  die  ursprüngliclie  Monogamie.  Schon 
die  in  jedem  normalen  Manne  mehr  minder  latent 
steckenden  polygamen  Neigungen  sp  rechen  sehr  fllr  eine 
urspranglichePromisknitit  Ob  nicht  wirklich  einmal  Gynäko* 
kratie  gehen-scht  hat,  ist  wohl  immer  noch  zu  fragen,  üeber  den  EEfeot 
der  Kassenkreuzung  beim  >fenseben  wissen  wir  zw  wenig  Sicheres,  da  .sehr 
viele  Momente  hier  mit  einspielen.  Grösste  Vorsicht  ist  also  hier  zur  Zeit 
noeh  geboten.  Leider  erwihnt  Verfasser  wieder  das  Märchen  vom  scbid* 
liehen  Einflüsse  des  Zengnngsaetes  im  Rausehe.  Weder  er,  noch  irgend 
ein  Anderer  wii-d  mir  ein  absolut  .sicheres  Beispiel  hierfür  bringen,  ob- 
L'leich  ich  die  Möglichkeit  nicht  iHstivitc.  Aus  der  Literatur  kenne  ich 
keinen  beweisenden  Falll  \  erfasser  findet  es  gerechtfeitigt,  dass  man 
Keuschheit  mehr  von  der  FVan  als  vom  Manne  verlangt  Ich  bestreite 
dies  nnd  möchte  eher  das  Gegentheil  behaupten,  da  die  Fnn  der  schwiehere 
und  gewöhnlich  der  verführte  Theil  ist.  Die  Germanen  zu  des  Tacitus 
Zeiten  waren  wahrscheinlich,  tnifz  Woltmann,  schon  vermischt  und  den 
Angaben  von  Tacitus  ist  bekanntlich  nicht  immer  zu  trauen.  Woltmann 
nimmt  an,  dass  modernen  Staaten  in  allen  Kreisen  erblich  immer  mehr 
entarten.  Nun,  anch  darQber  lieese  sieh  wohl  rechten,  ebenso  wie  über 
die  Behauptung,  dass  die  Leistungsfähigkeit  der  Beamten  und  MOittn  ün 


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Besprecfanngen. 


S49 


KüekfjT.uifr  WefH'ifft'n  ist.  Erst  recht  ahcr,  wenn  die  Juden  ursjHiiii^lieh  als 
Ackerbauer,  Gärtner,  Krieger  iiiugeätellt  werden  und  ihre  Instinkte  erst 
umIi  der  Vertreibang  sieh  verftndeit  hitten.  Die  Juden  treten  uns  im  all* 
geraeinen  in  der  Hibel  nicht  als  besondere  Kriegshelden  entgegen  und  hatten 
ficlion  damals  den  nändichen  Charakter  wie  jetzt.  Sie  acliaehorten  und  über- 
listeten sieli  und  noch  mehr  die  Ciojims,  und  ihr  (.Jott  Jahwe  zeigt  deutlich 
jüdischen  Cliarakter.  Wegen  ihrer  Art  waren  die  Juden  schon  damals  allen 
Umwohnern  verhant,  aaeh  bei  ihren  Raasererwandten.  Das  sollte  man  niefat 
Torgessen ! 

Schon  aus  Obigem  eraieht  der  I^er,  was  für  hochinteressante  Themen 
in  Wctitmann's  Buche  abgehandelt  werden.  Hoffentlich  erfolgt  liald 
eine  zweite  Auflage,  am  liebsten  mit  Register,  das  jetzt  fehlt  und  vielleicht 
finden  einige  hier  erwälmte  Itritiiehe  Bemericangen  BerQeksiehtigimg. 


2. 

iiraunschweig,   Das    dritte    Geschlecht    (gleichgeschlechtliche  Liebe). 
Marhold,  Halle  1903,  1  Mk.    2.  vermehrte  Auflage.    63  8. 

Obiges  Bttdilein  habe  ich  schon  im  10.  Bd.  dieses  Arehivs  8.  802  be- 
«prochen.  Unterdess  ist  eine  2.,  etwas  vermehrte  Auflage  erschienen.  Leider 
liat  der  Verfasser  versäumt,  die  manchtflei  IrrthBmer,  die  ihm  die  Kritilc 
«ntgegenhielt,  zu  beseitigen.   


3. 

Schnitze,  l.  Wichtige  Entscheidungen  auf  dem  Gebiete  der  gerichtlichen 
Psychiatrie.   Marhold,  Halle  1902,  46  8.,  1  Mk.  —  2.  Entlaasang»- 
zwang  und  Alilehnung  oder  Wiederaufhebnng  der  Entmündigung. 
Marhold,  Halle  1903,  G3  S.,  0,80  Mk. 
Verfasser  bespricht  in  der  1.  Broschüre  die  für  den  l'svt  liiater  wich- 
tigsten Entscheidungen  aus  der  juristischen  Fachliteratur  des  Jahres  lUUl, 
und  zwar  das  Straf-,  Bürgerliche  Gesetzbuch,  die  Stiafprocessorduung,  Givil- 
liroeessordnung  und  das  Uandelsgesetsbnch  betreffend.   Wenn  der  Jurist 
daraus  natürlich  kaum  Neues  lernen  wird,  so  thut  es  um' so  mehr  der 
Psychiater,  und  eine   Meihe  v<>n  Entsclieidmigen  sind  für  ihn  geradezu 
frappant.    Man  sieht  daraus  wieder,  wie  uülliig  es  ist,  dass  Juristen  und 
Psyclüater  gewisse  Fragen  gemeinsam  erörtern  und  sich  so  gegenseitig 
fordern  und  besser  verstehen  lernen. 

In  der  2.  Arbeit  Wird  eine  schwierige,  auch  von  den  Gerichten  ver- 
schieden beliaiidelte  Frage  an  der  Hand  zaliheieher  eigener  oder  fremder 
Beispiele  und  auf  Grund  einer  Enquete  bestreichen.  Verfasser  zeigt,  dass 
nicht  jeder  Staatsanwalt  glaubt,  dass  Ablelmung  der  Entmündigung  das 
Fehlen  der  AnstaltsbedOrftig^dt  bedeutet ,  ebaiso,  dass  es  juristisdi  nodi 
nicht  sichergestellt  ist,  ob  ein  Pfleger  die  Enthissung  seines  noch  kranken 
rflegebefohlenen  verlangen  kann.  Zwang  der  Anstaltsbehandinng  ist  nach 
Verfasser  dann  ))crechtigt,  wenn  das  Interesse  des  Erkrankten  oder  dritter 
Personen  zum  mindesten  überwiegen.  Die  beste  Formulirung  der  Frage 
lautet  nach  ihm:  ^Ist  die  Gdstesstörung  des  dort  untergebrachten  X.  vor- 
■aussiehtlidi  unheilbar?  Wenn  ja,  hindert  sie  ihn,  seine  Angelegenheiten  su 


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350 


BeeprechnngeiL 


besorgen  ?*'  Mit  Hecht  verlangt  er,  doää  nur  ältere,  erfalireuere  Juriäteu  die 
Entmfindigung  vornehmeo.  Dem  Vemn,  worin  Verfasser  den  Vortrag  bidt^ 

empfahl  er  folgende  Resolution  zur  Annalime:  ,.Der  Verein  der  Imnlnte 

der  Rlieinprovinz  hält  die  Boatimmung,  nach  der  Kranke  nicht  mehr  gegen 
ihren  Willen  in  der  Anstalt  zurückbehalten  werden  dürfen,  wenn  ilire  Ent- 
mündigung abgelehnt  oder  wieder  aufgehoben  ist,  für  principiell  und  prak- 
tisch hOehst  bedenktieh.<< 


4. 

Möbius,  (M^chleeht  und  Knjjf^MOsse,    Heitrilge  zur  I>ehre  von  den  Ge- 
sHilcclits  Unterechieden,  Heft      Marlu.kl  Halle  1903,  47  S..  1  Mk. 

Verfasser  stellt  zunäclist  den  iiidit  neuen  Satz  voraus,  dass  der  Um- 
fang des  annäliernd  normal  geformten  Kopfes  im  Allgemeinen  mit  den 
geistigen  Krftften  wSdist  Unangenehm  bttührt  in  dieser  reinen  IMlettanten- 
arbeit  dabei  der  Ton,  den  er  den  berufenen  Anthropologen  gcgenüljer  an- 
schläfrt.  Jedenfalls  sind  die  (Jründe  z.  B.  dafür,  dass  Waldeyer  und 
Krause  den  Schädel  von  Ix^Hmitz  fxefunden  zu  haben  glauben,  sehr  viel 
besser  gegründete,  als  die  einfach  absiuechende  Kritik  von  M.  Wenn  der 
grosse  Ifensdi  einen  etwas  grössoen  Kopf  hat  als  der  kleine,  so  bat  er 
daftlr  meist  einen  relativ  kleineren.  NatUrlidi  luun  Varfasser  nicht  unter- 
lassen.  auf  seine  plirenolopschen  Ansichten  zu  sprechen  zu  kommen  und 
den  kleineren  Kopf  der  Frau  \er\vertet  er  implicite  für  ihren  „physiolofrischen 
Scliwaclisinn."  Dabei  hat  aber  die  Frau  zur  Körpergröase  gewiss  kaum 
dn  geringeres  Gdiim  als  der  Mann,  nnd  allein  anf  die  Gehirn grOsse  kommt 
es  nicht  an,  meine  ich.  Unerfindlich  ist  mir,  wie  der  Wille  mehr  ein  grosses 
Gehirn  verlangt  als  der  Intellekt.  Umjjekehrt  fiiulen  wir  oft  kleine  Leute 
mit  sicher  absolut  kleinerem  Gehirn  als  grösserere  recht  oft  mit  grosser 
Energie  begabt.  Zur  Kopfgrösse  genügt  der  Kopf  umfang  mit  liandmaass 
oder  dem  Oonformatenr  nicht  Verf.  giebt  die  Resultate  der  Maaase  von  600 
mehr  oder  minder  bedeutenden  MUnnem,  die  ihm  ein  bekannter  llutmacher 
geliefert  hat.  Die  meisten  waren  Kurzköpfe.  In  Mitteldeutschland  ist  die 
grosse  Mehrzahl  der  Hüte  5(i  —  57,5  gross.  Als  Durclischnitt  bei  den  sog. 
besseren  Ständen  fand  Yei"fasser  mit  dem  Bandmaass  57 — 58,  bei  50  „Damen" 
53,tö.  Es  ist  also  hier  ein  deutlicher  Unterschied  zwischen  Mann  und  FVau. 
Stets  ist  die  KörpergrOsse  von  der  Körperiänge  ziemlidi  nnabhftngig,  noch 
mehr  von  der  Ma.sse.  Also  ancli  diesen  Mf^bius  kann  man  nicld  ganz  ohne 
Widt'ircde  li'sen,  und  ohne  Ilieln'  reciits  oder  links  geht  es  bei  ihm  niclit 
al»,  was  ihm  schweriich  mehr  Freunde  erwerben  wird. 


5. 

Mendes-Martins,  Justa  def^sa  acerca  da  ,,Sodologia  criminal^.  Lisbo«) 

Tavares  Cardoso  \-  IrmAn  I9(>3.  79  S. 

Referent  hat  kürzlieh  über  das  hübsche  Werkchen  von  Verfa.sser  über 
kriminelle  Sociologie  beridilet.  V  orliegende  Schrift  ist  mehr  eine  Streitschrift, 
die  aber  trotzdem  auch  den  femer  Stehoidra  interesstft  Pirof.  Bombarda 
vertheidigt  schon  lange  den  Satz,  dass  es  eine  specifische  Gefängniss- 
psydiose  giebt  und  solche  allg^ein  ankommen  wflrde.  Im  I.  Teile  dieser 


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BnprecbuiigeD. 


351 


Sohrift  fflhrt  nun  der  erste  I^ychiater  Poitsgals:  de  Mattos,  Boinbard& 

ad  absurdum,  ilim  zoigond,  dass  heute  wolil  von  Niemandem  mehr  eine 
specifische  Gefänjniisspsycho.se  belmiiptet  wird.  Mondes- Martins  setzt 
sich  dann  gleiclifalls  mit  liumbarda  darüber  auseinander,  indem  er  zu- 
gNdi  das  RfBiiHat  der  Umfingen,  die  die  Kieht-Spedfidlit  besUUlgen,  nüt- 
fteflt  Sodann  wehrt  er  sich  wieder  und  oft  sehr  adiarf  gegen  Bom- 
bard a.s  Angriffe  auf  soin  Buch  tlber  kriminelle  Sncidogie.  Man  kann  ihm 
im  Alliroinein«'!!  überall  nur  Recht  geben.  Referent  bedauert  nur,  dass 
Verfasser  auch  jetzt  noch  alle  ii'ren  V'erbrecher  einer  Central-Anstalt  ftir 
loldie  fibergeben  mOehte,  ferner  die  monU  ioianity  Boeh  annfnimt,  dagegen 
die  Terminderte  ZnreehnnngBfiÜiigkeit  ablehnt. 


6. 

Uoche,  üeber  die  leichteren  Formen  des  periodischen  Irreseins.  iJalle  a.  S. 
1897,  Marfaold,  39  S. 

Wenn  obiges,  schon  vor  lingerer  Zeit  enchieoenes  Sehriftehen  dea 

Verfassers  jetzt  nodi  angezeigt  wini.  so  Hegt  das  daran,  daas  ea  gerade 
für  den  llichter  wichtig  ist,  zumal  es  überaus  klar  und  überzeugend  ge- 
schrit'lHii  ist,  und  auch  jetzt  noch  durchaus  dem  Standpunkt  der  Wissen- 
schaft entspricht.  Gerado  die  Icichtereu  Formen  des  periodischen  Irreseius^ 
▼on  denen  die  reinen  melaneholisehen  die  seltensten,  die  direnlftren  die 
häufigsten  sind,  werden  in  praxi  so  oft  übersehen,  kommen  meist  nicht  in 
Anstalten  und  können  trotzdem  den  Richter  beschäftigen.  Die  erbliche 
Belastung  spielt  tiberall  eine  sehr  wichtige  Itolle  und  schon  die  Kindlieit 
kann  die  kommenden  Dinge  anzeigen,  wenngleich  hier  periodische  l'sy- 
dKMen  adlir  selten  sind.  Sie  beghmeii  erst  in  äet  Pobertit,  bis  snm 
25.  Jahre.  Verf.  bespricht  dann  kurz  nnd  prSgnant  die  einzelnen  Ver- 
laufsweisen und  ihre  Variationen,  iliro  Diagnose,  Prognose  und  Therapie. 
8ehr  wielitig  ist  der  neue  \K  r  ilpeli  n  sehe)  Standpunkt,  d.iss  die  meisten 
Fülle  von  erstmaliger  Melancholie  und  Manie  der  Anfang  von  periodischer 
GeiateMtfimog  ^d.  FDr  den  praictisehen  Arst  sind  gerade  die  leichteren 
FUle  deshalb  wichtig,  weil  er  bei  richtiger  Erkenntniss  viel  für  Patienten 
machen  und  sein  ganzes  I^ben  entsprechend  regeln  kann.  Bei  kurzem  oder 
fehlendem  Intervalle  der  circulären  Form  ist  dauernde  Entmündigung  am 
Platze.  Bei  freien  Intervallen  aber  nicht,  eventuell  maclit  sich  ein  wieder- 
holtes Verfahren  nOthig.  Naeh  längerem  Beatehen  der  Krankheit  kann 
inteOeetaeOe  Absehwftchnng  eintreten. 


7. 

Baec k  e ,  Die  transitorischen  Bewusstseinastörungen  der  Epileptiker.  UaUea.& 

1903,  Marhold,  17S  S.,  ;i  Mk. 

£s  ist  sehr  verdienstlich  vom  Verfasser,  dass  er  150  Fälle  von  epilep- 
HidMB  tranaitoriBchett  BewnaatoeinaatGningen  bei  Epileptikem  der  Tübinger 
und  Kieler  Klinik  einer  adir  genauen  Prtlfung  unterzieht   Das  ist  audi 

der  beste  Weg,  um  solchen  ufer-  und  bodenlosen  Heliauptuntren  bezriirlich 
der  Epilepsie,  wie  sie  besonders  Lombroso  vertritt,  entgegenzuarbeiten. 
Von  solchen  acuten  Störungen  betrachtet  Verf.  den  classischen,  den  rudi- 
Mlr  Hb  lilafiMdaafhiopoloKi«.  XU.  24 


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352 


Befpreohnngvo, 


menttna  und  den  atypischen  Anfall,  die  Verwirrtheit  in  ihreo  Fmmen, 
die  paranoiden  Zustände,  die  T>äminer2ii»tände  mit  Z w an psim pulsen  und 
die  traurige,  rcsp.  heitere  \  eratiiumung.  Jedes  dieser  KranicheitAbilder  wird 
genau  beschrieben.  Allen  acuten  epileptischen  Pftychosen  gemeinsam  ist 
ein  yerlodarter  BemmlwiBiMmtamd ,  ▼on  der  venehiedenattti  Inteuitit 
Bei  der  epileptischen  Verwirrtlieit  zeigt  ridi  besondera  die  Merkffthigkeit 
vermindert  und  der  Gedankengang  springt  immer  ab,  wird  incohärent. 
Der  Affect  ist  weniger  betlieiligt,  als  die  Ass^iciationstliätigkeit.  Doch 
zeigen  sich  bisweilen  Angst  oder  Wath.  den  paranoiden  Formen  tritt 
die  AflM>oialioaHtOrong  geordneter  m  Fenn  tob  Waluiideen  anf.  Bei 
tranmbaften  Dümmerzuständen  sind  Hallndnation  und  Walinideeo  eelleo; 
Zwangsimpulse  dagegen  vorhanden.  Die  Erinnerung  ist  nach  einer  epilep- 
tischen Störung  meist  abgebrochen,  docli  giebt  es  hier  viele  Varietäten,  die 
forensifldi  widitig  sind.  Die  Dauer  der  epileptischen  Psychoee  Icann  von 
Minuten  bis  in  Tagen  und  Woehen  aieli  eretreeiran,  leiten  llnger.  Bii- 
weilen  entsteht  «ne  postepileptische  chronische  Pannoia.  HezQglich  der 
Diagnose  gilt  noch  heute  das  Wort  Si emerling's:  Ohne  epilep- 
tische resp.  epileptoide  Antecedentien  giebt  es  keine  epilep- 
tische Psychose.''  Als  sicherstes  Symptom  bat  ein  Krampf- 
anfaU  sn  dienen.  Diese  wichtige  Sduift  des  Verfsssen  sollte  jeder 
Siebter  und  Genchtsarzt  lesen  und  beherzigen.  Auch  wQrde  Lombroso 
daraus  viel  lernen  Icdnnen,  wenn  er  sich  nicht  aber  solche  YeUeitJlten  er« 
haben  fühlte! 


8. 

Anatole,  Unter  der  Herrschaft  der  Küthe.  Hamburg  1902,  Nissen.  (Auf 
dem  äusseren  Umschlage  steht:  1903,  2.  Aufl.),  117  S. 

Es  ist  ein  Zeichen  der  Zeit^  daas  jetzt  allerhand  sexuelle  picante  B&cher 
tttr  das  grosse  PnMienra  verOffentiidit  werden,  die  meisten  ncherlieh  über- 

flüssiger  Weise.  Von  obigem  Büchlein  möchte  ich  dies  aber  nicht  ganz 
behaupten.  Verfaaser  (Pseudonym?)  versichert  in  der  Von-ede,  dass  es  in 
Deutschlaad  ^Hunderttausende*^  von  Masochisten  und  Sadisten  giebt,  was 
Referent  ftt^ich  doch  sehr  bezweifehi  möchte.  Zuerst  wurd  ein  ziemlich 
emgehendes  Tagebuch  emes  an^equoehenen  IfasoehiBten  fak  seinem  fBr 
uns  so  fremden  GeschlechtsempHnden  veröffentlicht.  Ein  junger  Mann  tritt 
in  ein  Cit^acliäft  ein,  woselbst  er  sich  von  der  Inhaberin  bei  jedem  kleinsten 
Versehen  und  zwar  mit  eigener  Billigung,  peitschen  lässt,  was  ihm  grosse 
Befriedigung  gewährt,  obwohl  er  mdit  sagt,  dass  es  ihm  sexuelle  Be- 
friedigung verschafft  habe.  Hier  «npfindet  Aet  wohl  anch  ffie  BeitBeherin 
selbst  sol(  h< .  AngefOgt  sind  endlich  zwei  kleine,  kflnstlerisch  und  litera- 
risch unbedeutende  Novellen  Sacher-Masoch's:  1.  Amor  mit  dem 
Corpuralstuck  und  2.  Verkauft.  Beide  sind  Repräsentanten  des  Sadismus, 
die  swäte  wohl  aber  nur  schwadi.  CulturgeschichtUch  sind  sie  nicht  ohne 
Interesse.  Es  ist  fraglich,  ob  man  den  Zag  des  Oransamen,  der  so  oft 
namentlich  im  Weibe  ruht,  direct  als  Sadismus  bezeichnen  soll  oder  nidit 
Man  müfwte  dann  auch  oft  die  .  Wji.schlappifrkeit"  mancher  Mfinner,  die 
durchaus  zum  geordneten  Leben  einer  energi^jchen  Frau  bedürfen,  schon 
Masoclüsmus  nennen,  was  wohl  zu  weit  gegangen  erscheint.  Bemericen 


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BeepreohoogeiL 


858 


will  ieli  endlich,  dass  sieiier  ein  Theil  Maaochisten  und  Sadisten  so  ab  ovo 
geartet  sind,  wie  audi  die  echte  Uomoeexualität ,  dass  aber  bei  den 
Meisten  wohl  MaaoebiBmiiB  und  Sidfamnt  nor  Aniartongen  einer  abgelebten 
Seele  sind,  wenn  man  hier  nieht  etwa  tardiFB  Formen  annehmen  will,  wie 
bei  den  Homoaeinellen. 


b)  Btteherbespreohnngen  von  Oberarst  Dr.  Kellner. 

9. 

Burgl,  Die  £xLibitiouiäteu  vor  dem  Strafricliter.    Ailgem.  Zeitsciir.  f. 
F^yeb.  nnd  p8ych.-geri«htL  Mediein.   1903.  Bd.  60.  8.  119. 

Eine  Yerartfieilmig  Tdn  EzhÜHtioniBten  erfolgt  leichter  ab  die  anderer 

Beklagter,  weil  die  sittliche  Entrüstung  meiet  grösser,  eine  gewisse  Zweck- 
niäiiöigkeit  der  Handlung  nicht  zu  verkeniUHi,  ainnlnse  Betrunkenheit,  welche 
für  manche  heterogene  Vergehen  als  Entschuldigung'  gilt,  nicht  nachzuweisen 
ist.  Mehr  erfahrene  lÜchter,  weiche  neben  praktischer  Erfahrung  audi 
psycfaiatrisehe  Kenntnine  beeitsen,  eehen  in  den  Beldagten  dagegen  anor> 
male  Menschen  und  ordnen  eme  Expertise  an.  Verf.  bat  sicli  bei  den  fQr 
eine  solche  in  Betracht  kommenden  (ieaichtspunkten,  die  er  in  erschöpfender 
Weise  behandelt,  die  Frage  vorgelegt,  ob  die  Exhiltition  als  schwachsinnige, 
als  impulsive  oder  Triebhandlimg,  als  Zwangshandlung,  als  zufälhge  und 
fahrilMige  oder  als  „freigewollte  eines  geistig  gesimdh»  Memdien''  an»i- 
aehen  ist. 

Als  Folge  des  Schwachsinns  kommt  Exhibition  vor  bei  den  verschie- 
denen (j laden  der  Imbeoillität  sitwie  bei  der  senilen,  paralytisclien  und 
alkoholischen  Demenz  und  zwar  in  Folge  von  Abschwächuug  der  hemmenden 
aittfiehen  Gegenvoritellangen  bei  aezoellea  Erregungen,  beaonden  da  yiel* 
fach  in  solchen  Fällen  die  normale  sexuelle  Befriedigung  fehlt.  Leicht  ist 
die  Begutiichtung  bei  höheren  Schwachsinnsformen,  scliwienger  in  den  Fiilleu 
von  Debilität,  wenn  die  intellectnellen  Defecte  gegenüber  jenen  auf  ethi- 
schem und  ästhetischem  Gebiet  zurücktreten,  wie  z.B.  bei  den  erblich 
degenerativen  Psychopathien  und  dem  alkoholistiMhen  Sehwaehainn. 

Unter  impulsiven  Handlungen  versteht  man  solche,  bei  denen  pHNlfieh 
auftretende  Hamllungen  sich  mit  abnormer  Energie  in  Handlungen  um- 
setzen ohne  Uberhaupt  (iegen Vorstellungen  aufkommen  zu  lassen.  Zuweilen 
ist  die  Exhibition  mit  ausgesprocheuer  mit  der  Ausführung  weichender 
Angst,  xiweilen  aneh  mit  dirMter  Befriedigung  verbunden.  Diese  impul- 
aiven  Handlungen  kommen  vor  bei  krankhaften  Bewusstseinsstömngen  bei 
den  verschiedenartigen  fepilrptisclieu.  alkoholischen,  traninatisclK'n)  Dämmer- 
zuständen, bei  abnormer  Stimmungslage,  bei  gleichzeitiger  intellectueller 
Schwädie,  bei  Psychosen  und  bei  Entarteten.  Sind  die  Chai-aktere  der 
Dimmersuatlnde  —  brOakea  KInaetaen,  OrieothrongastOrnngen,  Hallneina* 
^nen,  eventuell  Angst,  Amnesie  —  vorhanden,  so  gewährt  die  Begut- 
achtung keine  Schwierigkeiten,  eher  dagegen,  wenn  einzelne,  scheinbar  be- 
absichtigte, zweckmässige  Handlungen  beobachtet  wurden  (Anruf»:n  der 
weibUchen  Fersou,  Flucht  vor  dem  Schutzmann),  oder  wenn  gar  die 
Amneaie  m  fehlen  aehefait  Es  mnas  aber  daran  erinnert  werden,  dam  die 
«beaonnenen'^  Haadlnngm  im  Dimmenuatand  oft  nur  die  Folge  emer 


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■ 


854  BMprednittgea. 

einseitig  concentrirten  Gedankenriclitunf;  sind  (ühorwortliij^e  Ideen),  und 
daes  in  solelieiu  zuweilen  weit  conipiicirteie  Handlungen  unternonmion 
werden.  Ob  mau  den  Richter  vom  Zutreffen  des  $  51  überzeugen  kauu^ 
wird  foiter  UoMtliiden  nmi  Theil  davon  abhängen,  ob  die  Handhmg  des 
Beklagten  besonders  heterogen  von  seinem  Obrigen  Leben  ist  and  ob  er 
glauliwürdig  erscheint,  besonders  b«  nur  partieller  Amnesie,  Wiclitijr  aber 
ist,  dass  das  Einfreständniss  des  Beklagten  noch  niclit»  beweist,  dasa  eine 
summarische  Ehnneiiing  vorhanden,  euie  anfänghehe,  gleich  nach  der  Thal 
YOibandene  apiter  schwinden  Innn,  oder  dass  ebe  Amnerie  anch  dnreh 
retrospeelive  Associationen  erginzt  zu  werden  yermag.  Deshalb  ist  es 
durchaus  noth wendig,  die  Aussagen  des  Beklagten  ebenso  wie  die  an  ihn 
gerichteten  Fragen  möglichst  wörtlich  im  Protokoll  wiederzugeben  und  man 
hüte  sich,  etwas  in  den  Beklagten  hineinzuexaminiren. 

Wichtig  sind  die  Dimmenntinde  bei  Personen,  welche  dnreh  Kopf- 
▼eiletzungen  eine  traumatiscb-pBycfaopathisehe  Constitution,  eine  Intoleranz 
gegen  Hitze,  Affecte  und  besondere  Alkohol  erworben  haben,  und  weldie 
schon  durch  kleine  Mengen  Alkohols  in  ranschartige  Zustilnde  geratlien  mit 
Hallucinationen,  Angstzuätänden  und  schweren  Affectstörungen  mit  der 
Keigung  ni  tifobartigen  Handlungen.  AndereneUs  vennag  sdion  eine  ge- 
ringe Attoholaufnahme  bei  chronischem  AOcohoUemus  sowohl  tranmartig 
veränderte  Bewusstseinszustände  ohne  gröbere  Störung  der  Gemttthslage 
sowie  habituell  auftretende  Dämmerzustände  hervorzubringen,  die  weder 
durch  Symptome  hochgradiger  Trunkenheit  noch  durch  auffallendes  Be- 
nehmen ebarakterUrt  sind,  sondern  sidi  nur  dnreh  eine  genaue  Anamnese 
nadiweiMn  lassen. 

Unter  Umständen  kann  ein  Anfall  periodischer  Manie  bei  hochgradig 
gesteigertem  Sexualtrieb  sich  in  exhibitionistischen  Handlungen  äussern. 
Immerhin  wird  es  hier  wiclitig  sein,  die  Entartung  nachzuweisen. 

Ab  Zwangshandlung  in  Folge  von  ZwangSTorstellungen  tritt  die  Es- 
lubition  auf,  beBonders  bei  sexuell  gesehwiditsn  (Onanie)  Neurastiiaukem. 
Das  exculph-ende  Moment  ist  vorhanden,  wenn  zur  Vorstellung  Unlust-  und 
Angstgefühle  hinzutreten,  welclie  zur  Entladung  zwingen.  Die  Zwangsan- 
triebe  sind  stets  Zeichen  einer  schweren  Degeneration  oder  kommen  vor 
im  Verlaufe  Ton  Bsyehosen. 

Als  zumUge  oder  fahrUasige  Handfamg  ist  die  Bzhibilion  nur  ge> 
legentlicli  Gegenstand  ärztlicher  Expertise. 

Burgl  untei-sclieidet  zwischen  Exhibition,  der  einmali«rr-n,  bei  Gesunden 
und  Kranken  vorkommenden  Handlung  und  dem  gewohuheitsmässigen  £nt- 
blOsaen  der  Genitalien,  dem  Exhibitionismus,  der  vorwiegend  bei  anormalen 
Personen  voricommt  Sowohl  der  Ort  wie  die  Oleidiarllgkeit  des  Vorgangs 
lassen  gewisse  Schlüsse  auf  den  Geisteszustand  des  Thäters  zu.  Ein  ge- 
Wühnheitsmiissiger  Exhihitionist  aus  krankhaften  Ui'snchcn  ist  als  gemein- 
gefäbrUcher  Menscli  zu  ei-aditen  und  —  sofern  die  Handlung  nicht  zu  selten 
▼<»lEommty  —  sn  intenuren. 


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B«>praehmigion. 


86S 


10. 

HeilbroBBer,  Ueber  Fuga»  und  FagaesniBtliide.  Jahrb.  f.  Psych.  Bd.  2S. 
Heft  1  und  2.  1903. 

Unter  Fugues  versteht  man  Zustüiule,  ia  wdchen  Leute  plötzlicli  ihr 
Domicil,  ihre  Thiltif^keit,  ihre  SteUnng  verlassen,  um  sich  län;>'oio  oder 
kürzere  Zeit  umherzatreibea.  Dieselbeu  sind  auch  als  Fälle  kraukhalteu 
Wandortriebei  besohrieben  und,  da  btnfig  fttr  die  betraffende  Zeit  Ep> 
imieningMtSrangen  bestehea,  meiit  den  epü^tiBeheo  Aequivalenten  la- 
gezählt  worden.  Heilbronner  hat  nun  in  einer  grösseren,  wegen  ihrer 
eingehenden  psychologischen  und  (lifferentialdiagnostischen  Beleuchtung  be- 
achtenswertben  iirbeit  57  (51  Mäuuer,  b  Frauen)  zum  Theil  aus  der  Lite- 
ratur ansammeiigHteUtey  zmn  Thdl  selbst  beobaehtete  ftlUe  nntentaeiit 
unter  besonderer  Wfirdigang  dniger  Symptome,  welche  aach  foreiuiscii 
von  lebhaftem  Interesse  sind.  Einen  grossen  Theil  dieser  Fälle  hat  man 
bisher,  wie  gesagt,  dem  Syraptomeneomplex  dfr  Epilfpsie  zutrezählt,  auch 
wenn  weitere  Zeiclieu  epileptisclier  Störung  fehlten  j  eine  solche  Auffassung 
hSlt  Heilbronner  aber  nidit  fttr  begrOndet,  aoeh  wenn  denffiehe  Be- 
wuntMinsstSningen  und  Amnesie  vorhanden  smd,  während  andere  epüep- 
tische  Kennzeichen  fehlen.  Nach  Ausschinas  jener  Fälle,  in  denen  aus- 
gesprochene psyrhisrhe  Störungen  von  längerer  Dauer  die  Fugueazuat.^nde 
Terorsaditeu,  konnte  nur  in  V&  ^^i*  übrigen  Fälle  ein  epileptisches 
Gmndleiden  mit  dniger  SidieriMit  angenommen  werden;  aüerdingB  boten 
aneb  diese  nnr  geringe  Unterschiede  gegenfliMr  jenen  nicht  epileptischer 
Natur.  Grosser  war  dagegen  die  Zalü  derer,  welche  hysterische  SjTn- 
ptome.  eine  gesteigerte  Suggeatibilität  u.  A.  darboten.  Die  grosse  Mehrzald 
luun  bei  Personen  vor,  welche  eine  krankhafte  Heactionsweise  auf 
irgendwelebe  gemfttiiliobe  Yerstimmuugen  anfwieaen,  sei  es 
dass  diese  antocbthon  entstanden  oder,  dass  sie  ihre  Ursache  m  irgend- 
weldien  zuweilen  nebenalchlichen  äusseren  Momenten  (Verweigerung  eines 
Wunsches,  Heimweh,  Furcht  vor  Strafe,  OeldsorLren  u.  dergl.i  hatten,  unter 
Umständen  auch  spontan  auftreten,  veranlasst  durch  irgeudwelciie  traum- 
haften llissdentangen.  Bei  weitarar  Untersnchnng  ergab  aich  femer,  dass 
die  meieten  dieser  Individnen  aneh  in  den  Zwisehenseiten 
zwischen  den  Fngues  nicht  als  ganz  vollwerthige  anzusehen 
waren,  djiss  viele  überhaupt  die  Symptome  einer  minderwerthigen  An- 
lage boten.  Ferner  konnte  nicht  selten  nachgewiesen  werden,  dass  dem 
ESntritI  der  Fugues  Zustände  Ton  Verstimmung,  versehlossenem  aber  reiz- 
barem Wesen  voranfgingen,  Symptome,  welche  in  iweifellrnften  Fillen  von 
diagnostischem  Werthe  sein  kannten.  Unter  UmsUnden  können  diese  Ver- 
stimmungen einen  epileptischen  Charakter  tragen,  aus  ihnen  aber  allein  auf 
ein  epüeptiäches  Grundleiden  zu  schhcsücn,  ist  falsch.  Von  anderer  Seite 
ist  die  Verwandtschaft  dieser  zeitweisen  Verstimmungen  mit  dipsomanischen 
Zaelladen  sdion  betont  worden.  —  Nicht  sdten  entwidcelt  siäi  ans  einem 
emmaligen  Fagnesaaatand  die  Tendenz  snm  Bstweiehen,  welche  dann  habi- 

taell  wird. 

Bei  der  Beurtheilung  der  Fälle  ist  es  notli wendig,  nicht  von  der  Sym- 
ptomatologie des  einzelnen  Anfalles  aaszugehen,  sondern  die  gesammte  Per- 
sönlichkeit nach  ilirer  atavistischen  nnd  individnellen  Veranlagung  nnd  Entwick- 


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866 


Bc^nradioiiKMU 


luiig  in  8  Auge  zu  fassen;  es  wird  sicli  dabei  zeigen,  das»  sich  häufifr  eine 
eigenartige  gemUtblicbe  Keaction  auch  in  anderer  Weise  findet,  die  auf 
dne  d^eoot^e  Anlage  hlnwebt  I>ie  Anknfipfnng  der  AnlUle  an 
äussere  Momente  ist  von  foreoabcber  Wichtigkeit  deshalb,  weil  das  Vor- 
handensein äusserer  Ursachen,  die  scheinliaro  ZwookniUssifrkeit  finer  Hand- 
lung (Flucht  vor  Strafe,  Desertion)  so  leicht  gegen  da»  liestohen  {^eistifrer 
Störung  eiuuimuit.  Erinnemngsdefecte  für  die  Zeit  des  Fugueszustandes 
bestehen  zwar  hlofig,  Bind  i£er  nieht  nnbedingtee  Erfordenfn  fOr  die 
positive  Begatachtang.  Aneb  ist  es  falsch,  zu  scfaliessen,  dass  wo  Amnesie 
herrscht,  Bewnsstseinsstöninf?  wJihrend  des  Anfalles  bestanden  habe.  Anderer- 
seits braucht  eine  behauptete  retrograde  Amnesie  (hucliaus  nicht  auf 
Simulation  hinzuweisen.  Untersclüede  in  der  Erinnerungsstörung  bei  epilep- 
tisdien  mid  hysteriaeliett  Fugnesinstlnden  Kessen  sieb  nldit  nidiweiMn  md 
$bnd  deslialb  oicbt  differential-diagneetiseh  Terwertfabar. 


11. 

Bolte»  Ueber  einige  Fälle  von  Simulation.  Allgem.  Zeitschr.  f.  FSycbialrie 

und  psyeh.-gericlitl.  Medicin.    Bd.  60.  S.  47.  1003. 

Fälle  von  Simulation  geistiger  Störung  sind  im  Allgemeinen  bei  uns 
nicht  sehr  häufig,  besonders  wenn  die  Simulation  längere  Zeit  mit  Erfolg 
dnrehgefllbrt  wurde  oder  gar  rar  angestrebten  Eienlpimng  wegen  Geistee- 
störung fttbrte.  Von  dm  durch  Bolte  hier  mitgetheilten  6  FäUen  war  es 
drei  Personen  gelungen,  mit  Erfolg'  schon  früher  CJeistesst^^ning  zu  simn- 
liren,  Bolte  betont  mit  Recht,  dass  die  klinischen  Er8cheiniin<ren  besonders 
bei  der  scheinbar  sich  widerspreclienden  und  oftmals  bizarren  Sympto- 
matologie det  hebq|>hreniBelien  Fonnen  nieht  selten  anf  die  Dkgnoee  der 
Simulation  hinweisen  müssen,  znmal  wenn  eine  eingehende  Anamnese  fehlt, 
deren  Fehlen  andererseits  aber  wiederum  für  die  Beleuchtung  wirklicher 
Simulanten  als  P'sycliopathen  werthvoil  ist.  Von  den  6  Simulanten  Bolte's 
sind  4  sicher  Gewohnheitsverbrecher,  2  von  diesen  sind  ausgesprochene 
Psychopatfaen,  von  denen  der  eine  ohne  genügenden  Gmnd  einen  Selbstmord 
versnobte;  nnr  bei  2  von  ihnen  fdlen  dentUdie  Zeichen  (1>  r  Degeneration; 
bei  1  unter  6  ist  mitgetheilt,  dass  er  einen  epileptisclien  Bruder  besitze. 
Kiclit  ohne  Interesse  ist,  dass  dieser  seine  Taschendiebstähle  mit  dem  un- 
widerstehlichen Trieb,  Damen  au  die  GenitaUeu  zu  greifen,  entschuldigte. 
Wenn  anch  ausgesprodiene  Fqrdiosen  bei  diesen  6  Fftllen  nicht  naeh- 
zuweisen  waren,  so  geht  doeh  ans  dem  kurz  mitgethallen  Lebenslauf  hervor, 
dass  ein  Theil  von  ihnen  zwar  raffinirte  aber  moralisch  defecte  Mensclien 
waren.  IHe  auch  hier  beobaclitete  Thatsache,  dass  unter  den  Simulanten 
viele  psychisch  nidit  intacte  Personen  sind,  legt  beim  Verdacht  der  Simu- 
latifm  äe  NOthigung  auf,  anf  die  ErgrQndung  der  Anamnese  d  h.  der 
antfaropologisehen  wie  individuellen  Entwicklung  besonderes  Gewicht  za 
legen;  es  werden  sich  dann  fälschliche  Begutachtungen,  sei  es  im  positiven 
oder  negativen  Sinne,  eher  vermeiden  lassen.  Es  ist  bedauerlich,  dass  wir 
Uber  das  Verhalten  des  Körpergewichts,  das  nicht  selten  einen  Fingerzeig 
zu  geben  vermag,  hier  nidits  erfidirett« 


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BcqjHrechuQgen. 


857 


e)  BUcherbespreehnngen  von  Dr.  Mattbaes,  Hnbert.uBbnrg. 

12, 

Diebstahl  im  DimmerEvstand.  Von  Dr.  Ednard  Knndt  in  Deggen* 
dorf  (FViedraicirs  Blätter  fflr  geiichtlidie  Median  und  SanitätepoUiei, 

53.  .Tahrgang,  Heft  3,  4). 
Eine  36  Jahre  alte  Söldnerseliefrau  war  nirlirfacl»  wp«ren  Dieltstalils 
m  Gefängnissstrafen  verurtlieilt  und  als  raffinirte  Gewohnheitsverbreclierin 
beiNclinet  worden,  bis  ihr  Vertbeidiger  bei  dem  letzten  Male  die  ärztliche 
Untenadiiing  voiseidng,  da  rie  an  Epileprie  leide  ond  b«  einem  Anfalle 
in  teinem  Bureau  die  Taschen  der  hemnihängenden  Kleider  untersuchte. 
Es  wurdo  BpoliaohtiinfT  in  der  Irrenanstalt  angeordnet  und  hier  constatirt^ 
dass  die  l>etreff('nde  Frau  an  Epilepsie  litt:  in  den  Anfällen  wurden  com- 
pUcirte  Handlungen,  wie  das  Forttragen  von  Gegenständen,  ausgeführt, 
unter  anderem  hatte  ne  am  Veriumdlongstage  zwei  AnflUle  ron  Bemutt- 
seinsstörung  ohne  deutliche  KrampferBcheinungen ,  in  deren  einem  tte  dem 
Arzte  die  Uhr  aus  der  Tasche  7J>^  und  sie  unter  starkem  Zerren  an  der 
Kette  an  sich  zu  nehmen  suchte.  Das  (hitaehten  hielt  die  Voraussetzunjrcn 
des  §  51  des  Strafgesetzbuches  für  gegeben  und  es  wurde  die  Augeklagte 
freigesproehen.  Das  Intercmante  an  dem  beediri^Mmen  Falle,  welcher 
wiedenim  sdilagend  die  grosse  forenae  Bedeutung  der  epfleptisclien  Zustinde 
beweist,  ist  das,  dass  eine  an  Epilepsie  leidende  Person  wepren  der  in  ihren 
Dämmerzuständen  bc^'an<reneii  Entwendungen  für  eine  raffiuirte  Gewohn- 
heitsdiebin gelialten  wurde. 


d)  Bflcherbespreehnngen  Ton  Ernst  Lohsing. 

13. 

1.  Die  Antiduellbewegung.    Kiitisch  beleuchtet  mit  einem  Blick  auf 

MOrchingen,  Insterborg,  Jena  nnd  Springe.  Von  A.  von  Bogns- 
lawski,  GeneralUentenant  z.  D.  Berlin,  Verlagsbuchhandlang  Alfred 
Schall,  König],  preussischer  und  Herzogt,  bayriseher  Hofboefahindler 

(1902,  ohne  Jahreszahl,  59  Seiten). 

2.  Für  den  Zweikampf.    Eine  Studie  von   Kurt  Graeser.  Berlin 

SW.  19.  Hermann  Walther,  Veriagsbuclihandlung,  G.  m.  b.  H.  1902 
(72  Seiten). 

3.  Die  Verbesserung  des  Ehrensehutzes.  Bmcfate,  erstattet  der 

constituirenden  Generalversammlung  der  allgemeinen  Anti-Duell-Liga 
für  Oesterreich  von  Dr.  Franz  Klein,  Sectionschef  im  K.  K.  .lustiz- 
njinisterium,  und  Dr.  Heinrich  Lammasch,  <».  <>.  T'nivei-sitäts- 
Professor,  ilit  einem  Anhange :  Bericht  über  die  constiluireude  Geueral- 
vemunmlnng  nnd  Statut  fOr  den  Ehrenrath.  Wien  1903.  Ifanz^sdie 
K.  n.  K.  Hof'Veilags-  und  Univenitätsbucfahandlung  (110  Seiten), 

4.  Der  Mino  taut  der  „Ehre''.    Studie  zur  Antiduellbew^^g  ond 

DuellUii^e.  Von  Heinrich  Graf  Coudenhove,  Dr.  jur.  et  phiL 
Berlin,  S.  Calvarj'  &  Co.  1902  (89  Seiten). 


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1 


358  BesprechuDgeo. 

Eine  Schrift  ans  der  Feder  von  BogiiBlavski's,  die  bot  DaeUfrage 

und  Äntiduellbewegun^  Stellung  nimmt,  bleibt  immeriiin,  wie  man  auch 
über  das  Duoll  als  skIpIips  denken  mag,  ein  interassanter  Keitrag  zur  Zeit- 
geschichte. GcueraUicutcnant  von  liogus  1  awsk i  hat  in  dieser  Frage  be- 
reits zu  wiederiiolten  Malen  das  Wort  ergriffen.  Trotzdem  m  bei  ihm 
yennOge  eeinee  Standes  von  vomheran  läur  ist,  an  weldier  Anaidit  er 
sich  bekennt,  Ivann  ihm  doch  das  Zengniss  nicht  versagt  werden,  dass  er 
in  militärisrhon  Dingen  ein  sachlicher  Beobachter  ist,  der  nicht  nur  das 
Pro,  Sdiuleni  aucli  das  Contra  seines  Standpunktes  reiflich  erwägt.  Von 
dnem  seiner  heftigsten  Gegner  ist  er  „ein  sehr  lienrorragender,  vieUeieht 
der  herverragendite  HilttinofariltoteUer  unserer  Tage"  genannt  worden  (t^. 
Bleibtreu,  Kriegstheorie  und  PMude,  S.  30  .  Was  die  vorliegende  Sdirift 
betrifft,  enthält  sie  lediglich  eine  Auseinandersetzung  mit  seinen  Gegnern. 
Abg^ehen  von  einer  Kritik  der  vier  im  Titel  genannten  Ehrenangelegen- 
h«ten  bringt  sie  nicht  viel  neues  Material ;  sie  ist  vielmehr  ein  Supplemont 
zu  denelbeD  VerfasBerB  Sehrift  „Die  Ehre  und  das  Duell'*,  auf  wekhe  aueh 
vidlaoh  Besag  genommen  wird.  Dennoch  seien  im  Einielnen  einige  Be- 
meriomgea  gestattet.  Auf  Seite  4  wird  bestritten,  dass  Männer  gegen  ihre 
üeberzengnng  zur  Duell waffe  greifen;  deuigogenQber  sei  festgestellt,  dass 
diesfalls  von  Boguslawski  sich  in  Irrthum  befindet;  es  sei  nur  auf  den 
düeh  eine  Antiduellsehrift  bekannten  Wiener  AdveiwteB  Dr.  Ritter  Ton 
Ofen  heim  verwiesen,  der  trotzdem  auf  einige  Ehrenaffairen  znrfldcblicken 
kann.  Referent  könnte  auf  Wunsch  noch  andere  Fälle  mittheilen.  Wenn 
von  Boguslawski  den  Zusammenhang  zwisclieu  gericlitlicliem  Zweikampf 
und  beutigem  Duell  in  der  Weise  darzuthuu  sucht,  dass  er  in  der  Beschul- 
digung der  widemditüdien  Besitsnahme  eines  Gutes  andi  eine  Beschimpfniig 
des  guten  Rufes  erblickt  (S.  7),  so  scheint  er  daran  ganz  zu  vergessen,  dass 
hier  gerade  ein  Kampf  mit  einem  nach  heutigen  Begriffen  Satisfaktionsun- 
fähigen  vorliegt,  welcher  daher  uiclit  zur  Begründung  des  augcbliclj  ger- 
manischen Ursprungs  des  Duells  herangezogen  werden  kann.  Schliesslich 
▼ermissen  wir  jegüehe  Consequens,  wenn  auf  8.  13  das  Duell  als  geeignelies 
Mittel  in  Ehebrudisangelegenheiten  besdchnet,  strenge  Kritik  an  dem  Fni- 
spniche  eines  Ehemannes,  der  den  in  flagranti  ertappten  Xel)enbuhler  er- 
schiesst,  geübt,  auf  S.  22  mit  den  in  Frankreich  erfolgenden  FreisprQchen 
von  Duellanten  sympathisirt  und  schliesslich  auf  S.  4 S  ein  das  Duell  perhor- 
resourender  und  dag^en  die  Obrigkeit  anrufender  Fsstw  auf  das  Strafgcsets 
▼erwiesen  wird,  welches  das  Duell  verbietet. 

Einen  im  Wesentlichen  gleichen  Standpunkt  wie  von  Boguslawski 
nimmt  Ciraeser  ein;  nur  ist  er  mehr  Idealist  als  Forscher.  Seine  Abhand- 
lung ist  mit  flammender  Begeisterung  geschrieben  und  in  jungen  Herzen 
dttrfte  «e  andi  sllnden.  Seine  Ansiditen  Aber  den  B^riff  des  ZwtSkuagim, 
der  Ehre,  des  Ehrenschutzes  u.  s.  w.  decken  sich  mit  denen  der  anderoi 
D u oll vei-f echter:  nur  dass  bei  ihm  stets  ein  gutes  Stück  Idealismus  mit  im 
Spiele  ist.  Am  meisten  äussert  sich  dieser  darin,  wenn  Graeser  das 
Argument  der  Duellgegiier,  der  Zweikampf  sei  ein  Privileg  bevorzugter 
dtftnde  und  passe  sefaon  ans  diesem  Qmnde  nieht  in  die  Struktur  unserer 
Zeit,  damit  zu  widerlegen  sucht,  dass  man  dadurch,  dass  man  sich  bereit 
«rklärt,  .ledem,  insofern  nur  seine  Ehre  unbefleckt  ist,  .,r>t'iiugthuung  zu 
^ebeu"^  „dem  albernen  Gescliwätz  von  einem  »ZweikampfprivUeg  der  be* 


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Bfiipraohttugen. 


369 


von-echteten  Klassen«''  jeden  Boden  entzieht  Ciraeser  vergisst  eben, 
d»  die  Dinge  in  WirkHoiikeit  anders  Hegen.  Aneh  seine  Ptiramption, 
jeden  solange  für  einen  Duellfreund  zu  halten «  fOr  ein  Mitglied  der  «still- 
schweigenden (!)  (ienosaenschaft  der  Duellfreunde'*  anzusehen,  so  lange 
nicht  eine  gegen tli ei li-re  Acusserung  vorliegt ,  dürfte  aus  dem  bereits  oben 
erwähnten  Grunde  uiuuueffend  sein.  Wenngleich  auch  diese  Öchrift  nichts 
wesentUeli  Neues  bringt,  so  hat  sie  dooh  yor  anderen  den  Vorzug,  dass 
die  in  ihr  zum  Auadmelte  gebrachte  Ansidit  in  Qoas  und  Form  dargebotsa 
wu"d:  leider  muss  hier  eine  Einschränkung  gcinadit  werden.  Graeser 
beruft  sich  auf  -Fi  cht  e  s  bekanntes  Wort:  Niclitswtinlig  ist  die  Nation, 
die  nicht  ihr  Alles  einsetzt  für  iiue  Ehre*'.  Nun  denn,  wer  so  für  den 
Gedanken  des  DeatsehÜmms  begeistert  ist,  wie  Oraeser,  sollte  deeli  wissen, 
dass  die  Worte  Nichtswürdig  ist  die  Nation,  die  nicht  ihr  Alles  freadig 
setzt  an  ihre  Ehre"  von  Schiller  (Jungfrau,  I,  5)  herrühren.  Nicht  un- 
erwähnt soll  das  Verdienst  der  Verhigsbuchhandlung  bleiben ,  die  die 
Graeser'sche  Schrift  mit  einer  prachtvollen  Umscblagszeichnung  er- 
scheinen liess. 

Eine  ganz  besondere  Stellung  unter  allen  bisher  enehienenen  Sebrifteni 
welche  sich  mit  der  Duellfrage  befassen,  nimmt  ^Die  Verbeesemng  des 
Ehrenschutzes''  ein.  Alles  Historische  ist  so  ziemlich  bei  Seite  geblieben 
und  auf  die  künftige  Gestaltung  der  Dinge  haben  Lammasch  und  Klein 
hanptslehlieh  ihr  Angenmeric  gelenkt  £  der  Ihat  ist  niemand  mehr  be- 
rafen,  in  Oesterreich  eui  Wort  de  lege  ferenda  zu  sprechen  als  Lam- 
masch, der  Mitarbeiter  am  künftigen  Osterreicliisdien  Strafgesetzbuch,  und 
Klein,  der  Leiter  der  legislativen  Section  des  österreichischen  Justiz- 
ministeriums. Lammasch  formolirt  seine  Forderungen  zur  Verbesserung 
des  Ehrensehntaes  in  11  Thesen,  wekhe  er  in  nngemein  saehlidier  Weise 
begründet.  In  Vielem  wird  ihm  denn  auch  rückhaltlos  zogeetimmt  werden, 
80  z.  B.  in  der  Forderung  nach  strengerer  Strafdrohung  insbesondere  in  den 
Fällen  voi-sätzliclier  Ueleidigung,  in  der  Forderung,  die  derzeit  nur  polizei- 
lich stiafijaren  nicht  öffentlich  oder  nicht  vor  mehreren  Leuten  erfolgten 
Besehimpfungen  nnd  Ifisshandlongen  in  den  Züstindigkätsberdch  der  Oe* 
richte  zu  ziehen,  in  der  Forderung  nacli  Strafdrohnng  des  Vorwarf»  der 
Zweikampfsunterlassung,  bez.  Zweikampfsverweigerung  und Official Verfolgung 
dieses  Delikts.  Allein  Lammuscii  stellt  auch  Postulate  auf,  gegen  welche 
gewichtige  Bedenken  zu  sprechen  scheinen.  Hierher  gehört  wohl  zunächst 
Sehl  Vorschlagi  Ehrenbeleidigungen  im  engem  Sinne  des  Mmeiehisehen 
StrafgesetxbndieB  anf  Wunsch  (auch  nur)  einer  Partei  hOher  qnalificnien 
Einzehichtem  —  als  solche  hat  er  die  Bezirksnchter  am  IStse  des  Gerichts- 
hofs im  Ange  —  zuzuweisen.  Es  ist  sehr  fraghch,  ob  die  gesetzliche  De- 
elaiirung  der  Minderwerthigkeit  der  Strafrechts-  gegenüber  der  Frivatrechts- 
pflege  am  Platze  war  („Adjnneten  kann  das  sänmrecht  in  CSvilsaohen 
nicht  übertragen  werden'*,  §  30  Ger.-Org.-Ges.);  aber  es  wSre  nnseres 
Erachtens  der  ärgste  Missgriff,  wenn  man  die  Bezirksricliter  in  Gerichts- 
hofsorten höher  stellen  wollte  als  ihre  Collegen  ausserhalb  solcher  Orte, 
indem  man  letzteren  gewisse  Beleidigungasachen  entzieht  Es  könnte  zu 
einer  grossen  Ersehatterong  der  Beehtssfeherheit  flihren,  wenn  das  Volk 
sagen  sollte:  Solch  ein  Richter  ist  dooh  weniger  als  einer  in  der  KfeiB> 
geriefatsstadt  Und  dämm  sehemt  es  nns  nur  winsehenswerÄ,  dass  jegliehe 


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360 


Bo^>rechuiigcn. 


Differenzirung  zwischeu  iStudt  uud  l^d  im  Kichteiätaud  vermieden  werde. 
Aber  andi  ein  anderer  Vondilag  Ton  Lammaseb  hat  sdne  SdiattenBetten. 
Er  teblS^t  nämlich  ror,  bei  Ehrenbeleidi^ng  i.  e.  S.  die  Anrufung  des 
eben  erwähnten  höher  quaHficirton  Einzehichters  in  das  Beheben  des  An- 
klägers oder  des  Angei<Iagten  zu  stellen,  hei  SohinRhunfren  (§  49H  österr. 
St-G.)  die  DevolviiuDg  der  fciache  vom  Einzcirichter  au  ein  i^iuit  Zuziehung 
des  Laienelementes  m  bildendet)  Collegialgericfat  ledigfish  Tom  AnUlger 
abhftngig  zu  machen.  Darin  scheinen  mehrere  Gefahren  zu  liegen;  ist  an 
sich  die  .Tudicatnr  in  Ueberfretunp^fällen  bei  weitem  nicht  so  einlieitlicli 
wie  die  in  andern  Strafsachen  —  dies  aus  dem  Grunde,  weil  es  an  einer 
eiiilieitiichen  höchsten  Instanz  feidt  — ,  so  wäre  es  geradezu  eine  Reformatio 
in  pejoS)  wenn  die  Wahl  der  ersten  Inatans  mehr  minder  in  das  ErraeaMn 
der  Parteien  gestellt  würde.  Dadnreh  würde  einer  Dec^ntralisining  der 
Strafrechtspflege  Vorschub  ^releistet.  es  würde  dadurch  aber  auch  dem  Straf- 
verfahren in  gewissem  Sinne  der  ("liarakter  des  .his  cogens  benommen, 
was  bei  einem  Jus  publicum  ausgesprocliener  Natur  nicht  rathsam  scheint. 
Was  gar  das  lediglich  dem  Ankläger  rastehende  Beefat  der  Derolntion 
an  ein  Cnllegialgericiit  anlangt,  läge  hier  eine  Yerletsnng  der  als  eine  der 
höclisten  Errungenschaft  des  refoi-mirten  Strafprozesses  gepriesenen  l'arteien- 
gleichstellung  vor;  ob  sich  ein  denu'tiger  Schritt  empfiehlt,  scheint  uns 
zweifelhaft  zu  sein.  —  Klein  befasst  sich  in  geistreidier  Weise  mit  der 
Idee  der  Eanengericfata  Sehe  Anaftthningen  sind  nnttreitig  das  Beste, 
was  über  diesen  Gegenstand  bis  jetzt  in  deutscher  Sprache  geschrieben 
wurde,  ganz  abgesehen  davon,  dass  sie  sich  nicht  in  allgemeinen  Rede- 
wendungen halten,  sondern  positive  Voi-schliige  in  Gestalt  eines  legislativ 
geradezu  meisterhaft  durchdachten  Ehrenrathstatuts  bringen,  in  welchem 
sieh  an  mehr  als  einer  Stelle  der  geniale  Sehdpfer  der  neuen  OsterreicfaischeD 
Civilprocessreform  TentÜi;  letzterea  gilt  insbesondere  von  der  Tendenz,  stets 
Vergleichsversuche  zu  unternehmen  und  so  den  Hichterspruch  als  die  ultima 
ratio  erscheinen  zu  lassen.  De  lege  lata  wiirc  nur  zu  bedenken,  ob  eine 
von  vornherein  gegebene  Verziciiterklärung,  die  Ehrenrathsmitgüeder  aus 
ihrem  Spruche  nicht  strafrechtlldi  zur  Verantwortung  zu  ziehen,  für  die 
Parteien  verpflichtend  und  für  den  staathchen  Richter  maassgslMBd  kt 
Nach  der  St.  P.  0.  ist  lediglich  der  (faktische  oder  durch  die  praesnmptio 
juris  actio  jure  des  §  4(5  fingirte)  Rücktritt  von  der  lVivatankla;;e  für  den 
Richter  bindend;  ein  Rücktiitt  von  der  Anklage  hegt  aucJi  dann  vor,  wenn 
es  zu  einem  Vergieiobe  kommt  Nicht  berechtigt  zur  Anklage  ist  der  Be- 
leidigte nach  $  530  St.-0.  abgeselien  von  den  Fällen  der  Präklusion  und 
der  VorjUhnmg  dann,  „wenn  er  die  ihm  bekannt  gewordene  .strafbare 
Handlung  ausdrücklich  verzeiht".  Aber  eine  Erklärung,  eine  etwa  erst 
erfolgende  Beleidigung  stiafgerichtlich  nicht  zu  verfolgen,  mag  wohl  mora- 
lisdi  verplliditen,  juristisch  ist  sie  jedooli  argumento  e  contrario  des 
§  530  St-G.  farelevant.  —  Ist  auch  in  der  Schrift  von  Klein  und 
Lammasch  direct  vom  Wesen  ilcs  Zweik.impfes  nicht  die  Rede,  .so  sind 
doch  hier  mit  der  Duellfraao  \  •  rw  andte  Angelegenheiten  behandelt  und  die 
Mittel  angegeben,  mit  denen  das  Duell  bekämpft  werden  soll.  Die  miUtä- 
risdien  Vwhftltnisse  sind  leider  nur  wenig  berScksiclitigt  worden.  Mag 
auch  hie  und  da  noch  darüber  gestritten  werden,  ob  inneriialb  oder  ausser* 
halb  der  bewaffneten  Macht  mit  der  Aatiduellbewegung  der  Anfeng  zu 


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861 


machen  ist,  s<t  kann  diese  Frage  doch  nicht  im  Mindesten  zweifelhaft  sein 
in  Anbetracht  der  KrwäguDg,  dsm  für  die  Civilperson  eine  ablehnende 
HaUong  in  Daeflangelegenhcitan  von  sociale  Folgen  begldtet  sein  kann,  fOr 
die  Militärpereon  jedoeli  nicht  nur  von  socialen,  sondern  von  (wenn  auch 
in  merito  bestreitbaren,  so  docli  in  fomiali  wirkhch  vorhandenen)  rechtlichen 
Consequenzen  l)jglcii('t  ist;  denn  dass  ein  officiersehrenrälhb'cher  Spruch 
fonualisirtes  lieclit  auch  dann  schafft,  wenn  er  in  meritorischer  Uinsiciit 
vidleidit  mit  den  Beetimmmigen  des  IfiKtlntrafgeeeteee  nfciit  in  Eänlchmg 
zn  bringen  ist,  lässt  sich  bei  der  gegen wärtipen  I^ge  der  Dinge  schlecliter- 
dings  nicht  in  Abrede  stellen.  Aber  ininierliin  bedeutet  die  Gründung  der 
AntiduelUiga  für  0(^teneieh  einen  moralischen  Ei-folg:  denn  sie  ist  eine 
Vereinigung  von  Männern,  weichen  man  aucli  für  den  Fall,  daäs  sie  eine 
Fordemng  snm  Zweikampfe  nbleimen  eoOteB,  Ehre  nicht  abspreclMB  kann. 
In  dieser  Hinnelit  itt  sweifelsohne  ein  grosBea  Btftck  pmitiTer  Arbeit  ge* 
leistet :  verba  movent,  exempla  trahunt. 

^Vährend  die  Schrift  von  Klein  und  liaromasch  die  Duellfrage 
mehr  vom  prophylaktischen  Staudpuukte  behandelt,  geht  Graf  Couden- 
hove  mit  icfaien  Ansftthmngen  anf  das  Wesen  des  Zweücampfes  und 
seine  Bedehangen  zum  Ehrbegriffe  ein.  Zum  Unterschiede  von  anderen 
Duellgegnern  steht  bei  ihm  die  psychologische  Seite  der  Duellfrage 
im  Vordergrund  der  mitunter  recht  lebhaften ,  stets  aber  im  (intsscn  und 
Gan2en  treffenden  Discussion;  historische  Momente  haben  in  lediglicii 
snbsidilrer  Weise  Beaehtnng  gefunden.  Was  wir  von  voniherein  nni 
ganz  aufrichtig  zu  sein  —  an  dem  Bnebe  ansnsetzen  hatten,  war  der 
Titel,  der  sich  scheinb.nr  etwas  pompös  ausnimmt;  aber  nur  sclieinbar. 
Die  Sachlage  hätte  (iraf  Coudenhove  nicht  besser  cbarakterisiren 
können  als  mit  der  Bezeichnung  „Der  Minotaur  der  «^Ehre»*^.  In  Uester- 
rdeh,  beaonden  in  Böhmen,  hat  diese  Sehrift  aneh  vermöge  der 
sönlichkeit  ihres  Verfassers  lebhaftes  Interesse  gefunden.  Dr.  jnr.  et  plui. 
Graf  Cftudenhove  ist  ein  Vetter  des  Sfatfli.dtere  von  Böhmen,  Exc. 
Karl  Graf  Coudenliove.  der  vermöge  (!eburt  und  Hang  zn  den  maass- 
gebendsten  Persönlichkeiten  Üeälerreichs  zählt  und  es  trotz  mitunter  recht 
schwierigen  VerhIltnisBen  dnroh  sdne  objective  Gesfamnng  verstanden  hat, 
das  grOsste  Verwaltungsgebiet  Kui  ipas  im  Sinne  v«^altangstechnischen 
Fortsehrittes  mit  den  besten  Erf(»li:rii  zu  leiten.  Da  eiregte  es  begreif- 
licher Weise  grosses  Interesse,  als  mh-  3  .lahren  sein  Vetter,  nachdem  er 
dem  diplomatischen  Dienste  entsagt  hatte,  zum  ersten  Mal  öffentlich  an 
die  Kritik  von  Zeitfragen  herantrat  nnd  eine  Schrift  Uber  die  Osterreicbiselie 
Nationalit&tenfrage  erscheinen  Hess,  der  im  nächsten  Jahre  ein  Buch  über  die 
.Tudenfrage  folgte.  So  verschieden  <iiese  beiden  Schriften  beurtheilt  wurden, 
darin  war  die  Kritik  einmüthig,  djtss  Dr.  Graf  Coudenhove  ein  Mann 
ist,  der  seine  eigenen  Wege  wandelt,  selbstständige  Gedanken  zu  fassen, 
zn  fonantfren  nnd  m  begründen  versteht  Auch  mit  vorliegender  Schrift 
lut  er  sieh  einem  vielfacli  erörterten  Thema  zugewandt,  aber  er  hat  es 
ganz  unabhängig  von  seinen  Vorläufern  zu  behandeln  gewnsst  und  daher 
eine  alte  Frage  in  ein  ganz  neues  Licht  gerückt.  Ausgehend  von  einer 
p^efaologisch  fein  durchgeführten  Untersclieidung  zwischen  bürgerlicher  und 
sog.  ritterlicher  Ehre  kommt  der  Verfosser  zn  dem  Ergebnisse,  dass  erstere 
veridient^  letztere  ertrotzt  sein  will.  In  beredter  Weise  wird  das  Missver 


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862 


DMpvsdiiiogVD« 


liältuias  dargetiian,  welches  su  oft  zwiächeu  Ueleidigimg  uud  Duellausgang 
obwaltet,  wird  nadigewiesen  ^  da«  Math  noeb  nkiht  den  Ehrenmaiiii  tm- 
macht  und  der  Kummer  und  der  Jammer  gMOhfidflrt,  den  das  Duell  hervor- 
nift.  Sodann  wird  aher  auf  die  Vonirtheile  unserer  Zeit  hingewiesen  und 
nicht  mit  I  nieclit  eine  Dnellablelinung  als  «der  gi'össte  Beweis  von 
Heroismus,  den  es  überhaupt  geben  kauu,"^  bezeichnet.  Was  specieU  die 
miOtlriieheo  Vertiittiilne  betrifft,  wird  der  Widenprach  des  Dodia  n 
Gesetz  und  IMenatregleiDent  juristiscli  begrOndet  Sodann  geht  Oraf 
Coudenhove  zu  einer  eingehenden  Schilderung  anderer  Auswüchse  dos 
P^hrgefühls  über,  nämlich  des  Harakiri  oder  Sep])ukü  in  Japan  und  der 
indischen  Wittwen Verbrennung  (Sattij,  dei'en  Aehnhcbkeiten  mit  dem  Duell 
amgefnhrt  werden.  Und  da  ist  ee  intereaaant,  so  sehen,  wie  fest  du» 
lOWUrzelt  diese  heute  bereits  der  Vorgangenhdt  angehörigen  Inatitationea 
vor  noch  nicht  allzu  langer  Zeit  im  V<tlke  waren.  Insbesondere  was  das 
Harakiri  betrifft,  werden  Steilen  aus  einer  parlamentarischen  Debatte  von 
1869  citirt,  aus  denen  liervijrgeht,  welche  Opposition  noch  vor  ca.  30  Jaliren 
gegen  dessen  Abschaffung  bestand.  Darans  wird  die  Folgerung  gezogen, 
daas  das  Alter  emer  Institution  der  Erkenntniss  ihrer  Ven»-erfltchkeit  nidit 
hinderlich  sein  soll.  So  soll  es  auch  mit  dem  Duell  sem.  Die  (  Jrfln- 
dung  der  <)steneichiscljen  Antiduellliga  begrösst  der  Autor  mit  Freuden. 
Von  ihrem  Ehrenrathe  spricht  er  nicht,  tritt  vielmelir  für  die  Anrufung 
der  etaatlidien  Gerichte  ein.  Nidit  hi  letzter  Lniie  bekämpft  er  das  DneU 
ans  religiösen  Gründen.  Graf  Coudenhove  steht  auf  katholischer 
Gnindlage.  j(>doch  nicht  ausschliesslich  auf  ihr;  sein  Katholicismus  ist  voU- 
konunen  im  Einklang  mit  den  Aufgaben  unserer  Zeit  und  tolerant  in  der 
Beurtheilung  der  Gefühle  Andersgläubiger.  Graf  Coadeuho  ve's  Haupt- 
waffen  gegen  das  Dndl  shid  die  Argomente  des  gesunden  Menseben* 
ventandea^  womit  er  sieh  entschieden  anf  dem  richtigen  Wege  befindet 

Denn  was  der  Mensel)  erd.acht,  erfond| 

Als  H(k*hstc8  wird  er  finden: 
Gesund  natürlichen  Verstand 

Und  richtiges  Empfinden.  (CMÜparzw.) 
Nie  ward  besser  als  durch  die  Graf  Coudenhoye^sdie  SiMft  ge> 
zdgty  dass  es  ebe  Ehre  nicht  nur  ohne,  sondern  auch  gegen  den  Dndl- 
codex  giebt 


14. 

Wie  beurtheile  ich  meine  UandschriftV  Topuläree  Lehrbuch  der 
Graphologie  von  Hans  H.  Basse.  Verlag  ron  W.  Yobach  &  Co., 
Berim  und  Ldpqg.  Fnü  1  Marie  (190ä;  ohne  JahiessshL)  — 

92  Seiten. 

In  dieser  elegant  ansgestatteten  und  mit  zahlreichen  Schriftprobe 
versehenen  Hrosrliüre  resumirt  Busse  die  bisherigen  Ergebnisse  der  Gra- 
phologie in  historisclier,  apologetisclier,  —  wenn  das  Wort  erlaubt  ist  — 
dogmatischer  nnd  pralctiBdier  Hinndit  In  letsterer  Beddmng  kann  das 
dem  Bache  beigegebene  Verzeichniss  der  in  ihm  behandelten  nnd  dnnh 
Schriftproben  belegten  Eigenschaften  mit  wdt  Aber  400  SeUagworten  ab 


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BcqpKolmngCB* 


868 


werthvoller  Behelf  bezeichnet  worden.  Im  Uebrigen  sei  auf  unsere  frUlieren 
Bespreeiinngen  verwieeen.  Die  Graphologie  kann  Ergelmiase  anderweitiger 
üntenuchongshandliuigeii  bekritfttgen  und  hat  in  ^eser  ßgensdiaft  ein 

grosses  Bethätignngsgebiet.  ffie  ab  einziges  oder  auch  nur  hauptsScliliches 
Beweismittel  heranzuziehen,  scheint  uns  Angesichts  der  traurigen  Erfah- 
rungen eine  immerbin  gewagte  Sache.  Das  soll  jedoch  kein  Vorwurf 
gegen  y<Hrfiegendee  Buch  sein,  welchem  wir  —  im  Gegenthdl  —  die 
wdteste  Verbreitnng  wünsehen. 


ej  Bücherbeaprechuugen  von  Uans  Gross. 

15. 

üeber  Wahnideen  im  VOlkerleben  von  IL  Friedmann,  Nerven- 
arzt in  Mannheim.  (Aus  Grenxfragen  des  Nerven-  nnd  Seelenlebens 

VI/VII.)  Wiesbaden,  J.E.Bergmann,  1901. 

Das  vortrefflich  geschriebene  Buch  bringt  wirklich  einmal  neue  Ideen, 
die  an  zwai*  bekimnte,  aber  mit  ausgebreiteter  Belesenheit  und  grosser 
Mmox  des  Wissens  zusammengetragene  Thatsachen  angeknOpft  werden. 
Das  Bndi  mnss  gdesen  werdeni  da  sein  Wert  in  der  BeweisfUhning  Heg^ 
aber  die  niclit  leicht  referirt  werden  luum.  lieber  das  lliun  der  grossen 
Masse  ist  ja  schon  viel  iroschrieben  worden  und  die  Arbeiten  von  Levis, 
Ferri,  Despine,  Martin,  Pugliese,  llobb es.  Bordier,  du  Camp, 
Sergi,  Tocqueville,  Lacrateile,  Sterne,  Holtzendorff ,  Tarde, 
Sighele  n. s.w.  haben  sieh  namentlidi  mit  der  Seele  des  Sehopen- 
h  an  er 'sehen  Makroanthropos  befasst;  im  vorliegenden  Buche  wurd  aber 
zumeist  j;ozei{rt.  wie  durcli  das  Erregen  starker  Voretellungen  das  Denken 
der  Menschen  behen'sclit  und  ihm  ein  bestimmter  Inhalt  aufgedrängt  wird; 
SO  erscheme  die  Vorstellung  (nicht  der  Begriff)  als  selbstständige  geistige 
Maebt  von  bedentendor  Art,  sie  dringe,  ohne  dass  ii^iend  eine  Brflezion 
betheiligt  zu  sein  braucht,  nicht  bloss  zu  tiberzengenden  Associationen  und 
Ideen,  sondern  auch  zu  impulsiven  Handhin j^en.  Starke  Ideen  wirken  un- 
mittelbar und  ohne  Motivirung  und  liegt  zufälhg  grosse  Suggestibilität  vor, 
80  wirken  l>eide  Factoren,  zusammen  allerdings  in  scheinbar  nnerkl&rlicher 
Maehtwirlnmg. 

Ich  glaube,  dass  sich  die  Fried mann^schen  Ideen  ancli  im  Kleinen 
durchftihren  Hessen:  Verführung,  Ueberredung,  Beispiel.  Anstiftung:.  Ver- 
leitung, —  alles  zu  zweien  oder  in  Banden bildung,  Complottform;  daa  ist 
Alles,  weil  liftnfiger,  vielleicht  wichtiger,  wenigstens  für  den  Kriminalisten, 
als  die  dodi  seltener  ni^  mehr  sodal  imponireaden  grossen  Narrheiten. 
Die  grossen  Sitie^  die  Fried  mann  entwickelt  hat,  lassen  sich  auf  unsere 
alltäglichen  und  desshalb  so  wichtigen  Erscheinungen  lUArend  und  sichernd 
anwenden. 


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864 


16. 

Ueber  Geistesstörungen  in  der  Armee  zur  Friedenszeit,  von 
Stabsarzt  d.  K.  Dr.  Georg^  Elberg.  Zum  Oebraudi  fUr  Officiere, 
Militärärzte,  MüitärgeistUdie,  Auditeure  und  Aerzte.  Ualle  a./S.  1903, 
C.  Marhold. 

Zweek  d«r  Schrift  iit,  auf  das  blnfige  und  oft  nnericainite  Votkommai 
von  OoBtnikniikhdten  beim  Militär  «ofmerionm  zu  machen  und  m  vw* 
hindern,  dass  geisteskranke  Soldaten  einerseits  schädigend  auf  den  ganzen 
Zweck  dp.s  IToeres  einwken,  und  andcrei-seits  jrequält,  misshandelt  und  un- 
verdient gestraft  werden.  Aber  die  selu-  lubenawertbe  Abeidit  dee  Ver- 
htmn  kSniitB  •noh  «if  msere  Zwecke  aoegedeliiit  werden,  da  Terhiltni»- 
miaaig  nicht  weniger  nnaerer  Beechiddigten  nnverdient  geilnft  werden, 
wie  dies  beim  Militär  der  Fall  ist. 

Verfasser  schreibt,  wie  der  Titel  sagt,  auch  für  Officiere,  Militärgeist- 
liche und  Auditeure,  also  für  mediciniache  Laien,  er  bediente  sich  daher 
eines  leicht  fassKchcn  und  einfachen  Stiles  und  behandelt  namentlich  die 
für  nns  allerwicfatigsten  Psychosen:  Dementia  präcox,  Epilepsie  und  Ptealyse 
m  klar  und  deotlicfa,  dass  ich  das  kleine  Werk  anch  Kriminalisten  warm 
empfehle.   


17. 

Das  dritte  Geschlecht    Gleichgeschlechtliche  Liebe.  Beiträge 
zum  hofflosenieOen  Ftoblem  von  H.  Brannsehweig.  Zweite  Ter- 
mehrte  Aoflage.  Veriag  von  Carl  Mariiold,  Halle  &/8.  1903. 
Ich  beziehe  mich  auf  die  Besprechung  dieser  Schrift  im  Band  10, 
S.  345.   Daas  die  Arbeit  schon  in  2.  Auflage  erscheint,  ist  sicher  bezeich- 
nend genug.   


18. 

Homosexnelle  Probleme.  Im  Lichte  nenester  Erwerbnng  aUgemem- 
verständlich  dargesteUt  Ton  Dr.  Ludwig  E.  West  Berlm  W.3&. 
C.  Wester  i^c  Co. 

Wozu  es  notliwendif^  ist,  ,die  Kenntniss  über  geu-isse  Tliatsachen, 
die  Eingeweihten  schon  lange  bekannt  waren,  in  die  breite  Masse  des  Volkes 
zu  tragen"  —  wie  Verfasser  zu  Beginn  der  Einleitung  sagt,  das  weiss  ich 
nidit  Aber  die  nnzililigen  Behandlungtti  immer  wieder  des  alten  Stoffes 
machen  stark  den  Eindruck,  ab  ob  d^e  Päderasten  (Verfasser  versichert 
zwar,  er  sei  ein  „Normaler")  alles  aufbieten  wollten,  um  sich  nicht  bloss 
p<»|)ulär,  sondern  auch,  s:i;:f'ii  wir,  im  Volke  melir  sympathiscli  zu  machen. 
Das  wird,  die  Herren  mögen  es  glauben,  nie  gelmgen:  vielleiciit  wird  ee 
mOgiidi  sem,  den  §  175  D.  R-8t.-G.  abznsduiffen,  trotzdem  die  Pub- 
iicationen  immer  widerlicher  werden ,  aber  das  ist  Allee,  denn  im  Allge- 
meinen ist  der  Sinn  des  Volkes  doch  so  gesund,  d.iss  ihm  da.«;  Degenerirte, 
Unnatürliche  und  Naturzweckwidrige  der  ganzen  Homosexualität  stets  ekel- 
haft bleiben  wird. 

Das  Bach  bringt  nichts  Neues,  sondern  bloss  Znaammengetragenes, 
Dass  man  uns  sahhreiohe  Antoblographieen  Homosezoeller,  die  Briefe  des 


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BeBpiecbnngOD. 


365 


unglücklichen  Bayernköuigs ,  die  Mittlieiluugen  des  Dr.  Ulrichs  und  die 
ewigen  Gesehichtehen  von  MiehelaDgelo,  Platen,  WinkelDuum,  Shakespeare, 
An&nen  schon  gedrückt  gebracht  hat,  war  ja  gaai  gut  und  wir  haben 
sie  auch  pflicht^etreu  hinuntergewürgt  —  wozu  man  dieselben  aber  stets 
von  Neuem  abdrookt,  ist  mir  nicht  begreitUcb. 


19. 

Die  Prostitation  bei  allen  Vdlkern  vom  Altertbum  bis  zur 
Nenzeit  Ton  Dr.  Ludwig  E.  West    Beilin  W.  85.  Carl 

Wesser  &  Co.    Ohne  Jalireszahl. 

D.'is  Buch  bringt  über  das,  uns  allerdin^j:«  wichtige  Tliema,  zwar  nichts 
Neues,  aber  bekannte  Daten  {Pierre.  Dufour,  Hickson,  Dühren, 
Archeuholtz,  Parent,  Duchateiet,  Laurent,  Nagour,  Pall-Mall- 
Gaiette  1885,  Lombroio,  Tarnowska,  Bebel,  Hirseh,  Str Ohm- 
berg n.s.  w.)  in  ttbersiehtlidier  ZnsammenstsBmig. 


20. 

Der  moderne  Mädchenhandel  von  Dr.  Ludwig   E.  West 

Carl  Wesser      Co.    Berlin  W.  35.  1903. 

Dies  Heft  bringt  zumeist  Theile  des  vorgenannten,  eine  B^chreibung 
eines  Londoner  Bordells  und  Mittheilungeu  dai-Uber,  me  Mädchen  für  un- 
sittGehen  Lebenswandel  geworben  werden. 


21. 

Die  Rechts-  und  Straf fähigkeit  der  Personen verbänd e,  von 
Dr.  jur.  Ernst  Ilaftor,  Privatdoeent  an  der  Universität  Zflrioh. 

Berlin,  Jul.  Springer.  1903. 

Diese,  namentlicli  durch  Gierkes  berühmte  Arbeiten  neuerdings 
wieder  activ  gewordene,  wichtige  Frage  hat  durch  Verfasser  eine  ausser- 
erdentUeh  gründliche,  alle  bestehende  Llteratnr  berOhrende  Behandlung  er- 
fahren; hierdurch  ist  fflr  eine  legislatorische  Verwerthung  der  Sache  in 
kriminalpolitischer  Kichtunfr  alles  vorbereitet,  was  diesfalls  in  Betracht  kommen 
kann.  \'erfa&5er  sagt,  seine  Aufgabe  gehe  dahin,  aus  dem  modenien  Keclits- 
bewusstsein  und  der  Bewegung  des  modernen,  socialen  Lebens  die  Frage 
SU  entscheiden,  ob  neben  dem  Eänseündividunm  auch  Penonenverblnde 
als  DelielB-  und  strafffthige  Subjecte  betrachtet  werden  müssen  und  ob  sie 
als  reale,  selbstetändige  Wesen  oder  als  künstliche  Fiktionen  bestehen. 
Das  Ergebnis«  der  scliönen  Arbeit  geht  auf  Bejiilmng  der  Debets-  und 
Straffähigkeit  und  auf  die  Bejahung  der  Mögliclikeit,  dass  das  Verbands- 
dellet  in  moderne  Strafgesetae  eingefügt  wenieo  k5nne.  Am  meisten  ent- 
spreche hier  daa  System  derNew-York  Tenal-Code  vom  1.  Dec<>mber  1882. 

Die  vorti^nde  Sdirift  ist  eine  hochmoderne,  echte  Probiemarbdt 


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866 


BcflpnciMiiigw. 


22. 

Laurent  Montanus,  Die  FhMtitution  in  Indien.   fVeiberg  i  Br.  und 
lieipzig.    Fr.  P.  Lorenz.    Ohne  Jalireezalü. 

Allos,  w:is  Prostitution  betrifft,  ist  kriminal.mtliropoloj.'-iscli  wichtig,  tmd 
80  wird  mau  die  kleine,  flttchtige  Skizze  mit  Interesse  lesen  können. 


23. 

Derselbe,  Prostitution  und  Entartun^^    Ibidem.  1903. 

Verfasser  geht  davon  aus,  dass  man  niclit  in  jeder  Frau,  die  Gewerbs- 
nnnicht  treibt,  eine  geborene,  prldeslinifte  Proetttnirte  erbliekeii  dflrfe. 
Manelio  von  ihnen,  die  in  der  Ascendenz  Trunksucht,  Epilepsie,  Syphilis, 
Geisteskrankheiten  u.  s.  w.  aufweise,  zei;jren  aber  intelleetneile  und  ethisehe 
Defecte.  Dies  wird  durch  eine  Anzahl  von  Lebensgesehiehten  vei-sehiedener 
Prostituirten  zu  zeigen  getrachtet.  Mit  einfachen  Worten  heisst  also  das  zu 
bewdsen  Gesuchte:  ,Ein  Hidl  der  Prostitiiirten  ist  degenerirt,  aber  bei 
all'  n  lääst  sieh  das  lüdit  beweisen."  Wollte  man  aber  statt  des  heiklen 
Wortes  ^Degenerirte"  sagen:  „Übel  veranlasste,  selileeht  erzop:ene,  faule 
Weiber,  die  diesen  Eigenschaften  nicht  zu  widci-stelien  verniögen,  zumal 
wenn  sie  geil  oder  in  Noth  sind"  —  so  würde  die  Sache  Einiges  an 
klingendem  Ton  verlieren,  aber  lie  entspreche  dann  den  Thatsachen.  In 
gewissen  Kiclitungen,  namentlidb  der  hier  fraglichen  des  Frostitntionswesens, 
hat  das  Wort  „degenerirt"  manches  Unheil  gestiftet  —  man  warf  ein 
tönendes  Wort  unter  die  Leute,  Wenige  verstanden  es,  und  Viele  hielt  es 
von  weiterem  NaeJidenkeu  ab,  mau  glaubte  durch  das  „erlösende"  Wort 
bereits  die  Erkllrung  gefunden  zn  haben.  Nehmen  wb  die  Wage  einmal 
einfocher  vor. 

Dass  es  bequemer  ist,  nicht  zu  arbeiten,  statt  sich  zu  ])lagen;  an- 
genehmer, schöne  Kleider  zu  tragen  und  Vergnügungen  zu  besuchen,  als 
armselig  angezogen  zu  Hause  zu  sitzen^  unterhaltender,  seinen  Trieben 
nn gescheut  nachzugeben,  als  sidi  in  immerwährender  Tugend  der  Keusehh^t 
zu  üben  —  das  Alles  weiss  und  empfinde  Jeder,  Degenerirter  <»der  Nidit- 
degenerirter.  Eltenso  weiss  Jeder,  dass  es  elircnli.ifter ,  für  die  Zukunft 
sicherer  und  das  (lewissen  bendiigender  ist,  allen  den  genannten  Lockungen 
zu  wideratchen ,  als  ihnen  nachzugehen,  d.  h.:  wer  in  sich  genug  Gegen- 
triebe besitzt,  nm  £e  IMebe  zum  bequemen  und  angenehmoi  Leben  zu 
unterdrücken,  der  wird  tugendhaft,  der  Andere  lasterhaft  wertoi.  Aber 
Tugend  und  I^ter  sind  unmoderne  Begriffe,  zum  Mindesten  \erla8scn  wir 
uns  auf  sie  niclit,  wohl  aber  auf  die  Lebensklugheit  der  Menschen  und 
ich  wiederhole  eine  von  mir  oft  aufgestellte  Definition:  Klug  sein  heisst: 
einen  kleinen  augenblieklichen  Vortheil  für  einen  grosseren 
sp&ten  aufgeben  können. 

Das  kluge  Mädciien  verzichtet  auf  das  momentane  Miissigsein  zu 
Gunsten  späteren  sorgenfreien  Alters,  sie  verzichtet  auf  das  kleine  momentane 
Vergnügen,  geputzt  einherzugehen,  zu  Gunsten  des  giösseren  späteren  Vor- 
thdles :  geachtet  und  dadurch  durah  Hdratii  versorgt  zu  werden  u.  s.  w.  — 
Kurz  wir  kommen  zu  der  sehr  nflehtemen,  aber  sicheren  Wahrheit:  von 


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Bcsprcchongcn. 


867 


zwei  Mädchen,  welclie  (Jelefrenlioit  hatten,  sicl>  der  Piostitiitinn  zu  er*,'ebeil, 
und  von  denen  Kino  widei-st.mden  hat,  während  die  Andere  gefallen  ist  — 
wai'  eben  die  Ki-ate  iehcnsklug,  die  Andere  aber  nicht. 

Man  wird  sagen,  mandie  Proatitairte  sei  dodi  sehr  g:e«cheidt  —  ja, 
gescheidt,  jrebildet,  fein,  unterriehtet,  alles  kann  sie  sein,  aber  leliensklog 
ist  sie  nielit.  Wenn  man  dann  findet,  dass  die  Pn»stituirten  viele  Dcp-ne- 
rationszoiclien  haben,  so  wäre  nur  liewiesen,  dass  Letztere  den  l'nklntren 
anliaften,  ebenso  wie  ja  die  Cretins  die  allemieiäten  l>cgeut'raiiüuszeichen 
beritzeo* 

Aber  mit  dem  Bewdse  dafür,  dass  die  Prostituirten  so  \  iele  Degene- 
rationszeichen anfweisen,  steht  es  noeh  seldiniin.  Das  hieniiit  anirezei;rte 
Buch  schliesst  mit  einer  Tabelle,  welche  nach  den  l'ntersucliungen  ver- 
scliicdener  Furschcr  die  Anomalien  IVustituiiier  darstellen  sollen  (nach 
Lombroso  „nene  Fortsehritte*).  Wie  da  beobaditet  wnrde,  weiss  idi 
nicht,  aber  das  ^Heweisniaterial"  sieht  seltsam  ans.  üntersncht  haben: 
(irimaldi,  deAlbertis,  Andronico,  Tarnowsky  und  Lombroao- 
Ottolenjrhi.    Es  fanden  dieselben  bei  I'rostituirtcn  z.  Ii.: 

Schädelasyunuelrie:  G.  23,  T.  '10,9  —  die  Anderen  gai"  keine; 

Oxyce])hdIe:  O.  26,9,  alle  Anderen  gar  keine; 

Vonpringer  Orbitalwinkel:  (i.  6S,S,  alle  Anderen  jrar  keine; 

Vorsj)rin;.'-<'!i(1e  llmkiiikniK-lien :  L.-().  JO.IT,  alle  Anderen  keine. 

Starke  l'rotulteraiiz  des  lliiiterlKuiptes:  L.-(  >.  10.*)2,  alle  Anderen  keine; 

Proguatliismus  und  Asymmetrie:  L,-U.  41,21,  alle  Anderen  keine  u.  s.  w. 

Das  stimmt  misstraobch,  denn  solche  Fluetnationen  IcOnnen  nidit 
richtig  sein,  oder  nichts  beweisen:  dizu  kommt  nodi,  dai^s  wiclitige  Dcgene- 
rationszeiehen  sehr  .selten  gefunden  wurden:  verzeielmet  Oe.siehtsasym- 
metrie  bloss  A.  t,7l  (unter  zu.sannn<n  äl*.)  untei>;u(lden  Prostituirten ) ; 
Submikrocephalie  bloss  L.-(  3,22 ;  cretiuische  und  mongolische  Physiognomie, 
Anomalie  von  Nase  und  Lippen  kommt  gar  nicht  vor  —  knrZy  mit  dieser 
l^belle  ist  ^ar  nichts  bewiesen,  als  dass  die  lieute  (Oberhaupt)  in  den 
verschiedenen  italienischen  Städten ,  in  welchen  die  genannten  Forsclier 
unteraucht  liaben  —  recht  verscliieden  sind. 


24. 

Medicinische  Wissenschaft  und  Kurpfuscherei.  Zur  Aufklärung 
dea  Pnblienms  gerodnverBOndlidi  dargestellt  yon  Dr.  C.  Reissig, 
Arzt  in  H  imburg.  2.  veränderte  and  vennehrte  Auflage.  Lapslg. 

C.  F.  W.  Vogel.  1901. 

Wie  das  l^telblatt  sa^rt,  hat  Verfasser  nur  den  Zweck  iin  AuL'-e,  ilas 
Publicum  aufzuklären  In  der  That  hat  er  alier  auch  eint  iii  vielitigen 
zweiten,  kriminalpolitischen  Zweck  gedient,  indem  er  auf  die  unbedingte 
Nothwendigkeit  dnes  Paragraphen  gegen  die  Knrpfasdierd  liingevvieaen 
hat,  den  das  StGB.  fQr  das  Deatsdie  Reich  onbegreiflieher  Weite  noch 
immer  nicht  besitzt. 

Die  Schrift  •/icU{  zuei-st  eine  sehr  lesenswertlie.  p»nz  kurze  (leschichte 
der  Medicin  und  bespricht  dann  fast  alle  in  letzter  Zeit  und  noch  heute 
existirenden  Knrpfnsdiermethodtti.  Wer  die  gat  nnd  tlbenceugend  sn- 
licUv  rar  Kriaiuduitiuoiioldti«.  XU.  25 


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868 


Betprediiiiigieii. 


sammcngestclltcii  oiitsotzliclien  Erfolf^e,  die  den  \  ersoliiedenen  Kurpfnscliorn 
zugeädirieben  werden  können,  durchsieht,  dciu  mxm  es  unbe<i:rciflich  er- 
selieineii,  daas  Dontschland  ntdit  einen  IhnUdieD  KnipfuMherpara^rapheo 
besitzt,  wie  ihn  Oostorradi  seit  Langem  besessen  hat  Kein  I^nd  der 
AVeit  hat  ])ossore  und  {gewissenhaftere  Aerzte  als  Deutschland  —  ihnen 
kann  die  Behandlung  der  kranken  Menschheit  mit  Beruhif^nni;  überlassen 
werden,  mit  AuaschJuss  aller  Wuuderärzte,  Kurpfuscher  und  2s'aturkUn8tler| 
abor  anch  mit  AoaaohlQaB  aU  des  nnbeadireiblidieii  Uinheih)  das  diwe  feeniit* 
nitt-  und  meist  aueh  geinaaenloaeii  Laote  angeriehtet  haben. 


25. 

Dr.  Max  Thal,  Mntterreeht.  Frauenfrage  und  Weltanschauung.  Brealan. 

Schlesische  Verlagsliandlung  von  II.  Schottliansen.  1003. 

Von  den  Arbeiten  Wilntzky  s  und  liaciiofens  ausgehend,  kommt 
Verfasser  zur  Annalime,  dass  in  den  Ursachen,  welche  die  unterscliiedUche 
Stelinng  ron  Hann  nnd  FVan  in  der  heatigen  Welt  bewiiken,  die  Ökono- 
mischen Verhältnisse  den  ersten  Rang  einnehme.  Diese  sind  für  Mann 
und  Frau  nicht  die  gleichen,  sie  lindern  sicli  langsam  nnd  banptsftdilieh 
durch  Einwirkung  der  sittUcben  Zeitanscbaaung. 


26. 

Das  Verbrechen  uad  seine  Bekämpfung.   Kriminalpsycholugie  für 
Medieiner,  Juristen  und  Sodologen,  zugldeh  ein  Bdtrag  rar  Reform 
der  Strafgesetzgebung  von  Dr.  G.  Aschaff  cnburg,  a.  o.  Professor 
der  Universitnt  Halle  a.  S.  gr.  8*'.  geheftet  6  Mk.,  fein  I^m wandband 
7  Mk.    (Carl  Winter's  Universität.sbuclihandlung  in  Heidelberg.) 
Es  ist  charakteristisch  für  die  ArlteitsmetlnKle  der  modernen  Zeit,  dass 
eigentlich  Jene  zu  vordeiist  am  Platz  ahui,  welche  entweder  gauz  eng  um- 
sdhriebene  Spedalgebieto  beaibeiten,  oder  aber  Jene,  die  sich  Granagebieto 
ausgesucht  haben  und  dalier  Kenntnisse  in  den  beiden  aneinanderstossenden 
Disciplinen  besitzen  müssen.  Das  Letztere  zeigt  sich  besonders  in  unserem 
Fach,  da  dasseihe  aussei  an  Historie,  Philosophie  und  Mediein  an  so  viele 
andei'e  Gebiete  grenzt  und  in  sie  übergreift,  dass  auch  in  diesen  Kennt- 
nisse verfangt  werd«u   So  kommt  es»  dass  hente  —  ein  nodi  Tor  Knnem 
ganz  undenkbares  Vorkommniss  —  sich  auch  Aerzte  mit  mehr  oder  minder 
juristischen  Fragen  befassen  und  uns  in  denselben  Klärunir  sehaffen,  die 
wir  selber  Mangels  der  betreffenden  \'urkeuntnisäe  niemals  hätten  fünden 
können. 

In  dieser  Riehtnng  entinckelt  U.A.  der  HalleoBer Psychiater  Asohaf f en> 

bürg  eine  wichtige  nnd  ntttzUche  Thätigkdt,  und  das  neue,  hiermit  an- 
gezei^'te  Hueli  ist  auf  unserem  Gebiete  eine  werthvolle  und  bedeutende 
Krselieiiuui^';.  A  s eh  a  f  f  e  n  b n r hat  hierbei  die  Straf^'csetzrcform  im  Auge 
uud  suclit  darzuthun,  diuis  uiclit  uui'  die  Grundlageu  der  classisclien  Schule 
hierfOr  nnbranchbar  wiren,  sondern,  dass  anch  ein  Gompromiss  derselben 
mit  den  Uodemen  nicht  gedacht  w«den  kann,  es  sei  überhanpt  moderne 


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Beqtreebnngeii. 


869 


Auffassung  mit  deu  Grundlagen  unserer  bestehenden  Gesetzgebung  unver- 
einbar. Seine  Auffurang  von  der  Frage  hftnge  vom  Ergebniss  seiner  Arbeit 
ab,  and  diese  theilt  er  wieder  in  die  socialeDy  die  kdividnellen  Ursaehen 

des  Verbrechens  und  den  Kampf  gegen  das  Verbrechen.  Das  ITaupter- 
gebniss  der  Arbnt  ist  das  Eintreten  ffir  die  Abacfaaffnng  des  Stiafaus- 
maasses. 

So  sehr  idi  midi  mit  der  natui wimnschaMichen  Methode  A schaff ea- 
bnrg^s  einverstanden  erlciäre,  so  mOchte  ich  mich  dodi  bei  der  onabeeh- 

baren  Wichtigkeit  der  Sache  und  der  hohen  Bedeutung  der  Torilegenden 
Arbeit  in  einzelnen  Punkten  mit  dem  Verfasser  auseinandersetzen.  Es  sind 
dies  nur  nebensächliche  Momente,  da  aber  Aschaffenburg  selbst  sagt, 
dasi  er  nimeist  von  statiatisehen  Daten  ausgeht,  so  sind  auch  einzelne 
Ansgaagspankte  namentlicfa  deshalb  so  wichtig,  weil  sowohl  Materiale  als 
Ven;\'endung8art  statistischer  Zahlen  noch  so  unsicher  sind,  dass  ans  den- 
selben Daten  widersp  reeben  de  SehlOsse  frezogen  werden 
können.  Die  Statistik  als  junge  Wissenschuft  niadit  eben  denselben  Ent- 
widdnngsgang  durch,  wie  jede  aofringende  Disciplin.  Zuerst  begegnet  sie 
energischer  Ablehnvng  —  dann  kommt  fibertriebene  Werthschätanng  — 
dann  Zweifel  über  das  Gefundene  —  und  endlich,  nach  wiederholtem  Anf- 
und  Niederseliwanken ,  richtige  Werthschätzung,  Das  erste  Stadium,  das 
der  Ablehnung,  ist  längst  ttbent  unden;  das  zweite  Stadium,  das  der  über- 
triebenen WertiHMUtsong,  drückt  aieb  ana  im  Herrsehen  des  Axioms: 
^Zahlen  bewdsen'^  —  das  dritte  hi  der  Aosdebnmig  dieaea  Satiea  auf: 
«Zahlen  beweisen,  wie  man  sie  stellt Dass  wir  bereits  im  letzten  Sta- 
dium, dem  der  richtigen  Wertliscliützung,  angelangt  seien,  hat  Niemand, 
auch  kein  Statistiker  vom  Fach  behauptet,  und  so  dürften  wir  recht  thun, 
wenn  mr  annehmen,  wir  stunden  dermalen  sswiscfaen  dem  zweiten  und 
dritten  Stadium:  es  giebt  noeh  Viele^  die  fix  erklSren:  «Zahlen  beweisen* 
und  die  dann  der  Entstehnngsart,  Bedeutung,  ZusammOMtellung  und  Ver- 
werthung  der  Zahlen  kein  Gewiclit  mehr  beilegen.  Die  Mehrzahl  steht 
heute  im  dritten  Stadium,  sie  sagt:  „Zalden  beweisen  so,  wie  man  sie 
atellt'',  und  es  ist  daher  Ab  eigentliche  Forschung  dahin  aus,  festzustellen, 
wie  man  die  Zahlen  stellen  darf  und  wann  ea  sich  nicht  um  Schembeweise, 
sondern  um  wirkliche  Wahrheit  handelt.  Dass  wir  das  noch  nicht  wissen, 
dass  wir  aus  Zahlen  allein  sehr  oft  abstnise  Dinge  beweisen  würden,  wenn 
wii*  das  Wie  und  Warum  nidit  untersuchen,  wird  kaum  bezweifelt,  und 
hl  100  FUlen  ndimen  wir  wahr,  dass  die  Zahlen  nur  nebeneinander 
stehen,  dass  rie  ahw  Toneonander  gar  nicht  abhSngen  und  k«ne  g^en- 
aeitige  Beziehung  haben. 

Bemerken  möclite  ich  nun,  der  Seitenzahl  folgend: 

Auf  Seite  2,  ereter  Absatz,  ist  vor  allem  ein  Druckfehler  zu  beridi- 
tigen  (Mutter  statt  Schwester),  da  nach  teterr.  StG.  Blutschande  bloss 
in  auf-  und  absteigeDder  Linie  begangen  werden  kann  (mit  der  leiblidwn 
Schwester  ist  es  bloss  Uebertretung  des  §  501). 

Auf  S.  15  finden  wir  eine  l)edenkliche  Verliindung  zwischen  .lahros- 
zeit  und  geachlecbtlichen  Delikten  daliin,  dass  vom  N'erfasser  aus  den 
ataHstiBdien  Daten  aber  Sittlichkeitmlelikte  (und  uneheliche  Geburten)  anf 
eme  sexuelle  Erregbarkeit  an  gewissen  Jahreaieiten  geschlossen  wird.  Dass 
dn  solcher  Zusammenhang  besteht,  mag  ja  richtig  sein,  obwohl  man  dann 

25* 


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870 


BesprocbuDgeD. 


viel  gewaltigero  Zahlen  und  lebliaftere  Verschiedenheiten  roniwetieii  mtlnte. 
Aber  jedenfalls  wird  der  genaimte  Znsammenhang  durch  die  statistischen 

Zahlen  nicht  erbracht.  Wenn  die  Zahlen  fflr  Sittlichkeitadelikte  (und  un- 
eheliclH'  (iolmrton)  für  M:vi  und  Juni  grosser  sind,  als  für  Xo\emher, 
Deccnibcr,  .so  lii'^^t  as  wohl  am  nächsten  hierfür,  die  von  Verfaäöur  später, 
bei  Kdrperverletzuug  o.  b.  w.  (S.  20)  erwähnten  vergrSsserten,  soeUeii 
Reibongsflftchen  heruiziLElehen.  Ich  halte  es  fttr  geftSulieh,  wenn  man 
zur  Erklärung  von  etwas  auffälligen  (Steigen  KriminalitÜ  in  Sommer) 
wiodor  etwas  noch  nicht  Iknviesenes  (Steifjerunf;  der  sexuellen  Errefrbarkeit) 
hurbei/.iclit ,  denn  dann  rechnet  man  mit  zwei  Unbekannten  und  verliert 
den  festen  Boden  völlig  unter  den  Fassen.  Eb  Ist  daher  sicher  viel  em- 
facher  und  naheli^aider,  wenn  man  znr  ErUirong  fOr  die  Steigemng  der 
sexuellen  Delicte  im  Soniuur  lediglich  die  durch  die  Jalireszeit  {gegebenen 
äusseren  Verhältnisse  in  Rechnung  zieht.  Im  Sommer  sind  die  Leute  viel 
nielir  im  Freien,  die  Pereonen  sind  da  viel  mehr  vereinzelt  als  zur  Winters- 
zeit in  den  Häusern;  also  viel  weniger  unter  gegenseitiger  Auisiclit;  die 
Feldarbdt,  die  Spazierginge,  anderwatige  Tliäti^eit  in  Feld  nnd  Flur  er- 
leichtert das  Zusanmiensein  zu  Zweien,  Ueberraschungen  sind  viel  weniger 
zu  fürchtfii.  Hilferufe  (Xothzucht,  Schändun<rl  sind  im  Freien  viel  weni^rer 
wirk.sam  als  im  Hause,  kurz,  es  ist  so  natürlich  und  ungezwungen,  ledig- 
lich die  Aufentlialtsweise  im  Winter  nnd  Sommer  zur  Erklärung  su  yer* 
wenden,  daaa  wir  hiermit  reiobüdi  unser  Auslangen  findoi  nnd  nicht  anf 
Unbekanntes  greifen  müssen.  Dies  Stimmt  auch  vollkommen  mit  den  vom 
Verfaflser  gebrachten  Zahlen:  Januar  64,  Febniar  ßO,  März  78,  April  lo:^, 
Mai  12S,  Juni  144,  Juli  140,  August  130,  September  lüS,  Uctober  *J0, 
November  68,  December  69  —  und  endlich  auch  mit  der  Erfalirung: 
jeder  Praktiker  vermag  es  zu  bestätigen,  dasa  die  nngldoh  grOeste  Zahl 
von  sexuellen  Delicten  im  Freien  und  nicht  im  Hause  gescliielit.  —  Hier- 
mit entfällt  auch,  wa.s  Verfasser  S.  über  Kinde.stnurd  sa^'t:  Die  meisten 
Kindesmorde  fallen  auf  Februar,  März,  April  —  Cuuceptionszeit :  Mai,  Juni, 
Juli;  Kindesmord  entspricht  aber  verborgener  Laebe  und  dieser  kann  wohl 
bei  der  Idehtra  Bewegung  im  Fmeaa  um  diese  Zeit  am  leichtesten  na<ii- 
^ek(»mmen  werden.  Man  muss  die  Verfaältnigse  eben  nehmen,  wie  sie  sind: 
i)«r  f'nitus  mn*r  Aielleielit  oft  im  Hanse  vorgenonimf^n  werden,  aber  die 
vorausgegangene  \'erführung  erfolgt  im  Freien.  Wir  wissen,  dass  die  meisten 
unehelichen  Geburten  im  Gebirge  vorkommen,  ebenso  wissen  wir,  weldien 
Emfloss  hierbei  das  bekannte  «Fensterin"  hat  —  Im  Deoember,  Januar 
gesehi^t  das  aber  selten,  häufig  aber  im  Frtthjahr  und  im  Sommer.  Aber 
nicht  wegen  der  ..erliöliten  Sexualität'^,  sondern  weil  man  in  der  Kälte 
nicht  gerne  am  offenen  Fenster  steht. 

Auf  S.  38  findet  es  Verfasser  ^recht  sdiwierig'^  die  geographisdie 
Yerthdlung  dee  Betruges  an  erkläroi;  die  zweifdloa  auffallende  Erschei- 
nung findet  ihraLOeung  darin,  dass  man  unter  dem  Begriff  „Betrug"  einer- 
soits  eine  Meufre  verscliiedenartigster  l>eli<'te  zusammenfasst,  anderei-seits  aber 
wieilcr  manche  Delicte  davon  ausscheidet,  die  ihrem  Weesen  nacli  nichts 
anderes  sind  als  Betrug.  Ich  habe  einmal  >)  darzuthun  versucht,  dass  eine 
unabsehbare  Menge  von  Sehwierigfceiten  dadurch  eraeugt  wurden,  dass  man 


1)  «Raritäteubotmg.*'  Berlin  1901.  S.  157. 


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Besprechungen. 


371 


aus  dem  ,Beü-ug^  im  Strafgesetz  einen  Paragraphen,  statt  eines 
Kapitels  gebildet  hat;  anch  hier  wAre  eine  Untenncbung  der  Fmgp, 
warum  z.  B.  Mannheim  und  Oberbayom  durdi  Betrug  so  arg  belastet  ktf 

eist  irestattet,  wenn  die  Betrugsfälle  in  ihre  einzelnen,  von  einander  so 
wcseiitlicli  verschiedenen  Factoren  zerlegt  wären,  und  es  ist  einstweilen 
nuch  nicht  zulässig,  von  einem  besonderen  „Charalcterzug"  der  betreffenden 
BevOlkenug  m  reden  (S.  40).  Es  sei  aooh  hier  bemerkt ^  dass  stati« 
stisdie  Daten  Ober  Verbrechen  erst  dann  wissenschaftlichen  ÄVerth  hnl)en 
werden,  wenn  die  Delicte  nach  antlirnpoldtrischen  und  kriminalpsycliolo- 
gisclien  Zügen  geschieden  und  zusammengelegt  werden,  nicht  uacli  sogenannten 
juristisclieu. 

BeaOglieb  der  S.  41  ff.  vorgenommenen  Untennehvngen  fiber  den 

Einfluss  der  Religion  nf  die  Eriniinalität  ist  es  entschieden  verfehlt,  die 
.hidfii  als  IJeliirionRjrcnossenscliaft  aufzufassen;  die  .luden  liilden  eine 
liafsc,  oder  wenn  man  lieber  will,  eine  Nation,  und  sind  nach  diesem  Ge- 
sichtspunkte einzutlieilen,  sonst  begeht  man  Fehler  auf  Fehler,  und  aucli 
in  der  IVage  der  Ck>nfeBsion  werden  nnr  Verwimmgen  angeriehtet 

Uebrigcns  sind  die  Erhebungen  tlber  «Confesäon  nnd  Kriminalitäf^ 
(namentlich  S.  IG  ff.),  wie  wir  sie  heute  vorzunehmen  vermögen,  iilifilianpt 
nahezu  werthlos,  weil  nicht  die  Art  des  Bekenntni.sses  von  Einfluss  sein 
kann,  sondern  die  Tiefe,  mit  der  sich  aner  demselben  anschliesst.  Es  wird 
doch  Niemand  behaupten,  dass  es  bei  einem  total  Unglftnbigen,  der  Mehr- 
zahl  der  heutigen  Menschen,  einen  Unterschied  macht,  ob  er  zum  Unglauben 
via  Protestantismus  oder  Katliolicismus  gelangt  ist  —  Unglaul»e  ist  etwas 
Negatives,  und  was  früher  an  seiner  Stelle  an  rositivem  vorhanden  war, 
ist  gleichgültig,  und  ebenso  auch,  ob  der  Ungläubige  ein  ungebildeter  Ar- 
beiter oder  ein  Weltweiser  ist.  Selbstverstlndlieh  ist  es  für  die  Kriminaütftt 
von  gröflster  Wichtigkeit,  ob  einer  ein  wirtiidi  Rdi^^Sser,  ein  überzeugt 
(U;uil)iger  ist:  aber  der  begeht  überhaujit  mir  ausnahmsweise  eine  Missotliat, 
und  es  ist  beim  Vorliegen  wahrhafter  Frömmigkeit  völlig  gleichgültig,  ob 
einer  protestantisch  fromm  oder  katholisch  fromm  ist.  So  kommen  wii' 
ledigUdi  za  dem  nicht  sehr  merlcwttrdigen  Schlosse:  Der  wahrhaft  religiöse 
Mensch  begeht  überhaupt  kein  Verbrechen,  weil  es  ihm  seine  Keligi  ii  \  er- 
bietet, —  ob  diese  aber  katholisch  oder  protestantisch  oder  jüdiscli  ist.  ist 
gleichgültig  und  kriminalpuliti.sch  indifferent.  Beim  schwach  Keligiösen 
oder  ganz  Ungläubigen  ist  die  lleligion,  unter  der  er  geboren  und  verzeichnet 
wird,  aber  desshalb  glMdigttltig,  wdl  es  mch  dermalen  bei  ihm  eben  nm 
keine  Reli^on  handelt,  was  er  frflher  für  eine  hatte,  kann  uns  aber  der^ 
malen  nicht  von  Wiclitigkeit  sein.  Natürlich:  hätten  ^^^r  statistische  Auf- 
zeichnungen über  wahrhaft  Ueligiö.se,  I laibreligiöse  und  totale  Freigeister 
—  dann  könnte  uns  die  KriminaUtät  dei'selben  interessü'en ,  solche  Ver- 
seiehniflse  kann  ee  aber  niemals  geben,  und  die  Anfseiefanongen  Aber  die 
Oebnrtsreligion  ist  gnaa  werthlos,  wir  nntersndien  und  verwertfa«!  etwas, 
von  dem  wir  nicht  wissen,  ob  nnd  in  wdchem  Grade,  in  weldier  Fonn 
es  noi'ii  vorhanden  ist. 

Bezüglicli  der  Alkoholfrage,  welclier  Verfasser  (.besondera  S.  55  ff.)  ein- 
gehende nnd  höchst  interessante  Erörtenngen  widme^  seheint  mir  nnr,  dass 
noch  eine  Frage  einer  eingehenden  Berücksichtigung  werth  gewesen  wäre. 
Man  sagt:  Jene  Fälle,  in  welchen  der  Alkoholgennss  direct  dn  Verbrechen 


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372 


Bespi-ccbuugeu. 


▼enulaaBt  hat,  intereniren  uns  nieht;  dass  Betnrakene  m  Streit  tmd  Schlägerei 
kommen,  dass  der  Trunkene  im  Rausch  sein  Weib  misdiandelt  oder  tödtef, 
das8  er  sich  zu  Spiel  nn<l  Oeltlveilust  vorlciten  IJLsst.  das  ist  Alles  von 
unserem  Staiulpunkte  aus  nicht  wirlitifr  und  ist  natürliche  Folge.  Aber 
UDs  inleiessirt  der  allmähliche  \  erfüll  deä  I  riukers,  seine  progressive  Wider- 
staDdranfUiigkdt  g«geii  «ittUdie  Hemmungen,  die  zunehmende  Leiehtiglceit, 
mit  der  er  Verbrechen  begeht  und  endlich  die  entsetzliche  Sicherheit»  data 
der  Siiufer  untaugliche,  (lem  Verbrechen  leicht  verfallende  Kinder  zeugt. 
Das  alles  siud  höchst  wichtige  Dinge  und  der  Scldusa  geht  dahin:  Alkohol 
erzeugt  Verbrechen  und  Verbrecher.  Ob  das  wohl  richtig  ist?  Ob  eines 
die  Folge  des  anderen  ist?  Ob  nieht  beidea,  Alkoholaacht  nnd  verbreche- 
risches Wesen,  das  EIrgebniss  eines,  uns  nodi  nnbekannten,  noch  gar  nicht 
Bekannten  istV  Wenn  wir  dies  beiden  geineinschaftliclic  Dritte  etwa 
.mangelhafte  Widerstandsfähigkeit",  -fehlende  ethische  Hemmungen'*  oder 
ähnlich  nennen,  so  müssten  wir  fragen  —  mehr  behaupte  ich  nicht  — , 
ob  nicht  diese  mangelhafte  WiderBtandakraft  einerseits  yeraniasst,  daas 
sich  der  Betreffende  der  Anaehnngskraft  des  Alkohols  nicht  widersetsen 
kann  und  dass  er  andererseits  auch  fällt,  wenn  die  Anlockung  zu  einem 
Verbreclien  ihm  in  den  Weg  läuft.  Wenn  dann  seine  Kinder  wieder  Trinker 
oder  verbrecherische  Naturen  werden,  so  geschieht  dies  nicht,  weil  der 
Vater  Potator,  sondeni  ein  Mann  war,  der  seine  mangelhafte  Widerstands- 
kraft als  solche  seinen  Kindern  vererben  musste. 

Ob  diese  Frage  jemals  wird  beantwortet  werden  kOnnen,  und  ob  wir 
irgendeine  Erleichterung  finden,  wenn  wir  Tninkenheit  und  Kriminalität 
nicht  untereinander  steilen  und  von  einander  ableiten,  sondern,  wenn 
wir  ein  Nebenebander  nnd  Abhängigkeit  beider  von  einem  Dritten 
aanehmen  —  das  ist  allerdings  heute  noch  nicht  zu  beaatwwieii* 

ad  S.  81  glaube  ich,  da^s  Verfasser  die  Bedeutung  von  Spiel  und 
Aberglaul»e  in  gewissem  Sinne  zu  gering  \eransclilagt.  Dass  das  Spiel  in 
Deutschland  ^nur  eine  geringe  kriminalistische  Bedeutung''  hat,  ist  gewiss 
nicht  richtig.  Weldie  Summen  der  gemeine  Mann  hn  „KUmmclbltttdien*^, 
„Meine  Tante,  deine  Tante",  „Hiemenstechen"  u.  s.  w.,  nnd  die  „goldene 
Jugend"  im  Macao  und  Pliarao  alljährlich  verliert  —  das  darf  umsoweniger 
unterschätzt  werden,  als  hierbei  manches  im  Wege  des  Betruges  verloren, 
und  durch  eme  Unterschlagung  u.  s.  w.  wieder  wett  gemacht  wird.  Dass 
die  Krinunalitit  dnrdi  Spiel  in  Oesterreich  durch  das  Bestehen  des  „klenien 
Lotto"  weaeDÜidi  vermehrt  werde,  düi-fte  vom  kriminalpsycbologisclien 
Standpunkte  aus  nicht  sicher  sein.  Icli  Mn  der  Letzte,  der  e,s  vertheidigt, 
wenn  der  österreichische  Finanzminister  aus  den  Kreuzern  des  armen  Mannes 
Eiuuuiimen  macht  —  abei'  die  Sucht  des  Menschen,  auf  leichte  Art  Oeld 
an  bekommen,  ist  in  semem  Wesen  so  tief  eingewurzelt,  dass  es  in  ii^endr 
einer  Weise  zu  Tage  treten  mnss.  Und  hat  der  gemeine  Mann  kein 
„kleines  Lotto'',  so  werden  Kümmelblättchen  und  ähnliche,  noch  viel  ge- 
fährlichere Spiele  seinem  Bedürfnisse  nach  Nervenreiz  und  Geldhoffnung 
abzuhelfen  vei'suchen. 

Elwnso  unrichtig  ist  es,  dass  „der  Aberglaube  seme  Rolle  für  das 
Zustandekommen  von  Verbrechen  überall  da  ausgespielt  hat,  wo  das  Bil- 
dungsniveau des  N'nlkrs  eine  grosse  Höhe  erreicht  hat":  ich  gl.aube,  da.ss 
die  in  meinem  „Handbuch  für  Untei'suchungsrichter"  und  wiederholt  in 


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Besprechungen. 


S7S 


diesem  ^Archiv''  gebrachten  Bele^  deatlich  genug  zeigen,  welch'  unglaub- 
lich »n'o^c  Holle  der  Aberg;laiibe  auch  heute  nooh  in  reeht  gebildeten 
Kreisen  auf  dem  Gebiete  des  Strafrechts  spielt. 

Auch  der  AbetammaDg  (S.  101  ff.)  wird  insofeme  tn  Tie!  Wichtig- 
keit beigelegt,  als  der  alte  Jaristeneatx  «pater  eemper  incertos'  nngendB 
mehr  Geltung  hat,  als  in  den  Kreisen  echter  Verbrecher;  dort  ist  das 
Ausfüllen  der  Kubrik  „Nnme  des  Vatei"s"  im  Taufschein  doch  bloss  Form- 
sache, und  für  unsere  Zwecke  nichts  Verwerthbares. 

Sehr  gnt  sagt  YerCuser  (8.  il8X  es  bestttaiden  gewisse  Beziehungen 
zwischen  Epilepsie,  Brandstiftnng,  Mjfvtielsmus  und  sexueller  Erregung  — 
es  fehlt  nur  das  hierher  gehörige  Moment  der  Grausamkeit 

Ebenso  richtig  sagt  Verfasser  (S.  13S):  „Wir  haben  keinen  Kanon 
des  Normalmenschen''  —  ich  gehe  aber  noch  weiter  uud  wiederhole,  schon 
einmal  Irgendwo  Ansgeftthrtes:  „Whr  haben  uns  noeh  nieht  darüber  ge- 
einigt,  was  heisst  normal?*  Wir  verstehen  entschieden  zwei  vOllig  Ter> 
schiedene  Beiniffe  darunter,  und  bevor  hierüber  nicht  Verständigung  er- 
füllet ist,  können  wir  nicht  weiter  roden.  Die  Einen  nennen  das  j,normah, 
was  vollkomuieu  richtig  ist  (uorwaier  Pulsschlag,  normale  Verdauung); 
die  Anderen,  das  die  Regel  bildet,  also  am  hftn^gsten  vorkommt;  wenn 
man  von  einem  „normalen  Mensdien'^  spricht,  so  m^te  man  kdnen,  ab- 
solut fehlerlosen  Körper,  denn  das  giebt  es  nicht,  sondern  einen  Menschen 
von  gewöhnlicher  gesunder  Beschaffenheit.  Das  sind  aber  zwei  ganz  ver- 
schiedene Bedeutungen,  und  wenn  wir  uns  nicht  auf  Eine  dei-selben  einigen, 
mflbHeo  Confnsionen  entstehen. 

Bei  der  Besprechung  der  kSrperiidien  Eigenschaften  der  V^brecfaer 
und  namentlich  bei  der  Behandlung  von  Lombroso  (S.  142 ff.)  legt  Verf. 
m.  E.  zu  wenig  Werth  darauf,  wie  Lombroso  seine  Zahlen  bokoninien 
hat  Er  stellt  Verbrecher  gegenüber  I>«ichtverbrechern,  in  Waiuheit 
aber  die  im  Kerker  Befindlidien  den  FVeihoumgeheiideii.  Unter  den 
Enteren  sind  aber  auch  alle  unschuldig  Bestrafton  nnd  alle  jene  mit- 
gerechnet, die  durch  unglücklichen  Zufall,  Irrthum,  äussersten  Zwang  zu 
einer  strafbaren  Handlung  gelangt  sind,  ohne  das  zu  sein,  was  wir  Ver- 
brecher nennen.  Ebenso  befinden  sich  unter  den  Freiherumgebenden  alle, 
die  schon  bestraft  sbd,  alle,  die  Im  Innern  sdhon  Verbreoher  sind,  aber 
durch  Zufall  noch  nicht  dazu  gelangt  sind,  ein  Verbredmi  zn  begeboa, 
oder  die  durcli  Lebensstellung  u.  s.  w.  überhaupt  nicht  dazu  kommen 
wenlen;  kriminalanthropologiscli  sind  sie  aber  Verbrecher  und  wenn  Lom- 
broso und  seine  Leute  ihre  Zahlen,  Messungen,  Vergleiche  und  Schlüsse 
bloss  an  momentan  Eingesperrten  nnd  Niehtemgesperrten  maehen  nnd, 
^^-ohl  auch  nur  machen  kOnneo,  so  hat  das  wissenschafdich  nicht  bloss 
keinen  Werth,  sondern  es  können  diese  nicht  bloss  gewagten,  sondern  von 
Haus  aus  falschen  Schlüsse  zu  gefuhrlichen  Irrtliümern  fiiliren. 

Befremdlich  ist  es,  wenn  \  erfaaser  (S.  149j  behauptet,  „die  Zeiten 
shid  vorüber,  ui  denen  sidi  das  Stndinm  der  Abarten  der  Qamieispradie 
lohnte".  Wir  fangen  ja  damit  erst  an,  die  Sadie  wisaenschaftlidi  zn  be- 
treiben, und  erat  auf  Grund  der  neuesten  Arbeiten  von  Kluge,  Stumme, 
Iv  Osch  er,  Schütze,  dann  aller  der  vielen,  die  Argot,  Slang  und  die 
sla vischen  Geheiruspraclien  beliuudeln,  wird  es  möglich  sein,  einmal  die 
hochwichtige  „Psychologie  der  Gannersprache"  zn  schreiben.  Die  prak> 


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874 


BesprediungeD. 


tisc-lie  Dcdeutnnt!:  dr-i-selbcQ  ist  voi-soli windend,  die  wissenflchaftliche  aber 
nicht  leiclit  zu  iiocii  zu  veranschlagen.  • 

Was  nun  die  Schlüsse  anlangt,  zu  denen  der  Verfasser  dieses  bedeut- 
samen Werkes  gelugt,  so  erfordert  es  auch  hier  einer  Anseinaadersetsang. 
Verfasser  gelaogt  zur  Notliwendigkeit  der  Abschaffung  des  Strafausmaasses 
auf  Gmnd  eines  nicht  richtifjeii  IJeispieles.  „Wenn  ein  Chirurp  eine  Ope- 
ration vomelimen  soll,  so  würde  er  weit  fehlen,  wenn  er  die  verlangte 
Operation  vornehme,  ohne  sieh  von  der  Nothwendigkeit  zu  Überzeugen/* 
Dasselbe  muthe  man  dem  StrafvoUzQgsbeamten  eq.  Der  Vergldch  stimmt 
nicht,  and  wollte  man  bei  ihm  verltleiben .  sd  müsstc  man  sagen:  Die 
Operation  war  die  Veruiliioihing.  niclit  die  Durchführung  der  Strafe,  riiul 
von  der  Kothwendigkeit  der  Verurtlieilung  hat  sich  der  Richter  im  Laufe 
des  Vorverfahrens  und  Uauptverfakrens  allerdings  überzeugt  Nach  der 
VerortheOong  handelt  ea  sieh  nvr  etwa  nm  nihige  Lagerung  des  operirten 
KOipers  und  dafür  hat  der  Krankenwärter  zu  soigen,  dieser  wäre 
also  in  Verfassers  Reispiol  dorn  8frnfv<»llzugsl)eaniten  zu  vergleichen.  Aber 
der  Vergleich  stimmt  überhaupt  nicht,  denn  die  moderne  Auffassung  von 
der  StrjJe  geht  la  den  wenigsten  Fällen  auf  Heilung  und  Besserung  — 
daran  gUmben  wir  nieht  mehr. 

Verfasser  findet  den  heutigen  Zustand  redit  bedenUicIi,  er  senge  von 
weitgehender  IN^t^litsnnsioliorhoiL,  gegen  die  energisch  eingeschritten  werden 
müsse,  uajueutlich  im  Wege  einer  socialen  Hygiene,  die  gegen  den  Alkuhol 
und  für  die  Sorge  für  Arme,  Kranke  und  Kinder  einzutreten  habe.  Wenn 
WUT  diesfalls  nnd  bei  den  weiteren  VorseUageD  dem  Verfasser  vollkommen 
recht  geben,  so  dürfen  wir  doch  sagen,  dass  wir  eine  Wendung  znm 
Besseren  wahnichmen  können,  die  allerdings  von  ganz  anderer  Seite  an- 
gebahnt wird.  Wir  haben  durch  Jalirtausende  das  Keciit  ledigUch  vom 
rein  juristischen,  logischen,  metaphysischen  Standpunkte  ans  betrieben, 
Paragraphen  gemacht  nnd  ansgeleg^  das  Objeet  des  Strafroehts,  den  Men- 
sehen  selbst  hat  Niemand  stn^Bit  hente  nnd  wir  am  Anfange  einer 
neuen  Methode,  und  von  dieser  erwarten  wir  mit  !!<  cht  nrues  Heil,  mit 
Kecht,  weil  wir  die,  bisher  vöUig  veruachliissigte  Uruudhige  unserer  Arbeit 
anzugehen  bestrebt  sind  —  Kriminalanthropologie,  Kriminalsociologie, 
Krimma^yehologle,  Krinünalistik,  Kriminalstatistik  —  das  smd  die  G6> 
biete,  von  denen  ans  wir  den  Kampf  gegen  das  Vcrbreclien  aufnehmen 
wollen  —  .ilicr  liovor  es  zur  eigentlichen  Arlieit  geht,  müssen  dieso  Gebiete 
&:&t  bebaut  werden  und  das  wird  viel  Müiie  und  viel  Kopfzerbrechen  geben. 


Draek  «vd  J.  B.  BlrieIif«U  lo  Laip^. 


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ARCHIV 

fOb 

mimAL  -  MTHKOPOLOGIE 

UND 


MIT  EINER  ANZAHL  VON  FACUMÄNNEUN 
HBUVSeiaiBBf 

Fbov.  Djl  UANS  gross 
DBJBIZmm  SAUD. 

MIT  16  ABBILDUNGEN  IM  TEXT  UND  2  TAFELN. 


LEIPZIG 

VEKLAG  VON  F.  C.  W.  VOGEL. 
1903 


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Inhalt  deö  dreizehnten  Bandes. 


Erstes  und  Zweites  Heft 

ausgegeben  25.  September  1908. 
Original -Arbeiten.  S«it* 

L  Über  Veriotzungen  unil  Tod  cbircli  nberfalnvnwerilon  vom  gcriehts- 

ärzüiehen  iSUuidpunkto.   Von  Prof.  Dr.  Paul  Dittricb  in  Prag  1 
IL  Die  gerichtliche VornnterBiidiiiiig.  Von  Referendar  Dr.  jur.R.Polsin  31 
in.  Eifnhningen  Aber  einige  wichtige  Gifte  nnd  deren  Nachweis.  Von 

Prof.  Dr.  Julius  Kratter  122 

IV.  Ein  Beitrag:  /iir  Kasuistik  der  Schlaftrunkcnbeii.  Von  Dr.  v.  Haclco- 

witz  iu  Innsbruck   161 

V.  Dfhr  Nachweis  der  Oewerfo»>  oder  GewohnheitsmiSig^ceit  als  Tat- 

beatantonerianal  nnd  lur  Überfüluiuig  inabeecmdere  des  gewerbs- 

mSBigen  Spiders.  Von  Landrichter  Hanfiner  in  Zwidcan    .  .  172 
Kleinere  Mittcihin^'on: 

1.  Alkobol  und  '/cu^enausHjtgen.    (Na«;ke)   177 

2.  Internationale  Kongrosse.  (Nücke)   177 

3.  Die  Gepnogenheit  als  SehaldamsdilieBiingügrund.  ( L  o  h  s  i  n  g )  l?^ 

4.  Kriminelle  Imitation.  (Lohsing)   180 

Btleherb  espreohnngen: 

a)  Von  Ernst  Loh  sing. 

1.  Das  srraf^'(>set/)>ucfa  f&T  dss  Deotscfae  Reich  nebst  dem  £in- 
führungsgonetz  ISl 

2.  Beiträge  zur  Psyebologie  der  AutMago  Ib2 

8.  Rosenblatt,  Res  jn^cata  nnd  Jostizirrtnm  184 

4.  A.  Heinong,  Über  Annabnicn  185 

r>.  Die  Straf recbtsn  fomi  in  Deutschland  and  der  Schweiz  ...  186 

b)  Von  Hans  Schneickert, 

6.  Dr.  Hans  Fischer,  Homosexnalitit  eine  physiologiache  Er^ 
scheinuiig  ?  186 

7.  Derselbe,  Beitrag  snm  Kapitel  der  Ekicennung  verschiedener 
BemCirton  fai  foro:  Der  Musiker  188 

8.  Albert  Sehr,  Äntliofa-operatfver  Eingriff  und  Strafrocht    .  188 

Berichtigung  191 


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f 

TV  luliiUtevorzeiclmi». 


DtHIn  Itofl 

anOfOgebeu  5.  Nuveuibcr  1903. 
Original- Ar  heilen.  Mit 

VL  Zur  Psycholofpi'  der  Zcugonaussagcn.  Beiti-ag  zur  psychologisrlicn 
Aiiiilyw  (In  Srinunung,  inj^bcwndcre  der  Suggestion  in  ihrer 
f orcuHi»chüu liciicutuug.  Von  ilunsiiichncickert,  licchUprakti- 
kant  in  Mflndien  193 

VIL  Inteniatioiiale  tatetinalteaadieVcwiiii^ping.  B«iklit  Sber  die  9.LMid«B- 

versammluDg  der  Landesgrnppe  Deatadies Bddi.  VonStMiMawalt 

Dr.  VVulffen  in  Dresden  .    .   212 

VIII.  Zur  Selbstmordfrage.   Von  Dr.  Buschan  in  Stettin  ......  281 

EL  Des  ('hurfür»t(>n  zu  Sachasen  etc.  Vnd  hmAgnnm  sn  Heaaen  etc. 
Offen  AuBBcüreibon, 
Der  Mordbrenner  vnd  Vorgiffter  halben :  Die  vom  Anti  Christ,  dem 


Babet  za  Rom  abgefertiget,  Dendach  Land  mit  Mordtbrandt  vnd 

TOrgifftnng zu beschedigen.  Item  HertzogJohana  Wilhelmen 

zu  SachHRen  cte.  Sonderlieh  aussehreihen .  mit  einuorieibter 
urgicht  vnd  bekentnis,  eins,  der  oberürten  beftcluHliger,  so  zu 


Weymar  gefenglich  einbracht,  vnd  erhalten  wirdet   235 

X.  Zur  Frage  dea  Berufsgebebnnidsea.  Von  HansGroß   241 

XL  WetÜbniMHu  mid  WiakelbtulunaelMT  in  DontieUand.  Von  Hans 

T.  Mnntenff el,  KftnigL  Kriminal-Kommiflaar  in  Berün  ....  248 

ZU  läne  bewunderoawAf^ge Leistung.  Von  Dr.  GOrres,  ReelitBanwalt 

in  Karlsnihe   264 

XUL  Da8  Gestiindnia  des  Verbrechera.  Vom  Landiicfatar  Hnnfiner  in 

Zwickau   267 

XIV.  T»eliech(>sla\\ iwhes  in  der  Gaunersprache.    Von  Ernst  Lohäing 

in  Prag   279 

XV.  Unlautere  Manipulationen  im  Geschäfts-  und  Verkehrslebeo.  Von 

Reditapraictilcant  Hans  Schnei  eitert  in  Httnohen   286 

Kleinere  Mitteilungen  von  Hedisinairat  Dr.  P.Nlclee: 

1.  Bdiendgenswerte  Worte  einee  VeiKeaaenen   291 

2.  Dar  angebUcfae  InfanliliBmua,  daa  geringere  Qehimgewicfat  und 

die  geringere  somatische  Variabilitilt  dea  Weibea   292 

H  Voruntersuchung'  in  Abyaainien   29S 

4.  äpiritiätischer  Schwindel   294 

5.  Schreckliche  Folgen  einea  fanatischen  KurpfnacherB  ....  296 

6.  Ein  amerikaniadier  Blanbart   29S 

7.  Vorsicht  bei  Hjrpotheaen   296 


.    .^üd  by  Google 


Inhaltavcraeicbuiü. 


V 


ViertM  Heft 

ausgegeben  17.  November  1903. 
Original- ArWeiton.  8«ito 

XVI.  Das  Leben  der  Waaderannen.  Von  Jüans  Ostwald,  Groß-Ucbter- 

fcldc  807 

XVII.  Die  KollekttvauWteUimg  der  Pulixeibehördcn  auf  der  Stadteauä- 

stellung  in  Draidai.  Von  k.  k.  GeriditBsekretir  FHodr.  Panl, 
Olmfitz.  (Hit  16  Abbildungen  im  Text  and  Tafel  LH)  ....  816 
XVUL  Zum  Falle  anf  S.  820  im  XII.  Bd.  Von  H.  Grofi  .'  .349 

XIX.  Forensiscb-psychologisch-itöychiatrische  Randglossen  zum  Prozesse 
Dippold.  itistM-siindero  nher  SadismoB.  Von  Medisinairat  Or. 
P.  Näckc  in  Hubertusburg  350 

Bücherbcsprcchnrif^  von  Hans  (»roß. 

1.  l'ie  (iron/.en  der  Ziirci  Imungsfahigkeit  und  die  Antbropologio  373 

2.  Strafrccbtliche  Abbandluugen    ...   370 

Druckfehlerberichtigung  876 


1. 


/ 


über  Verletzungen  und  Tod  dürch  Überfahrenwerdea  vom 
gericiitsärztlichen  tStandponkte. 

Von 

Prof.  Dr.  Fmü  Dittrlofa  in  Png. 

Voigetxvgen  in  der  Abteilung  f&r  gerichtliche  Medlslii  der  74.  Venammliuig 
deutscher  NsturforBdier  und  Ärzte  tu  Karlel»d  1902. 

Dil'  Vcrirt/'.unp'n  durcli  l  h^rfalin'nwt'nlt'n  traijeii  entsprechend 
tler  liescliaffenlieit  der  sie  vernrsaclienden  Ohjekte  in  der  Rej;el  mehr 
oder  woniiror  deutlicli  den  Cliüiakter  der  iilti'rliau)>t  dnrcli  stnnipfe 
oder  stnnipf kantige  Werkzeuf^e  entstandenen  \  erietzun^en  an  sichj 
dies  sind  Dinge,  die  ja  jedem  Arzte  hinlänglich  l>ekannt  sind. 

Anders  steht  es  mit  der  forensischen  Seite  die8eä  Gegenstandes, 
indem  gerade  bei  der  Beuitwortiing  foreoBisdi  wichtiger  Fragen  in 
Fällen  von  Überfabrenwerden  Einzelheiten  des  objektiven  Befundes 
in  Betraebt  kommen,  deren  wichtige  nnd  ausreichende  Verwertung 
für  forensische  Zwecke  eine  gewisse  Übnng  nnd  Erfahrung  in  der- 
artigen Untersuchungen  und  Begutacbtnngen  erfordert 

Zunftchst  sei  betont,  daß  nicht  jeder,  von  dem  es  sogar  in  Polizei- 
noten n.  dergl.  beißt,  er  sei  Überfahren  worden,  tatsächlich  auch  über- 
fahren worden  ist. 

Im  gewöhnlichen  Leben  \\  erden  häufig  auch  solche  Fälle  zum 
Überfahrenwerden  gereclinet,  in  denen  ein  Mensch  von  einem  Gefährt 
erfalU  und  zur  Seite  geschleudert,  von  vor  einen  Wagen  gespannten 
Pferden  niedergestoßen  und  getreten  wird  und  dergl.  Diese  Fälle 
gehören  aber  nicht  zum  Überfahrenwerden  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes,  sondern  nur  jene,  in  denen  tat.sächlich  die  liiider  eines  Wagens, 
eines  Eisenbahnzuges  oder  eines  anderen  Oefährtes,  oder  z.  B.  sich 
bewegende  Walzen  mit  verseliieden  beschaffener  Oberfläche,  wie  solche 
heutzutage  in  der  Lmdwirtbchaft  verwendet  werden,  über  eioen  Men- 
schen llinWi'--;^,-elien. 

Archiv  lür  Kriminalanthropuloine.  Xlll.  1 


2  !•  DlTTRlCH 

Der  Effekt,  den  ein  solches  Vorkommiiis  auf  den  menschlichen 
Körper  hat,  wird  innerhalb  gewisser  Grenzen  insbesondere  eineiseitB 
von  dem  Gewicht  des  Geehrtes,  dnrch  welches  das  Überfahren  er- 
folgt^ andererseits  von  der  individuellen  Beschaffenheit  des  Überfahrenen 
abhftngen. 

Ist  das  Geföhrt  ein  leichter,  unbelasteter  oder  wenigstens  nicht 
schwer  beladener  Wagen  oder  hat  ein  nicht  allzu  sdiwerer  Wagen 
Gummiräder,  so  ist  es  tatsachlich  möglich,  daß  die  Bäder  äußerlich 
am  Körper  des  l'lierfohrenen  keine  oder  nur  äußerst  geringfflgige 
Druckspuren  in  Form  von  streifeofönuigen  Hautabschürfungen  oder 
Quetschung:en  liintcrlnsson,  namentlich  dann,  wenn  der  direkt  Uber- 
fahrene  Körperteil  durch  hinhin/rlioh  <li('ke  Lajren  von  Weichteilen 
geschützt  oder  sehr  leicht  eindrUckbar  ist,  wodurch  noch  keineswegs 
ausgeschlossen  ist,  dal')  im  Gegensätze  zu  den  geringrfügipni  Läsionen 
an  der  Köq)eroherfläclH'  sieh  schwere,  ja  selbst  leljensjrcfälirliche  oder 
tödliche  Verletzungen  im  Innern  des  Körpers  finden  kr»nnen. 

In  letzter  Zt  it  hat  F.  C.  Th.  Schmidt')  einen  Fall  mitgeteilt,  in 
welchem  eine  Fraktur  der  llalswirhelsiiule  mit  liiieksicht  auf  die 
völlige  Unversehrtheit  der  Ilalshant  als  durch  l'berfahrenw  erden  von 
einem  Automobil  entstanden  gedeutet  wurde.  Wenn  die  Verletzung, 
wie  es  durch  die  Erhebungen  und  den  Fokalnugenschcin  in  diesem 
Falle  wahrscheinlich  gemaclit  ist,  tatsäeliiich  (hirch  i'herfahrenwerdea 
bewirkt  worden  ist,  so  hat  allerdings  das  l  ' herfahren  werden  durch 
die  mit  Gummi  versehenen  Bäder  eines  Automobils  sehr  viel  Wabr- 
soheinlicbkeit  für  sich,  da  eben  einerseits  die  Einwirkung  der  Gnmmi- 
rSder  den  Mangel  äußerer  Druckspuren,  andererseits  das  Gewicht  des 
Automobils  die  Schwere  der  Verletzung  der  Halswirbelsäule  zu  er- 
klären imstande  ist 

Beim  Überfahrenwerden  durch  schwer  beladene  Lastwagen,  durch 
Waggons  von  Pferde-  und  elektrischen  Bahnen,  durch  Eisenbahnloko- 
motiven  oder  Eisenbahnwaggons  kann  es  dagegen  wegen  des  hoch- 
gradigen Druckes,  welchen  die  bedeckenden  Weichteile  erfahren, 
nicht  vorkommen,  daß  an  der  Körperoberfläche  keine  oder  nur 
geringfügige  Dmckspuren  im  Bereiche  der  überfahrenen  Körperteile 
entstriun.  Diese  Druckspuren  präsentieren  sich  in  solchen  Ullen 
an  der  bedeckenden  Haut  entsprechend  der  Form  der  Angriffsfläche 
desjenigen  Teiles  des  Gefährtes,  welcher  direkt  den  Körper  trifft,  als 
ziemlich  ausgebreitete,  teils  mit  geraden  und  scharfen,  teils  mit  un- 


li  F.  C.  Th.  Schmidt,  Eiu  ^K^ltener  Fall  von  tSdIldier  Yerietzimg  der  Hals* 
Wirbelsäule.  Zeitsehr.  f.  Medizinalb.  1902.  Nr.  19. 


VerletzaDgCD  u.  Tod  durch  rberfabrenwerden  voni  gcrichtsSntl.  Standpunkte.  8 

re^i  inuir)i<:  gezackten  Kändem  verseheoe,  meistens  streifenförmige  £x- 
koriationen. 

Minder  Geübten  kann  gelcgentlicii  bei  einer  bestimmten  Lokali- 


aation  der  äußeren  Dmckspuren  deren  Dentang  Sehwierigkeiten  be- 
reiten. 

Lehrreieb  erscheint  mir  in  dieser  Beziehung  ein  Fall^  in  welchem 


4 


L  I>ITTJUCK 


die  durch  Überfahrenwerdeii  toh  der  Eieenbaliii  entstandenen,  mit 
Unterbrechungen  in  (^aerer  Bichtung  in  der  Halshaat  rerlanfendea 
Hantabschttrfungen  von  einem  Obdnzenten  als  eine  Strangfnrche  an- 
gesehen wurden  und  seither  an  der  Hand  einer  zu  Unterrichtszwecken 
angefertigten  und  aufbewahrten  Skizze  ohne  Kenntnis  des  l&brigen 
Sektionsbefnndes  von  einem  und  dem  anderen  in  gleicher  Weise  ge- 
deutet werden. 

Bd  genauer  Betrachtung  ist  man  in  der  Lage  gewesen»  schon 
aus  der  Beschaffenheit  der  strangfnrchenartigen  Druckspur  (Fig.  1  u.  2) 
allein  zu  erschließen,  daß  dieselbe  nicht  von  einem  Strangwerkzeuge 
herrühren  kann,  da  die  Druck.s]nir  auf  der  linken  Halsseite  an  der 
Grenze  «regen  die  normale  Haut  hin  in  vertikaler  Ebene  scharf  absetzte 
(Fi<r.  2  a),  ohne  gegen  diese  Hautpartien  hin  an  Intensität  a 1 1  ni  ä b  1  i  c  Ii 
abzunehmen,  Verhältnisse,  wie  sie  bei  einer  Strangfurclie  überhaupt 
niilit  vorkommen  können.  Daß  an  don  direkt  Überfall renen  Stelh'n 
des  Halses  die  Haut  in  größsorer  Ausdehnnn;::  unversehrt  geblieben  ist, 
hat  seinen  (Irund  offenbar  in  einer  Verscliifbuni:  und  dadurch  be- 
dingter l''alt(  iil)iMun^-  in  der  Hulshaut,  wobei  (H«'  im  Kaltental  p  i  i:i'n(>n 
Haut))artien  mit  den  Kadern  der  Eiseubahnwaggons  in  gar  keiue  direkte 
Berührung  kamen. 

Eines  allerdings  wäre  möglich,  daß  sieh  nämlich  gelegentlich 
einmal  unter  einer  derartigen  durch  rberfahren  am  Halse  entstandenen 
r)rueks|)ur  eine  wirkliche  Strangfurche  verbirgt,  resp.  letztere  durch 
die  später  einwirkende,  weitaus  bedeutendere  mechanische  Gewalt 
ganz  unkenntlich  gemacht  wird. 

Möglich  wäre  die  ^kennung  einer  Strangfurche  innerhalb  einer 
stark  ausgeprägten,  durch  eine  wuchtige  mechanische  Gewalt  ent- 
standenen  Dmckspur  vielleicht  höchstens  dann,  wenn  diese  letztere 
Gewalt  zu  einer  Zeit  einwirkt,  wo  die  Strangfurche  einerseits  schon 
einen  bedeutenden  Grad  von  Vertrocknung  erreicht  hat,  andererseits 
eine  besondere  Zeichnung  beispielsweise  in  Form  sogenannter  sekun- 
därer Leisten,  wie  solche  nach  Strangulationen  mit  neuen  Stricken 
beobachtet  werden,  aufweist.  Allerdings  dürften  wohl  nur  einem  sehr 
geübten  Beobachter  solche  Einzelheiten  nicht  entgehen. 

Von  den  eigentlichen  durch  Überfalirenwerden  entstehenden  \  er> 
letzungen  haben  wir  jene  zu  trennen,  deren  Entstehung  dem  l  her- 
fahrwiwerdcn  unmittelbar  vorangehen,  dasselbe  zeitlich  begleiten  oder 
ihm  unmittelbar  folgen  kann,  und  welche  daher  je  nach  den  un- 
niittell)aren  Folgen,  die  das  1.  herfahren  für  den  lietreffenden  nach 
sich  zieht,  teils  intravital  teils  pi»stmortal  entstellen  können.  Derartige 
Verletzungen  können  auf  verschiedene  Weise  zustande  kommen,  z.  B. 


Verietrangen  u.  Tod  darch  ÜlwifahraDwerdeD  vom  gerichtsirztl.  Standpunkte.  5 

durch  spitzt^  oder  sdiarfkantifre.  vorrao:ende  Teile  an  Lokomotiven, 
durch  HahnräunuT,  durch  Stol^  oder  Sturz,  wenn  nielit  der  bereit» 
auf  der  Fahrlialin  rt'sp.  auf  dem  Opleisc  Ii e<; endo  Körper  überfahren, 
sondern  muIut  d<  r  stehende  o(h'r  in  Heneiruni:  befindhche  KTtrjjer 
von  dem  tJefährt  erfalU  und  niederjjrcsehleudert  wird  oder  dadurch, 
dali  die  Leiche  eines  bereits  von  einer  Lokomotive  l'berfalirenen,  von 
den  nachfol^'enden  Wa^'^rons  weiter^reschleift  oder  fort^^eschleudert  wird 
und  (hibei  an  irj^endwelche  feiste  Objekte  oder  freii:en  (hm  Boden  an- 
prallt. Auch  auf  diese  Weise  können  selir  holie  ilrade  der  durch 
stumpfe  und  stumpfkantii;e  Werkzeuge  überhaupt  entstehenden  Ver- 
letzungen zustande  kommen. 

Besondere  dort,  wo  das  ÜberfabreD  dnioh  sehr  sekwere  Objekte^ 
insbesondere  dureh  die  Eisenbahn  erfolgt,  wird  es  meist  nieht  schwer 
fallen,  die  durch  das  Überfahren  entstandenen  Verletzungen  von  allen 
anderen  zn  trennen,  während  in  jenen  Fällen,  in  denen  das  Übe^ 
fahrenwerden  dnrch  leichtere  Gefährte  erfolgt,  ttberhanpt  die  Diagnose 
des  Überfahrenwordenseins  auf  Grund  des  objektiyen  Befundes  ge- 
legentlich unmöglich  sein  kann,  weil  auf  diese  Weise  Verletzungen 
entstehen  können,  welche  sich  Ton  auf  andere  Weise  mechanisch  ent- 
gtandenen  Verletzungen,  wie  z.  B.  von  Verletzungen  durch  Sturz,  in 
keiner  Weist  zu  unterscheiden  brauchen. 

Für  den  Gerichtsarzt  ist  nun  aber  eben  die  Frage, 
ob  wir  auf  Grund  des  objektiven  Befundes  an  einer 
Leiche  allein  die  Entstehung  von  V erl etzun^i^en  durch 
f  berf  alirenwerden  feststellen  können  oder  nicht,  von 
gröhter  Beden tunir. 

Im  alipineinen  möchte  ich  beliaupten,  dal»  dies  um  so  leiehter 
sein  wird,  je  wueiitiirer  und  schwerer  das  (iefälirt  ist,  durch  weh'lies  das 
I  berfalirenwenU  ii  iierhei^refiihrt  wurde,  am  leichtesten  somit,  wenn  ein 
Mensch  von  der  Eisenbahn  überfahren  worden  ist.  Es  ist  das  Bild  hoch- 
gnadi^aT  Zermahiiun^r,  welches  die  von  der  überfahrenden  (  n'walt  direkt 
getroffenen  Körperteile  und  Körperorgane  in  solchen  Fällen  aufweisen. 

Die  Verteilung  der  Verletzungen  ist  keine  willkürliche,  sondern 
erfolgt  bei  vollständigem  Überfahrenwerden  des  Körpere  in  ^er  mehr 
oder  weniger  ghitten  Ebene,  welche  entweder  parallel,  schräg  oder 
senkrecht  zur  Längsachse  des  Körpers  verlauft. 

Die  flbrigen  vor  dem  Oberfahrenwerden  oder  während  desselben 
entstandenen  Verletzungen  können  verschieden  lokalisiert  sein,  werden 
aber  beim  Überfahrenwerden  von  der  Eisenbahn  niemals  jenen  Grad 
von  Quetschung  resp*  Zennalmung  aufweisen,  welchen  man  an  den 
direkt  ttberfahrenen  Körperteilen  beobachtet 


6  1.  i>ITTBlCB 

Schon  hieraus  wird  in  vielen  FKUen  der  Schluß  gezogen  werden 
können,  daß  Verletzungen  in  konkreten  Fällen  nur  durch  Überfahren- 
werden  entstanden  sein  konnten. 

£inige  Beispiele  sollen  das  Gesagte  erläutern  <)* 

1.  FalL 

J.  V.,  2' ijülirips  Mjiddicn,  wurde  von  einem  Wagen  ttberfahren* 

Tcm1  ;un  iiiiclisteii   Vnüe.    Gerichtliche  Sektion  nin  ^.  Oktoher  1S03. 

In  iler  Mitte  Uer  ötim  und  an  det*  linken  U'auge  geringe  Jülutunterlau- 
fungen. 

Bluterguß  unter  die  Hant  des  rechten  Ober-  und  ünter- 

sehenkcls.  verbunden  mit  einer  weit  i:*'h(iiden  Unte  [  m  I  n  je- 
rnnfr  dt-r  Haut  und  Zerre  i  liu  n  ir  der  Muskulatur:  ausv'edehnte 
liKiwunde  auj  linken  Tu  t  e  r  s  c  h  e  n  ke  1  ui  i  t  Ze  rr  e  i  lUi  n  der  Mus- 
kulatur. Gruiie,  bis  auf  die  6oliie  reiciiende  Luppeuwuude 
am  linken  Fnße.  Die  Mittelfnßknochen  fast  ganz  bloßgelegt, 
mehrere  derselben  gebrochen  und  von  den  Zehen  abgerissen. 
Anilmie  der  inneren  OrL'ane. 

Die  Verletzungen  wareu  ihrer  allgemeinen  Natur  nach  tödlich. 

2.  Fall. 

J.  M.,  "in  jähr.  Kutsclit  r.  wurde  am  Dezeudier  1  SM3  infol-re  ei^'ener 
Unvorsiditigkeit  von  eiueui  Wagen  überfahren;  er  sali  am  Vorderwagen, 
wollte  die  Wagenbremee  anziehen,  stflrzte  dabei  vom  Wagen  hmmter  and 
geriet  unter  die  Räder.  Tod  am  nächstm  Tage.  Sanitätspolizeil.  Ob- 
duktion am  2.  Januar  1S*.)4. 

Auf  der  Seheitelhrtlic  eine  I  rm  lanijre.  nnt  blutig  infiltrierten  Itiindern 
versehene,  bis  auf  das  l'criost  reidiende  KilJwunde.  In  der  rechten  Pieura- 
]ah)»  100  g  Blut  Die  7.,  8.  und  9.  Rippe  rechts  entsprechend  der 
stärksten  Krümmung  frisch  gebrochen;  die  Pleura  parle talls  ent- 
drechend  den  Hruchstellen  eingerissen  und  in  deren  ['nigebung  von 
mäliigen  Blutanstrittm  durchsetzt.  Im  Unterleib  Uber  zwei  Liter  Blut,  Der 
rechte  Leberlappeu  zerrissen. 

Die  Verietzungen  waren  ihrer  allgemidnen  Natur  nach  tSdIldi. 

3.  Fall. 

A.  N.,  34  jähr.  Schmied,  wurde  auf  der  Bahnstrecke  tod  aufgefunden. 

Gerichtliche  Sektion  am  4.  Februar  1*^94. 

Vereinzelte  grölierc  und  kleinere,  vertrocknete  Exkuriatiunen  am 
Kücken,  an  der  rechten  CJeiiilibacke  und  an  der  1  linterfläche  des  rcdjten 
Oberschenkels.  Veremzelte  QuetBch-  und  Rißquetsdiwunden  am  behaarten 
Kopfe  und  an  der  N.isen Wurzel;  eine  Hautabechflifung  entsprechend  dem 
rechten  StimbcinlM»cker. 

Am  Hals  und  an  beiden  ächultern  ausgebreitete,  streifeu- 

1)  Das  in  den  im  Folgenden  anzuführenden  17  Fällen  gesperrt  Gedruckte 

bezieht  sich  auf  jene  Veiletziin^rcii,  deren  Knt»tehung  durch  direktes  rberfahren» 
werden  mit  Bestimmtheit  oder  gröl>ter  Wahrsch^Hcbkeit  anzunehmen  ist 


VerietEangra  u.  Tod  dnrdi  Überfabrenwerden  vom  gerichlBintl.  Standpunkte.  7 

fr>rini<re,  rotbraun  vertrocknete,  quer  verlaufende  Exkoria* 

tiontiii. 

Die  rechte  Hand  vollständig  zertrümmert;  die  Weichteile 
teile  an  derselben  vielfach  serriasen,  die  Knoehen  vielfach 

gebroch  en. 

Jläni^'o  IMiitnnfrcn  in  den  innoron  Mfiilnp'n  an  der  llirnliasis. 

Blutungen  im  L' n  terli  au  izeli-  und  Unteili.iutfctt^reu  ehe 
und  in  der  Muskulatur  des  vorderen  unteren  llaUabBcliuittes. 
Die  Halsmusknlatur  links  z.T.  vollstftndig  quer  durchrissen, 
so  insbesondere  der  linke  Kopfnicker.  An  der  rt-chten  Hals- 
seifo  liiiiter  (l<'ni  K  n  pf  n  icker  ei n e  f.iU8t{;r<»l5t'.  mit  tl  u  ii  keif  1  iis- 
sigem  lilut  j^o  füllte,  bis  hinter  die  Wirbelsäule  sieb  er- 
streckende Höhle,  in  deren  Bereiche  die  Muskulatur  iu 
großer  Ausdehnung  zerrissen  ist  Die  Halswirbelsftule  mehr> 
fach  url. rochen,  z.  T.  vollständig:  zerdrückt;  die  Weiehteile 
v<»r  (Irr  Wirbelsäule  und  /. n  beiden  Seiten  ihu-selben  von 
aus;;e  breiteten  Blutaustritten  durchsetzt  und  in  grolier  Aus- 
delinun^  zerrissen.  Der  Ualsteil  des  Rückenmarkes  zer- 
quetscht Am  Kehlkopfe  ein  von  oben  nach  unten  verlau- 
fender, vollständiger  Bruch  in  der  voi»deren  Mittellinie  des 
Ringknorpels. 

An  der  I.un;:en<il»erfl:u-lie  und  im  parietajen  Blatte  des  Brustfells  zu  beiden 
Seiten  der  Wirbelsäule  Blutungen.  Keichliches  Blut  im  Herzen  und  in  den 
großen  Gefäßen.   Leber,  Milz  und  Nieren  von  mittlerem  Blotgehalte. 

Tdd  durch  Zertrüinniun^';  der  Halswirbelsäule  mit  Zen|uetschung  des 
Ualsmarkes.  Durch  dieselbe  direkte  (ü  w  alt  Zei-schniettenuifr  der  n  ebten  Hand. 

Offenbar  S  e  1  bst  ni  o  rtl .  wofür  der  Sitz  und  die  \'»itiibin;r  der  Ver- 
letzungen am  Halse  und  die  isolierte  Verletzung  der  reciiieii  Hand  spricht, 
während  sogenannte  sdcundäre  Verletzungen  f^len. 

Einstellung  des  Strafverfahrens  naeb  §  !Hi  St.P.O,.  in  welchem  u.  a. 
die  Rede  von  der  Kinstellunu'  ist  für  den  Fall,  als  der  iJtaatsanwalt  keinen 
Grund  zur  weiteren  Verfolgung  findet. 

1.  Fall. 

Fr.  K..  Jli  jälir.  Vagabund,  kam  am  20.  Februar  is'.M  abends  .")  T'br 
in  trunkenem  Zustande  ins  städtische  Arrestlians,  um  sich  dort  reini^'eii 
zu  lassen.  Da  er  sich  nicht  abschaffen  liel>,  wurde  er  von  zwei  daselbst 
bediensteten  Wachleuten  hinausgeworfoi.  Zu  dieser  Zeit  fuhr  ein  mit  Sand 
beladener  Wagen  am  Ai-resthaus  vorbei.  Fr.  K  taumelte  in  die  Pferde 
hinein,  geriet  unter  dieselben,  kam  unter  die  Bäder  und  blieb  auf  der  Stelle 
tod  liegen.    LJericbtliche  Sektion  am  22.  Februar  IS^M, 

An  der  linken  Kopfseite  eine  grolie  läppen  förmige  KiB- 
qnetschwunde  derllaut;  die  linksseitige  Schläfenmuskulatur 
von  ausgebreiteten  Blutaustritten  durebsetzt.  zerrissen. 

Hinter  den)  reeliten  Ohre  eine  kl einbandtellergrofJe,  mit 
gerissenen  und  ,i:<Mniet8chten  Bändern  versehene  rtindliche 
Hautwunde,  durch  welche  man  mit  der  Hand  weit  in  die  Tiefe  bis  vor 
die  Wirbebänle  leicht  vordringen  kann. 


8 


I.  DrrTBiCH 


Die  liaLsliant  an  ausgebreiteten  Stellen  abgeschttrft, 
dnukeliiiaiin,  lederartijr  vertrooiviiet. 

Unter  dem  Periost  des  Schädeldache»  ziemlich  ausgebreitete  Bchwärz- 
Jidie  Blatanstritte.  Die  inneren  Meningen  nn  der  OberflScfae  dee  Kleinhirns 

und  vor  demselben  von  aiisjrebreiteten  Blutungen  dordisetzt. 

Das  verlänfrerte  Mark  vollständig  ([uor  d n rcligerissen,  die 
Rückenmarksiil. stanz  in  der  Nachbarschaft  stark  ^requetscht. 
In  der  lIaUmu.skula.lur  stellenweise  ausgebreitete,  schwärzliche 
Bintanstritte. 

Die  Oebilde  im  Mnnde  TOÜBtänd  /.errisscn:  die  Zunge,  die  ans 
dem  Munde  stark  von-a;:^.  ;nn  O runde  fast  vollstiindi abj^erissen. 
Der  Unterkiefer  zeigt  in  seiner  Mitte  einen  vtillständigen,  von 
oben  nach  unten  verlaufenden  Bruch;  der  Uberkiefer  mehr- 
faeh  gebroehen. 

Der  1.  Halewirbel  vom  Hinterhauptbein  volUtlndig  abge- 
rissen. 

Die  Verletzunp^en  waren  ihrer  aliicenieinen  Natur  nach  tödlich :  eine 
zufällige  Eutätehung  derselben  auf  die  durch  die  Erhebungen  festgestellte  Art 
maßte  ab  möglich  zu^e^^oben  werden. 

Anklage  wegen  Wrgehens  gegen  die  Sicherheit  des  Lebens  (§  335 
n.  St.G.).  Der  r>i'M'lmMigtf'  wurde  nadi  §  2r>*>.  'A  der  ö.  St.P.O.  freige- 
sprochen, da  der  Geriditshof  die  Schuld  nicht  als  ei'wiesen  angenommen  hat 

5.  Fall. 

W.  ('.,  31  jähr.  Taglöhner,  ist  von  einem  Wagen  gefallen  und  von 
denisellien  iil>erfahren  worden.  Komplizierte  Fraktur  des  rechten  Unter- 
schenkels. Die  gesphttcrteu  lirucheudeu  wurden  im  Krankeuhause  abgesägt 
ond  dnrdi  HetiUldrahte  vernnigt  Oeriohtliche  Sdction  am  17.  April  1895. 
Starke  Fäulnis  der  Leiche. 

Komplizierte  Fraktur  des  rechten  Unterschenkels  mit 
au8ge<k'l m  t  er  .1  au ch  u  n  g. 

Akuter  ^lilztumor.  Parenchymatöse  Degeneration  des  Herzens.  — 
Tod  an  Sepos. 

Die  Verletzung  des  üntersdienkels  nirlii  ilm  i-  allgemeinen  Natur  nach 
todlieh,  jedenfalls  aber  eine  an  und  für  sich  schwere  körperliche  Heschädi- 
p;nng.  die  auch  im  günstigsten  Falle  mit  einer  mehr  als  liotägigen  üesund- 
heitsstörung  uud  Berufsunfäliigkeit  verbunden  gewesen  wäre. 

EhisteUang  des  Strafverfahrens  nach  $  90  St.P.0. 

6.  Fall. 

J.  St.,  1()  jähr.  Dieustkueclit,  wurde  beim  Eggen  von  einer  mit  spil/eu 
Stacheln    versehenen  Eisenwahse  ftberfahren.     Qeiriehtliehe  Sektion  am 

12.  Mai  IS  1)4. 

Zahlreiche  K  i  (}  u  e  tsc  h  w  n  n  d  e  n  und  zwar  entsprechend  der 
äulieren  Hälfte  des  rechten  8  e  i  I  «n  wa  n  d  Ii  e  i  n  s.  in  der  rechten 
S c h u 1 1 e r g c g e u  d ,  unterhalb  des  1  i u k e n  S c h  u  1 1  e r Ii  I  a  1 1 e s ,  in  der 
rechten  Axillarlinie  entsprechend  der  6.  Rippe,  entsprechend 


Verletzungen  u.  Tod  durcl)  I'berfahrenwenlen  vom  gericlitsärztl.  Standpunkte.  9 

der  oberen  Grenze  der  rechten  Synchondrosis  sacro-iliaca, 
sowie  an  der  äuljoren  Seite  des  linken  (»herarmes.  In  der 
K r eu z bei nfre^rend  eine  {rroüe  Lappenwunde.  An  der  linken 
Seitenfläche  de«  Brustkorbes  zwei  10  cm  lange,  streifen- 
föruii;re  vertrocknete  Ex koriatio n en.  —  In  der  Umgebung 
aller  Wunden  bedeutende  Blutunterlaufnngen. 

Splitterfraktur  in  der  Mitte  des  linken  Oberarmknoehens. 

Im  rechten  Seiten  wand  bein  ein  fast  guldenstüekgrosses 
rundliches,  unregelmäßig  begrenztes  Loch.  An  dieser  Stelle 
die  harte  Hirnhaut  und  die  weichen  Hirnhäute  zerrissen;  zwi- 
schen den  weichen  Hirnhäuten  Uber  der  ganzen  rechten  Groß- 
hirnhälfte ein   bedeutendes  Rlutextravas.it.     Die  Hirnsubstanz 


Fig. 


entsprechend  den  Hi.ssen  in  den  Hirnhäuten  weich,  zerrissen,  von 
Blutaustritten  durchsetzt. 

In  beiden  Hrustfellsäcken  etwas  Blut. 

Die  Wunde  in  der  rechten  Axillarlinie  dringt  zwischen  der 
9.  und  10.  Hippe  in  die  rechte  Pleurahöhle  ein  und  läßt  sich 
durch  das  Zwerciifell  bis  2  cm  tief  in  den  rechten  Leherlappen 
verfolgen. 

Die  Verbindung  des  Kreuzl»eines  mit  dem  linken  Darm- 
bein vollständig  gelöst.  Das  linke  Darmbein  in  seiner  hin- 
teren Hälfte  gebrochen,  ebenso  der  linke  horizontale  Scham- 


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10 


I.  DlTTRICH 


belnast:  tlie  Weichteile  in  der  Umgebunjr  von  ausgebreiteten 
Blutextravasaten  du  rclisetzt. 

Die  Verletzuiij,'en  waren  ihrer  allgemeinen  Natur  nach  tödlich. 

Einstellung  des  Strafverfahrens  nach  §  90  St.T.O. 

Die  Verletzungen  durch  Stachelw.ilzen  zeigen  insofern 
gewisse  Eigentiinilichkeiten,  als  sich  ihre  Wirkung  aus  der  stumpfen 
Gewalt,  welche  von  der  W^alze  als  solcher,  und  aus  der  Wirkung, 


Fig.  4.  Fig.  5. 

welche  die  einzelnen  Stacheln  durch  Eindringen  in  die  Gewebe  aus- 
üben, zusjimmensetzt.  Die  durch  die  Stacheln  gesetzten  Einzelnläsionen 
bilden  eigentlich  Sticliverletzungen,  deren  Form  im  allgemeinen  durch 
die  Form  des  Querschnittes  der  einzelnen  Stacheln  bestimmt  wird,  wie 
dies  bei  allen  Stichverletzungen  der  Fall  ist.  Aus  den  beigegebenen 
Abbildungen  (Fig.  ^,  4,  5)  ist  zu  entnehmen,  daH  es  sich  hier  um  drei- 
kantige Stacheln  gehandelt  hat;  dementsprechend  findet  man  auch 


deutlich  dreistralilige  Wunden,  die  in  Fig.  ä  allerdings  zum  Teile  nur 
als  oberflächliche  Druckspuren  in  Form  von  E.xkoriationen  auftreten. 
Trotzdem  kann  aber  die  Form  der  durch  solche  Stacheln  gesetzten 
W^unden,  die  übrigens  entsprechend  der  Entfernung  der  einzelnen 
Stacheln  voneinander  gleichweit  voneinander  liegend  die  Körper- 
nberfläche  besetzen,  einerseits  durch  die  Dicke  dep  Weichteile  über 
den  Knochen,  andererseits  durch  die  senkrechte  oder  schräge  be- 
ziehungsweise tangentiale  Einwirkung  der  einzelnen  Stacheln  wesent- 


Verletzungen  u.  Tod  duith  rbcrfalirenwerden  vom  gerichtHfiiytl.  St:indpnnktc.  1 1 


lieh  modifiziert  werden.  Dies  zeij^en  die  durch  Fig.  6,  7  und  8 
wiedergesehenen  \'erletzungen,  an  denen  die  dreistriihlige  Form  nur 
mehr  wenig  angedeutet  ersclieint,  ferner  Fig.  9  und  ID,  wo  die  Form 
der  Verletzungen  ganz  uuregeimäliig  ist,  und  Fig.  11,  wo  wir  gar 


Fig.  s.  Fig.  9. 


keine  groben  Läsionen  finden,  sondern  nur  teils  streifenförmige,  teils 
rundliche  Kxkoriationen. 

Analog  verhalten  sich  hegreiflicherw-eise  jene  Uisionen,  welche 
durch  Stachelwalzen  entstehen,  die  Bestandteile  von 
Maschinen  hilden.  So  salien  wir  ebenfalls  gröl»- 
tenteils  deutlich  dreistrahlige,  gleichweit  vonein- 
ander entfernte  Verletzungen  an  beiden  oberen 
Extremitäten  bei  einer  Frauensperson,  welche  da- 
mit besciiäftigt  war,  Ölkuchen  in  einen  sogenann- 
ten Olkuchenbrecher  zu  schieben,  dessen  wirk- 
same Bestandteile  zwei  nahe  aneinander  befindliche,  sich  rasch  rotie- 


Fig.  11. 


n  nd  gegeneinander  bewegende  Stachelwalzen  waren.  Die  betreffende 
Arbeiterin  kam  bei  dieser  Arbeit  mit  der  einen  Hand  den  beiden  Walzen 
zu  nahe;  die  Hand  wurde  zwischen  die  Walzen  hinabgezogen  und 
zennalmt;  nun  wollte  sie  mit  der  anderen  Hand  die  bereits  von  der 
Maschine  erfaßte  Extremität  ergreifen  und  herausziehen;  dabei  wurde 
aber  auch  die  zweite  Hand,  da  die  Maschine  nicht  sofort  zum  Stehen 


12 


L  DlXTBICB 


<ribraelit  werden  konnte,  zwischen  die  beiden  Stachelwalzen  hinab- 
gezogen  und  ebenfalls  zeriiuilrnt. 

Beide  oberen  lOxtreniitiiten  luiilUen  i)arliell  operativ  entfernt  werden, 
die  eine  dureii  Amputation  des  Oberarmes,  die  andere  durch  Exarti* 
kulation  im  KIlliopMijreb'nke, 

Entsprechend  den»  dreieckigen  Querschnitte  der  einzelnen  btacLeln 
zeigten  auch  hier  die  einzelnen,  durch  Eindringen  derselben  in  die 

Gewebe  entstandenen  Wunden  eine  dreistrablige  Gestalt;  daneben  fand 
man  aber  ebenfalls  Wanden,  welche  diese  t}  pische  Form  nicht  zeigten, 
trotzdem  sämtiiehe  Wunden  durch  Stacheln  von  gleicher  Beschaffen- 
heit gesetzt  worden  waren. 

7.  Fall. 

A.  F.,  45  jähr.  Kutsclier,  wurde  angeblicli  infolge  eigener  Unvoi-sichtig- 
keit  von  «nem  mit  Ziegeln  bdadoien  Wagra  flberfahron,  indem  er  in 

trunkenem  Zustande  unter  den  Wagen  fiel  und  das  Hinderrad  über  ihn 
hinwegging.    Tod  nacli  kurzer  Zeit.  ( ierii-htlielie  J^i-ktion  am  \).  Aw^.  is'.t."». 

Über  der  rechten  Brustwarze  eine  t»  cm  lange,  I  cm  breite 
vertrocknete  Exkuriatiou.  Ausgebreitete  Blutun terlauf uugen 
am  rechten  Oberarm. 

In  der  rechten  Pleurahöhle  300,  m  der  linken  400  g  Blut 

Der  r II  t crl  ;i  p p e n   der  rechten   Lunge   tief  und  iinreL'el 
mäßig  ein  <;erisäea;  au  der  äulieren  Fläche  des  liukcu  Unterluppeus  ein 
seichter  Einriß. 

Rechts  Fraktur  der  2.-7.«  links  der  3. — tt.  Rippe. 

In  der  Pleura  costalis  mehrfadic  Blutaustritte;  dieselbe  links  eatq>re- 
cfaend  der  Frnl<tm"stelle  (U'r  1.  und  .').  I{ip|»e  durchrissen. 

Zwei  kleine  Ekehymo.sen  nahe  der  Hcrz.spit/.e.   2  I  lUiit  im  Al>domen. 

An  der  unteren  Fläche  des  rechten  Leberlappeus  eine 
Kapselzerreißnng  und  ein  7  cm  langer,  tiefer  Einriß  im  Ge- 
webe. An  der  MilzoberflAche  mehrere  teils  seichte,  teils 
tiefere  Einrisse. 

Nahe  dem  l'vlorns  ein  rundlicher.  2 -gu  1  denstOckgroRer 
penetrierender  liiß  mit  ziemlich  scharfen  Uändern,  wobei  die 
Sohleimhaat  am  Rande  des  Defektes  stellenweise  fetzig  zer- 
rissen und  allgehoben  ist;  die  Umgebung  blutig  suffundiert.  Die 
Serosa  des  Dickdarms  und  das  retroperitoneale Zellgewebe  Stellen- 
weise von  Blutungen  durciisetzt. 

Speisereste  in  der  Bauchhöhle. 

Tod  an  innerer  Verblutung  infolge  der  inneren  Verietznngen,  daher 
letztere  ilirer  all^^enieinen  Natur  nadi  tödlich. 

EmsteUung  des  Strafverfahrens  nach  §  90.  St.P.O. 

8.  Fall. 

W.  B.f  64  jlUur.  Kutscher,  wollte  sdnen  im  Fahren  begriffenen  Wagen 
bestdigra,  fiel  infolge  eigener  Unvotsichtigkdt  unter  denselben,  wurde  aber> 


Vcrietzungen  n.  Tod  durch  ÜberCahmiwerd«)  vom  geriditsiRtL  Standpunkte.  18 

fahren  un<1  scliwer  \ cHctzt  ins  Krankenhaus  gehracht,  wo  er  4  Tage  spftter 
starb.    8anitätsj)i»li/,«  ili»'h("  Sektion  am  10.  Auj?ust  lbi>5. 

Kdne  Kontiuuitätstreunungen  der  bedeckenden  Weichtoile.  Die  Haut 
Ober  der  ganzen  rechten  Beckenhälfte  sowie  Aber  der  Symphyse, 
7..  T.  auch  noch  Uber  der  linken  Beekenhilfte  blinlich  verfftrbt, 
stark  hlufiniterlauf en. 

Im  unteren  Abschnitte  des  .lejunum  ein  etwa  4  ecni  ;;:ii»l'ies, 
mit  unregelmältigenf  gerissenen  Käudern  versehenes  Loch  in  der 
Darm  wand,  dnn'h  welches  chymOse  Maasen  hervordringen. 

Am  Hocken: 

a)  Zerreiriun{;  lieider  IIf'<»s;ikral\ t'rliindungen; 

b)  ZerreiiiunfT  der  Synipliysis  (»ssium  pubis; 

c)  Beiderseitige,  symmetrisch  {relagerte  Fraktur  des  hori- 
zontalen und  absteigenden  Sehambeinastes. 

Das  sub|)eritoneale  Zellgewebe  Überall  blutig  suffnndiert. 

Die  Verletzungen  waren  ihrer  allgemehien  Natur  nach  t&dücb. 

9.  Fall. 

F.  H.,  Kijähr.  Schlnsser.    Von  einem  mit  Schotter  bcladenen  Wagen 
Überfahren.  Tod  eme  Stunde  später.  Geriehtlidie  S^tion  am  14.  Okt  1895. 
Kldne  Exkoriationen  ohne  Bintunterlaufung-  entsprechend  dem  linken 

Jochbonfcn  und  an  der  linken  Seite  des  Vnrtleihalses. 

Mni'i^M"  |{|iitun;_'<'n  in  der  l^nistninskidatur  vorno,  ebenso  der  Hinler- 
seite des  unverletzten  Brustbeines.  licchts  etwas  Blutung  in  der  Um- 
gebung der  großen  Halsgefäße. 

In  der  rechten  Pleurahöhle  '  2  1  Blut.  An  der  Oberfläche  beider 
Lnnpren  /.ahlreicho,  bis  kreuzer;rro['e  Blutaustritte  und  einzelne  oberflädiliche 
Einrisse  in  der  Nähe  d»s  reclitt  n  Luiiirtidiilus. 

Au  der  äußeren  Fläche  des  l'erikards  und  au  der  llerzoberi'läche 
zahlreiche  kleine  Blutaustritte. 

Im  Unterleib  >/i  1  Blut. 

l>er  rechte  Lflierl;i])|>en  f.ist  \  m  1 1>  t  ii  11  il  i  zertrfhnin  ert;  im 
übri^'en  mehrere  subkapsuläre  Blutuugcu  an  der  Uberfläche  der 
Leber. 

Blutanstritte  in  der  rechten  Nierenkapsel. 

In  der  Darmserosa  an  mehreren  Stellen  bis  krenzergroße 

Blutanstritte. 

Die  rechte        H),  uml  die  linke  4.  und  5.  Kippe  gebrochen, 
mit  deutliciien  Blutaustritten  unter  der  l'leur:i. 
Tod  an  innerer  Verblutung. 

Die  Vcrlet/.uii-rn  ilncr  all^j^em^en  Natur  luich  tödlich. 
Einstellung  des  Strafverfahrens  nach  §  90.  StP.O. 

10.  Fall. 

D.  Th.,  72  jidir.  llausmeisteriu.  \'on  einem  Jb'iaker  überfahren.  Tod 
am  folgenden  läge.  Cierichtliche  Sektion  am  3.  November  1S95. 

Bis  auf  den  Knochen  reichende  Kißquetschwanden  an  der  linken  Stun- 
sdte  nnd  am  Nasenrttcken  mit  Fkuktnr  der  Nasenb^ne,  Augenlider  ond 


14 


I.  ÜlTTKIti: 


Bindeliäut(;  Itliituiitcrlaufen.  Exkoriationen  an  den  Wangen  und  am  Kinn  mit 
Blutiinteiiaufunfjr;  Exkoriatidnen  am  linken  Ellbogen  und  an  der  recliten  Wade. 

Fraktur  der  linken  Hälfte  des  Stirnbeins,  auf  die  Schädelbasis  in  die 
linke  voniere  Scliädelgrube  ül)ergreifend.  Hirnkontusion. 

In  der  recliten  IMeuraliöhle  etwas  flüssige«  Blut.  Die  rechte  7.,  S.  und 
*J.  Puppe  in  der  Mitte  frakturiert;  ent8|)recliend  der  Frakturstelle  der  8.  Rippe 

die  Pleura  parietalis  und  die  rechte  Lunge 
etwjis  eingerissen. 

Tod  an  (Jehirnerschütternng. 
Die  Verletzung  ihrer  allgemeiueo  Natur 
nach  tödlicli. 

Ein8t€llung  des  Strafverfahrens  nach 
$  90.  St.P.O. 

1 1.  Fall. 

•F.  M  .  Ifi  jähr.  Bäckerlehrling,  legte  sich 
nach  Zeugenaussagen  auf  die  Eisenbahn- 
schienen und  wurde  von  einem  Zuge  über- 
fahren. Sanitätspoüzeiliche  (  Muluktion  am 
t  S.  Januar  1  S*Hi. 

Der  Hals  sehr  in  die  Länge  gezogen, 
in  der  Mitte  vorn  stark  eingesunken  und 
verschmälert.  Multiple  Hautabschürfungen 
mit  Hlutunterlanfnngen  im  Mesichte. 

Zirkuläre  II  autabsch  ü  rf  u  n  gen 
am  Halse.  Der  rechte  Oberarm 
mehrfach  gebrochen,  zerrissen 
und  zertrümmert,  S(»  da!}  die  zertrüra- 
inertenPartien  nur  noch  durch  eine  ca.  zwei- 
fingerbreite Hautbrückc  zusammenhängen. 
In  der  rechten  Achselhöhle  eine 
von  vorn  nach  hinten  verlaufende, 
Dem  lange,  bis  auf  2'  2cm  klaffende 
K i  1}<I  uetsch  wunde.  Der  linke  Ober- 
arm in  seiner  Mitte  gebrochen; 
die  tieferen  Weich  teile  dieser 
(iegend  zerrissen,  ohne  daß  sich 
in  ihnen  Blutaustrittc  fänden.  Das 
rechte  Schlüsselbein  in  .seiner  Mitte  gebrochen  Der  rechte 
FuB  zertrümmert. 

In  der  rechten  Stirn-  und  der  linken  Schläfegegend  ausgebreitete  Blut- 
austi'itte  unter  den  weichen  Schädeldecken.  In  der  rechten  mittleren  Scliädel- 
grube  zwischen  der  Dura  mater  und  den  inneren  Meningen  eine  mäfSige 
Menge  Blut  angesammelt.  Im  Bereiche  des  rechten  Schläfe  und  Scheitel- 
lappens  die  inneren  Meningen  Idutig  infiltriert.  .\m  (irolUiirn  multiple 
oberflächliche  Zertrümmerungen  der  Kindensnbstanz  nn<l  Kontusionsherde. 
Die  Schädelbasis  mehrfach  gebrochen. 

Im  Bereiche  der  oberen  Partie  des  Brustkorbes  ausgebreitete  Blutex- 
trava.satc  im  rnterhautzcllgewebe  und  in  der  Mu.skulatur. 


FifT.  12. 


y  Google 


Verletzungen  u.  T«mI  duicli  i'beifalirenwerden  vom  gericlitsärztl.  Standpunkte.  15 


Die  Luftröhre  etwa  einen  Querfinj^er  unterhalb  des  King- 
knorpels  quer  durchtrennt,  ebenso  in  gleicher  Höhe  die  Speise- 
röhre, deren  Wand  von  der  Durchtronnungsstelle  nach  oben  und  unten 
etwas  retraliiert  erscheint.    Die  Wundränder  an  der  Luftnihre  sehr  scliarf, 


Fig.  13.  Fig.  14. 


jene  an  der  Speiseröhre  etw;iä  uuregehnäßig  gezackt  und  gerissen  (Fig.  1 2). 
Auch  fast  alle  Qitrigcn  Weichteile  des  Halses  mit  Ausnahme 
der  bedeckenden  Haut  in  querer  liichtung  durchgerissen. 

Die  Halswirbelsäule  etwa  in  ihrer  Mitte  geknickt,  abnorm 
beweglieh.  Der  4.  Halswirbel  in  querer  Hichtung  gebrochen; 
iif  der  Umgebung  der  Bruchstelle  reichliche  Blutaustritte. 

Im  rechten  Brustfellsacke  '  i  Liter  Blut.  An  der  Oberfläche  des  Ober- 
lappens der  rechten  Lunge  mehrere  größere  Blutaustritte. 

Im  Kückenmarkskanal  2iemLich  viel  geronnenes  Blut.    Das  Kücken 


I.  DnTBICH 


mark  eii taprecheiiil  der  Frakturstelle  der  liulswirbelsäule  zer- 
quetscht. 

Die  Verletzungen  waren  ihrer  allgemeinen  Natnr  nadi  tödlich.  Der 
Obduktionsbefand  ^rach  nicht  g^;en  Selbstmord. 

12.  Fall. 

F.  T.,  28jihr.  Verschieber,  wurde  am  18.  Januar  1896  bei  der  Zn- 
sammenstellung eines  Zup  s  .im  St.iatBbahnhof  flberfaliren  und  get  Uri.  Man 

venniitete.  dali  der  Mann  infolge  eigener  rnvorsiditigkeit  vom  l^iufbrett 
lieraligestürzt  ist.  IMe  IamcIu'  war  vuni  (ieleise  entfernt  worden:  fiber  die 
Lage,  in  welcher  sie  aufgefunden  wurde,  konnte  nichts  eruiert  werden.  Die 
Zengraanssagon  brachten  kmne  Klarhat  darttber,  wieso  es  gekommen  ist, 
daß  T.  überfahren  wurde.  —  Geriehtliehe  Sektion. 

HautabschOrfungra  im  Gesichte;  zwei  Kiliquetachwunden  am  behaarten 
Kopfe. 

Der  linke  Ober-  und  Vorderarm  zertrümmert  und  zer- 
rissen. —  Große  Rißqnetsehwnnde  in  der  rechten  Leisten- 
gegend.—  Der  rechte  Oberschenkel  und  der  rechte  Fuß  zer- 
trümmert. 

Die  Haut  der  vorderen  Brnstwand  und  des  Al>d(imen{*  ganz  von  <ler 
ünteriage  abgehoben.  Die  Muskulatur  des  oberen  liauchab- 
schnittes  in  der  Richtung  von  rechts  unten  nach  links  oben 
durchgerissen. 

Mäliige  Blutnuslritte  unter  den  weielien  Sehädeldeckcn  und  im  linken 
Schliifemiiskel.  Am  \ Orderhals  luüiiige  Blutaustritte  im  Unterhautzell- 
gewebe und  in  der  Muskulatur. 

Das  Zwerchfell  ganz  abgerissen;  der  untere  Teil  des 
Brustkorbes  Tollständig  zertrümmert.  Die  Lu n gen  mehrfach, 
eingerissen:  vom  unteren  Abschnitt  der  linken  Lunge  größere 
Partien  ganz  abgerissen. 

Die  beiden  ilaup t bron chien  etwa  einen  i^uerfinger  unter- 
halb der  Bifurkationsstelle  der  Trachea  schräg  unregelmäßig 
durchrissen,  ebenso  in  ziemlich  glricher  Höhe  die  Sj>eiseröhre, 
welche  auüerdeni  bis  gegen  die  Mitt»'  der  Lnftrr>hre  \dn  letzlerer  abgerisx^en 
ist  und  deren  VVundränder  unregelmiiliig  fetzig  ei"selM'inen.  (Fig.  \  Die 
Innenfläche  der  Öpeiserölire  zeigt  im  Bereiche  ihres  von  der  Luftrüine  ab- 
gerissenen Abschnittes  eine  deutliche  Querrunzelung. 

Die  Aorta  descendens  ist  in  Z w  ereh f ellshöhe  quer  durch- 
gerissen; die  Wundränder  an  der  Aorta  sehr  scharf ,  weisen  nur  da  und 
dort  ganz  kleine  Zacken  auf.  (  Fig.  11.) 

Bedeutende  Blutung  ins  Innere  des  Körpers.  ( Jberflächliche  Leberrissc^ 
unbedeutende  länrisse  der  Milz.  Blutungen  in  der  Umgebung  der  Ge- 
schlechtsteile. 

Der  Mastdarm  zum  gro(5en  Teile  aus  dem  Znsamtnenhango 
mit  der  Umgebung  abgerissen;  seine  Wand  an  der  reeliten  Seite 
in  grolJer  Ausdehnung  scharf  durchgerissen  und  durch  diesen 
Riß  ein  Teil  der  untersten  Dfinndarmschlingen  in  den  Mastdarm 
eingetreten. 

Die  meisten  Kippen  beiderseits  mehrfach  gebrochen.  Die 


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VerleCningeD  n.  Tod  dardi  Übeifahrmweiden  vom  geriehfeBÜizd.  Stendpankte. '  1 7 


Wirbelsäule  in  der  Höhe  des  fi.  und  S.  Brustwirbels  vollständig 
quer  frelnodien:  das  liiiekenmark  an  dies^en  Stellen  «ranz  dureh- 
gerissen.  Auch  iu  der  Höhe  des  3.  und  4.  Brustwirbeis  die 
Wirbelsftnle  an  der  vorderen  Seite  teilweise  gebroehen. 

Die  Verletzun^ren  waren  ihrer  allgemeinen  Natur  naeb  tOdlleb. 

Emstellting  des  Strafverfahrens  nacb  §  90  St.P.0. 

13.  Fall 

R,  H.,  7  Jahre  alt.  AngebUch  von  einem  Lastwagen  flbeifahrak.  Ge- 
richtliche Obduktion  am  14.  März  IS'.tu. 

Blut  in  der  rni;:rl)nnpr  von  Na.sf.  Mund  und  <  Hiren. 

Einzebie  unliedeutende  Hautabsehürfun;;en  ohne  Hhitunterlaufunfr  in 
der  Tiefe  au  der  vorderen  und  äulleren  Seite  der  rechten  unteren  Extremität. 

Unter  den  weichen  Scbüdeldecken  in  der  Stirn-  nnd  Schläfegegcnd  rechts 
mehrere  gnldengroße  Blntanstritte.  An  der  Schädelbans  eine  ausgedehnte 
Fraktur. 

In  der  Luftröhre,  im  Mund  und  Kathen  ziendich  reichliche  Mengen 
liiut.  In  den  Bronchien  linkerseits  eine  grüüere  Menge  Blut.  In  den 
Lungen  am  Dnrdisctoitt  stellenweise  fle<^^  blutige  Verfärbung.  Der 
unterste  Teil  der  Luftröhre  enthält  eine  gröl'i  ir  Menpe  Blut. 

Tod  an  Scliiubibasisfraktur  m\t  nachfoltrt'iulcr  BInt.ispiration  und  Er- 
stirkung.  Die  N'erletzung  ihrer  alliremeinen  Xatur  nach  tödlii  Ii.  Der  Schädel- 
bruch durch  eine  heftige  stumpfe  (iewalt,  fraglicli  welcher  Art,  vielleicht 
eher  durch  Sturz  als  durch  direktes  Überfahrenwerden  entstanden. 

Einstellung  des  Strafverfahrens  nacb  §  90  StP.O. 

14.  Fall. 

A.  W.,  öl  jähr.  Taglühner.  Derselbe  ging  auf  einem  Eisenbahndamm; 
da  er  schwerhörig  war,  hörte  er  den  Zug  nidit  kommen,  wurde  von  der 
Lokomotive  erfaüt,  niedeigerissen  und  flberfahren.  Gerichtliche  Sektion  am 
17.  Mai 

Der  Kopf  in  der  Höhe  zwischen  dem  3.  und  1.  Halswirbel 
total  vom  Rumpfe  getrennt;  am  Rumpfe  hing  an  einem  Hautfetzen  ein 
2  cm  langer  Rest  der  Unterlippe  sowie  ein  Teil  der  rechten  Unterkiefer- 
hälftf  Das  Scliädeldach  war  zwar  in  seiner  Konfiguration  noch  erhalten, 
jedix'li  vielfach  p'broclM'ii.  Die  rechte  Ohrmuschel  hängt  nur  an  einem 
1  "2  cm  langen,  3  cni  Ineiten  Hautfetzen.  Das  liesieht  v<»ni  unteren 
iiaude  des  rechten  Ohres  angefangen  vollständig  zerrissen,  auch 
die  linke  Gesichts hälfte  teilweise  sertrflmmert.  An  Stelle  des  Ge- 
sichtes Ceweljafetsen,  zertrümmerte  Hirnen bstanz.  Blutgerinnsel,  dazwischen 
größere  und  kleinere  Knochen.splitter  und  Sanilkörner  eintrestrent. 

Der  rechte  <  »berarm  in  seinem  unteren  Drittel  gebrochen  und  winklig 
abgeknickt;  in  der  Tiefe  keine  Blutungen.  Das  linke  Schulterblatt  >ielfach 
sertrflmmert;  in  der  Hefe  keine  Blutungen.  In  der  linken  Scbultergegend 
rückwärts  eine  Qberiiandflächengroße  und  in  der  nächsten  Umgebung  einige 
kleinere  dunkelltrann  vertrocknete  Hautabschürfunfren. 

In  der  Mitte  der  Vordereeite  des  rechten  l'ntei-schenkela  wne  etwa 
5 '/}  cm  lange,  bis  auf  1  cm  klaffende,  mit  dunkelbraun  vertrockneten, 
etwas  gequetechten  Rändeni  venehen«!,  bis  auf  den  Knochen  reichende  Wunde. 

AttMw  Ar  KthilMl— ttoomiottob  Xm.  2 


18 


I.  DlTTBICB 


l'nlifdcuff'iid«'  sroronnone  IMntaustritte  unter  den  weichen  ScliiUleldecken. 
Vull^täiid i^n'  Zertrüin iiioruug  des  Schädels.  Das  Gehirn  zum 
großen  Teile  zertrümmert. 

Die  Aortft  aseendens  einen  Querlinger  Ober  den  Aortenklappoi  ftist  in 
ihrer  ganzen  ZirkumtViLnz  mit  Ausnuluiu'  einer  etwa  4  mm  breiten  Brücke 
der  f'i('fä!'>\\ aiiil  der  iiinteren  Partie  (|uer  durclitrennt:  dabei  die  Wundrilnder 
der  Ani  ta  scharf,  nur  an  einzelneu  SteUen  fein  gezackt  Hochgradige  Anä- 
mie einzelner  innerer  Organe. 

Die  Verletamigen  ihrer  allgerndnen  Natar  nach  tOdlieh.  Die  Ent- 
stehung derselben  läßt  sich  durch  den  durch  die  Erfaebnngen  festgestellten 
Vorgang  erklaren. 

Einstellung  des  Strafverfahrens  nach  §  St.P.Ü. 

15.  FalL 

W.  B.,  3  juhr.  Knabe.  Angeblieh  von  einem  beladenea  Kohlen vageo 
überfahren,    (icriflitlioho  (»Ixliiktion  ani  (i.  >[ai  r.MM. 

Leichte  Uhitim;.'^  aus  Natje  und  Muiul.  -  •  Bulinengrolk!  E\koriati(tii  auf 
der  Stirn  mit  ßlutuulerlaufuug  und  auiierdem  einige  kleinere.  In  der  linken 
Schilfe-  nnd  Wangengegend  eme  8  em  lange,  272  cm  breite  Haatabechür- 
fung.  In  der  llinterhauptgegend  eine  5  cm  lange,  1  cm  1)reite,  vttn  Haaren 
entblö()te,  oxkoriiertc  Ilaut.stelle  mit  Hlutuntorlaufung.  Kleine  ExkoriationeQ 
auf  der  IJrust  eiiLspreehend  dem  unteren  Kmlc  des  Brustbeins, 

Uberhalb  der  Symphyse  von  reehtü  oben  nach  linkä  unten  bis  auf  den 
Hodensadc  reidiend,  eine  tt  em  lange,  2  em  breite  Ezkoriation  mit  zw« 
seichten  Einrissen  in  der  Haut.  Exkoriatlon  an  der  Wurzel  des  Penis  mit 
seiclitein  Einrif»  der  Haut.  In  der  rechten  Leistengegend  eine  von 
außen  oben  nach  unten  innen  verlaufende  VI'/.' cm  lange,  2'/i  cm 
breite  Kißquetächwunde.  Exkoriationen  am  Kücken  und  an  den  Ober- 
scheukeln. 

Unter  den  wdchen  Schädeldecken  in  der  Hinterhaujitgegend  mehrere 
mäßige  Blutaustritto.  Zwisclien  harter  Hirnhaut  und  weichen  Hirniiiiuten  in 
der  Hinterhaupt^r^'cnd  niälüge  Hlutaustritte,  ebenso  auch  in  der  linken  mitt- 
leren Schädelgrube.  Die  harte  Hirnhaut  im  Bereiche  beider  hinterer  Schadel- 
gruben in  großor  Ansdehnang  vom  Knochen  abgerissen.  Mäßige  Blntanstritte 
zwischen  den  weichen  Hirnhäuten  (fiit.spreclicnd  dem  Stirnhirn  und  der 
Spitze  der  Sclil;ifi'la])pcii).  In  der  Mark-;nt(stanz  der  beiden  Scheitellappen 
vereinzelte,  .sehr  derbe,  stellenwei.se  knurpelhart  anzufühlende  Narben,  in  deren 
Bereiche  sich  bräunliche  Pigmentation  erkennen  läßt«  Von  der  äußeren 
HSlfte  der  rechten  Kldnhimhilfte  tan  kleiner  Tdl  vollstindig  abgerissen  und 
von  zahlreichen  kleinen  Blutausti'itten  durchsetzt.  Knochenbmch  an  der 
Schädelltaäis  in  den  hinteren  Scliildelgruben. 

In  dem  Unterliautzellgewebe  der  rechten  llaLsseite  ein  kronengroßer 
Blutaustritt.  In  der  Luftröhre  stark  blutig  gefäibter  Sclileim.  Ziemlicli  aus- 
gebreitete Blatanstritte  an  der  Langenoberfläehe  beiderseits.  Im  Herzbeutel 
eine  milSfe  Menge  Blut  An  der  hinteren  Fläche  des  Herzens  und 
zwar  an  der  Grenze  zwisclien  der  rechten  und  linken  Herz- 
kammer ein  der  ganzen  Länge  des  Herzens  entsprechender  Kiß, 
welcher  die  rechte  Herzkammer  in  großer  Ausdehnung  perforiert. 

In  der  Bauchhöhle  2  Eßlöffel  Blut   Im  linken  Leberlappen  ein 


Verletziuig«a  u.  Tod  durch  Cberfabrenwerden  vom  gericbts&ratl.  Standpunkte^   1 9 


frischer,  grolier,  vou  ubcu  nach  unten  ziehender,  durch  die 
ganze  Dicke  des  Lappens  dringender  Einriß. 

Der  rechte  horizontale  Schambeinast  nahe  der  Symphyse 
geln-ochcn ,  die  Muskulatur  liinter  der  Symphyse  serrissen  und 
von  vielfachen  Blntaiistiitten  durclisctzt. 

Die  Verletzungen  ihrer  allgciueineti  is'atur  nach  tödlich,  üb  und  in- 
wlewdt  etwa  fremdes  Verschulden  vorlag,  dafür  lieferte  der  ObduktSons- 
befund  keine  Anhaltspunkte. 

Einstellung  des  Strafverfahrens  nach  §  90  StF.O 

16.  Fall. 

F.  S.y  66  jähr.  Maurer.  Ist  laut  Zeugenaussagen  in  dem  Momente^ 
als  der  Zug  herannahte^  auf  das  Geleise  gesprungen.  Geriehtlidie  Obduktion 

am  IS.  Juni  1901. 

Äulk-rst  spjirlichc  Totenflecke. 

Die  obere  Hälfte  des  Kopfes  von  der  unteren  vollständig  ab- 
gerissen. Gesieht  bis  zu  den  Augen  er  halten.  Schädelbasis  freiliegend, 
stark  zertrfimmert,  die  Wirbebinle  aus  dem  infolge  der  Knochenzertrttm- 
mening  vcr^'51)erten  Foramen  occipitale  herausragend.  Sohftdeldach 
vielfach  /.ertiüniniert.     (Ichirn  zermalmt. 

Eutäprechend  der  äuliereu  Hälfte  des  rechten  Ful>rllckens  die 
Haut  abgerissen,  ebenso  die  Sohlenhaut;  die  tieferen  Weiehteile  des 
rechten  Fußes  vielfach  zerrissen,  die  Zehen  bis  auf  die  große  abgetrennt. 
Links  die  letzten  ?>  Zehen  ebenfalls  zerrissen,  die  umgebende  Haut 
in  Fetzen  herabliiiiip-nd. 

Gröljere  und  kleinere  Hautabschürfungen  an  den  oberen  Kxtiemitäteu, 
an  der  Buken  Schulter. 

In  der  Hals-  und  Bmstmuskulatur  mehrere  größere  und  Uelneie  Blut- 
austritte. 

Im  Zellgewebe  um  die  Harnblase  und  den  Maatdarm  herum  ziemlich 
ausgebreitete  Blutaustritte. 

Halswurbebäule  in  der  HShe  des  7.  Halswirbels  quer  gd>roehen.  Linker- 
seits  alle  Kippen  ungefähr  handbreit  vor  der  Knorpelknochengrenze  gebrochen, 
die  5.,  f).  und  7.  Hippr  mrierdem  knapp  an  der  AVirbelsäule;  rechts  die  4 
oberen  Kippen  dreitin^i  rlneit  hinter  d«  r  Knorpelknucliengrenze  gebrochen. 
Das  lieckcn  etwas  links  von  der  Symphyse,  sowie  entsprechend  dei'  Ver- 
bindung awischen  Kreuzbein  und  Darmban  linkerseits  gebrochen. 

In  der  Umgebung  alier  dieser  Frakturstellen  ausgebreitete  Hin  taustritte. 

Die  Verletzungen  ihrer  allgemeinen  Natur  nach  tödlich.  Die  Möglich- 
keit de8  durch  die  Erhebungen  festgestellten  Herganges  mußte  zugegeben 
werden. 

Da  der  etwaige  Diter  nicht  eruiert  wurde,  erfolgte  die  Einstellnng  des 
gericbtliohen  Verfahrens  nach  $  412  StP.O. 

17.  FalL 

W.  V.,  5 ü  jähr.  Bahnarbeiter.  Wurde  ca.  '-^li  m  weit  von  einem  Bahn- 
gelcise,  auf  dem  Waggons  verschoben  wurden,  tot  aufgefunden.  Geriefat* 
Udie  (»biluktinn  am  23.  September  1901. 

linkes  oberes  Augenlid  blutunterlaufen. 

2* 


20 


I.  DrrraicK 


An  der  8trcckt>iutu  des  linken  Oberarmes,  etwas  oberhalb  dessen  Mitte, 
eine  SVs  cm  lange,  bis  1  cna  breite  Exkoriation,  darnnter  ZertrOnunerang^ 
der  Maakulatur  mit  Blutunteriaufaii^. 

An  der  Streckseite  des  liiikoii  lI:in<1irol<'nkos  :<  bis  ^nildenstückgjoße 
Blntuntcrlaufun^^en.  Auch  im  riitrihaut7.»'ll;j-('\\  rhc  und  im  Zwisehenmuskel- 
gewebe  an  der  Stieckdeite  des  linken  Vorderarmes  miii'iig  ausgebreitete 
Bhitemtritte. 

Keohts  vom  in  den  Weichteilen  des  Ilalaes  und  des  Brustkorbes  mehr- 
fjiche  mä!)ij;  ausjrebroitete  Bhitaustrittc  und  zwar  inshcsondfrs  oberhalb  der 
Hul^eren  Hälfte  des  rechten  Scliliissi'lb»'ins  und  in  der  Muskulatur  einzelner 
Zwischemippenräume.  Tiefgreiftnide  Eröffnung  des  Gelenkes  zwisdien 
lecbtem  SehllteMlbaii  and  Bmstbein.  Die  Maeknhitnr  neben  dem  Bmst- 
bMn  im  I.  Zwisehenrippenraum  in  mäBiger  Ausdehnung  zerrissen. 

Hinter  di  i  Spei8eir)hre  in  der  Höhe  dos  obersten  LuftrOlirenabschnittes 
ein  mäüiu'  ;;Ti>!i('r  und  m:il!i;r  dirker  Hintanstritt.  An  der  Oberfläche  l)eider 
Lungen  mälüge  Blutaustritie.    Im  Herzbeutel  eine  geringe  Menge  Blutes. 

An  der  OberflAdie  dee  Bensens  nahe  dem  linken  Hersohre  in  der 
Muskulatur  einzelne  seichte  Einrisse. 

In  der  BauchlMihlo  '  2  1  Blut.  Leber  in  ihrer  (>b<>ren  Hälfte  völlig; 
zertrümmert.  Zellj;e\\  ehe  in  der  Cni^^elrnng  der  rechten  Niere  teilweise  zer- 
rissen und  von  Blutauätritten  durchsetzt 

Sftmtliefae  läppen  reditB  handbreit  Ton  der  Wirbelsäule  gebrodien,  das 
Bnutfell  daselbst  angerissen;  einzelne  dieser  Kippen  nuch  vorn  nahe  der 
Knorpelknochen'rrenze  •^elirochen,  Blutaustritte  daselbst.  Linlcs  haodbrtit  von 
der  Wirbelsäule  die  <».  und  7.  Kippe  j^^ebrnehen. 

Die  \'erletzung  der  Leber  war  ihrer  allgemeinen  Xatur  nach  tödlich.  Die 
IkbrigenV^etznngen  bildeten  einzeln  wie  znsamroengenommen  bloß  leichte  kör* 
perlidie  BeschAdlgongen,  mit  denen  der  1'nd  nicht  in  Zusammenhang  steht. 

Starz  ans  nicht  sehr  bedeutende  Höhe  läBt  diese  Verletzangen  nicht 
erklären. 

Mit  HUcksicht  auf  die  Erhebungen,  ferner  mit  Rücksicht  auf  das  Fehlen 
von  Veränderungen  (Druckspuren  an  der  änHeren  Haut  and  Zermalmnngen 
irgendwddier  Körperparden),  welche  für   direktes  Überfahrenwerden 

sprachen,  oi-scheint  es  walirseheinlich,  dal'   ^V.  \'.   vom  Zu;re  erfatU  und 
niederjreworfen  wurde.     Ob  fremdes  V<  rsi  lmltlen   vorlag  oder  nicht,  iieÖ 
sich  aus  dem  Obduktionsbefunde  nicht  eutscheideu. 
Einstelhing  des  StrafverCahrena  nach  §  St.P.0. 

Überblicken  wir  diese  Fälle»  so  zeigt  es  sich,  daß  sich  in  manchen 
derselben  Verletzungen  fanden,  deren  Entstehung  selbst  ohne  RQcksieht 
auf  die  Erhebungen  kaum  anders  als  durch  Überfahrenwerden  gedeutet 
werden  könnte.  Dies  gilt  insbesondere  von  den  FHUen  3,  4, 1 1  und  12. 

Von  sonstigen  wichtigen  stumpfen  mechanischen  Gewalteinwir^ 
kungen  wären  noch  Sturz  aus  der  Höhe,  Verschültung,  Maschinen- 
gewalt und  eventuell  Explosion  in  Betracht  zu  ziehen. 

Im  Falle  3  spricht  insbesondere  der  hohe  (irad  von  Verletzungen 
am  Halse  im  Zusammenhalt  mit  den  streifenförmigen  Dmokspuren 


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Verietsnonieii  n.  Tod  darafa  Überfahranwerden  Tom  gerichtOiztl.  Standpunkte.  21 


daselbst  und  an  beiden  Schultern,  sowie  die  jrleicbzeitige,  ganz  isolierte 
Verletzung  der  rechten  Tland  für  »lie  Entsteliunjr  durch  Überfahren- 
werden.  Berlicksichti^ren  wir,  daP>  die  einwirkende  (Gewalt  von  tranz 
besonderer  Wucht  ^-^i^u  rsr-n  sein  niuss,  so  kann  wepen  des  Mangels 
lioclir^radi^crer  Vcrlitzunj^en  an  anderen  Kr)r|)('rstellen  Sturz,  Ver- 
geh üttun^^  und  P]x|)losion  als  Entstehun;j:sur.sache  entschieden  ausije- 
schlossen  werden,  t  ht-nso  al)er  auch  Maschineng^ewalt.  da  es  nicht  ein- 
zusehen ist,  in  weicher  Weise  eine  Maschine  g'erade  den  Ilals  und 
eine  Hand  an;;reifen  sollte,  oline  ^deiclizeitii;  liisionen  verschiedenen 
(Irades  an  anderen,  insbesondere  gegenüber  dem  Halse  mehr  promi- 
nierenden,  ihm  benachbarten  Körperstellen  zu  setzen. 

Das  gleiche  gilt  vom  Falle  12,  in  welchem  wiederam  der  üm- 
Btand,  daß  die  direkt  dnrcb  Übcnfabrenwerdeo  entstandenen  Ve^ 
letznngen  so  ziemlich  in  einer  nnd  derselben  schifig  zor  Längsachse 
des  Körpers  verlanfenden  geraden  Ebene  angeordnet  sind,  beziehungs- 
weise sieh  nur  innerhalb  ziemlich  enger  Grenzen  zu  beiden  Seiten 
derselben  zeigen,  ganz  besonders  fflr  die  Entstehung  derselben  durch 
Überfahrenwerden  nnd  g^n  jede  andere  Entstehnngsart  spricht  Die 
FSlIe  4  und  11  decken  sich  bezfigHcb  der  Begriindung  der  diesbezOg- 
lichen  Schlußfolgerungen  hinsichtlich  der  Art  der  Entstehung  der  Ver- 
letzungen mit  dem  Falle  3. 

In  allen  ührij^en  Fällen  können  die  Verletzun2:en  nicht  als  für  die 
Entstehun;:-  (Innli  (Jherfahrenwerden  charakteristisch  anp:esehen 
werden;  vielnii  )ir  iieCien  sich  dieselben  ebenso  gut  teils  als  durch  Sturz, 
teils  als  durch  Verschttttung,  teils  als  durch  Maschinengewalt  ent- 
standen deuten. 

Wir  schon  nlso,  daß  es  Fälle  gibt,  in  denen  tatsächlich 
schon  auf  (Jrund  des  objektiven  Befundes  allein  die 
Entsteh  uni:  von  Verletzungen  durch  1' herfahren  w  erden 
mit  B es t i Hi  ni  t h  ei  t  erschlossen  werden  kann,  während  in 
anderen  Fällen  zwar  nichts  gegen  di«'  Mr»glielikeit  dieser  Entstehiings- 
«art  der  Verletzungen  zu  sprechen  braucht,  ihre  Beschaffenheit  al)er 
doch  auch  die  Annabme  einer  anderen  Mündlichkeit  der  Entstehung 
zuläßt. 

Die  Schwierigkeit,  sieh  auf  Grund  des  objektiven  Befundes  der 
Verletzungen  allein  über  die  Art  ihrer  Entstehung  durch  l  berfahren- 
werden  auszusprechen,  wächst  meiner  Erfahrung  nach  mit  der  Ab- 
nahme der  Schwere  und  Wucht  des  Gefährtee,  durch  welches  das 
Überfabrenwerden  bewerkstelligt  worden  ist^  wird  also  ceteris  paribus 
beim  Überfabrenwerden  durch  die  Eisenbahn  am  leichtesten  sein. 

Wie  gesagt,  halte  ich  unter  den  genannten  Umständen 


22 


I.  DnruoH 


die  P>ststel  1  un;r  der  Entstell un von  Verletzungen  durch 
TJberfahrenwerden  in  vielen  Fällen  für  einwandsfrei 
inöglieii. 

Ist  durcli  die  Krhebunircn  fe.st^^estellt,  dal')  ein  Mensch  üherfaliren 
worden  ist,  odrr  hat  man  Ursache  dien  auf  Grund  des  ol>jektiven  Be- 
fundes anzunelinien,  so  ist  es  weisen  hestininiter,  später  zu  betonender, 
forensisch  wichtiger  Momente  anj^ezei^t,  sich  zu  ver^e^'enwärtifren, 
in  welcher  Lage  oder  Stellung  gegenüber  der  Fahrbahn 
8ich  ein  Mensch,  während  er  überfahren  wurde,  befunden 
hat,  beziehungsweise  in  welcher  Bichtung  das  Überfabren- 
werden  erfolgte. 

Die  Richtung  wird  einerseits  ans  dem  Yerlanfe  der  Druck- 
spnren  oder  bei  Uber  größere  Körperpartien  ausgebreiteten  inneren 
Verletzungen  auch  aus  der  räumlichen  Anordnung  der  letzteren  er- 
schlossen werden  können.  Bei  dieser  Erwägung  laßt  sich  ein  Über- 
iabrenwerden  senkrecht  zur  Längsachse  des  Körpers  in  den  Fillen  3, 
4,  7, 8  und  11,  ein  Übei&hrenwerden  in  schräger  Richtung  und  zwar 
von  rechts  unten  nach  links  oben  oder  umgekehrt  im  Falle  12  er- 
schließen, während  für  die  übrigen  Fälle  eine  diesbezügliche  sichere 
Entscheidung  nicht  möglich  ist 

Was  die  Stellung  oder  Lage  eines  Menschea  im  Momente  des 
Überfahrenwerdens  anbelangt,  so  kommt  dieselbe  namentlich  dort  in 
Betracht,  wo  es  sich  um  Verletzungen  von  Köq^erteilen  handelt,  die 
durch  mehr  oder  wenijjer  ausiredehnte  Gebiete  volikomiiK^  oder  ver- 
hältnisniäliig  unversehrter  Körjiergewebe  von  einander  ;^^ctrcnnt  sind. 
So  können  wir  im  Falle  3  auf  Grund  des  objektiven  Befundes  un- 
gezwungnen annelinu  n,  daH  der  l'bciiahrcne  nur  auf  einer  Eisenhahn- 
schiene und  zwar  mit  unter  den  Hals  gcle^^ter  rechter  Hand  ^xeleiren 
i«t,  wäinend  wir  im  Falle  11  aus  dem  objektiven  Hetiinde  sehlieben 
dürfen,  daß  der  betreffende  mit  über  den  Kopf  emporirestreckten  Gher- 
arnien,  vielleicht  mit  unter  dem  Kopfe  ^^efalteten  Händen  auf  der 
einen  Eisenbahnschiene  lag,  der  rechte  Fuß  sich  auf  der  zweiten 
Schiene  befand. 

Als  Nebenbefunde  können  derartige  Verletzungen  an  nicht  lebens- 
wichtigen Körperteilen,  also  insbesondere  an  den  Extremitäten,  des- 
wegen Bedeutung  haben,  weil  sie  eben  auf  die  Stellung  dieser  TeÜe 
im  Momente  des  Uberfabrenwerdens  ein  licht  werfen. 

Von  Bedeutung  kann  femer  der  Umstand  sein,  ob  der  Körper 
von  der  das  Oberfahren  bewirkenden  Gewalt  bloß  tangential  ge- 
troffen worden  ist  oder  ob  irgend  ein  wichtiger  Körperteil  —  Kopf, 
Brust  oder  Unterleib  —  vollständig  überfahren  wurde.  Bei 


Verietzmiii^  n.  Tod  durch  Überfahra&werdeii  rom  g^rlcbtsSntl.  Standpunkte.  23 

mehr  tan^^entialer  Einwirkunjr  der  (lewalt,  wolclio  ja  auch  mit  voll- 
ständif^om  l'l)i'rfalin'inv('nlen  jirowisser  KöriuTtcilc  konihiniort  sein 
kann,  entstolion  natiicntlicli  Ahhebunfjen  der  Haut  von  ihrer  rnter- 
hi^e  oder  Uippen wunden,  wie  sich  diea  beispielsweise  im  l'alle  1 
zeigte. 

Die  Todesursache  kann  beim  Oberfahren  werden  in  verschiedenen 
Momenten  gelegen  sein.  Wir  haben  hier  jene  Fälle,  in  denen  der 
Tod  sofort  eintritt,  von  denjenigen  zn  trennen,  in  denen  derselbe  erst 
spfiter  erfolgt 

In  den  FftUen  der  ersten  Omppe  tritt  der  Tod  meistens  infolge 
der  Zertrümmerung  und  der  damit  ^nhergebenden  momentanen 
Aufhebung  der  Funktionsf&higkeit  lebenswichtiger  Organe 
ein,  oder  aber  es  erfolgt  der  Tod  bei  peripheren  Verletzungen  oder 
wenigstens  bei  solchen,  welche  nicht  lebenswichtige  Organe  betreffen, 
infol^j:c  von  Shok  oder  Fottembolie. 

Weiterhin  kann  die  Todesursache  in  akuter  An&mie  gelefi^en 
Man,  wenn  entweder  Zerreiljungen  des  Herzens  und  frrSfierar  Gk'fälte 
oder  iigendwelcher  innmr  Organe  erfolgen,  ohne  dal)  e ^  z  n r  v o  1 1  - 
ständigen  Zermalniun^  mit  primärer  Mortifikation  der  Ge- 
webe kommt.  Werden  aber  diese  Teile  primär  mortifiziert,  so 
braucht  entweder  gar  keine  Blutung  einzutreten  oder  (liesell)e  kann 
bloß  minimal  sein.  Das  Ausbleiben  einer  intensiveren  Blutunfj  kann 
insbesondere  durch  Zustände,  weicht'  eine  Uerabsetzung  des  Blutdruckes 
nach  sich  ziehen,  mit  veranlagt  werden. 

Sind  die  \  erhällnisse  im  konkreten  Falle  dem  Auftreten  einer 
intensivert  II  Blutung  günstig,  so  häni^t  die  Schnelligkeit,  mit  welcher 
der  Verhlutungstod  erfolgt,  nicht  zum  (Jeringstcn  V(m  den  Blutdruck- 
verhältnissen im  Ik'reiche  der  verletzten  Blutbahueü  ab. 

Von  anderweitigen  Folgezuständen  der  durch  das  Uberfabren- 
werden gesetzten  Verletzungen  könn^  aach  entz&ndliobe  Prosesse 
den  tödlichen  Ausgang  bewirken,  sei  es,  daß  es  sich  um  eine  Ent- 
zündung als  natOrliche  und  begrekliche  Folge  gewisser  Verletzungen, 
wie  z.  B.  als  Folge  von  Buptnren  innerer  Organe,  oder  daß  es  sich 
um  acddentelle  Wundinfektionskrankheiten  handelt 

Eine  wesentliche  forensische  Bedeutung  hat  auch  die  Frage,  ob 
offenbar  durch  Überfahrenwerden  entstandene  Ver- 
letzungen intravital  oder  postmortal  gesetzt  wurden,  eine 
Frage,  welche  namentlidi  in  jenen  Fällen  zu  ventilieren  ist,  in  denen 
die  Erhebungen  kein  Resultat  in  dieser  Richtung  ergeben. 

Die  Erfahrung  lehrt,  dal)  gelegentlich  die  Leichen  von  Individuen, 
welche  zunächst  auf  andere  Weise  gewaltsam  getötet  worden  sind, 


24 


I.  DlTTBlCU 


nachträglich  dem  Überfahrenwerden  durch  die  Buenbahn  —  denn  nur 
am  ein  solches  handelt  es  sieh  in  solchen  Fällen  —  preisgegeben 
werden,  nm  entweder  einen  Selbstmord  oder  einen  Unglflcksfall  vor- 
zntitnschen. 

Je  nach  der  Art  der  gewaltsamen  Tötung  und  je  nach  der  Lo- 
kalisation  und  Art  der  durch  diese  und  durch  das  Überfahrenwerden 
gesetzten  Läsionen  kann  die  Entschddung  hinsichtlich  des  intrayitalen 
oder  postmortalen  Überfahrenwordenaeins  bald  leichter,  bald  äußerst 
schwierig  sich  gestalten. 

Wurde  die  Tötung  des  Betreffenden  durch  Verletzungen  yorge- 
nomnien,  die  nach  außen  Inn  offen  sind  und  eine  Blutung  nach  außen 
veranlaßten,  so  ist  es  möglich,  daß  der  Lokalaugenschein  durch  die 
Verfolgung  von  Biutspuren  in  der  Umgebung  den  Tatbestand  auf- 
klärt oder  daß  letzteres  auf  Grund  anderer,  durch  den  Lokalaugen- 
achein  festgestellter  Momente  geschieht. 

Was  jedoch  die  Vt-rletzungen  an  und  für  sich  anbelangt,  so  ist 
eine  äußerst  genaue  Leichfiuintersnclmn«:  notn  cndiir. 

Für  Verletzungen  drr  bedt-ciu-ndm  \\'i'iclit(Mlr  und  der  Muskulatur 
werden  die  aueh  bei  auf  andere  Weise  eiitstaiuk'iU'U  \  erletzungen  in 
Betracht  kuinnienden  Merkmale  berücksiclitigt  wcrdi  n  müssen,  so  ins- 
besondere die  Blutungen  in  die  die  Kontinuitätstrennungen  umgebenden 
Gewebe,  wenn  auch  zugegeben  werden  muli,  dalt  solche  Blutungen 
nicht  unbedingt  als  Zeichtn  der  intravitalen  P^ntstehung  von  Ver- 
letzungen anzusehen  sind,  da  dieselben  unter  günstigen  Bedingungen 
im  konkreten  Falle  auch  an  Leichen  zustande  kommen  können. 

Tritt  der  Tod  momentan  während  des  Übeifahrenwerdens  ein, 
wie  dies  ja  meistens  beim  Überfahrenwerden  durch  die  Eisenbahn 
geschieht,  falls  lebenswichtige  Organe  direkt  yerietzt,  zermalmt  werden, 
so  kann  es  selbst  bei  Eröfbiung  großer  Gefäße  oder  des  Herzens  ror- 
kommoi,  daß  die  Blutung  in  die  Eörperhöhlen  oder  bei  Vorhandensein 
äußerer  Wunden  auch  die  Blutung  nach  außen  verhältnismäßig  gering 
ist  Namentlich  vermißt  man  in  solchen  Fittlen  nicht  selten  eine  irgend- 
wie bedeutendere  Anämie  der  inneren  Organe.  Es  darf  daher  ein 
noch  bedeutender  Blutgebalt  im  Innern  nicht  als  Beweis 
fftr  die  postmortale  Entstehung  der  Verletzungen  ange- 
sehen werden.  Im  Gegenteil  hielte  ich  eine  auffälligere  Anämie 
innerer  Organe  in  Fällen,  in  denen  aus  der  Art  und  Intensität  der 
Verletzungen,  namentlich  bei  einer  Zertrümmerung  des  Herzens  oder 
der  die  Ilerzaktion  dirigierenden  nervösen  Organe  auf  sofortigen  Tod 
für  den  Fall  des  intravitalen  Uberfahrenwerdens  geschlossen  werden 
kann,  für  einen  Zu&taud,  der  um  so  dringender  die  Nachforschung 


Verietzimgieii  n.  Tod  dnrdi  Obeif ahraiwerden  Tom  gericbtsäntl.  Standpunkte.  86 

nach  ctwaip'H  anders  als  durch  I  bcrfalircnwcrdcn  entstandenen  Ver- 
letzun^'CDj  welclie  den  Tod  herljeii^efiilirt  huhen  könnten,  beziehungs- 
weise nach  einer  anderen  Todesiirt  überhaupt  fordert. 

Verhähnisiiiärti^'  K-icht  ist  ^eh'^^entlich  die  Feststellung  der  intrar 
vitalen  Entstehung  von  Verletzun^^en  an  röhrenförnii^am  Or<ranen, 
deren  Wand  reich  an  Muskulatur  ist  und  in  der  Umgebung  nicht 
fixiert  erscheint  oder  deren  Fixation  in  der  Umgebung  gewaltsam 
nDterbrochen  enobeint  Daß  sich  je  nach  der  Verscbiedenlidt  dieaer 
FizaiioDsverbältnisse  versebiedene  Befunde  ergeben,  zeigt  ein  Vergleieb 
der  VerSnderungen  am  Oesopbagns  im  Falle  11  nnd  12.  In  dieflon 
beiden  FUlen  war  derselbe  dnrcbgerisBen.  Während  nnn  im  Falle  1 1 
der  Oescpbagna  in  ZwerchfeUsböbe  quer  durcbgerissen  war,  ebne  daß 
sein  Zusammenbang  mit  der  Umgebung  in  der  Nacbbareebaft  der 
Dnrcbtrennungsstelle  eine  Störung  erfahren  bätte,  war  der  Oesopbagus 
im  Falle  12  nicht  bloß  dnrebgerissen,  sondern  auch  auf  eine  gewisse 
Strecke  bin  tob  der  Luftröhre  abgerissen  (Fig.  13).  Es  waren  somit 
im  Falle  12  die  Bedingungen  für  eine  stärkere  Retraktion  der  durch- 
trennten  Lingsmuskulatnr  günstig  und  äußerte  sich  dieselbe  in  einer 
queren  Run/elun^  an  der  Innenseite  der  Oesophaguswand,  wobei 
dieser  Befund  nahe  der  Durchtrennungsstelle  am  stärksten  ausgeprägt 
war,  um  periplierwärts  von  derselben  an  Intensität  stufenweise  abzu- 
nehmen. Diese  Wirkung  der  Längsmnskuiatur  war  hier  so  bedeutend, 
daß  die  durch  dieselbe  hervorgerufene  quere  Runzelung  der  Scbleini- 
hautfhiche  der  Speiseröhre  als  ein  Beweis  für  die  intravitale  Ent- 
stehuii--  der  N'erletzung  angesprochen  werden  durfte.  Anders  lagen 
die  \'<rhältnissc  im  Falle  II,  da  hier  die  Erhaltung  des  normalen 
Zusaniiiitnhanges  d«  s  (  h  >nphagus  mit  der  Umgebung  eine  stärkere 
Ivetraktion  der  durehtrennlen  Uingsmuskulatur  hinderte. 

Es  wird  somit  dieser  für  die  Feststellung  der  intravitalen  Ent- 
stehung gewisser  Verletzungen  immerhin  wertvolle  Befund  nur  dort 
an  inneren  Organen  zu  erwarten  sein,  wo  es  sich  um  röhrenförmige 
Organe  mit  muskelreicher  Wand  handelt,  welche  vollständig  oder 
nahezu  in  ihrer  ganzen  Zirkumferenz  quer  oder  schräg  durcbtrennt 
sind,  und  wo  die  betreffenden  Organe,  wie  s.  B.  der  Darm,  an  ihrer 
Außenseite  nicht  allseits  fixiert  sind  oder  aber  eine  normale  Fixation 
gewisser  Organe  durch  ein  Trauma  streckenweise  aufgehoben  er- 
scheint 

Ist  dem  Überfabrenwerden  eine  gewaltsame  Tötung 
vorangegangen,  so  wird  die  Konstatierung  der  letzteren,  falls  sie 
durch  mechanische  Gewalt  orfolgt  ist,  im  allgemeinen  namentlicb  dann 
keinen  wesentlioben  Schwierigkeiten  unteriiegen,  wenn  die  durch  den 


26 


L  DrrraiCH 


frewaltsameii  Akt  der  Tötun^r  f^esetztcn  LiLsionen  nicht  im  Bereiche  der 
durch  das  Uberfahrenwerden  gesetzten  \  erletzun<;en  gelegen  sind, 
oder  wenn,  wie  dies  namentlich  nach  Stich-  und  Schußverletzungen 
d«r  Fall  gfliii  kann,  sieh  für  solche  spreeh^e  Befunde,  wie  etwa  im 
Körper  znrUckgebliebene  T^e  des  verletzenden  Instrumentes,  nach- 
weisen lassen. 

Hat  man  jedoch  für  die  Benrteilnng  eines  Falles  nur  die  Ver- 
letzungen an  und  ffir  sich  zur  Yerffigung,  so  könnte  es  gelegentlieh 
ganz  unmöglich  werden,  auf  Grund  des  objektiven  Befundes  an  einer 
Leiche  eine  dem  Überfahrenwerden  vorangegangene  gewaltsame  Tötung 
sicherzustellen. 

Nehmen  wir  an,  es  würde  ein  Mensch  zunächst  durch  einen 
Hieb  mit  ^er  Axt,  durch  einen  Schlag  mit  einem  Stein  oder  Hammer 
u.  dgl.  jreg:en  den  Kopf  erschlagen,  derselbe  dann  als  Leiche  mit  dem 
Kopfe  auf  die  Schienen  gelegt  und  von  der  Eisenbahn  überfahren 
werden,  so  dürfte  es  meistens  kaum  möglich  werden,  die  Art  der  Tö- 
tung ans  dem  objektiven  Befunde  an  der  Leiche  zu  erschließen,  da 
eben  die  ursprünglich  noch  zu  I^bzeiten  gesetzten  Verletzungen  durch 
die  weitaus  wiiclitiicero.  erst  auf  die  Leiche  einwirkende  (lewalt  un- 
kenntlich gemacht  werden  können;  in  solchen  Fällen  gehen  el)en  die 
ursprünglich  gesetzten  Verletzungen  in  den  durch  das  Lberfaliren- 
werden  entstandenen  vollkommen  auf. 

Verletzungen  des  Halses,  wie  solche  z.  B.  bei  gewaltsamer  Tötung 
durch  Erdrosseln,  Erwürgen,  durch  Halsdurelischncideii  entstehen, 
könnten  durch  nachträglielies  1  herfahren  werden  des  Halses  der  Leiche 
ebenfalls  als  solche  unkeimtlieh  geuiaeht  werden;  finden  wir  ja  doch 
hin  und  wieder  ziemlich  scharfe  Durchtrennungen  der  Haut  an  von  der 
Eisenbahn  l'berfahrenen.  Druckspuren  an  der  Halshaut  können  durch 
jene  infolge  von  Überfahrenwerden  überboten  werden«  Verletzungen, 
welche  an  den  Halsgebilden  dureh  Strangulation  oder  durch  Hals- 
Bohnitt  entstehen,  können  ebenfalls  dadurch  sich  einer  richtigen  Deu- 
tung entziehen,  daß  analoge  Verletzungen  dureh  Überfabrenwerden 
entstehen  oder  die  Charaktereigenschaften  der  bei  der  gewaltsamen 
Tötung  entstandenen  Verletzungen  im  Bereiche  der  durch  das  Über- 
ftdirenwerden  zermalmten  Gewebe  unkenntlich  werden  können. 

In  solchen  Fällen  würde  meiner  Ansicht  nach  auch  nur  dne 
höhergrac^  Anämie  der  inneren  Organe  den  Verdacht  erregen  können, 
daß  dem  Uber&hr«iwerden  die  ZufÜgung  anderer  Verletzungen,  aus 
denen  die  tödliche  Blutung  erfolgte,  vorangegangen  ist,  da  eben  er- 
fahrungsgemäß auch  beim  intrnvitalen  Überfahrenwerden  des  Halses 
der  Tod  momentan  eintritt  und  selbst  bei  offenen  Wunden  mit  Er- 


Verietsimgai  n.  Tod  dnreh  Überfahrenwerden  vom  gericbtsilntl.  Standpunkte.  27 

Öffnung  pnUnTer  ÜlutirrfMltr  die  Bedinfrungen  für  eine  stärkere  Blutung:, 
welche  «  ine  bodfutt'tulrn'  Anämie  der  inneren  Organe  zur  Folge  hat^ 
nicht  ^T^rltfii  zu  si'in  l)r;iuchen. 

Analo^^  Ih'^rcn  die  X'rrhiiitnissc  in  jenen  Fälk'n.  in  denen  ein  Über- 
fahrenwerden des  lirusti^orhe.s  oder  <li'<  I  nterleibs  erf(d«rt. 

Ich  j;laui)e  l)t.-zü^di('li  dieses  Punktes  mein  Urteil  daliin  zusammen- 
fassen zu  können,  dal)  unter  alleiniger  Herüeksiclitigung 
der  Verletzungen  es  dann  äußerst  schwierig,  ja  seihst  un- 
möglicli  werden  kann,  eine  dem  1' berfa  h  ren  werden  einer 
Leiche  durch  die  Eisenbahn  vorangegangene  gewaltsame 
Tötung  des  betreffenden  Individuums  nachzuweisen 
wenn  die  auf  den  intraritalen  Gewaltakt  zurückzufüh- 
renden Verletzungen  an  jenen  Körperstellen  gelegen  sind, 
welche  auch  von  der  das  Oberfahren  bewirkenden  Gewalt 
direkt  getroffen  worden  sind,  falls  nicht  etwa  im  Körper  zurfick- 
gebliebene  fremdartige  Objekte,  wie  Teile  des  yerletzenden  Werkzeuges, 
den  Tatbestand  anfklSren;  ist  dagegen  die  Lokalisation  der 
durch  den  intravitalen  Gewaltakt  gesetzten  Verletzungen 
▼erschieden  von  der  Lokalisation  der  durch  das  Über- 
fahrenwerden zustande  gekommenen  Verletzungen,  so  wird 
die  Konstatierung  der  dem  Überfahrenwerden  vorangegan- 
genen gewaltsamen  Tötung  in  der  Regel  kaum  auf  irgend- 
welche Schwierigkeiten  stoßen. 

In  allen  Fällen,  in  denen  es  sich  um  intravitales  T'horfahrcnwerden 
eines  Individuums  handelt,  ist  schlielilich  natürlich  die  Frage,  ob  ein 
Mord,  Selbstmord  oder  Unfall  vorliegt,  für  die  etwaige  weitm 
strafrechtliche  Verfolgung  des  konkreten  Falles  äulierst  wichtig. 

In  dieser  Hinsicht  äuricrt  sich  Georg  Arndt  '  dabin,  dal»  es  sehr 
schwierig  odt-r  ganz  uniitöglich  ist.  in  einem  Vi\\h\  in  dr-ni  drr  Tod 
durch  l  herfahren  werden  U)der  durch  Sturz  )  herbeiget  uhrt  worden  ist, 
zu  entscheiden,  ob  ein  Verbrechen,  d.  h.  Mord  oder  ein  Selbstmord, 
oder  ein  unglücklicher  Zufall  vorliegt;  und  Richard  l*ressrl  -i  sagt; 
,.ln  allen  Fällen,  w»»  t  s  sich  um  die  Frage  l'nfall  oder  Selbstmord 
durch  riierfabrenwerden  iiandelt.  ist  der  Richter  auf  die  begleitenden 
Umstände  angewiesen;  der  furicbtsarzi  kann  nie  aus  der  Art  der 
Verletzungen  versuchen  wollen,  diesen  l'unkt  klarzustellen." 

Man  darf  wohl  annehmen,  daß  dies  auch  F.  Stralhnanns  An 

1)  (t.  Arndt.  lOd  durch  Überfahreuworden  uud  durch  Stuiz  ausderüöhe. 

2)  U.  Ticsbel,  Über  den  Tod  durch  rberfahivnwerdcn.  laaug.-Di&s. 
Beriin  1S95. 


28 


1.  DimucB 


sieht  ist.  die  Iteiden  Dissertationon  von  Arndt  und  Frcs^scl  unter 
siiinr  Lciiiin;^  entstanden  sind:  chcn  desliall>  ist  es  aber  zu  vit- 
wuiul<rn,  dal»  Stralnnann,  der  doch  ühcr  eine  rcii-hlichc  Erfahrung 
auf  dnin  (Jchiete  der  forensiselien  Thanatohi^'ie  verfüg'!,  die  Entschei- 
dung; der  in  Kcde  «tehcnden  Fra^,'e  in  FiUlen  von  I  berfah renwerden 
auf  Grund  des  Obduktionsbefundes  für  (i:änzlich  aussiehtlos  hält. 

Ich  bin  anderer  Meinung  und  glaube,  daß  man  sich  innerhalb 
Datflrlicber  Feblefgrensen  denn  doch  bftufig  ein  Urteil  in  dieser  Bich- 
tung  bilden  kann.  Ich  sage,  innerhalb  natürlicher  Fehlergrenzen,  denn 
mit  solchen  haben  wir  ja  selbstverständlich  in  sehr  vielen  FSllen  dea 
dnrch  mechanische  Gewalt  herbeig^hrten  Todes  zn  rechnen.  In 
iHUen  von  Tod  durch  Schuß  dfirfen  wir  in  dem  Umstände,  daß  wir 
an  der  Schnßverletznng  charakteristische  Merkmale  des  Nachschosses 
finden,  nicht  unbedingt  auf  Selbstmord  schließen,  ebensowenig  wie 
eine  tödliche  Haisschnittwunde  kdneEigensohaften  aufzuweisen  braucht, 
welche  an  bedingt  für  Mord  oder  Selbstmord  sprächen,  ebensowenig 
wie  Stich verletzun«?en  an  und  für  sich  etwa  regelmäßig  Anhaita- 
punkte für  die  Entscheidun«;:  der  Frage  zu  geben  brauchen,  ob  die- 
selben durch  die  eigene  Hand  des  Verletzten  oder  durch  fremde  Hand 
zugefügt  worden  sind. 

Innerhalb  dieser  Grenzen  halte  ich  es  aber  auf  Grund  meiner  Er- 
fahrung; nicht  für  unmöjrlich,  sicli  auch  in  manchen  Fällen  von  I  ber- 
fahrenwerden  chonso  bestimmt  wie  bei  anderen  traumatischen  Todes- 
arten dahin  zu  äuliern,  ob  Mor<l.  St-lttstniord  oder  Zufall  vorliegt.  Diese 
Fra^icc  mul)  von  ärztlicher  Seite  umsomt-hr  ventiliert  werden,  als  so- 
wohl in  medizinischen  LaienkreiscMi  als  auch  in  Kielit'  ikreisen  vielfach 
die  Mcinunfr  vorherrscht,  daß  in  dieser  Hichtung  von  einer  Leichen- 
obduktion bei  rberfahrenen  kein  Kesultat  zn  erwarten  sei. 

AUenlm^'s  liilit  sich  diese  Fra^^e  keinesweirs  nach  all^^emeinen 
Re^'eln  beurteilen;  vielmehr  ist  in  jedem  einzelnen  Falle  eine  genaue 
Erwä^un«:  des  Obduktionsresultates  notwendig. 

Ich  gehe  deshalb  auch  hier  wieder  von  meinen  eigenen  Beobacb- 
tnngen  aus. 

Zunächst  sei,  worauf  auch  der  Arzt  in  seinem  Gutachten  Bäck- 
sieht  zu  nehmen  hat,  hervorgehoben,  daß  ein  Selbstmord  durch  Uber- 
fohrenwerden bei  uns  wohl  nur  auf  durch  feste  Geleise  vorgeschriebenen 
Bahnen  vorkommt,  daher  vielleicht  ausnahmslos  durch  Überfahren- 
werden mittelst  der  Eisenbahn.  Presset)  bemerkt,  daß  Selbstmord 
unter  den  Bädern  schwerer  Lastwagen  bei  religiösen  Fanatikern  in 


1)  1.  e.,  S.  29. 


Verletsnngen  u.  Tod  durch  Überfahfenwardea  vom  geriditaind.  Standpunkte.  39 

Indien  und  Ägypten  nichts  Seltenes  ist  und  als  besonders  verdienst- 
voll zu  gelten  scheint,  in  Eiin)|)a  daircfren  nicht  vorkomnien  dürfte. 

Bei  Selbstmord  kommt  es  wohl  am  luiufi<j:^tcn  vor,  daß  die  Selbst- 
mordkandidaten sich  mit  dem  Halse  auf  die  Schienen  legen  und  sich 
in  dieser  Position  überfahren  lassen.  Wir  hatten  somit  wohl  volle 
Berechtigung,  im  Falle  3  Selbstmord  anzunehmen,  da  der  objektive 
Befund  darauf  hinwies,  daß  der  ITals  (|uer  fiberfahren  wurde  und 
außerdem  nur  noch  die  rechte  Hand.  Man  konnte  sich  vorstellen, 
daß  sich  der  betreffende  Mann  mit  unter  den  Hals  gelegter  rechter 
Hand  auf  die  Schienen  gelegt  hatte,  um  den  Drack  seitens  der  letzteren 
za  lind«»!.  Untenttttst  winde  die  Annahme  eines  Selbstmordes  noch 
dmoh  den  Umstand,  daß  sich  kerne  sogen.  sekandSren  Verietziingen 
an  der  Leiche  fanden,  welche  aaf  einen  Starz  oder  einen  Stoß  un- 
mittelbar Tor  dem  Überfahrenwerden  hingedeutet  hätten. 

Auch  im  Falle  11  sprachen  wir  uns  für  dnen  Selbstmord  aus, 
wobei  wir  uns,  wie  bereits  frflher  erwähnt,  Torstellen  durften,  daß 
sich  der  Betreffende  mit  emporgestreckten  Armen  und  vielleicht  behufs 
Sttktse  des  Kopfes  mit  unter  letzterem  gefalteten  Händen  auf  die 
Schienen  gelegt  hat 

Seltener  findet  man,  daß  ein  Mensch  zum  Zwecke  des  Selbst- 
mordes, auf  den  Schienen  liegend,  andere  Körpergegenden  fiberfahren 
läßt,  wenn  mir  auch  eine  Lokalisation  von  Verletzungen  namentlich 
am  Kopfe,  dann  aber  auch  am  Brustkorb  oder  am  Unterleib  nicht 
etwa  unbedingt  gegen  Selbstmord  zu  sprechen  scheint.  Wir  äußerten 
uns  denn  auch  im  Falle  7,  in  welchem  der  Brustkorb  und  der  obere 
Teil  des  Unterleibs,  und  im  Falle  S,  in  welchem  das  Becken  (|uer 
überfahren  worden  war,  bloß  dahin,  dal)  dieser  Befund  am  ehesten 
für  ein  zufälliges  Überfahren  werden  s|)richt. 

hn  Falle  4  war  es  nicht  der  objektive  Befund  an  <ler  Leiche, 
welcher  für  einen  Zufall  sprach,  sondern  der  Umstand,  daß  der  Be- 
treffende von  einem  Wagen  überfahren  worden  ist.  Wäre  das  T'ber- 
fahrenwerden  durch  die  Eisenbahn  erfolirt,  so  wäre  man  mit  liüek- 
sicht  darauf,  daß  der  Hals  und  das  (Jesicht  in  querer  lüchtung  über- 
fahren worden  ist,  vielleicht  eher  geneigt  gewesen,  an  einen  Selbst- 
mord zu  denken. 

Im  Falle  12  spräche  wohl  abgesehen  von  den  Erhebungen, 
welche  eben  Zufoll  wahrscheinlich  machen,  auch  der  Umstaind,  daß 
das  Überfahren  schräg  in  der  Bichtung  tou  rechts  unten  nach  links 
oben  erfolgte,  eher  für  einen  Zufall,  wenn  auch  zugegeben  werden 
muß,  daß  ein  Überfahrenwerden  des  Körpers  in  schräger  Richtung 
oder  in  der  Längsachse  des  Körpers  nicht  etwa  unbedingt  auf  einen 


80 


L  Dirnucs 


Zufall  liiii(I(Mittt,  sonderu  gelcgtiitlicb  auch  m  Fällen  von  Selbstmord 
vorkomiiit'n  kann. 

In  vieKu  Füllt  !i  ist  der  Zweck  einer  Obduktion  der,  zu  konsta- 
tieren, ob  der  Obduktionsbefund  mit  dem  Ergebnis  der  Erhebungen 
in  Einklang  gebracht  werden  kann. 

So  kann  im  Falle  2  die  Kopfwnnde  sehr  wohl  anf  einen  Starz 
bezogen  werden,  während  sich  die  ttbrigen  VerletznngeB  dureh  Über- 
fahrenwerden  erklären  lassen. 

Abgesehen  davon,  daß  in  den  Fällen  1,  9  und  10  das  Über- 
fahrenwerden durch  dnen  Wagen  erfolgte,  spricht  im  Falle  10,  falls 
hier  tatsächlich  ein  Überfahrenwerden  stattgefunden  hat,  der  Befand 
schon  an  und  für  sich  für  einen  Zufall,  da  die  Art  der  Kopf rerlelnuig 
anf  euie  tangentiale  Einwirkung  der  Gewalt  hindeutet  und  der 
Thorax  nur  teilweise  und  zwar  rechts  direkt  von  der  überfabrenden 
Gewalt  getroffen  worden  wäre,  ebenso  im  Falle  1  und  5  der  Umstand, 
dal^  bier  bloU  Verletzungen  der  unteren  Extremitäten  erfolgten.  Auch 
im  Falle  9  spricbt  die  I^kalisation  der  VerlefaEungen  am  Unterleib 
und  am  unteren  Teile  des  Brustkorbes  schon  an  und  für  sich  am 
ehesten  für  einen  Zufall. 

Im  Falle  14  lieü  sieb  die  Fraire,  ob  es  sicli  um  Selbstmord  oder 
Zufall  handelt,  aus  dem  objektiven  Leichenbefunde  nicht  mit  Sicher- 
heit liranlworten;  derselbe  sprach  jedoch  eher  für  zufälliges  Über- 
fahreuwerden,  indem  sich  auch  bedeutende  Verletzungen  fanden,  die 
gewili  nicht  durch  direkte  (lewalt  der  Kader  entstanden  sind,  sondern 
sich  am  besten  durch  die  Annahme  erklären  lassen,  daU  der  Mann 
mit  grolier  Kraft  niedergeworfen  wurde:  dies  gilt  von  der  Fraktur 
des  rechten  Oberarmes  und  der  Durchreilhing  der  Aorta.  Wären 
nändicb  diese  Verletzungen  auch  durch  direkte  Gewalt  der  Räder 
verursacbt  worden,  so  hätten  sich  in  der  Xacbbarschaft  dieser  Ver- 
letKungea  aueli  Zennalmnngen  der  Körpergewebe  finden  müssen,  was 
aber  nicht  der  Fall  war. 

Ich  glaube  sonach,  dal)  für  die  lieantwortung  der 
Frage,  ob  es  sieb  in  Fällen  von  IHierfahren werden  um 
einen  Sri  h  >t  m  ord  oder  Zufall  handelt,  verschiedene  Mo- 
mente in  lU'truclit  zu  ziehen  sind  und  zwar: 

1.  die  Lokalisation  der  durch  direktes  1  berfahren- 
werden  und  der  gele  gentlich  desselben  auf  andere  Weise 
entstanden  e  n  \'  e  r  1  e  t  z  u  n  g  e  n ; 

2.  die  liichtuüg  in  welcher  das  Überfahreuwerdeu  er- 
folgte; 


Yerietsnngen  u.  Tod  durch  ÜbrnfiihTen werden  Tom  geriehtsSnU.  Standpunkte.  81 

3.  der  Umstand,  ob  die  das  Ü berfah ren werden  be- 
wirkende Gewalt  den  K  örper  nur  tangential  oder  in  irgend 
einem  Durchmesser  vollkommen  getroffen  hat. 

Dali  ein  Mord  dnrcli  Ü herfahrenlasse n  des  auf  einem 
Bahuji^eleise  festirehal  tonen  Körpers  an  einem  wehr- 
fUhiiron  Individuum  hoir andren  werden  könnte,  halte  ich 
f ür  ^'än/.lieli  au!5;j;es('lilossen,  da  eine  solche  Tat  einerseits  mit 
grolter  (iefalir  für  den  Täter  verbunden  und  die  Erreicliun;;  des 
Zweckes  bei  infolge  der  (Je^'enwelir  nicht  ruliif^er  La^e  des  K»>rper8 
sehr  /weifelliaft  wäre.  Auff^ekiärt  könnte  eine  derartii^e  Tat  durch 
den  Leichenbefund  irewib  nicht  werden.  Denkbar  ist  die  VerÜbung 
eines  Mordes  nur  in  der  Weise,  dab  ein  Mensch  vor  eineni  heran- 
brausenden Zug  auf  das  Bahngeleise  gestoßen  oder  geworfen  wird. 

Laut  Zeitungsnachrichten  ist  vor  einiger  Zeit  in  Wien  ein  Fall 
vorgekommen,  in  weltfern  ein  Mann  aein  dgenes  Kind  dnreh  Über- 
fahrenlassen zn  tdten  versnehte,  indem  er  es  wiederholt  vor  dnen 
heranfahrenden  Waggon  der  elektrischen  Bahn  hinwarf. 

Jedenfalls  halte  ich  dafür:  daß  wir  in  nicht  seltenen  Fällen  dem 
Gerichte  durch  die  Obduktion  Überfahrener  forensisch  höchst  wichtige 
Au&cblflsse  geben  können,  weshalb  denn  auch  in  allen  Fällen,  in 
denen  nicht  schon  dnreh  die  {Hebungen  ein  Selbstmord  unzweifel- 
haft festgestellt  ist,  die  gerichtliche  Leichenobduktion  eingeleitet 
werden  soU.  Kur  möchte  ich  davor  warnen,  etwa  aus  einer 
bloßen  äußeren  Leiohenbesichtigung  weitgehende  Sohllissv 
zu  ziehen. 


II. 

Die  geriehtliclie  Vornntersnchang. 

Referendar  Dr.  jnr.  B.  Polain. 
Inhalt : 

§  i.  Einleitung:  Da»  Wo««on  tind  die  Alten  der  VorunterBocfaung. 

T.  Toil  (§§  2— «». 

A.  Geschichte  der  Vuruntcreuchuug  bis  zur  Kcform  des  Strafprozesses  um  184b. 
i  S.  Da«  rBiidadie  Redit 
§  3.  Daa  dentaefae  Recbt  tot  der  Beseptlon. 

§  4.  Voruntersuchung  im  kanonisch-ltalicnisohen  Rechte  (Inquisitio  — 
IhrcToiliiii^'  in  IiuiniHitio  ;;cnornlis  nntj  Tn*|nisiti(>  specialis;  weitere 
Ausbildung  der  Untenidiiede  beider  in  Italien). 
$  5.  Ai^iüdaDg  der  Begriffe  Inqnidtio  generalis  and  Inqmsitiospecialia. 
—  Strrft  Aber  ünterschied  und  Grenze  beider  in  Dentadiland. 
Doprmatisehe  Darstellung?  der  Inquisitio  generalis  (VonmtMmchasg)  im  gemein- 
rechtlichen  Strafpro/.cP  (§  «>,) 

I.  Begriff  und  >otwendiKkeit  der  Inquisitiu  generalis  im  gcmeinrccht- 
reelitlideD  LMjolBitionsprozesse. 

II.  Yeranlaisnngq>rfinde  der  Inquisitio  generalis. 

m.  Stellung  des  Üntcrsuchongsrlditers  in  der  Inquisitio  generalis.  —  Gang 
der  Inquidtio  generalis. 

II.  Teil        7  15). 
Die  Voi  Untersuchung  von  der  ik'i'urm  dos  Strafprozesses  (lb4Sj  bis  zur 
Strafproaefordnung  für  daa  Dentaefae  Rmch. 

A.  Geecbichtlidie  EntwielElnng  der  geriehtüdieo  Yoruntersnehung. 

§  7.  Qebredien  dos  bislierigen  Verfahrens,  —  Rcfornn  orschläge.  — 
Vornntprsuchini';  im  französischen  und  onglischeii  Itochtf. 

§  8.  .Änderung  dos  Charakters  der  gcrichtlicheu  Vuruntersuehuug. 
Staatsaawaltlidies  Ermittluagsverfaliren  and  geriditHcbe  Vor- 
antersuehnng. 

§  9.   Streit  über  die  Notwendigkeit  einer  gerichtlichen  Vonnitcrsuchnngr. 

B.  Dogmatische  Dan*tcllunf?  der  freriditliohoii  Vonintorsiichung'  in  dem  Strafver- 

fahren der  deutschen  Staaten  mit  Kiicksichtuahme  auf  die  Strafprozeß* 
ordnongen  der  dnzelnra  Staaten  and  etwaige  RefonnvorscliISge. 

§  10.  Stellung  und  Befugnisse  des  Staatsanwaltes  in  der  gerichtlidieo 
A'oruntersuchung. 

§  11.  Stellung  und  Aufgabe  des  Uutersuohungsrichters  in  dw  geridit- 

lichco  Voruutersuchung. 
S  12.  Stellung  des  Angeschuldigten  in  der  geriditlidienVornntersncliung. 


Die  geriditUchfl  Vornntennchiing. 


88 


§  13.  ächlui^  der  gerichtlichen  VuruDtersuchang  und  Beschlußfassung 
ttlnr  die  Ei6ffiiiiii|p  des  HauptvaifdireiiB. 

m.  Teil. 

Die  geriditUdie  Vorunterauclmng  in  der  Straf  Prozeßordnung  für  das  DentMlie  Beidi. 

A.  §  14.  Inhalt  und  Gang  dergeriehÜ.Vonmtei«iMtoig  Idas  geltende Bcdit). 

B.  Kritischer  Teil. 

$  15.  Stellung  der  gorichtlicUcu  \  oruutersuchung  gegenüber  dem  staata- 
aawaltlidien  EmittltingSTerfahren.  —  Pnktiadier  Wert  der  geridl^ 
liehen  Vornntersuchung. 

§  16.  StelluiifT  «Icr  proriclitüchen  Voruntersuchung  zur  Hauptverhandlung. 
§  17.  Offcntlithkeit  und  Mrindüclikoit  der  froriclitlithcn  Voruntersuchung. 
§  IS.  Anhang:  Die  gerichtliclic  \'o ('Untersuchung  nacli  den  wichtigsten 
Stmfjpioief Ordnungen  der  Staaten  Enropas. 


f  1. 

EiBleltnag:  Daa  Wcaeia  der  Tenatomehng. 

In  dem  Strafverfahren  aller  in  der  Kultur  fortgesohrittonen  Völker 
wird  sich  vor  Eintritt  in  die  geriohtliehe  Entscheidnng  ein  besonderes 
PiozeOstadiuin,  Vorantersaehnng  genannt,  angbilden. 

Der  Zweck  einer  solchen  Voruntersnohmig  liegt  anf  der  Hand; 
er  besteht  im  wesentlichen  dann,  die  nötiiren  Schritte  zu  nnternebmeni 
auf  Grund  deren  eine  Entscheidung  darüber  möglich  ist,  ob  ^e^en 
eine  Person  weg-en  eines  bestimmten  Verbrechens  ein  Strafverfahren 
durchgeführt  werden  soll  oder  nicht. 

Das  Wesen,  die  Form  und  der  Umfang  einer  solchen  Vorunter- 
suchung hestininien  sich  im  übrigen  nach  den  Prinzipien,  auf  denen 
das  Strafverfahren  der  einzelnen  \Ülker  beruht.  Tlaujitsächlich  haben 
sich  nun  bei  den  Kulturvölkern  im  Strafverfahren  stets  zwei  Pnn- 
zipien  gegenübergestanden  -. 

1.  Das  Anklage-(Akkusatiünsj-Prinzip  und 

2.  das  Untersuchungs-(Inquisitions)-Prinzip. 

Bei  dem  ersteren  wird  dem  Gerichte  der  Stoff  der  Anklage  vor- 
gelegt, der  von  dem  Ankläger  selbständig  gesammelt  ist  Das  Straf- 
Terfahren  hat  dann  die  Form  emes  BeehtaatreiteSi  bei  dem  der  Richter 
das  beigebrachte  Belastungsmaterial  als  Leiter  der  Verhandlung  auf 
seine  Bichtigkeit  zu  prüfen  nnd  auf  Grand  dieser  Prflfnng  das  Urteil 
zu  fällen  hat  Für  die  Vonmtersnchnng  ergibt  sich  also  ein  nicht- 
gefichtKcher  Charakter.  Dem  Ankl%er,  mag  er  als  Privatmann  m 
Wahrnehmung  eigener  Interessen  oder  ans  anderen  Motiven  die  An- 
klage erheben,  oder  als  Öffentlicher  AnkUtger  verpflichtet  sein  oder 
sich  vo^chtet  fflhleni  gegen  jemand  vorzugehen ,  bleibt  es  ttber^ 
lassen,  das  Bela^tungsmateiial  zu  sammehi  nnd  dessen  Bichtigkeit 

Ifohb  flir  KilBiiuilantiiiovologto.  XIU.  8 


34 


IL  PoLzm 


711  erweisen.  His\v«'il('ii  wird  der  Ankläger  allerdinf^s  richtcrlielie 
Hilfe  in  Anspruch  nt  hint  n  müssen,  wenn  nändicli  solche  Handlungen 
erforderlich  werden,  welche  djis  jreltende  Recht  dem  Richter  vor- 
hehült.  Im  iihrifren  aher  handelt  der  Ankläirer  selhständi«:,  und  diis 
Gericht  nimmt  keinen  Anteil  an  der  Voruntersuchun*^,  die  also  hier 
grundsätzlich  außerhalb  des  gerichtlichen  Strafverfahrens  liefet. 

Beim  Inquisitionsprinzipe  hat  die  VoniDtersuchuDg  dagegen  die 
Form  einer  riebterlichen  UnterBncbnng.  Das  Oerieht  bat  die 
Pfticbty  im  Öffentlicben  Intere&ae  alle  begangenen  Verbiecben  za  Ter- 
folgen,  damit  kdne  Übeitretimg  der  Becfatsordnung  ungesttbnt  bleibe. 
Eb  muß  sieb  selbst  alles  snr  Abnrteilmig  des  SinfiEsJIes  nötige  Sfaterial 
berbeiscbaffen.  Hier  wird  sieb  dne  Vomnfteisacbnng  ausbilden,  die 
ein  Teil  des  riebterticben  Strafrerfabrens  ist  nnd  einra  yoUstftndif 
prosessualen  Cbarakter  tiSgt  Diese  VomnlerBaobang  tritt  jedesmal 
dn,  sobald  ein  Verbreeben  begangen  ist  oder  das  Geriobt  die  Be- 
gehung eines  solcben  verrnntet  Die  Voruntetsoebung  liegt  hier  ganz 
in  Händen  des  Gerichtes  und  ist  somit  &m  „geriebtliobe"  Vor- 
Untersuchung  zu  nennen. 

Selbstverständlich  sind  anch  Arten  der  Vomntersuchung  möglich, 
die  sich  nicht  konsequent  an  das  eine  oder  andere  Prinzip  halten, 
sondern  beide  in  verschiedener  Weise  zu  vereinen  suchen,  wobei  sie 
sich  bald  mehr  zum  einen,  bald  mehr  zum  anderen  neigen  können. 

Zweck  unserer  Untersuelninp-  ist  es,  zunächst  einen  l'berblick 
über  die  Art  der  Voruntersuchuufr  in  den  für  uns  wichtigen  Rechten 
zu  flehen,  soweit  eine  solche  vorhanden  ist,  um  so  das  nötige  Ver- 
ständnis für  den  ^eseliiehtliehen  Werde^^ang  der  {;eriehtlichen  Vor- 
untersuchung unserer  btratprozeliorduung  für  das  Deutsche  Reich  zu 
gewinnen. 

1.  Teil: 

A.  Geschichte  der  Vonmtersuchung  bis  zur  Reform  des  Strafjirozesses 

um  1848. 

§  2. 

Ihm  rMsebe  Beeht.*) 

In  der  ältesten  Zeit  herrschte  in  Rom  ein  reines  Ermittelungs- 
verfahren, die  ma^Mst ratische  Coercition  iCojj^n i tio),  d<as  den 
Bürger  vollkoiiniien  der  Gewalt  der  Ma^n^lrate  }treisgibt.  Diese  Cognitio 
war  ein  fornduses  Strafverfahren.  Der  Magistrat  war  von  Amts  wegen 


1)  VgLMommeen,  ROmische«  Strafreoht.  S.899f!.  a  165—167. 


Die  gciichtUcho  Vonrntennchusg. 


86 


zur  V»Tfol<runjr  der  Verbrechen  verpflielitct  und  konnte  jederzeit  den 
Pruzt  li  iKi^innen,  endig:en  und  wieder  erneuern;  das  Sehieksal  des  Ant^e- 
klagten  ruhte  ^^anz  in  den  Händen  des  Magistrates,  von  dessen  f>- 
niessen  auch  der  Unifanjr  der  Verteidi^am^^  abliin^.  Bei  einem  solchen 
formlosen  Verfahren  konnte  von  einer  Trennung-  in  \'oruntersuehung 
und  Ilauptverfabreu  keine  Rede  sein.  Durch  die  Lex  Valeria  de  pro- 
Tocatione  (509a):  „ne  quis  magistratiis  civem  Bomanum  ad  versus 
provooationein  necaiet  nere  ▼erbemiet'*  wurde  die  Macht  der  Ma- 
gistrate dahin  eingeschiink^  daß  die  Kapitalnrleüe  denelben  ▼OB  dem 
in  den  Zentariatkomitien  TersammeUen  Volk  au  bestätigen  waren, 
vm  yolJstreckt  werden  an  kennen.  Um  nun  dem  Volke  eine  solche 
Entseheidnng  zn  ermöglichen,  kam  neben  der  formlosen  magistra- 
tischen  Coereition  ein  öffentliches  Verfahren  mit  festen  For- 
men auf,  die  sogenannte  Anqnisitio.  Dies  Verfahren  findet  vor 
versammelter  Bürgerschaft  statt  nnd  zwar  mnß  die  Verhandlnng  an 
drei  yersehiedeneni  mindestens  dnreh  einen  Zwischentag  getrennten 
Tagen  erfolgen.  Der  Magistrat  legt  den  Sachverhalt  dar;  darauf 
erfolgt  die  Verteidigung  des  Beklagten,  an  der  sich  auch  jeder  Mann 
ans  dem  Volke  beteiligen  darf  vermöge  der  allen  Bürgern  zustehenden 
Bedefreiheit.  Hierauf  erfolgte  das  Urteil  des  Magistrates,  gegen 
welches  die  Provokation  an  das  Volk  zulässig  war. 

Dieses  Strafverfahren  erhielt  sich  in  Rom  bis  in  das  letzte  Jahr- 
hundert der  Republik.  Hei  der  andaucroden  Ausdehnung  des  Wmii- 
schen  Stafites  genügte  es  auf  die  Dauer  aber  nicht.  Einerseits  war 
bei  Einsdiränkung  der  Willkür  der  Magistrate  nur  der  Bürger  nnd 
im  allgemeinen  auch  nur  der  männhciie  lUirger  geschützt.  Anderer- 
seits aber  beschränkten  die  Magistrate  sich  auf  die  Verfolgung  poli- 
tischer Verbrechen,  während  sie  die  Verfolgung  der  gemeinen  Ver- 
brechen auller  acht  ließen  oder  nur  lässig  betrieben.  Um  nun  den 
Einzelnen  vor  Gewalttaten  seiner  Mitmenschen  zu  schützen,  wurde 
der  A kkusationsprozeß  eingeführt,  d.  h.  auf  eine  von  einem  Pri- 
vaten erhobene  förmliche  Anklage  hin  erfolgt  die  Einleitung  eines 
Strafveiiahrena.  Znr  Anklage  berechtigt  war  in  erster  Linie  natOr- 
lich  der  dnieh  das  Vefbrechen  Verletzte,  sodann  aber  Ton  einigen 
BeschrSnknngen  abgesehen  jedermann  ans  dem  Volke.  Sache 
des  AnkUgers  war  es,  sich  seine  Bewdse  selbst  zu  sammeln:  An- 
kUger  nnd  Angeklagter,  die  Parteien  des  Prozesses,  führen  dem 
Richter  den  Stoff  für  das  zu  CUlende  Urteil  vor,  und  das  Gericht, 
bestehend  aus  dem  PrStor  und  Geschworenen,  deren  Zahl  nach  den 
Quellen  zwischen  10  und  32  schwankt,  entschied  hiemaehf  ohne  sich 
vorher  mit  diesem  Stoffe  irgendwie  beschäftigt  zn  haben.  Die  Tätig- 

3* 


86 


IL  Povm 


keit  des  (ierichts  l)estand  somit  ledij^lich  in  der  l'rozi'IHeitunf]^  und 
der  Urteilsfälluni?.  Hei  diesem  Akkusationsprozcfi  fand  nun  vor  der 
Verhandlung,  in  der  das  (lericht  die  l'arteien  litirte  und  Keeiit  sprach, 
ein  Verfahren  statt,  in  dem  die  Anklaj^e  fürudich  aufgenommen  und 
geprüft  wurde.    Bestandteile  dieses  Verfahrens  sind: 

a)  PoBtalatio  rei  d.  b.  die  Erlaubnis,  jemanden  anklagen  m. 
dürfen. 

bj  Nomims  (criminis)  delatio:  die  Person  des  Angeklagten  und 
das  fngliche  Orimen  wird  in  Gegenwart  des  Angeklagten  nfther  be- 
seiebnet 

c)  Inscriptio  nominis  (eriminis):  fOrmliebe  Anfzeichnnng  der  An« 
klage  mit  Namen  des  Anklägers  nnd  Angeklagten  sn  einer  Art  Qe- 
ricbtsprotokoU.  Diese  Anklagesebrift  (libellns  accusationis)  war  die 
Grundlage  des  Prozesses,  die  in  der  Hanptverhandlnng  niebt  ttber- 

scbritten  werden  durfte. 

d)  Die  Nominis  reeeptio:  förmliche  Erklärung  des  Prfitors,  daß 
gegen  eine  bestimmte  Person  eine  gewisse  Anklage  angenommen  sei, 
nnd  Bestimmung  des  Tennins  für  die  Hauptverbandlung. 

Diese  stufenweise  eintretenden  Handlungen,  die  der  feierlichen 
Accusatio  in  öffentlicher  Sitzung  vorausgingen,  kann  man  als  eine 
Art  Vorverfahren  l)etrachten,  das  dmi  Verfaliren  „in  jure"  des  Zivil- 
pro7.esses  entsprieiit.  Hei  diesem  Verfahren  handelt  es  sich  lediglich 
d.irum,  festzustellen,  oh  die  ProzelJvoraussetzungen  erfüllt  sind. 
Keintswcirs  alur  werden  in  ihm  Beweismittel  üher  die  Seliuld  oder 
UnseliuUl  (Us  Beklagten  gesanunelt,  worin  doch  die  Aufgahe  einer 
V()riiiitt'r>ueliung  hestelit.  Von  einer  Voruntersuchung  findet 
sich  also  auch  in»  Akkusationsprozesse  keine  Spur. 

Der  Akkusationsprozel)  erhielt  sich  auch  in  der  Kaiserzeit 
Zur  Verfolgung  eines  Verhrechens  ist  formell  noch  immer  der  Grund- 
satz festgehalten,  daß  ein  freiwilliger  Ankläger  die  Klage  erhebt 
Daneben  bildet  sieh  aber  gerade  in  der  Kaiserzeit  das  Einsobreiten 
Ton  Amts  wegen,  die  magistratische  Cognitio  wieder  mehr  nnd 
mehr  ans.  Ob  nun  in  diesen  Fällen  der  Verbrechensrerfolgnng  von 
Amts  wegen  ein  Vor-  und  Hanpt^erf^ren  zu  trennen  igt,  ist  fraglich. 
Man  kSnnte  allerdings  die  vorläufige  Verhaftung  und  Vernehmung 
der  Verdächtigen  durch  diese  Magistrate  als  etwas  der  modernen 
VorunterBuchung  Analoges  betrachten*}.  Man  beruft  sich  hier  auf 
1  6  Dig.  XXXXVIII  3.  Diese  SteUe  enthält  aber  lediglich  eine  An- 
weisung an  die  Beamten,  wie  sie  bei  der  Ermittelung  von  Verbrechen 


1)  So  Zacharlae,  Handbuch  dee  Strafprozeesee.  J.  S.  100. 


Die  geriditUdie  VonmlenacfauDK. 


87 


zu  verfahren  haben.  Für  das  Vorhandensein  oiner  Voruntersuchung 
aber  bietet  diese  Stelle  durchaus  keine  Anbaltspunkte,  und  auch 
Monniisi  n  erwähnt  kein  Material,  aus  dem  sich  bei  dieser  Vit- 
folpin^'  der  Verbrechrn  von  Amts  wegen  eine  Teilunj::  des  Verfahrens 
in  eine  Vorunteiäucbung  uod  eine  HauptuotersucbuDg  nachweifien 
ließe. 

13.. 
Dw  iMitadie  Beeht  jor  dar  SeMfittoH 

In  der  filteaten  Zeit  hemebte  in  DenttchUuid  ein  5ffenttieh-mfind- 
liebes  PrivatenklageverCaliren,  in  welebem  das  Geriebt  auf  Grand  des 
Vorbringens  der  Parteien  ledigliob  die  reebtlicbe  Entscbesdung  zu 
treffen  bat,  welcbes  daber  für  eine  gericbtlicbe  YornntersachuDg  keinen 
Banm  bietet 

Als  aber  zu  Beginn  der  {rSnkiscben  Monarcbie  die  Staatsgewalt 
mebr  znr  Geltung  kam,  bildete  sich  aucb  in  Deutscbland  allmfthlich 
der  Gedanke  aus,  daß  der  Staat  als  solcher  berufen  sei,  die  Hisse- 
tüter  zu  bestrafen.  Neben  dem  Anklageverfahren,  das  völlig  den 
Charakter  eines  Zivilprozesses  zeigt,  hat  sich  infolge  dieses  Einflusses 
eine  Verfolgung  gewisser  Verbrechen  von  Amts  wegen  durch  die 
Grafen  und  Zentenare  ausgebildet  2),  ausgehend  von  der  Verfolgung 
der  handhaften  Tat.  Das  Verfahren  bei  dieser  Offizial Verfolgung  von 
Verbrechen  war,  nach  den  spärlichen  Quellen  zu  urteilen,  durchaus 
formlos;  es  hatte  durchaus  nicht  den  Charakter  eines  Prozesses,  son- 
dern war  eine  einseitige  polizeiliehe  Mabregel  ohne  Mitwirkung  des 
Gerichts  3 j.    Karl  der  Große  erst  legte  den  Grund  zu  einem  wirk* 

1 )  Vgl.  Brnnner,  Dentacfae  Rechtageschichte.  1.  Bd.  B.  ITSff.  2.  Bd.  8. 48S ff. 

2)  Vgl.  Capitnl.,  l.d.a.802,  Kap.  25:  Hier  wird  bestunrnt,  daO  die  Gomitro 

und  Centenarii:  «junioree  tales  in  ministeriis  haboaut,  in  qnlbiw  aecuri  oonfidant, 

(|nia  leg'em  atque  juatitiam  fidcliter  ohscrvcnt,  panpcres  ncqaaqnam  opprinient, 
fures  latronesque  et  bomicidas,  aUultcru»,  uiaieticus  üiuDCäque  8acriU>;;()s  nuila 
adolatione  vel  praemto  nolloqae  sab  tegmine  celare  todeant,  aed  magis  prodere, 
nt  emendentor  et  caatigentur  Becundum  l^cem,  ut  Deo  laigienl»  omnla  haec  mala 

a  Cbristianü  pnpulo  aaferantiir- .  ferner :  Pactus  pro  tenore  Childeberti  et  Cblotarii 

a.o.  511 — 518  iMoii.  (iemi.,  Ic«;.  Hnretiii?,  p.  T,  No.  lOi  „contonarii  inter  com- 

mones  provincias  liccutiam  habeaut  latroucs  perscquere  vei  vestigia  adsiguata 
minare. 

8)  Vgl.  Rieh.  Schmidt^  Herkunft  des  Inq.-Prox.  S.  72.  Anderer  Meinung 

ist  Keller  (StaatBanwalt«*chaft  in  I>putÄchland,  S.  245),  der  in  der  Prüfung,  ob 
die  Berichte  der  Boaniton  (Jl.iubeii  finden  (Inquisitio  ma^stratns».  den  Keim  doR 
üntersuchungsrichteranite»  erblicken  will.  Meines  Erachtens  kann  diese  inquisitio 
magistratus  nur  unserem  heutigen  staatsauwaltlichen  Erroittlangsverfaliren  ver- 
l^eidibar  eein,  genau  wie  im  rSmiadien  Bedite  daa  Verfahren  der  Jrenardien  usw. 


38 


IL  POUEIK 


lic'lu^n  Straf|)n»/,t'H ,  lo'i  (Inn  wir  es  mit  einer  Verfolfrunjc:  der  Ver- 
l)reclien  \  on  Amts  wejLcen  zu  tun  haben.  Es  sind  dies  die  soirenannten 
Kü^'e^'erichte.  Die  Spuren  dieses  Verfahren  stanimtMi  f)ereits  aus  der 
nierovinpschen  Zeit.  Nach  der  Lex  Salica  74  lud  der  Graf,  wenn 
ein  Mensch  von  unbekannter  Hund  ^a^t(itet  war,  die  Dorf^enossen, 
in  deren  Gebiet  der  Leichnam  gefunden  war,  vor  Gericht;  hier  müssen 
sie  schwören,  daf^  sie  Mord  nicht  verübt  haben,  auch  nicht  wissen, 
wer  ihn  begangen  bat  fqnod  nec  occtdisaenti  nec  sciant,  qui  occi* 
dissent).  Wurde  nun  jemand  durch  5—7  tinbesoboltene  MSimer  eid- 
lich als  Tftter  beaeichnel,  so  wnrde  er  ohne  rechtsförmliches  Vei&hren 
getötet  Bdm  Rttgeveifahren  aelbat  liegt  die  Sache  so,  daß  der  Bichter 
unbescholtene  und  glaubwürdige  Mibmer  aus  seinem  Besirke  Toiiadet 
und  sie  eidlich  verpflichtet,  daß  sie  bestimmte  Verbrechen  rügen;  außer- 
dem smd  sie  yerpflichtet,  die  Wahrheit  auszusagen  über  alle  Dinge, 
nach  denen  sie  der  Richter  befragt  <).  Wird  nun  jemand  durch  die 
Bflgegeschworenen  eines  Yerbreohens  berichtigt,  so  wird  er,  wie  wenn 
gegen  ihn  formell  eine  Anklage  «hoben  wäre,  vor  das  (}mcbt  ge- 
stellt Die  Rüge  der  Geschworenen  war  also  ein  Surrogat  der  An- 
klage des  V'erletzten.  —  Auch  hei  diesem  Rügeverfahren,  das  auch 
maßgebend  wurde  für  die  kircblichen  Sendgerichte  und  sich  mit  der 
Zeit  auf  fast  alle  deutschen  Stämme  verbreitete,  ist  also  von  einer 
gerichtlichen  Vorontersuchung  noch  kerne  Spur  zu  finden. 

«  4. 

Die  VoniiitersuchunfiT  im  kanonltieli-italieiiUieheii  R^'lit4?^i. 

Das  kanonische  Recht,  weiches  zunächst  das  römische  Recht  als 
entscheidende  Rechtsnorm  betrachtete,  bat  ebenfalls  als  Hauptform 
des  Strafverfahrens*  den  Anklageprozeß.  Daneben  kommt  aber 
schon  in  den  ältesten  Zeiten  eine  Bestrafung  durch  die  kirchlichen 
Richter  ohne  Ankiai^e  vor  auf  Grund  der  infamatio,  diffamatio, 
rl.iniosa  insinuatio  und  des  chiiiior  j)uhli<'us.  Billigcrweise  mußte 
nun  in  solchen  Fällen,  wenn  man  nicht  unhaltbare  Zustände  schaffen 

Aufiralx'  ili  s  riitorstichunffsrichters  alter  ist  Kfiliruii}?  der  gerichtlichen  Vorunter- 
suchung'. Als  frcrii  litlicliL-  \"<>runiersucliuiig  kann  man  diese  Inqnisitio  n)a)<istratus 
nicht  ansehen,  tUi  iiir  je^liclu»  pruzeä&ualc  Eieuient  fohit,  das  gerade  ein  licr\-or- 
Btediondes  QiarakteriBtikiim  der  gerichtlichen  Vorantemidrang  ist 

1)  VgLPipp,  Kap.  782—7^0 c.  8.  I.  192:  judex  unnsqidsqae  per  dvitatem 
faciat  jurare  ad  Hei  judicia  lioniines  crf-dcntt'-  iiirta  (|iinntos  praeviderit  .  .  .. 
ut  rui  ex  ipsis  co'riiirum  fueiit,  id  est  lioiuicidia,  furta,  adulteria  et  de  iolicita» 
eunjuuctione»,  ut  nemo  eas  coucetet. 

2)  Vgl  Biener,  BdtiSge  zur  Geacliichte  des  InquiutloiiBproceeaee.  S.  86  ft 
und  Richard  Schmidt,  Herkunft  des  InqaiaitioiiBproMSBes.  Freibuii;  i.  Br.  t902. 


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Die  geriditUfdie  Voronteieadrang. 


89 


wollte,  ein  solches  Gerücht  .auf  seine  (Uauliwürdii^keit  untersucht 
werden.  Hierzu  diente  die  Infiuisitio,  welche  durch  Innocenz  III. 
eintrefiihrt  wurde.  Diese  Inquisitio  unterschied  sich  vom  Ankla^j^e- 
verfahren  dadurch,  dali  keine  Anklap'  zur  Verfolji;unj;  eines  Ver- 
brechens erforderlich  ist,  sondern  daii  das  Gericht  von  Anita  wegen 
Terpflichtet  ist,  begangeoen  Verbrechen  nachzuspüren  und  über  sie  die 
Wahrheit  zu  erforschen  i).  Im  Slteren  deutschen  Rechte  bestand  ja 
auch  eine  Verfolgung  gewiseer  Yeibrechen  von  Amts  wegen,  eben^ 
blls  Inqnisitio  genannt  Dies  Verfahren  zeigt  aber  doch  einen  be- 
deutenden Unterschied  gegenüber  der  Inqnisitio  des  kanonischen 
Becbtea  Dieser  ünterscbied  Uegt  m  dem  Beweisyeifahren.  Dem 
deutschen  Rechte  ist  das  BewosrerEahren  mit  den  formalen  Beweis- 
mitteln Reinignngseid  nnd  Gottesurteil  eigent&mlicfa.  Das  kanonische 
Recht  dagegen  fibemahm  das  Beweisreoht  des  römischen  Verftihrens. 
Hier  kommt  alles  anf  die  innere  Glaubwürdigkeit  der  Behauptungen 
Yon  Zeugen  an,  wfthrend  im  deutschen  Recht  ausschlaggebend  war, 
ob  der  Beschuldigte  eine  genügende  Zahl  Eidesbdfer  hatte  oder  ob 
ein  Gottesurteil  einen  für  ihn  günstigen  Ausgang  nahm.  Dies  Ver- 
fahren per  inquisitionem ,  das  Innocenz  III.  zunächst  nur  zur  Ver- 
folgung gewisser  Verbrechen  vorgeschrieben  hatte,  wurde  auf  dem 
vierten  lateranischen  Konzil  (1215)  auf  alle  Verbrechen  ausf^edehnt  und 
sanktioniert.  Bei  den  weltlichen  Gerichten  Italiens  findet 
sich  dies  Verfaliren  per  incjuisitioneni  ehcnfalls  in  Ubunj:.  Wo  der 
Ursprung'  dieses  Verfalirens  per  inciuisitioneni  liegt,  war  bisher  sehr 
unsicher.  Fast  allgemein  nahm  man  an,  daü  die  Inquisitio  des  kano- 
nischen Rechtes  eine  Schöpfung  und  Erfindung  Innocenz  III.  sei,  die 
allmählich  sich  auch  bei  den  weltlichen  (ierichten  eingebürgert  hat. 
Neuerdings  hat  Rieh.  Schmidt-)  nachgewiesen,  daC»  das  Inqui- 
sitionsverfahren nur  eine  Fortbildung  der  liK^uisitio  des  fränkischen 
Rechtes  ist,  die  nach  Italien  herübergebracht  ist,  und  in  den  Statuten 
der  italienischen  Städte  aufgezeichnet  ist,  bevor  sie  sich  im  kanonischen 
Rechte  zeigt  Die  Inquisitio  des  kanonischen  Rechtes  ist  dem  gegen- 
über nur  dne  partikulSre  Abzweigung.  Der  Unterschied  gegenüber 
der  frünkischen  Inquisitio  zeigt  sich  hauptsächlich  darin,  daß  in 
Italien  das  Verfahren  per  inquisitionem  schon  das  römische  Beweis- 
recht  übernommen  hat 

Bei  diesem  Verfahren  per  inquisitionem,  das  in  der 

Ii  FcriiPiv  T'ntei-scliicdr .  die  sicli  aus  der  Natur  der  8aclie  ergeben,  sind 
die  tichriftliebkeit  und  lieiailichkcit  dea  Verfahrens  in  der  luquisitio. 

2)  Bich.  Schmidt,  Herkunft  des  Inquisitaonspnneaaea.  S.  99ff.,  106, 
S.  92  ff^  96.  Freibmis  1902. 


40 


II.  Pouu» 


Kirche  wie  in  den  Städten  Italiens  zu  Beg:inn  des  13.  Jahr- 
hunderts in  rbung  war,  zei^^t  sich  zuerst  eine  Vorunter- 
8ucllun^^  Ks  erpbt  sich  eine  Trennun-r  des  Verfahrens  in  eine 
Vor-  und  liauptuntersuchung  bereits  aus  den  überlieferten  Stellen  der 
italienischen  Stadtrechte,  bei  denen  da»  Verfahren  per  inquigitioneni 
in  eine  Inqnisitio  generaliB  (VoriintersQchang)  und  eine 
Inquisitio  speelalis  zerlegt  wurde,  wenn  aneh  diese  teohnieohen 
Anfldrficke  zunächst  noch  nicht  in  Übung  waren. 

Wichtig  sind  hier  folgende  Quellenstellen : 

1)  Liber  statutorom  Janucnsis  cap.  72,  leg.  manidp.  L  p.  251 :  „ A  proxima 
▼«ntmm  del  pmifloBtioDia  sanctae  Marie  naqne  ad  ammm  nnaiii,  nl  ego  consol 
invenero  nllnm  hominem  per  testes  qai  foerint  recfptend!  ad  tarn 

mapnum  crimen  probandum  vol  (|ui  per  f«uam  c<»nfp8s«i()neni  manifestavcrit 
quod  falsot  monetam,  lanueosem  aut  qui  tarn  falsatani  habeat  seu  faisam  fa^iat 
^ve  ad  falsamdam  cam  coDsendat  vel  cujus  conailio  falsetur  omnes  res  huminis 
Uttns  mobiles  et  immobiles  ad  ofnnmime  Unaae  laodabo  et  ree  efae  atiieaoqae 
iuTcnero  ita  nt  adquirere  poedm  ad  comniune  lantiae  acTipiam  et  amplius  non 
reddani  nec  alinii  alten  persone  pro  illo  et  publice  in  parlanicnto  laudabu 
ut  persona  ejus  peri)etuo  exilietur  et  ü  personam  ejus  iiabere  potero  maoum  ejus 
truncarc  faciam.  Et  hoc  totum  do  eodcm  homine  vidclicet  falsatore  monete  in 
breve  scribere  faciam,  ad  quod  Tenturi  conaoleB  jnrabnnt.'*  Ähnlidi  ein  Mailinder 
Statut  von  12ol  (Madänder  Mfinzstatut  vom  18.  Jan.  1204,  vfjl.  Hugo  Sachsse 
iFestgabc  für  Ihering^  Rostock  l*«li2.  S.  (l^ff.),  woselbst  der  I'in/cF  auf  eine  An- 
klage hin  geicgelt  ist.  Am  .*^chlul>  findet  »ich  folgende  Klausel:  ,,Et  rectoi-cs 
couiuiuni»  Mcdiolani  qui  pro  tempore  fuerint,  teneautur  buua  fide  et  sine  fiaudo 
dare  operam  ad  predictoe  falsarioa  capiendoa  et  ad  inqnirendaa 
predictaa  falsitates  per  t'  - n!  virtutem  Mediolani,  ex  quo  .sibi  delata 
fncrit.  —  Ein  i^tatut  von  C\»nHi  (12<>"2.  Uber  statutonim  ronsuluni  Cnuinnonim 
tit,  154  [Mon.  p.  Gl])  zeigt,  wie  Anklage  und  Verfolgung  von  Amts  wegen  inein- 
ander übergehen :  „Si  qui  fuerit  cartaiu  falsam  — ,  solvat  pro  banno  Uvras  centum 
noYomm  ant  mantim  amittat  —  Et  llle  qui  dizerit  anb  polestate  vel  eonaaUbiia 
commimiB  et  iusticiae  vel  ti> ;  Tiaromin ,  cartam  sive  instrumentum  falsam  vel 
falsum  ossc  et  probare  volueni  de  ipsa  falsitate  vel  ostendere,  juret  ad  sancta  Doi 
evaii;::elia  statim  sc  eredere  et  habere  suspicioncni  eertam  de  ipsa 
carta  sive  instrumentum  sit  falsum  et  postea  procedat.  Et  potestas  etconsule« 
comonis  et  iostidae  et  negotiatomm  teneaotnr  ex  officio  suo  inqairere 
ipaam  falsitatem.*  Ebenso  in  Padua  (statuti  del  commonc  di  Padova,  ed. 
1973  datiert:  -statutum  vetus  ante  milletiintum  «Iiiccntcsinnmj  trigesimum  sextuni** 
no.  771.  p.  2r)r>,  libr.  III.  C  0»:  -Quicumque  f^ua  aucttjritato  fregerit,  inciderit  seu 
devaätuverit  aliquam  viam  publicum  iu  campanea  padue  vel  padunuo  dihtnetu; 
JiTvaa  vigtnti  qoinque  commiiB  componat  —  etpoteetaa  ano  officio  de  pre- 
dictia  diligenter  iinjuirero  teneatur  sacramento  sui  regimiais  si  fncrit 
requi'^irns."  \'or  allem  al)er  koiiiiiit  ein  Statut  von  Hergamo  in  Betraelit 
(Statuta  l'ergami  inon.  bist.  patr.  ieires  niunicipales  II,  p.  1932,  III.  de  annis  vetitis 
coerceudis;  datirt  ante  122U]i:  .Et  si  aliquis  de  se  dubitans  vel  do  suo  amico 


1)  Vgl.  Schmidt,  Uerlcirnft  des  Inq.-Proz.  S.  108—105 


Die  geriditliohe  YonutennehuBg. 


41 


vcl  de  alio  dixerit  per  Bacrameutum  rcctoriä  cungruo  loco  et  tempore,  quod 
aliqui»  portet  ulitiaod  timorani  vecftonuB  teneatur  Reotor  diligentar  inqnirere 
et  cercare  qaam  eitins  et  meliat  potaerit  sine  frande  per  se  yelper 

Bunm  missum.  —  Et  si  hoc  invcncrit,  teneatur  Rcctor  in  primo  arcngo,  quod  port 
ipsani  invcntioncm  fnorit.  hoc  <licerp  et  inanifest.-irc  <'t  ibi  predictas  penas 
ei  iiupuucre.'*  Aus  alteu  üieiH;u  (Quellen  tritt  klar  uud  deutlich  das  Vorbanden- 
•ein  des  lnqni>iti<Ma>proiflMOi  Iterrär.  Aneb  nigt  ikh  in  ihnen,  inebeeondeie  in 
der  lefaterwttinten  Stelle  eine  Zwdtdinnif  des  Verfidirena:  nlmlidi  eine  Voranter- 
suohung,  in  der  die  Schuldbo\voi»c  fresamiuolt  werden,  und  d:i\ on  jretrvnnt  ein 
Verfahren,  in  dem,  falls  die  Sebald  dea  Angeklagten  zutage  ffctreten  ist,  die  Ver- 
urteilung ausgesprochen  wird. 

Die  ersten  scbrifdiehen  Aa^iehnungen  Aber  die  Inqnisitio  mnd 
enthalten  in  den  Kommentaien  so  den  Frivateaminlongen  päpsUieber 
Dekietalen  (sogenannte  Compibitiones  antiqaae).  Im  Gegenaalz  sn 
Innoeenz  III.,  der  noch  niobt  Von  einer  Trennung  der  Inquisitio  ledet^ 
kennt  Joannes  Tentoniens  (t218;  Appamtos  zur  Oompilatio  IV.) 
in  seiner  Glosse  ein  vorbereitendes  Verftihren  über  die  Ezistenx  der 
Infamia,  weiches  auf  eine  Vonmtersuchung  hindeutet*  Innoeenz  IV. 
spricht  in  seinem  ^Apparatns  sn  den  Dekretalen  Gregors  IXJ^f  der 
etwa  1245  ersebienen  ist,  zuerst  von  einer  Vomntersuchung,  die  er 
Inquisitio  generalis  nennt.  Die  Ilauptätellen  sind:  c.  17.  21.  24.  X 
de  accusat  ...  c.  23  X  de  eleet.  Diese  Irn|uisitio  generalis  findet 
nacli  ihm  statt  a»  de  omnibus  criminibus  d.  h.  bei  allen  Kirclienvisi- 
tationen  (Biener:  Heitr.  z.  (Joseh.  des  Inq  -Fror.  S.  S5\  b)  super  statu 
alicujus  ecciesia*',  wenn  MÜtbräiiclie  l)ei  einer  Kirche  ein^'orissen  sind, 
c)  wenn  ein  Verbrechen  bekannt,  (b-r  Täter  al)er  unbekannt  ist.  Werden 
nun  gep'u  jemanden  f^enü^anub'  Verihichtsi;ründe  gefunden,  so  tritt 
gegen  diesen  die  Inquisitio  contra  certam  personam  (Inquisitio  speci- 
alis) ein.  Innoeenz  \\\  ist  also  der  erste  Papst,  der  eine  Tei- 
lung der  Inijuisitio  in  Voruntersuchung  und  Ilauptunter- 
suchung  kennt.  Die  Summa  Decretalium  des  Ilenricus  de  Segusio 
oder  Ostiensis,  zwischen  riöl)  und  1261  entstanden,  erwähnt  gleich- 
falls die  Unterscheidung  von  Inquisitio  generalis  und  Inquisitio  contra 
singularem  personam.  Durantis  in  seinem  Speonlnm  jnris  (1270) 
(Bneb  III)  nnterseheidet  zwiseben  Inquisitio  praeparatoria  und  solennis. 
Die  Praeparatoria  besteht  naeb  ihm  in  der  Erforschung  des  TSters 
eines  bekannten  Verbreebens  nnd  der  genaneren  üntersnchnng  der 
Infamia,  im  Falle,  daß  der  Inqnisit  dieselbe  leugnen  sollte.  Albertus 
Gaudi n US  (um  1300  f)  unteischeidet  in  sflinem  libellus  de  male- 
fieüs :  „Utrum  judex  inquirat  contra  aliquem  singularem  et  specialem 
et  nominatam  personam,  an  inquirat  generaliter  de  malefido,  quis 
illud  oommisent^  Diese  Inquisitio  generalis,  die  auob  In> 


42 


IL  Pounxr 


quisitio  praoparatoria  ^^enannt  ist,  weil  sie  das  Haupt- 
verfahren  V (I rberei f et,  dürfte  als  Ursiirun^;  der  jrericlit- 
lielien  V  orun  te  r su e  Ii  ii  n^^  zu  betrachten  sein  Sie  ist  ein  Ver- 
fahren, welches  dazu  dient,  ein  Verbrechen  und  den  Täter  desselben 
zu  erforschen.  Der  Unterschied  der  Inquisitio  generalis  und  der  heu- 
tigen gerichtlioheD  VoruDtersuchung  liegt  darin,  dafi  die  Inquisitio 
generaJia  endet ,  sobald  genügende  Verdaehtsgründe  gegen  eine  be- 
stimmte Person  vorliegen,  und  sich  nicht  gegen  diesen  Verdächtigen 
selbst  richtet,  wie  dies  in  der  heutigen  gerichtlichen  Yoruntersnchnng 
gerade  der  Fall  ist. 

Die  Nachfolger  des  Albertos  Gandinns  haben  die  genaue 
Unterscheidung  von  Incjuisitio  generalis  und  Inquisitio  specialis  wieder 
vefkllnstelt  Nach  Bartolus  (1314—1357)  (Hauptstelle  bei  1 2  §  5  D 
ad  L.  Jul.  de  adulteriis)  dient  die  Inquisitio  gen^is  zum  Aufonchen 
eines  Verbrechens;  er  teilt  sie  folgendenuaSen  ein: 

1.  Generalis  quoad  personas  et  delicta. 

2.  Generalis  quoad  personas,  specialis  quoad  delicta. 

3.  Generaiis  qnoad  delicta,  specialis  (|Uoad  personam. 

Das  Verhält;ni8  der  Inquisitio  generalis  zur  Inquisitio  specialis 
drückt  kurz  folgender  Satz  aus:  „Ubi  enim  in  generali  corapcrit  ali* 
quem  deli<|uisse.  jtotest  ;h1  spocialeni  descendere  et  condemnare  .  . 
Das  Verfaliren  in  der  Inquisitio  generalis  schildert  Bartolus  bei 
1.  ult.  I).  de  (|uaest.  folgendemialJen :  ^Quandoque  de  maleficio  fit 
inquisitio  ^reneralis,  non  contra  certam  j)ersonani,  quandu(|ue  specialis 
contra  certam  personam.  Primo  casu  antequam  ad  inveslifj:ationem 
aliquani  procedat,  debet  eonstare  de  maleficio.  Et  ideo  rectores  niit- 
tunt  niilitem  vel  aliuni  officialem  ad  videndum  honiinein  niortuuni  et 
ad  videndum  vulnera  et  hoc  faeiunt  seribi  ut  super  linc  postea  possit 
inquiri.  Puto  tarnen,  quod  sicut  fama  est  sufficiens,  ut  possit  specia- 
liter  inquiri  contra  aliquem,  ut  dixi  in  !  2  D  ad  leg.  Jul.  de  adult., 
ita  fama  de  maleficio  est  sufficiens,  ut  possit  de  maleficio  ütn  in- 
quisitio generalis.  —  Sic  in  furto  magno  judex  potest  mittere  per 
vicinos  et  si  quidem  a  yicinis  reperierit  aliquem  de  quo  sit  suspicio, 
eum  ad  se  adducet  diligenter  et  interrogabit  de  muHis  drcumstantiis, 
ubi  stetit  illa  nocte  —  et  tunc  ex  sermonibus  et  ez  voce  et  ex  trepi- 
datione  potent  contra  eum  aliquam  praeeumtionem  habere. 

Neu  ist  bei  Bartolus  die  Teilung  der  Inquisitio  generalis  in 
drei  UnterabteiluDgen  und  außerdem,  daß  in  der  Inquisitio  generalis 
ein  Verhör  des  Verdächtigen  staltfindet,  was  ich  bisher  nirgends  er- 
wähnt gefunden  habe. 

Bald  US  (Practica,  1400  f)  gibt  folgende  Schüderong  von  der 


Die  geriohdidie  yonmteniiditmg. 


43 


liKHiisitio  :  ^Inquisitio  fcfneralis  est  jus  promk-adi  ex  mcro  officio  ad 
intervenienduni,  si  (|ui  sunt  homines  in  illo  territorio  oriminosi  pocna 
dijrni.  Inciuisitio  ex  (jua  scquitur  punitio  (an  anderen  i*^tellen  nennt 
er  sie  „specialis*')  est  jus  in(iuirendi  et  puniendi  repertuni  culpabilera 
de  crimine  ex  offieio  in(iuirentis".  In  seiner  IVactica  Quaest.  circa 
inqu.  c{u.  1 ;  5  schildert  er  die  luquisitio  ^eneraliä  als  vorbereitendes 
Verfahren.  Er  bemerkt  außerdem,  daß  das  Verfahren  in  der  Praxis 
mit  adner  Sobflderung  -ttbereiBBtimmek 

Angelus  Aretinus  in  semem  Tradatns  de  malefiens  (1437) 
kennt  bereits  vier  Arten  der  Inqnisitio  generalis: 

1.  Generalis  qnoad  deliela  et  personas. 

2.  Generalis  quond  penonas,  specialis  quoad  deliota. 

3.  Generalis  quoad  delicta,  specialis  quoad  personam. 

4.  Generalis  contra  personas  d.  b.  wenn  gegen  «ne  Univenitas 
untersucht  wird.  Über  die  Zulfissigkeit  der  Inqnisitio  ist  er  der  An- 
sicht, dafi  es  dem  Richter  immer  freisteht,  generaliter  zu  inquirieren; 
zur  Inquisitio  specialis  hino:egen  sind  hinreichende  Euna  und  Ve^ 
daohtBgrflnde  erforderlich  (Rubr.  baec.  est  quaedam  inqu.  n.  12—28). 

Eine  gans  neue  Ansicht  von  der  Inqnisitio  hat  Julius  Clarus 
(1560)  in  seinem  „Volumen  et  Practica  criminalis"  aufgestellt  Er 
bezeichnet  als  Inquisitio  nur  den  vorbereitenden  Teil  des  Kriminal- 
verfahrens, in  qua  infonnationes  et  indicia  assuinuntur  per  testes  etc. 
Dieser  Teil  des  Verfahrens  schlieHt  mit  der  Zusammenfassung  des 
g:efundenen  Stoffes  in  die  Charta  inquisitionis  oder  Libellus  criminalis 
(§  Fin.  (juaestio  3  vers.  et  advertei.  Diese  Inciuisitio  ist  teils  irenera- 
lissima:  sie  hat  die  Auffjabe,  von  allen  begang-enen  Verbrechen 
Kenntnis  zu  nehmen;  teils  «reneralis:  in  ihr  wird  der  unbekannte 
Täter  eines  bekannten  Verbrechens  erforscht  —  in  Fällen,  wo  der 
Täter  bekannt  ist  durch  Denunziationen  oder  Klage  <les  Verletzten,  kann 
die  Inquisitio  ijeneralis  fortfallen  — ;  teils  specialis,  wenn  die  Infor- 
mationen auf  einen  bestimmten  Verdächtigen  gerichtet  sind  wegen  eines 
gewissen  Verbrechens  (siehe  §  Finalis  Qu.  3  vers  1 ;  (^u.  5;  Qu.  49 
yers:  baec  autero;  Qu.  50  vers:  item  quia).  Sobald  also  hinläng- 
liche Veranlassung  Torhanden  ist  und  der  Biehter  sieh  des  Tatbestandes 
Tersichert  hat,  kann  er  durch  Befragen  yon  Zeugen  und  sonstige 
Hittel  specialiter  inquirieren.  Eine  Vernehmung  des  Verdichtigen 
(wie  sie  Bartolus  erwähnt,  siehe  oben  S.  42)  findet  in  diesem  Stadium 
des  Prozesses  noch  nicht  statt  (§  Finalis  qu.  6  vers.  suocessive).  Am 
Schlüsse  der  Inqnisitio  specialis  wird  die  Charta  inquisitionis  (libellus 
criminalis)  aufgestellt,  wddie  die  Grundlage  für  das  weitere  Verfahr^ 
(Hauptrerfahren)  ist  Dieses  heiBt  nach  Clarus  „Processus^*  und 


44  '  IL  PoLxm 

nicht  melir  In(|uisitio;  es  bcj^innt  mit  Vorladung  des  Vcrdächtig:en, 
dem  der  Iniiult  des  In(|uisitiunslibells  mitgeteilt  wird.  Auf  die  darin 
enthaltenen  Punkte  muß  der  Verdächtige  antworten;  leugnet  er,  so 
wild  Beweis  nötig  durch  Wtedenreniehiiraiig  te  sehon  frflher  abge- 
hörten Zeugen.  Der  Angeechuldigte  wiid  zur  Defension  gegen  die 
ZeagenansBagen  zogelassen,  nach  Umatänden  tritt  die  Toitor  dn, 
worauf  Bchließlieh  das  Urteil  folgt 

Bei  dieser  Anffassang  des  Clarns  7on-  der  Inqnisitio  ist  anf- 
IsUaid,  daß  die  Inqnisitio  nur  das  vorbereitende  Verfahren  (Vomnter- 
soehung)  ist  und  das  Hauptverfahren  gar  nicht  Inqnisitio  heißt  Hietin 
stimmt  ClaruB  mit  Damhonder  ftberein  (Damhonder:  Praxis 
rerum  crim.  (1554)  cap.  VI  II).  Diese  Anffassnng  paßt  weder  znm 
rOmischen  noch  zum  kanonischen  Recht.  Prosper  Farinaoins 
(1554 — 1613)  vertritt  ebenfalls  diese  Meinung  desÜlarus  (Farina- 
cius:  Variae  quaestiones  et  commnnes  opiniones  criminales  lib.  I 
titln.  3).  Diese  Auffassung  des  Clarus  und  Farinacins  ist  auch 
in  eine  neuere  Gesetzgebung  für  Österreich  übergegangen  (Straf- 
prozeßordnung von  185:f),  die  auch  die  Vornntersucliun«:  in  eine 
General-  und  8pezialuntersucliun<r  teilt  und  hierauf  ein  Schiuliverfahren 
folf!:«'n  lälU.  Diese  Einrichtung,  die  damals  lebhaften  Tadel  erfuhr 
(siehe  (ilaj-ier:  Oes.  kl.  Schriften  Bd.  I,  S.  373ff.),  hat  sich  nicht 
bewährt  und  ist  auch  bald  beseiti<rt  worden.  Ein  ähnliches  Verfahren 
besteht  heute  noch  in  einigen  Kantonen  der  Scbweizj  siehe  unten 
§  18  VIII. 

Im  liislieriiren  war  die  Fortbildun«,^  des  in  die  weltlichen  Gerichte 
Italiens  ühernoiiiinrnen  Inquisitionsprozesses  und  seine  Scheidung  in 
Inquisitio  {generalis  und  Inquisitio  specialis  zu  zeigen.  Die  Nachfolger 
des  Clarus  und  Farinacius  noch  zn  erwähnen,  dürfte  deshalb  nicht 
von  großem  Werte  s^n,  well  sie  bei  der  Aufnahme  des  Inqnisititms- 
Prozesses  m  Deutschland  nnberficksichtigt  geblieben  sind,  vielmehr 
Carpzov  und  Brunnemann,  die  den  Gmnd  zu  dem  deutschen 
Inqnisitionsprozesse  gelegt  haben,  nur  die  obenerwfthnten  Werke  be- 
nutzt haben. 

In  diesem  Inquisitionsprozesse,  der  sowohl  in  den  kirchlichen 
wie  weltlichen  Gerichten  in  Übung  war,  findet  sich  zuerst  eine  scharfe 
Trennung  des  Prozesses  in  Voruntersuchung  (Inqnisitio  generalis)  und 
Hauptnutersuchung  (Inquisitio  specialis).  Die  Inquisitio  gene- 
ralis ist  das  erste  uns  bekannte  Vorverfahren  ge- 
richtlicher Natur,  das  allerdings  im  Lanfe  der  Zeiten  bis  zur 
heuti^^en  .,gerichtiichen  Voruntersuchung''  der  deutschen  Reichsstraf- 
prozeIk>rdnung  mancherlei  Wandlungen  durchmachen  soUta 


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Die  Koriohtiiohe  Vonutemidtung. 


46 


I  5. 

AmUlduff  der  Befriffe  Inqulsitio  generalis  und  Inqulsitio  specialis  und  Streit 
Aber  UnteneUed  und  Orense  Mder  In  Dentseiüand. 

Die  beiden  deutschen  Krinnnal{2;esetzgel)unp:en  aus  dem  Anfang 
des  16.  Jahrhunderts,  die  B  a  m  b  e  r  g  e  u  s  i  s  und  die  Carolina, 
die  den  Anklageprozeß  noch  als  ordentliche  Form  des  Strafverfahrens 
aufführten,  erwähnen  den  Iniiuisitionsprozeli  daneben  als  außerordent- 
liche Prozeßform  (Bamberg,, Art,  10—16;  Carolina,  Art  6 — 10). 
Nach  und  nach  aber  Teraehwand  der  Anklageprozeß,  und  der  ans 
dem  kanooiaeheii  Beehte  übemommene  Iiiqiikitioiiqaoaeß  wurde  die 
flbfiche  Form  des  Verfiahreoe.*  Die  yon  den  italienisohen  Beehtage- 
lehrten  tibertieferte  ünterBcheidnng  yon  Inquisitio  genenüis  and  In- 
qnisitio  specialis  findet  sich  nicht  vor  in  der  Carolina,  wenn  maik 
nicht  mit  Zachariae  (Omndlinien  des  KriminalproKesses,  GOtt  1837) 
diese  Unterscheidang  ans  dem  Art  6  der  CSärolina  interpretieren 
will  . . .  Der  Art  6  verordnet  nämlich,  daß  der  Bicbter  niemanden 
mit  peinlicber  Frage  angreifen  soll,  es  sei  denn  1.  zayor  redliche 
nnd  genügsame  Anzeigung  von  wegen  der  Missetat  vorhanden  nnd 
2.  genügsame  Erkundigung  vorgenommen,  ob  die  Missetat,  darum 
jemand  berüchtigt  oder  verdächtigt  werde,  auch  geschehen  sei  oder 
nicht*'  Bieten  die  Gesetze  auch  für  die  Unterscheidang 
einer  Inquisitio  generalis  und  einer  Inqnisitio  specialis 
keine  sichere  Handhabe,  so  haben  doch  in  Deutschland 
Wissenschaft  und  Praxis  diese  Fntersclieidung  von  den 
italienischen  Kechtslehrern  übernommen  undweiter  aus- 
gebildet. 

I.  Die  deutschen  Juristen  nucli  der  Carolina  bis  auf  Car])zov 
waren  außerordentlich  iintiicbtige  Köpfe.  Sie  verniocbton  we<ler  den 
Pfad  zu  verfolgen,  den  ibncn  die  italienischen  Juristen  gezeigt  hatten, 
noch  den  Prozeß  der  Carolina  selbständig  weiter  zu  bilden.  Zu  er- 
wähnen sind:  Procel),  Practica  und  Gerichtsordnung  von  C hilianus 
König  (I^ipzig  1541) j  Practica  und  Proceß  peinlicher  Halsgerichts- 
ordnung durch  H.  Heinrich  Bauch  dorn  (Budissin  1564);  Practica 
and  Proceß  peinlicher  Gerichtshandlung  dorob  Job.  Arnoldam 
▼on  Dorneck,  lic.  jor.  (Frankfurt  a.  M.  1576).  Alle  drei  erwibnen 
schon  die  Inqnisitio  generalis,  yersteben  unter  ihr  aber  nor  eine  all* 
gemeine  Unteisachang  gegen  euien  Verein  mehrerer  Personen.  Hier- 
von getrennt  findet  sich  der  Grandsatz,  daß  der  Siebter  auf  jede  be- 
liebige Weise  dem  anbekannten  TSter  eines  bekannten  Verbrechens 
nachspttren  konnte. 


46 


U.  PouEn 


Nach  ihnen  i.st  .Ittdocus  Dtini  h  ouder  zu  erwähnen.  Was  die 
Inijuisitio  greneralis  hetrifft,  so  vertritt  er  dieselbe  Meinung;  wie  Cla- 
rus  und  Farinacius  isiche  oben  §  3  \'MfX  Auch  nach  ihm  ist 
die  In(iuisitio  nur  vorbereitendes  Verfahren,  in  dem  die  Beweise  über 
das  Verbrechen  und  dessen  Urheber  gesammelt  werden;  diese  ist 
generalis  oder  spedalis^  je  nachdem  die  Sammlung  der  Beweise  eine 
allgememe  ÜA^  oder  eine  bestimoite  Penon  betrifft 

II.  Cftrpzov:  (Piaetiea  ramm  erimmaliiun  Qu.  CVII  n.  6 — 14)  kk 
der  erste  dentsefae  Beehtsgelefartef  der  zuerst  wieder  kkr  die  Begriffe 
Ton  Inqnisitio  generaMs  und  Inquisitio  specialis  nntersdiddend  be- 
stimmt Er  fflbrk  die  MeinuiigeD  seiner  Vorgioger  an,  prOlt  sie  und 
gibt  dann  seine  Ansiebt  hmd  mit  den* Worten: 

^Sed  missis  eis,  reiqne  veritate  inspeeta»  dnplioem  soinmmodo  in- 
qnisitionem  esse  pnto,  goiendem  et  specialem.  Geneialem  appello 
eam,  quae  incerto  adbne  ddieto  Tel  delinquente  per  jndieem  fifc  ad 
generaliter  inquirendum,  an  re  Tera  deHctuni  perpetratom  sit  et  qvia- 
nam  illud  oommiseht,  desnper  generales  informationes  assnmendo  — 
Specialis  vero  est  inquisitio,  quae  fit  per  judicem  contra  particularem 
personam,  de  cujus  delicto  jam  Curia  notiliam  habet,  vel  qua  in  de- 
licti modum  et  auctorem,  personam  certam,  in  inquisitioni  prenerali 
suspicionibus  gnivatani,  in  specie  judex  in(|uirit."  Demnach  ist  der 
Zweck  (h'r  Inquisitio  generalis,  sich  der  Existenz  des  Verbrechens 
zu  vergewissern  und  Verdachtsgründe  gegen  den  Täter  iierlieizuschaffen. 
Die  Zeugen  werden  in  ihr  nur  summariscli  und  unbeeidigt  vernommen 
(Qu.  CVIJl).  Ein  summarisches  Verhör  des  \  erdiichtigen  in  der  In- 
quisitio generalis  verwirft  Carpzov  in  Qu.  CXI  II.  22.  Carpzov 
hat  also  die  Grenzlinie  zwischen  Inquisitio  generalis  und  Intjuisitio 
specialis  scharf  gezogen.  Endzweck  und  Kesultat  der  In(}uisitio  gene- 
ralis ist  die  Versetzung  in  den  Inquisitionszustand,  welche  nach 
Carpzov  durob  Urteil  erfolgt  Gegen  dies  Urteil  steht  dem  Ange- 
sebnldigten  die  Defensio  pro  ayertenda  inquisitione  speoiali  firei.  IMe 
Inquisitio  specialis  ist  der  eigenHiebe  Kriminalproseß; 

ni.  Die  Naob  folger  CarpzoYS  sind  derselben  Ansicht  in 
Bezug  anf  die  Inqnisitio  generalis,  z.  B.'  Jobann'  Brnnnemann 
(Tractatns  de  inqnisitionis  processn  Frankfurt  a.  II.  1647/48).  Anch 
er  kennt  nocb  kein  YerbSr  des  Angescbnidigten  in  der  Inqnisitio 
generalis.  In  der  dentscben  Oberaetzung  dieses  Werkes  yon  Stryk 
(cap.  III  %  6)  wird  der  Bat  gegeben,  den  Angeschuldigten  in  der 
In(|ui8itio  generalis  als  Zeugen  vorzuladen  und  zu  vemebmen,  um 
dadurch  eventuell  neue  Indizien  zu  bekommen.  Als  etwas  Neues 
empfiehlt  Brnnnemann  in  Cap.  VllI  membr.  1  no.  66,  69  ein  sum- 


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Die  gerichdiehe  Vomiitttnaefaiiiig. 


47 


marisches  ^'e^hö^  des  Anf^fschuldiprten  in  dor  Tnquisitio  specialis  vor 
dem  artikuUertrn  Verhöre.  In  no.  96  j;ibt  lirunnomann  ein  Muster 
für  ein  solches  Verli(ir:  Nacli  wenigen  Artikehi  über  allirenieine  Dinare 
sa^t  er  hier:  „ur;>'endus  est  reu«,  iit  factum  ipsum  cum  (»mnibus  cir- 
cunistiintiis  sumniarie  enarnt,  et  postquam  totaui  rei  Seriem  sine 
interruptione  reeensuit ,  dcbet  judex  interr(»^'are  reum,  an  haec  sit 
i|)8issinia  veritas.  Iiis  })eractis  ad  specialia  interrofjratoria  procedere 
potest  vel  uno  actu  vel  interj)usita  aliqua  niora,  ut  supra  (hximus." 
Dieses  summarische  Verhör  gehört  also  nach  Brunnemann  zu  der 
Inquisitio  specialis.  Derselben  Ansicht  ist  auch  George  Kayser 
(Praxis  criminalis:  Kapitel  von  der  Spezialinquisition  §  7)  und 
Jacob.  Friedr.  Lndoviei  (Einleitung  zum  peinlichen  Prozeß: 
Halle  1707).  An  die  Brnnnemann sehen  Anaiehten,  die  im  Obigen 
nfiher  ansgefllhrt  sind,  haben  sich  anch  zwei  bedeutende  Geeetz- 
gebnngen  ans  dem  Anfuig  des  tS.  Jahrhunderts  angeschloflsen : 
1.  die  Josephina  für  BOhmen,  Schlesien  und  Mähren  im  Jahre  1707. 
Sie  kennt  schon  die  summarische  Vernehmung  des  Inquisiten  vor  der 
artikulierten  und  zwar  als  Teil  der  Spezialinquisition  (siehe  Joee- 
phina  rV8;  V1 1).  2.  Die  kSnigliche  preußische  Kriminal- 
Ordnung  von  1717  (durch  (SesetiE  vom  20.  August  1724  wird  in 
Preußen  der  akkusatorische  Prozeß  förndich  abgeschafft)  III  15  be- 
stimmt, daß  in  der  Generalin(|uisition  der  Verdächtige  als  Zeuge  ver- 
nommen werden  kann,  und  nach  IV  1  gebt  in  der  Spezialinquisition 
den  Artikeln  eine  summarische  Vernehmung  des  Inquisiten  über  da» 
Faktum  voraus.  Da&  verbesserte  preußische  Landrecht  Ton 
1721  enthält  ähnliche  Bestimmungen. 

Von  dieser  Zeit  an  entstand  nun  ein  Streit  darüber,  ob  die 
summarische  V  e  r  n  e  h  m  u  n  g  des  Angeschuldigten  zur 
Generalin(|uisition  oder  Spezialin(iu  isition  zu  rechnen 
sei,  oder  ob  sie  einen  besonderen  dritten  Teil  des  Verfahrens  bilden 
sollte,  auf  Grund  dessen  dann  womöglich  unter  Fortfall  der  Inquisitio 
specialis  ein  Urteil  gefällt  werden  konnte.  Chr.  .1.  Heil  (Iudex  et 
Defensor  1717  Kap.  1  §§  11,15;  III  §9)  ist  schon  im  Zweifel,  ob  er 
die  sunnuarische  Vernehmung  zur  (Jeneral-  oder  Speziulin(|uisition 
rechnen  soll.  Kaj».  I  §  14  und  Kap.  Iii  §  21  geben  uns  daiüber 
Aufschiuli.  Er  vertritt  die  Ansicht  von  Stryk,  daß  in  der  General- 
inqnisition  der  Angeschuldigte  als  Zeuge  vernommen  werde;  sobald 
nun  genügende  Veidaehtsgründe  Vorhanden  sind,  um  die  Speiiat 
inquisition  zu  beginnen,  so  wird  der  Ang^buldigte  noch  sofort  sum- 
marisch Aber  die  Tat  yemommen.  Darauf  folgt  das  Urteil  auf  Spezial- 
inquisition und  in  dieser  wird  der  Angeschuldigte  zunächst  zum 


48 


IL  P0L2Ui 


zwdten  Male  summarisch  und  dann  über  Artikel  vernommen.  Heil  ist 
demnadi  scheinbar  die  Sache  nicht  recht  klar  gewesen.  Br  hat  alleidiiigs 
aebon  eine  anrnroariflche  VemehmuDg  des  Angeachnldigten  in  der  Gene- 
ralinqaisition,  behält  aber  anch  eine  solche  noch  für  die  Spenalin. 
qnisition  beL  Einen  Schritt  weiter  gehen  die  Nachfolger  Heils,  ffie 
geben  dieBrnnnemann  sehe  Ansicht^  das  sammarische  Verhör  gehöre 
znr  Spesialinqnisition,  anf,  rechnen  das  sammarische  Verhör  vielmehr 
zor  Generalinqnisition;  die  Vemehmong  des  Angesobnldigten  ala 
Zengen  in  der  Generalinquisition  kann  dann  fortfiallen.  Hierhin  gehören : 

Kemmerich:  Synopsis  jur.  crim.  Lib.  III.  Tit  III  §  5  (Jena  1731); 

Saimiel  Fr.  Böhmer:  Elem.  jurispr.  crim.  (1733),  sect  I  H  1^4»  105; 

Ohr.  Fr.  G.  Meister:  Princip.  jur.  crim.  |ft  569,  572; 

Koch:  Instit.  jur.  crim.  §§  776— 7S0; 

Quistorp:  Grunds,  des  peinl.  Rechts      ü09  ,  666; 

Claproth:  Summarische  Prozesse  §  499; 

Püttmann:  Eleni.  jur.  crim.  §§  762,  808; 

Kloin :  Grunds,  des  peinl.  Rechts  §  55S. 

Dali  eine  solche  Verneliniunj;  des  An<:escliuldi^ten  besser  schon 
in  der  Generalinquisition  erfoI;:t.  er^'ibt  sich  auch  aus  dem  Zweck 
derselben.  Denn  ohne  Vernebmun^'  des  An^jeschuldi^^ten  wird  der 
Jxicbter  sich  nie  ein  richtig'es  Urteil  darüber  bilden  können,  ob  die 
Versetzung  in  den  Anklairezustaod  mit  den  ihr  ei<rentümlichen  drücken- 
den Folgen  ge^en  jemand  i'latz  zu  ;;reifen  bat  oder  nicht.  Eine  solche 
Vernelimung  kann  z.H.  ergeben,  ilaH  die  Tut  nicht  strafbar  ist;  oder 
der  Verdächtigte  kann  prozeßhindcrude  Einreden  vorbringen,  sein 
Alibi  beweisen  naw.  nsw.  Sehr  oft  wird  der  Richter  anch  dnreh 
eine  solche  Vernehmung  AnfklXrnng  Uber  die  Sachlage  bekommen; 
jedenfalla  kann  die  Vernehmung  des  Angeschuldigten  in  der  General- 
inliluisition  dem  Bichter  hftnfig  Handhaben  bieten,  die  ihm  eine  größere 
Sicherheit  in  der  Vollendung  des  Untersuchungsplanes  gewährleisten. 
Mit  dieser  Vernehmung  des  Verdächtigen  in  der  Generalnntersnchnng 
ist  der  Grundsatz,  den  schon  Daran tis  u.  a.  aufstellten  und  den  andi 
Oarpzow  noch  vertritt,  nämlich  daß  die  Inquisitio  generalis  noch 
nicht  gegen  den  Täter  selbst  gerichtet  sei,  gebrochen,  und  die  in- 
quisitio generalis  in  ihrer  nunmehrigen  Gestalt  mit  Ver- 
nehmung des  Verdächtigen  zeigt  schon  immer  mehr 
Ähnlichkeit  mit  unserer  gerichtlichen  Vorunteranchung. 
—  Mit  dieser  Änderung  wurde  der  Grund  zu  der  immer  größer  werden- 
den Verwischung  des  Unterscliiedes  zwischen  Inquisitio  generalis  and 
inquisitio  specialis  gelegt.  Die  fortsclireitende  Entwicklung  des  Inquisi- 
tionsprozesses  zeigte  das  Bestreben,  alle  hindernden  Fesseln  su  beseitigen. 


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Di«  geriditliohe  Yomnteniidiiiiig. 


48 


Bald  kam  man  zu  der  Annahme,  in  grerinpreren  Strafsachen  könne 

auf  die  Generalinqnisition  hin,  in  der  ja  nun  diT  An^reschuldi^rte  schon 
vernommen  wurde,  v'm  Strafurteil  res|).  eine  Freisprechung;  erfol^^en. 
Man  wollte  hierdurch  hei  den  jrerin^eren  Strafsachen  die  Spezialinqui- 
sition  mit  ihren  verhaßten  Folf;en  umdrehen.    Diese  Ansicht  vertreten: 

Sam.  Fr.  Böhmer:  Elem.     8(i,  181 ;  idem  ad  Carpz.  CVII  obs.  1; 

Leyser:  Meditat.  Spec.  DLX  Nr.  14—17; 

Koch:  Inst  §§  712,  777; 

Quistorp:  Gmndsätze  §005; 

Nettelbladt:  De  sent.  condemn.  sine  inqu.  (Halle  1774); 

ClaproÜi:  Summar.  Prozesse  §§  451,  452; 

Klein:  Gnmdaälie  §§  549,  55S; 
a.  a.  das  preußische  Oesetz  Tom  17.  Oktober  1796  (abgedniokt  in 
Kleins  Annalen  Bd.  XV  S.  327).  Naeh  ihm  soll  bei  Verbieehen,  wo 
die  gesetzliebe  Strafe  3  Jabr  Gefingnis,  Zudiibans  oder  Festongsbaft 
nicht  llbeisteigt,  keine  Spezialinquisition  stattfinden.  Bei  Verbrechen, 
die  mit  dner  höheren  Stefe  bedroht  nnd  (doch  nicht  mehr  als  zehn 
Jahre  Znchtbans  nsw.),  soll  ebenfalls  kerne  Spezialinquisition  nötig 
sein;  am  Ende  der  Generafinquisition  soll  dem  Angeschnldigten  aber 
eine  Speeles  facti  vorgelegt  werden,  über  die  er  zu  verhören  ist 

Nunmehr  glaubte  man  auch  auf  die  doppelte  Vemehmunn;  der 
Zeugen  verzichten  zu  könn^  und  hielt  deren  summarische  Vern^- 
mung  für  genügend.  Daraus  ergibt  sich  für  die  Generalinquisition, 
daß  die  Zeugen  in  ihr  nunmehr  eidlich  vernommen  werden,  was  früher 
nicht  der  Fall  war.  Da  sie  ferner  nur  einmal  vernommen  werden, 
muß  diese  Vernehmung  auch  mit  gröberer  Sorgfalt  erfolgen. 

(^»uistorp:  (Irunds.  §  61)7  Note  a; 

Ciaproth:  Summ.  Proz.  4^570; 

Püttmann,  elem.  §  bO.')  und  Klein,  Grundsäf/.«'  sj  r)8:i  halten  nur 
noch  summarische  Vernehninnir  in  der  Generalin(|uisition  für  nötig, 
während  Koch  Inst.  §  S'VS  noeh  unbedingt  artikulierte  Zeugenverneh- 
mung in  der  Si)ezialin(|uisiti(>n  verlangt.  Böhmer,  ad  C.  C.  Art.  70 
§  1  fordert  ebenfalls  noch  Artikel  aulier  in  geringeren  Sachen,  wo 
auf  die  Generalinquisition  hin  da^s  Urteil  gefällt  werden  könne. 

So  kam  es,  daß  das  artikulierte  Verhör,  welches  den  Beginn  der 
Inquisilio  specialis  ausmachte,  immer  mehr  zmn  Schlüsse  des  Ver- 
fahrens gedfftngt  wurde,  so  dafi  die  Spezialinquisition  schließlich  nur 
noch  die  Bedeutung  eines  feierlichen  Abschlusses  des  Frozemes  hatte, 
der  bei  geringeren  Sachen  überhaupt  fortfallen  konnte.  Die  General- 
inquisition dagegen  verlor  durch  diese  Neuerungen  immer  mehr  ihren 
▼orbereiteoden  Charakter,  wurde  vielmehr  der  Mittelpunkt  des  ganzen 

AisUt  rar  KiinlBdantkniotaili»  XIU.  4 


60 


IL  PoLUH 


Verfahrens.  Die  Wissenschaft,  welche  die  Unterscheidung  des  Ver- 
fahrens in  Genend-  und  ►Spezialiniiuisition  beibehalten  wollte,  sieh 
andererseits  aber  auch  wieder  teilweise  nach  der  Praxis  zu  richten 
suchte,  brachte  noch  mehr  Verwirrung  in  den  Prozeß  hinein. 

Einige  KriminaliBten  haben  die  Gaieralinqniaition  in  swei  Tdie 
zeriegt,  nlmlieh  in  die  Inqnisito  generalis  und  in  die  neoentaiandene 
Inqniflitio  sammaria  (Bummarisobes  Verhör).  Kaeh  ihnen  ist  die  in- 
qnisitio  generalis  das  vorbereitende  Verfahren,  aal  welches  hin  der 
Anklageanstand  beschlossen  wird.  Die  Inqnisitio  sammaria  ist  dann 
der  eigentliche  Prozeß,  dem  gegenttber  die  Inqnisitio  specialis  an 
einer  bloßen  feierlichen  Form  in  wichtigen  Fällen  heraheinkt  Nach 
der  alten  Einteilung  ist  nämlich  diese  Inqnisitio  sammaria  wieder 
eine  Spezialinquisition  insofern,  als  sie  gegen  einen  bestimmten  Ver 
dächtigen  auf  Ermittlung  seiner  Sebald  oder  Unschuld  geht  Zu  dieser 
Einteilong  der  Generalinquisition  in  zwei  Teile  bekennen  sich: 

Klein:  Über  den  wesentlichen  Unterschied  zwischen  General-  und 
Spezialinquisition  im  Archiv  des  Kriminaürechtes.  1  1.  (1799) 
S.  84,  85. 

Feuerbach:  Lehrbuch  des  peinl.  Rechtes  18i>l  ;      ü24,  033. 
Chr.  Gottl.  Hiencr:  In  notis  ad  Püttmanni  elem.  jur.  crim.  (lip- 

siae  1S02)  §  762. 

er  unterscheidet  direkt  eine  liKjuisitio  praeparatoriu  (vorbereitendes 
Verfahren t  Inquisitio  summaria  eij^entliclie  l'ntersuchunjLr'  und  inqni- 
sitio specialis  (feierlicher  ►Seiilul')!  des  Prozesses.  Dem  selilalU  sieh 
auch  A.  Biener  in  seinen  Beiträgen  zur  Geschichte  des  Inquisitions- 
prozesses (S.  1 88  ff.)  an.  Er  bezeichnet  die  drei  Teile  als  Information, 
Untersuchung  und  SchloßverCfthiea. 

Ähnlich  nntefscheidet  anch  Ahegg  in  seinem  Lefarbnohe  des 
gemeinrechtlichen  Kriminalpiosesses  (S.  265).  Diese  Anf faasung  eber 
Dreiteilung  teilt  auch  noch  die  Qsterreichiscbe  Gesetzgebung  von 
1803  (s.  Biener,  Beitiige;  S.  189 ff.).  Den  ersten  Teil  bildet  £rfo^ 
Bchong  des  Verbrechens  und  der  Anzeigen  (§  226 — ^280);  sind  ge- 
nügende Verdachtsgrfinde  vorhanden,  so  kommt  es  zur  Verhaftong 
nnd  dem  sammanschen  Verhdr  (§§  281—306);  das  artikalierte  Verhör 
als  Schloßverhandlung  findet  nur  in  wichtig^  Fällen  statt 

Diese  Dreiteilung  des  Prozesses  verwirft  und  widerlegt  besonders: 
A.  Bauer  in  seinen  Abhandlangen  zum  Straf  recht,  Bd.  II,  S.  243  ff.; 
206 ff.  ferner:  Mittermaier,  Handbuch  des  peinlichen  Prozesses; 
Eschenbach,  Ausführliche  Abhandlung  von  der  Generalinquisition 
(Schwerin  1795;  Plitts  Kepertorium  II,  Nr.  5)  u.  a.  Die  Zerlegung 
der  Inquisition  in  drei  Teile,  die  sich  zunächst  auf  gar  keinen  Grund 


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Die  geriehtiiolie  VomiiteiaiiGhiuig 


51 


stützen  kann,  beruht  auf  der  Annaliiiie,  daß  das  suniniarisclie  \'erliür 
des  Anj?escbuldi;^'teu  niclit  in  die  Inquisitio  f^eneralis  ^i;eh((re.  Insofern 
ist  also  ein  ^Tober  Rückschritt  zu  bemerken  gegenüber  der  erfreu- 
lichen Fortbil(iun^  der  Lehre  von  der  Inquisitio  generalis  durch 
Böhmer,  Claproth  usw.  (s.  o.  S.  4S).  Rechnet  man  die  summarische 
Vernehniunj;  nicht  zur  Generalinquisition,  so  würde  ja  der  Ver- 
dächtige, ohne  vorher  etwas  ttber  den  gegen  ihn  berischenden  Ver- 
dacht zn  hören  und  ohne  sich  irgendwie  dagegen  verteidigen  zu 
können,  in  den  Ansehuldigungszustand  mit  seinen  druckenden  Folgen 
▼ersetzt  werden.  Dies  alles  steht  aber  in  direktem  Widersprach  mift 
der  Defensio  pro  aveitenda  inqnisitione  speciaii,  die  Carpzoy  schon 
anerkennt,  da  ja  die  Znlflssigkeit  dieser  Verteidigong  beweist,  daß 
über  den  Verdfichtigen  nicht  ohne  Vemehmung  die  SpesialinqnisitioB 
▼erhSngt  werde;  denn  ohne  Kenntnis  des  entstandöien  Verdachtes 
ist  eine  Verteidigung  völlig  ausgeschlossen. 

Neben  dieser  Teilung  des  Inqnisitionsprozesses  in  drei  Teile  sind 
noch  viele  andere  Trennungen  versucht,  deren  ich  im  folgenden  kurz 
gedenken  wilL  Hagem eister  (Erörterungen  Uber  General-  und 
Spezialinquisition,  Berlin  1804,  S.  45)  sucht,  wie  vor  ihm  Nettel- 
bladt  (De  sententia  condemn.  sine  praevia  inqu.  spec,  Halle  1774) 
den  Einteilungsgrund  in  der  Form  des  Verfahrens.  Der  formelle 
Unterschied  soll  darin  besteben,  dali  in  der  Generalinquisition  ein 
summarisolios.  in  der  Spezialinquisition  ein  f<»rmliclieres  V^-rfalircn 
mit  feierlicher  Beweisaufnahiiir  stattfindet.  Die  Artikelform  sol!  also 
den  Unterschied  zwischen  (icneral-  und  Spezialinciuisitiun  bilden. 
Dagegen  lältt  sich  sai^cn,  dal)  die  Artikelforni  nur  etwas  Zufälliges 
ist;  wenn  diese  aueb  abgeschafft  würdt-,  bleibt  der  Unterschied  zwi- 
schen General-  und  Spezialinquisition  dennoch  bestehen  \.ö.  a.  Bauer, 
a.  a.  0.  S.  239  und  240). 

Sievert  (Archiv  des  Eriminalrechts  Vs  St  Nr.  4),  stellt  drei 
FVagen  auf: 

1.  Die  Firage  um  das  Dasein  «ner  Tatsache  als  eines  Ver- 
brechens (Inquisitio  generalissimaV 

2.  Die  Inquisitio  generalis  beschSftigt  sich  mit  der  fVage,  wer 
die  Tat  begangen  habe  (Imputatio  facti). 

3.  Die  Inquisitio  specialis  hat  die  Frage  zum  Gegenstand,  wie 
die  Tat  diesem  Täter  zuzurechnen  ist  (Imputatio  jurisj. 

Heister,  Prim.jur.crim.  $395  unterscheidet  zwischen  formdler 
und  materieller  Spezialinquisition;  letztere  ist  vorhanden,  wenn  der 
Prozef5  gegen  eine  bestimmte  Peraon  als  wahrscheinlichen  Urheber 
gerichtet  wird. 

4* 


58 


IL  Pounv 


Kleinsclirod  (Archiv  des  Kriminalrechts,  Bd.  III,  St.  I,  S.  20 ff.), 
setzt  das  Wesen  der  GemruliiKiuisition  in  Sammlung  der  Beweise. 
In  der  Spezialinquisition  sollen  diese  Beweise  dann  geprüft  und  gegen 
eine  beetimmte  Person  benutzt  werden« 

Eeeh'enbaeh  (Atufahrliche  Abhandlung  von  der  Genenlinqni- 
sition,  Schwerin  1795),  stellt  als  Definition  der  Qeneralinquisttion  auf 
flie  omfMse  alle  Handlungen,  wodurch  der  Bichler  beetimme^  ob  gegen 
jemand  die  Spesialinquirition  anzustellen  eeL  In  dieser  Definition 
▼on  Eschenbaoh  ist  allerdingB  bloß  der  Zweck  oder  Tielmehr  der 
Hanptsweek  der  Genendinquisition  ausgedruckt  Im  Übrigen  aber 
gebt  dentftth  aus  dieser  Definition  hervor,  daß  Eschenbaoh  das 
Wesen  der  Geneialinquisition  richtig  erkannt  hat,  und  diese  seine 
Definition  hat  zuerst  wieder  eine  scharfe  Grenze  zwischen  General- 
und  Spezialinquisition  gezogen,  die  in  der  Praxis  längst  verwischt  war 

Im  direkten  Gegensatz  zu  Eschenbachs  Vorschlag  steht  die 
Meinung  Dalberg;8  (Entwurf  eines  Oesetzbuches  in  Kriminalsacbeili 
Teil  I,  Abschnitt  VI,  §  1),  der  die  Teilung  des  Strafprozesses  in 
General-  und  Spezialinquisition  ganz  aufgeben  will  (8.  darüber  noch 
Eschenbach  a.  a.  0.  $  8,  der  ihn  widerlegt). 

6,  Dogmatische  Darstellung  der  Generalinquisition  (Voruntersuchung) 
dea  deutschen  Inquisitionsprozesses.  §  6. 

I.  Begriff  und  Notwendigkeit  der  Inquisitio  generalis 
des  gemeinrechtlichen  Inquisitionsprozesses. 

Alle  oben  erwälinten  Ansichten  über  Betriff  und  Grenzen  der 
General-  und  8[)ezialinquisition  sind  ohne  jjrößere  Bedeutung.  Die 
Grenze  beider  wird  sofort  klar  erkennbar,  wenn  am  Schluß  der  Ge- 
neralinquisition ein  Urteil  über  Zolässigkeit  der  Spezialinquisition  er* 
folgt,  gegen  welches  dem  Angeschuldigten  die  Defensio  pro  avertenda 
inquisitione  apedali  zusteht  Nach  Oarpzow  ist  nach  und  nach 
die  flUiohe  Form  der  Artikel,  mit  deren  Vorlegung  an  den  Angeklagten 
die  Spezialinquisition  eröffnet  wurde,  fortgefollen.  Oberhaupt  wurde 
die  formelle  Unterscheidung  und  die  Grenzlinie  zfrischen  General- 
und  Spezialinquisition  immer  mehr  Terwischt,  so  daß  die  Spesisl- 
Inquisition,  falls  überhaupt  eine  solche  abgehalten  wurde,  nur  eine 
feierliche  Wiederholung  der  Generalinquisition  wurde.  Trotzdem 
aber  behftlt  die  Einteilung  des  Plozesses  in  die  General-  und  in  die 
Spezialinquisition  ihren  Wert  durch  den  materiellen  Oharaktor  und 
die  Richtung^  des  Verfahrens. 

Die  Spezialinquisition  hat  den  Zweck,  den  Beweis  der  Schuld 


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Die  geriebtHohe  VofimteiMehinig. 


6a 


oder  ÜDScbuld  de^^  Angeklagten  zu  erbringeD.  Damit  dies  eintreten 
kann,  ist  eine  Oeneralinquisition  nötigi  die  ermitteln  soll,  ob  Gnmd 
vorhanden  ist,  um  die  Spezialinqnisition  gegen  eine  bestimmte  Person 
wegen  gewisser  Verbrechen  tn  eröffnen.  Die  Notwendigkeit  einer 
solchen  Generalinquisition  ergibt  sich  femer  aus  den  drückenden 
Folgen,  die  dif  Vi'rliängung  der  F^pezialinquisition  über  eine  Person 
mit  sich  bringt.  Zunächst  leidet  der  gute  Kuf  eines  Mannes;  durch 
die  mit  der  Spezialinquisition  zusammenhängende  Verhaftung  wird 
Ehre  und  Freiheit  des  hiervon  Betroffenen  geschmälert.  Außerdem 
ist  eine  natürliche  Folge  der  Spezialinquisition  auch  die  Suspension 
gewisser  Ehrenrechte;  bei  Beamten  findet  Suspension  vom  Amte  wo- 
möglich mit  Entziehung  des  Oelialtes  statt Alle  diese  Nachteile 
zeigen,  daß  eine  straf  gerichtliche  Verfolgung  rechtlich  begründet  sein 
muß.  Um  diese  rechtliche  Begründung  herzustellen,  ist  die  General- 
inquisition da,  die  also  immer  stattzufinden  hat. 

Baner  n.  a.  schalten  vor  der  Generalinquisition  eine  sogenannte 
Information  ein  als  Inbegriff  der  Handlungen,  welche  auf  Aos- 
mittdong  der  Statthaftigkeit  und  aal  Vorbereitung  eines  Unter- 
snchnngsveifalirens  abzwecken.  Die  GeBenlinqinsition  ist  dann  der 
Teil  der  Untennohiing,  worin  der  Btehter  das  Dasein  des  Verbreehens 
erforscht  und  die  Beweise  wider  dne  bestimmte  Person  aufsucht  und 
sammelt,  um  ein  gegen  diese  einzuleitmdee  förmliches  Untersuchungs- 
verfiahren  zu  begründen  und  vorzubereiten.  Die  flbliche  Auffossnng 
aber  von  der  Goieralinquisition  ohne  voim^gehende  Information*),  ist 
die  von  Mitter  maier  (Deutsches  Strafverfahren:  Heidelberg  1846^ 
IV.  Aufl.,  Bd.  n,  S.  17)  gegebene.  Darnach  ist  die  Voruntersuchung 
(wie  Mittermaier  schon  die  Cleneralinquisition  nennt),  der  Inbegriff 
der  gerichtlichen  Handlung^  zur  Prüfung  der  Bedingungen  der  Zu- 
lässigkeit  der  Untersuchungi  zur  Ausmittelung  des  Tatbestandes  eines 
Verbrechens,  zur  Entdeckung  von  Verdachtsgründen,  welche  eine  be- 
stimmte Person  als  wahrscheinlichen  Täter  darstellen  und  Uberhaupt 
zur  Sammlung  alles  Stoffes,  welcher  die  künftige  Bweisfühning  der 
Hauptuntersuchung  vorbereitet  und  dazu  dient,  um  darüber  urteilen 
zu  krtnnen.  oh  gegen  eine  des  Verbrechens  verdächtige  Person  die 
Hauptuutersuchung  (Spezialinquisition)  eingeleitet  werden  soll. 


1)  Siehe  Grolb.  ÖeM.  Edikt  vom  12.  April  1820.  Art  22. 

2)  Wie  ile  Ctrmignani  (Elem.  jar.  crim.  vol.  I.  S.  229;  Henke,  Dantel- 

Inng,  §  290:  Martin,  Lehrbuch,  §123;  Hagomcistcr,  Eröiienmgen,  S.  62; 
Grolmnnn  §  533;  Feuerbacb,  Löhrbach,  §  624;  Ahegg,  Lehrbach,  S.  265 
asw.  U8W.  teilen. 


64 


IL  PoLsnr 


II.  \  eranlassungsgründe  zur  Voruatersachung. 

Als  VennlassangogrOnde  est  Vonuitenuchniig  smd  zn  nennen: 

1.  Gemeinkündigkeit  und  Gerücht  (Carolina  Art  6,  16). 

2  Ergreifung  des  Täters  auf  frischer  Tat  f Sachsenspiegel  II, 
Art.  35,  36;  Bayer.  Ges.  181  T.  11,  §  H8  usw.).  Eine  ausgedehnte 
Wirkung  hat  dies  Institut  im  französischen  Rechte  als  Dt'Iit  flagimnt 
erhalten  (code  d'instr.  crim.,  Art.  41;  cf.  32,40,  46,61,  106  etc.). 

3.  Eigene  Wahrnehmung  des  Richters  war  schon  in  früher  Zeit 
ein  Anlali  zum  Einschreiten  (s.  Clarus,  Sent.  rec.  §  fin.  qu.  8  §  5),  sei 
es  nun,  dali  der  Richter  nur  zufüUiiü!;  odiT  durch  ahsichtliche  Be- 
ohaehtunf?  von  einem  Verhreclien  Kenntnis  erhielt,  wobei  irrelevant 
ist,  ob  der  Richter  in  richterlicher  Eigenschaft  oder  als  Privatmann 
das  Verbrechen  bemerkte. 

4.  Anzei^'e:  Schon  im  kanonischen  Keelite  war  die  Anzeige 
(Denuntiatio)  ein  Veraniassungsgrund  zur  Iii(4uisitio,  besonders  aber 
wurde  sie  es,  als  an  Stelle  der  unbequemen  strengen  Accusatio  all- 
mählich die  Denuntiatio  zunächst  noch  mit  Beweispflicht  des  An- 
zeigenden trat  Aber  diese  Beweispflicht  fiel  allmählich  fort,  und  so 
wurde  mit  der  Zeit  im  Inquisitionsprozesse  jede  unaufgefordert  ge- 
gebene Benachrichtigung,  die  sich  auf  Verilbung  eines  Verbrechens 
bexog,  als  Vennlassnngsgrund  zur  üntefsachnng  bebandelt  Da  der 
Richter  an  die  Anträge  des  Anzeigenden  nicht  gdbnnden  ist^  Bondecn 
selbst  m  benrteilen  hat,  was  Ton  der  Anzeige  sn  halten  ist,  so  kann 
jedermann  mit  einer  Anzeige  auftreten.  Ein  wichtiges  Erfoidemis  für 
die  Anzeige  ist  die  Kamensnennnng  des  Anzeigenden. 

5.  Klage  des  verletzten  Teils  und  6.  Selbstaaklage  kSnnen  wohl 
mit  nnter  den  Begriff  Anzeige  gerechnet  werden. 

IIL  Stellung  des  Untersuchungsrichters  in  der  Vorunter- 
suchung und  Gang  der  Voruntersuchung. 

Der  Untersuchungsrichter  vereinigt  im  deutschen  Strafverfahren 
drei  Hullen:  ai  die  des  Beamten,  der  von  Amts  w<><ren  im  Xamen 
des  Stiiates  jedes  Verbrecheu  verfolgt  und  die  Vorgerichtstellung  des 
Täters  bewirkt,  b)  die  Rolle  des  l,  ntt  isucliun^sriehters,  der  allein 
das  ganze  für  das  Hauptverfahren  nötige  Material  herbeischaffen 
muß^  c)  die  Rolle  des  Verteidigers  des  Angeschuldigten,  insofern  als 
er  während  der  Voruntersuchung  nicht  einseitig  handeln,  sondern 
unparteiisch  alle  Entiastungsmomente  ebenso  genau  prüfen  soll  wie 
die  Belastungsmomente.  In  dieser  dreifachen  Stellung  nun  hat  der 


Die  geiiditiidie  Voiantennehnng. 


55 


Untersuchunjrsrichter  allo  d»  r  Voruntersuchung:  zukoniniendon  Hand- 
lunfxen  vorzuneliuien,  ülx  r  deren  Reihenfolge  sich  wef;:en  der  Viel- 
jiestaltiirkeit  der  versehiedenen  Fälle  nichts  Bestimmtes  sauren  lälU. 
In  Betraclit  kommen  alle  Handluniren,  auf  denen  das  nac}ifoli;end(' 
Urteil  über  die  Zulässifrkeit  der  Verhäni^nnir  der  Spezialintiuisition 
benihen  nniR.  Vor  allem  ist  in  der  Voruntersuchung;  I.  der  objektive 
Tatbe.stand  des  Verbrechens  herzustellen,  d.  h.  es  niult  fest^jestellt 
werden,  ob  sämtliche  zum  Bej^riffe  eines  Verbrechens  g^ehörigen  Merk- 
male in  dem  einzelnen  vorliegenden  Falle  enthalten  sind.  Das  Ver- 
fahren, welches  zar  Erreichung  dieses  Zweckes  erfolgte,  war  iii 
frahmr  Zeit  venohieden,  je  nachdem  das  Vertmolieii  nmilich  wahr* 
nehmbare  Spuren  binterliefi  (Deliela  facti  permanentiB)  oder  nicht 
(Delicta  focti  tianaenntiB).  Bei  den  Delicta  Uxä  permanent»  war 
unTenfigHch  ein  Angenschdn  Tonunehmen  eventnell  unter  Znnefauig 
von  SachTerBtftndigen>).  Bei  den  Delicta  facti  transeontiB  waren 
sSmtliche  Personen,  von  denen  man  iigendwie  eine  Anfklftrong  über 
das  Verbrechen  erhoffen  Iconnte,  sammarisch  zn  vernehmen.  SpUerhin 
hat  man  diese  Untersdieidiittg  aber  angegeben  Der  Untersuchnngs- 
richtor  hatte  nun  nnr  die  Pflicht,  auf  alle  mögliche  Weise  den  Tat« 
b^tandy  woninter  man  damals  besonders  die  äußerlich  erkennbaren 
Spuren  nnd  Wirkungen  der  strafbaren  Handlung  verstand ,  aufzu- 
nehmen. Vornahme  des  Augenscheins  ist  in  sein  Ermessen  gestellt, 
falls  nicht  bei  einzelnen  Verbrechen  spesiell  die  Vornahme  vor- 
geschrieben ist 

2.  Neben  der  Erforschung  des  Tatbestandes  bat  sieb  der  Unter- 
suchungsrichter mit  Auffindung  und  Sammlung  der  Beweise  hin- 
sichtlich der  Täterschaft  zu  beschäftigen.  Diese  Bemühungen  sind 
auf  Entdeckung  von  Verdachtsgründen  gegen  einen  vorläufig  noch 
nicht  bekannten  Verbrecher  gerichtet.  Zu  diesem  Zwecke  dienen  Ver- 
nehmung von  Personen  als  Zeugen,  die  Aufscblub  hinsichtlich  des 
Täters  geben  können,  sodann  Leumundserforschungen  usw.  Ergibt 
sich  nun  aus  solchen  allgemeinen  Nachforschungen  nach  der  Person 
des  Täters  ein  genügender  Verdacht  gegen  eine  bestimmte  Person, 
so  ist  die  Voruntersuchung  nun  gegen  diese  zu  richten  und  es  ofolgt: 

3.  Die  summarische  Vernehmung  des  Verdächtigen.  Diese  Ver- 
nehmung soll  dem  Veidichtigen  GelegenhMt  bieten,  sich  zn  recht- 
fertigen und  die  gegen  ihn  vorliegenden  Verdaohtsgrttnde  zn  wider- 
legen. Andererseits  wird  die  Vernehmung  des  VerdSchtigen  sehr  oft 

Ii  St>  insbesoiidorc  beim  Mord,  s.  Cai'olina,  Art.  147,  149;  spfiter  ausgcdobut 
auf  alle  Delicta  facti  peimanentis. 

2)  Schon  baycr.  KriminalgeselBbach  von  1751.  IL  T.  Kap.  IIL  §  2.  Nr.  6. 


56 


II.  PoLZor 


den  Richter  auf  richtige  Spuren  führen  und  ihm  einen  besseren  Über- 
blick über  den  Fall  verschaffen.  Vor  allem  gewährt  die  Vernehmung 
auch  Stoff  und  Grundlage  für  das  weitere  Verfahren.  Diese  summa- 
rische Vernehmung,  worunter  man  sich  nicht  ein  einziges  Verhör, 
sondern  alle  VeroehmuDgen  des  Verdächtigen  denken  maß,  hat  die 
Erlangung  eines  Gesttndmises  zum  Endzweck,  wie  ja  flberluiiipt  das 
ganze  Yerfehien  im  InqnisitionsprozeS  auf  Erpressung  resp.  Eisehlei- 
chmig  eines  Geettndnisses  binaibeitet 

4.  Neben  der  Yemeboimig  des  Verdlobtigen  ist  die  Zengenm- 
nebmnng  ein  wiebtiger  Teil  der  Vomntersncbnng.  Was  die  Be- 
eidigung der  Zeogen  in  der  Vomntersnobnng  betrifft,  so  war  in  der 
früberen  Zeit,  wo  die  Zeugen  sowobl  in  der  General-  als  aneb  Spezial* 
inqnisition  Yemommen  wurden,  unbeeidigte  Yetnebninng  die  Bcgeli 
die  nur  verlassen  wurde,  wenn  der  Zeuge  nidit  mit  der  Sprache 
heransrucken  wollte  (CarpzoT,  Prax.  quaest  114,  No.  67;  Quistorp, 
f  664).  Später  als  die  Grenzen  zwischen  General-  und  Spezialinqui- 
Bition  verwischt  wurden  und  das  Hauptgewiebt  des  Verfahrens  in 
die  Voruntersuchung  gelegt  wurde,  begnügte  man  sich  mit  einmaliger 
Vernehmung  der  Zeugen  (s.  o.  S.  49)  und  diese  fand  dann  natürlich 
unter  Eid  statt.  Die  Oesetzj^ehnnEren  aus  dem  18.  und  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts,  die  sich  sämtlich  an  den  Inquisitionsprozeß 
angeschlossen  haben,  stellen  die  Beeidigung  der  Zeugen  in  der  Vor- 
untersuchung dem  Ermessen  des  Richters  anheim.  Nach  der  ])reurji- 
schen  Kriniinalordnunfr  von  1805  §  332  soll  die  Beeidigung  nur  er- 
folgen, wenn  die  Zeugenaussage  als  Beweismittel  benutzt  wird.  Die 
badische  Strafprozeßordnung  von  1S45  §  155  schreibt  die  Beeidigung 
der  Zeugen  vor  bei  Zweifeln  an  der  Glaubwürdigkeit  eines  Zeugen. 

5.  Die  Vernehmung  des  Verdächtigen  und  der  Zeugen  bilden 
die  Grundlage  für  die  weitere  Tätigkeit  des  Untersuch ungsrich- 
teiB.  Alle  Angaben  des  Verdächtigen  mttssen  durch  andere  Be- 
weise bekräftigt,  alle  Belastung»-  und  Entlastungsmomente  mtssen 
eiloiBebt  und  berfteksiehtigt  werden.  Zu  dieser  Tätigkeit  stehen  dem 
Riehter  zahlieicbe  Zwangsmittel,  wie  Hanssuehung,  Beschlagnahme 
von  Papieren,  Urkunden  usw.  zur  YerfllgQng. 

6.  Die  Uberzeugong,  daß  die  Hauptontonuebung  fSr  den  An- 
gesebuldiglen  ron  naebteiligen  Fdgen  begleitet  sei,  bat  dazu  geffthrt^ 
dem  Angeeehuldigten  zur  Abwendung  derselben  ein  Reohtsmittel  zu 
geben  (Defensio  pro  averlenda  inquisitione  speeiali).  Sehen  OarpzoF 
efwähnt  sie. 

Als  man  später  die  Bedeutnng  von  Vor-  und  Hauptnntefsncbung 
verkannte,  fiel  sie  vieUaoh  fort  (so  in  Preufien,  Geselz  von  1796 ; 


Die  geiiditlielie  Vorantemidiiiiig. 


57 


Württemberg^,  Baden  und  Österreich).  In  den  Ländern,  wo  sie  ge- 
stattet ist,  erhob  sich  über  ihre  Stellung  im  Verfahren,  ob  sie  zur 
General-  oder  Spezialinijuisition  zu  rechnen  sei,  ein  großer  Zwiespalt. 
An  und  für  sich  gehört  eine  formelle  Verteidigung  pro  avertenda 
ioquisitione  speciali  Uberhaupt  nicht  in  den  Inquisitionsprozeij,  da  der 
üntenoebungsrichtar  ron  vornherein  TerpfliehCet  ist,  auch  alle  Ent- 
lastungsmomente  za  berficksichtigen  (Gafolina  Alt  47).  Damit  ist  eine 
materidle  Verteidigiing  gegeben  und  die  gehört  natOrKob  sebon  snr 
Genenüinqnintion.  Die  fonneUe  Defensio  pro  avertenda  inqniflitione 
gpedali  kann  man  aber  wobl  nicbt  gnt  noeb  zur  Genenlinqaiaitiön 
rechnen  (Escbenbaeb  iLa).  Dai  Bichtigite  wird  8ei%  de  mit  dem 
Urteil  anf  Eröffnung  der  Spesialinqnintion  als  Grenze  swiroben  General- 
und  Spesialinquisition  anzusetzen.  Carpaoy,  Hittermaier  u.  a. 
rechnen  sie  zur  Generalinqnisition. 

7.  Hat  der  Untersuchungsrichter  die  oben  erwähnten  Handlungen, 
die  die  gewöhnlichen  Bestandteile  der  Generalinquisition  bilden,  vor- 
genommen und  sich  Klarheit  darttber  verschafft,  ob  die  Spezialinqni* 
eition  genügend  vorbereitet  ist,  so  schließt  er  die  Voruntersuchung. 
Hinaiebtlich  der  Frage,  ob  der  Untersuchungsrichter  selbst  auf  Eröff« 
nung  der  Speziali nquisition  erkennen  soll,  respektive  ohne  weiteres  von 
der  General-  zur  Spezialinciuisition  übergehen  kann,  oder  ob  eine  Ver- 
fügung des  urteilenden  Gerichtes  hierzu  nötig  ist,  ist  die  Gesetzgebung 
wie  auch  die  Wissenschaft  im  Zweifel.  Der  richtigen  Ansicht  und 
Auffassung  nach  ist  ein  solches  Erkenntnis  des  (ierichtes  erforderlich 
(siehe  Bauer  §  234;  Mittermaier  a.  a.  0.  §  136).  Nach  dieser 
Ansicht  muß  der  Untersuchungsrichter  die  Akten  der  Generalinquisition 
an  das  Obergericht  einsenden;  dieses  prüft  dieselben  und  s[)rioht  auf 
Grund  dieser  sein  Erkenntnis.  Erforderlich  ist  ein  solches  P^rkenntnis 
immer,  wenn  eine  Defensio  pro  avertenda  iuquisitione  speciali  einge- 
reicht ist  (darüber  sind  alle  bedeutenden  Rechtslehrer  einig :  Martin, 
Grolmann,  Heffter,  Ahegg,  Mttller,  Henke  usw.)  und  wenn 
naeb  der  GeriehtsveifiaBnng  einzelner  LSader  die  Spezialinquiflition 
dnem  beeonderen  Kriminalgericbte  obliegt  Ein  zolebez  Erkenntnia 
kann  lanten  I.  auf  Ergänzung  der  Geneialinquiaition  oder  2.  auf  einat- 
weilige  Aufbebnng  respektive  völlige  Anfbebung  der  Unieisnehnng 
und  3.  anf  Eröffnung  der  Speaialinquisition« 


58 


Ii.  Pounir 


IL  Teil. 

Die  VomnterBiiehuDg  von  der  Beform  des  Strafprozesses 
am  1848  bis  m  Sirafprozefsordnnng  für  das  Deutsche 

Reich.  §§  7  -13. 

A.  6Mchichtliclio  Entwicklmm  der  gorichtlichen  VoruntersudiiMg, 

I  7. 

CMbtMkn  Im  MiMgeB  YflclUknM  —  ItofemTOffBeUlge  —  Tonaterraelnnf 
tat  AnunMiehMi  ni  mgllMheB  Beehti 

Wie  schon  oben  (S.  481)  erwihnti  war  im  dentaehen  InqniflitionB- 
prozeß  die  Teilnng  des  Veifobrens  in  General-  nnd  Spesialinquisition 
allmlhlich  immer  mehr  verwiBcbt  Die  Notwendigkeit  einer  solchen 
Trennung  wurde  aber  Ton  allen  Bechtslebrem  bewiesen,  nnd  Überall 
wird  das  Fehlen  dieser  ünterschddnng  als  Gebrechen  des  deutschen 
Kriminalprozesses  gegdfielt (siehe  7or  allem:  Zachariae,  Griwecben 
und  Reform  des  dentseben  Strafverfahrens,  Göttingen  1846,  S.  123  ff.). 
Viel  mehr  noch  w  urde  aber  geeifert  gegen  die  schrankenlose  Gewalt 
des  Inquirenten.  Für  Sklaven  mochte  ein  Verfahren,  wie  es  die 
deutschen  Richter  betrieben,  vielleicht  passen,  aber  nicht  für  freie 
Menschen.  Die  gänzliche  Schutzlosigkeit  des  Angeschuldigten  g^egenüber 
dem  Inquirenten  war  ein  haltloser  Zustand.  Die  Wünsche,  die  in 
Deutschland  seit  Beginn  des  neunzehnten  Jahrhunderts  laut  wurden, 
deuteten  fast  alle  auf  ein  öffentlich-mündliches  Haupt  verfahren  nnt 
Ankhigei)rinzip  hin.  Besonders  wurde  auch  von  vielen  Seiten  hin- 
frewiesen  auf  eine  Reform  und  zweckmäliij;e  Anordnung  der  Vor- 
untersuchung. Den  richtigen  Weg,  den  die  Voruntersuchung 
auch  gegangen  ist,  hat  Zachariae  (a.  a.  0.  S.  221  ff.)  gewiesen. 
Er  verlangt  eine  öffentliche,  mündliche  Hauptverhandlung  und  eine 
Anklagebehörde.  Für  die  Voruntersuchung  ist  nach  seiner  Ansicht 
aber  die  Heimlichkeit  und  Schriftlichkeit  des  Verfahrens,  verbunden 
mit  dem  hKjuisitionsprinzip,  die  einzig  brauchbare  Form.  Es  dürfen 
natürlich  die  unbegrenzte  Macht  des  Untersuchungsrichters,  die  Er- 
zwingung von  Geständnissen,  Ungehorsamsstnilen  und  sonstige  An- 
hängsel des  Inquisitionsprozesses  nicht  mit  ttbemommen  werden. 
Außerdem  ist  fflr  dm  Angeschuldigten  eine  Verteidigung  notwendig, 
die  nach  Zachariaes  Ansicht  so  weit  gehen  muß,  daß  die  Waffen 
der  Anklage  nnd  Yerteidignng  gleich  sein  mfissen  (a^  a.  0.  S.  278). 
Den  SchQpfem  solcher  Beformvorschläge,  denen  gegenüber  die  Ge- 
setzgebung sich  zunächst  ablehnend  verliielt,  schwebte  hierbei  das 
französische  Strafverfahren  vor  Augen. 


Die  geriditlidie  Vomnteniichiiog. 


69 


I.  Das  französische  Recht  konnte  Dciitscliland  zum  Vorbild 
dienen,  da  Frankreich  ebenso  wie  Deutschland  den  Inqnisitionsprozeli 
mit  schriftlicher,  geheimer  Untersuchung  besaß,  sich  aber  zur  Zeit  der 
Revolution  davon  losiremacht  hatte.  Vor  der  Revolution  war  in 
Frankreich  das  X'tTfahren  in  zwei  Abschnitte  preteilt,  deren  erster  die 
lufonnation  war,  der  deutschen  Generalin«|ui8ition  verfrleiclibar.  auf 
welche  liin  ein  richterliches  Dekret  erfoljrte,  welches  die  KinUMtung 
der  llauptuntersuchung  gegen  den  Beschuldigten  verfügte.  Ciiarak- 
teristisch  für  die  Strenge  war  die  Stellung  des  Angeklagten  im 
Strafverfahren.  Zu  Beginn  der  Untersuchung  muHte  der  Angeklagte 
schwören,  die  reine  Wahrheit  sagen  zu  wollen.  Eine  Verteidigung 
des  Angeschuldigten  war  ausgeschlossen.  Die  Anklage  stellte  ent- 
weder eine  Zivilpartei  oder  die  Staatsanwaltschaft.  Stellte  die  letz- 
tere keine  Anklage^  so  war  auch  dem  Richter  die  Eröffnung  einer 
Unt^nehung  von  Amte  wegen  ermSglicht  naeh  dem  Grandmise: 
tont  juge  est  officier  dn  ministöre  pnblie.  Den  Wert  der  Vonmter- 
Buchung  preist  Tor  allem  Hölie'):  „Wohl  geleitet  achfitit  sie  die 
Rechte  der  Btirger  vor  nnfiberlegten  Schritten;  sie  bereitet  das  Urteil 
Tor  und  nchert  die  Richtigkeit  desselben.  Auf  ihre  natürliche  Mission 
beschrSnkt,  ist  sie  ein  unentbehrliches  Prozeßglied;  sie  ist  das  frncht- 
bringendste  VermSchtnis  der  Gesetzgebung  des  fflnfzehnten  Jahr- 
hunderts an  die  Gegenwart" 

Zur  Zeit  der  Revolution  fand  in  Frankreich  eine  tiefgebende 
Reform  des  Kriminalprozesses  statt.  Der  wesentliche  Fortschritt  dieser 
Gesetzgebung  war,  daß  mit  den  Vorteilen  des  geheimen  schriftlichen 
Inquisitionsprozesses  der  Schlitz  der  persönlichen  Freiheit  gesichert 
wurde.  Für  die  Ilauptverhandlung  wurden  die  (Grundsätze  der 
Mündlichkeit  und  Öffentlichkeit  mit  kontradiktorischem  Verfahren  ein- 
geführt-). Der  Prozeß  zerfiel  in  drei  Teile:  der  erste  entsprach  der 
früheren  schriftlichen  Information;  der  zweite  prüfte  die  .Matenalien 
der  Information  und  sjirach  die  Versetzung  in  den  Anklagezustand 
aus.  Der  dritte  lH'>tan(l  in  einer  vollständigen  Verhandlung,  für  welche 
die  Trinzipien  der  Ulf  entlieh  keit  und  Mündlichkeit  des  Verfahrens 
maligeltend  waren. 

Die  Information,  die  uns  hier  hauptsächlich  interessiert;  tritt  ein 

1)  Holtsendorfr,  Handbodi  des  Stn^woMeses.  l.Bd.  S.  12. 

1)  Dnreh  ein  Dekret  von  1789  wurde  Midi  fBr  die  Vorantanaehiuig  ein 

öffontlieh-mttndlichcs ,  teilweise  kontradiktorisches  Verfalircn  eingeführt  ;  bereits 
1791  al)or  wurtU'  dicsi  Verfahren  wio<lcr  durch  die  schriftliclio  itHiuisit(»ris(  he  In- 
formation ersetzt,  da  das  uiündliche  Verfahren  zu  viel  Kulluäiuuuu  bciilrcbten 
lief.  Vgl.  Benedict  in  den  Mittelinngen  der  knltnipoHtlsoben  GeaeUscfaaft  1902. 


60 


n.  Poum 


auf  einen  Antrag;  der  Staatsanwaltschaft  Dies  Moment  untorschi'idet 
die  Infornjation  von  der  jremeinrechtlichen  Generalinquisition.  Hat  sich 
das  r!cricht  aber  einmal  mit  der  Sache  befaßt,  so  hat  es  auch  die 
weitere  Verfüf?;unp:  über  die  .Saclie  in  Händen.  Von  diesem  Antrag  der 
Staatsanwaltschaft  auf  Eröffnung,'  der  Information  abfresehen,  wird  die 
Information  vom  Inquisitionsprinzipe  beherrscht,  g:enau  wie  die  (ieneral- 
inquisition.  Aber  das  vorteilhafte  der  französischen  Information  ist,  daß 
sie  stets  ein  untergeordneter  Teil  des  Verfahrens  blieb,  während  die 
deutsche  Generalinquisition  nacli  und  nach  der  Mittelpunkt  des  Prozesses 
wurde,  demgegenüber  die  Speziaiinciuisition  zu  einer  wesenlosen  Form 
und  Wiederholung  herabsank,  eventuell  sogar  in  Wegfall  kam.  Außerdem 
«DterBcheidel  tich  die  Information  von  der  Generalinqniäl»»!  dadmehy 
daft  sie  nicht  in  allen  FUlen  stattfinden  muß,  während  dies  yon 
der  dentochen  GenefElinqnisition  ron  der  herrBchenden  Meinung  mil 
Beefat  (Mittermeier  xu  a.)  behanptet  wird.  In  Itekreich  ist 
nftmlieh  daa  Yerfahien  verBehiedea,  je  nachdem  es  sich  um  eine 
Obeitretang,  ein  Vergehen  oder  ein  Verbrechen  handelt: 

1.  In  den  flllen  der  Übertretung  findet  keine  Information  statt 
Der  Fall  wird  sofort  vor  dem  Polizeistra|gericht  abgeurteilt 

2.  In  den  Fällen,  wo  es  sich  um  Vergehen  handelt,  kann  eine 
Information  stattfinden,  ist  aber  nicht  erforderlich.  Die  Staatsanwalt* 
Schaft  entscheidet  darüber  je  nach  Lage  des  einsefaien  Falles»  ob  eine 
Information  stattfinden  soll  oder  nicht 

3.  Bei  Verbrechen  ist  die  Information  und  eine  richterliche  £ut> 
Scheidung  über  Versetzung  in  den  Anklagezustand  obligatorisch.  Am 
Schlüsse  der  Information  kommen  die  Akten  an  die  Staatsanwalt- 
schaft und  durch  diese  an  die  Ratskammer,  welche  darüber  ent- 
scheidet, ob  die  Information  zu  erg<Hnzen  ist,  und  den  Fall  dann  an 
die  Anklagekammer  übenveist.  Diese  entscheidet  dann  über  die  Ver- 
setzung in  den  Anklagezustand. 

Eine  von  den  wenigen  Veränderungen,  die  dieses  französische 
Verfahren  im  19.  Jahrhundert  erlitt,  ist  die  Aufhebung  der  eben- 
erwähnten  Batskammer  durch  Gesetz  vom  17.  Juli  1856*).  Femer 


1)  Die  Befugnisse  der  Ratekammer  waren  folgende:  1.  Übte  sie  eine  Kon- 
U'oilc  über  die  Information  aas;  der  Untersuchungärichter  mui>te  z.  B.  einmal 
wOchcntttcfa  Aber  den  StMid  denelbcn  Bericht  «ntatteo.  2.  Hatte  sie  Aber  die 
Venreiimig  vor  daa  Zoch^olizeigeildit  so  entscheiden.  Bei  Veibneheii  hatte 
sie  schlieJ^lich  die  oben  erwähnte  Vorpriifnng  uhcr  die  Informatiim  vorzunehmen. 
Diese  Befugnisse  der  Ratskiinimcr  Clingen  dun  li  d:i>  (xesotz  von  IböG  zum  Teil 
an  den  Uutereuchungsricliter,  zum  Teil  an  die  ^Vnklagekummer  über.  Über  die 
Zwaekmlfigkait  der  Anfhebaog  der  Batakanner,  die  auch  fBr  DenlMUaiid  maf- 


Die  geriditüdie  Vonmlenadiiiiig. 


«1 


ist  noch  zu  erwähnen  das  wichtige  Gesetz  vom  S.  Dezember  1897; 
(  Journal  officiel  de  la  ßepubli<iue  francaise  Xo.  335).  Es  bestimmt, 
(lal^  der  Unter^uchunfrsrichter  nicht  bei  der  Urteilsfälhing  über  Strat- 
sa^heu  teilnehmen  darf,  in  denen  er  eine  Vonintersuchungshandlun^' 
vorgenommen  hat  Ferner  gewährt  dies  Gesetz  auch  dem  verhafteten 
Angesehuhligten  vollkommen  freien  Verkehr  mit  seinem  Verteidiger, 
der  niitigenfalls  von  Amts  wegen  zu  bestellen  ist.  Die  Rechte  dieses 
Verteidigers  werden  sehr  erweitert  Ihm  ist  der  Zutritt  zu  allen  lland- 
Imigen  der  Voruntersuchung ,  insbesondere  zu  den  Verhören  des  An- 
geschuldigten, gestattet  Die  Tätigkeit  des  Verteidigers  ist  aber  auf 
Btnmmea  ZuhOreE  beBobiSnkt;  von  Amts  wegen  ist  er  ron  diesen  Ver- 
hören mindeatens  24  Stunden  vorher  in  Kenntnis  in  setzen  nnd  hat 
vorher  das  Beeht  der  Akteneinsiebt  Ebenso  wie  dem  Verteidiger  ist 
anoh  dem  Staatsanwälte  Gegenwart  bei  aUen  Akten  der  Vomnter- 
snohnng  gestattet  0* 

IL  Neben  dem  franzSsisehen  Strafvei&hren  kam  in  Dentsohland 
aneh  das  englisehe  Verfahren  in  Betraeht,  was  ja  bei  dem  all- 
gemeinen Verlangen  nach  einem  Anklageprozeß  ganz  natürlich  war. 
Das  engliscbe  Strafverfahren  beruhte  aiüf  dem  reinen  Anklageprinzipe. 
Ebenso  wie  im  römischen  und  älteren  deutsclMni  Strafverfahren 
wird  nur  auf  eine  förmliche  Anklage  ein  Strafverfahren  eingeleitet. 
Die  Erhebung  einer  solchen  Anklage  erfolgt  von  staatlich  angestell- 
ten Beamten  (dem  Attorney  General  und  dem  Solicitor  General)  nur 
in  Prozessen  von  sj^ezifisch-politischer  Bedeiitnn«:.  In  den  meisten 
Fällen  dagegen  werden  die  Anklai'en  von  Privailt'uten,  die  allerdintrs 
nicht  in  eigenem  Namen  auftreten,  sondern  in  dem  der  Krone,  erlioben. 
Dem  Privatankläger  obliegt  auch  die  Sammlung  der  Beweismittel, 
wobei  ihn  die  I\)lizei  unterstützt.  Während  aber  im  älteren  deutschen 
und  im  rrunisclKn  Kecht  noch  keine  Trennung  des  Verfahrens  in 
Vor-  und  üauptverfahren  stattfand,  ist  diese  Trennung  im  englischem 
Ki'chte  vorhanden.  Diese  Voruntersuchung  des  englischen 
Rechts  besitzt  aber  einen  durchaus  andern  Charakter  als 
die  Vornntersuchung  des  deutschen  Inquisitionsprozesses 

gebend  wurde,  liat  man  viel  ^pstritton.  Mittemiai  er.  Im  Gcrichti^saal,  18.57, 
Abt.  l.  S.  8lff.  äphcbt  sich  entschieden  für  Beibehaltung  der  Katekammer  aus» 
ebiiiioWaUlier,  ebenda.  Abt.  II.  8.200fr.,  wihraad  Triett  fai  HoltnodorffiR 
Stnfreditiultniig,  1801,  Sp.  89,  f fir  Aafhebmig  der  Ratakammer  plidiert  nnd  die 
doppelte  Prüfung  der  Akten  der  Infoimslion  bei  Verbreeben  tadelt  (b.  bierfiber 

noch  untt  n,  S.  S4ff.). 

1)  Über  die  Erfahrungen,  die  man  mit  diesem  Gesetze  in  Fraukrcicli  gemacht 
hat,  vgL  Cnrtlne  in  Zeitiehr.  f.  gee.  bt.B.W.  23.  Bd.  S.  III.  Fecner:  unten 
B.107f. 


62 


II.  Poumi 


oder  des  französischen  Strafprozesses.  Der  wesentlicbste 
Unterschied  besteht  darin,  daß  die  englische  Voruntersuchung  kein 
wesentlicher  Bestandteil  des  Strafprozesses  ist  Vielmehr  kann  der 
Anklfiger  ohne  Torberige  Vonuitieniiehiuig  sofort  die  Anklage  vor  der 
großen  Jniy  erheben  nnd  andererseits  kann  der  Beschuldigte  jegliehe 
Aussage  in  der  Vornntersnchung  Terweigem  und  Eiöffiiung  des  Haupt- 
▼eifahrens  Terlangen.  Findet  aber  eine  Vonmtonuofaung  statt,  so 
bringt  der  Anklfiger  wm  gesammeltes  Anklagematerial  in  einer  öffent- 
lichen, mündlichen,  kontcadiktorisehen  Veriiandlung  vor.  Den  Beginn 
der  Voruntersnohung  bildet  also  nicht,  wie  in  Deutschland  nnd  Frank- 
reich, eine  Vernehmung  des  Angeschuldigten,  sondern  der  Anklfiger 
und  die  Belastungszeugen  werden  gehört  und  zwar  in  Gegenwart  des 
Angeschuldigten.  Nach  dieser  Vernehmung  werden  dem  Angeschul- 
digten sfimtliche  Aussagen  yorgelesen,  sodann  wird  er  befragt,  ob  er 
etwas  zu  erwidern  habe  auf  diese  Anschuldigungen.  Er  ist  nun  nicht 
ver]>flichtet  zu  irgendwelchen  Aussagen.  Im  Gegenteil  ist  er  vom 
Kiehter  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  er  nicht  die  Pflicht  habe^ 
etwas  zu  erklären;  falls  er  aber  etwas  sage,  werde  es  als  Beweis- 
mittel gegen  ihn  benutzt  werden.  Der  Angeschuldigte  kann  nun, 
wenn  er  sich  ül)erhaupt  auf  d'w  Vi'rhandlung  einlassen  will,  mit  den 
Zeugen  Kreuz\ t  rliiire  anstellen  und  die  gegen  ihn  vorgebrachten  Be- 
schuldigungen widerlegen,  kann  sich  dabei  auch  eines  Verteidigers 
bedienen,  der  ihm  von  Beginn  des  Verfahrens  an  in  der  Regel  gestattet 
wird.  Ein  \'eriiör  des  Augeschuldigten  wie  im  deutsciien  intjuisitions- 
prozesse  iht  dem  englischen  Strafverfahren  gänzlich  unbekannt.  Aus 
dieser  Art  des  Verfahrens  in  der  Voruntersuchung  erhelit  schon,  daß 
es  gar  nicht  Zweck  der  englischen  Vornntersnchung  tstj  Beweismittel 
zu  sammeln,  um  sich  Aufklfirung  zu  "vtaewAmßea  ftber  die  Schuld  oder 
Unschuld  des  Angeschuldigten,  sondern  ihr  Zweck  is^  auf  Grund  der 
▼om  Anklfiger  und  Angeschuldigten  Torgebnusht^  Bewasmittd  fest- 
-  zustellen,  ob  beide  Parteien  zum  Erscheinen  in  dw  Hauptverhandlung 
anzuhalten  sind  und  besonden,  ob  der  Angeschuldigte  bis  dahin  auf 
freiem  Fuße,  eventuell  gegen  Sicherheitsleistung^  verbleiben  soll  oder 
in  Haft  zu  nehmen  ist  Die  Festetellung  dieser  Maßnahmen  ist  die 
Tfitigkeit  des  Bichters  in  der  Vorunteisnchnng.  Die  Sammlung  des 
Beweismaterials,  die  den  Hauptinhalt  der  Voruntersuchung  in  Deutsch- 
land und  die  nau]>ttätigkeit  des  deutschen  Untersuchungsrichters  bilden, 
geschieht  völlig  außerhalb  des  staatlichen  Strafverfahrens  und  ist  nicht 
Sache  des  Kichters  der  Vornntersnchung.  Ein  weiterer  Unterschied 
der  englischen  Voruntersuchung  gegenüber  der  Voruntersuchung  des 
deutschen  Inquisitionsprozesses  liegt  darm,  daß  die  in  der  Vorunter> 


Die  gMiehtUdie  Yonintenadiiuig. 


63 


suchnng  geführten  Akten  nicht  die  GraDdlage  für  die  UrteiUfälliiDg 
bilden;  vielmehr  ist  für  die  l^teilsfällung  nur  maßgebend,  was  in  der 
öffentlicb-mündliehen  Ilauptverhandlun^  unmittelbar  vorg;ebracht  wird. 
Schließlicli  ist  noch  darauf  hinzuweisen,  dal5  die  Voruntersuchun":  des 
englischen  liechts  sich  durch  ihre  Kürze  auszeichnet.  Gewöhnlich  ist 
nur  ein  Termin  erforderlich.  Sollte  ausnahmsweise  der  Ankläger  oder 
der  Anirescluildigte  noch  weitere  Beweismittel  angeben,  so  wird  die 
Verhandlung  auf  höchstens  acht  Tage  vertagt  Den  Schiuli  der  eng- 
lischen Voruntersuchung  bildet  die  Erklärung  des  Richters,  dali  der 
Beschuldigte  auHer  Verfolgung  zu  setzen  sei  idisciiarge)  oder  dalS 
er  vor  das  Schwurgericht  zur  Hauptverhandlung  gestellt  werde  (coni- 
mited  for  trial).  Aus  der  ganzen  Art  dieses  Verfahrens  erhellt  schon, 
dal)  es  weniger  eine  Voruntersuchung  ist,  als  vielmehr  eine  Beschluli- 
faäsung  Uber  die  Eröffnung  des  Hauptverfahrens,  die  von  den  Prin- 
zipien der  llfindlichkeit  und  Öffentlichkeit  beherrscht  wird. 

§8. 

laierof  des  Ch«nklen  ier  getMitliehMi  Tmnnrtefmiehuf  In  mtmm  Ver- 
AdvoL  —  StMitMUlvndtliekes  EndtthugBiwflriureB  oni  feriehtlldieTamter- 

saehvif. 

Im  Jahre  1845  entstand  in  Dentschland  noch  eine  Stnlprozeß- 
ordniug  für  Baden,  die  hinsichtlich  der  Voruntenachung  sieh  eng 
an  den  Inquisitionsprozeß  anschließt.  Hier  herrscht  noch  die  irrige 
Auffassung  von  dem  Verhältnis  der  Verhandlung  vor  den  urteilenden 
Bichtem  zur  Voruntersuchung.  So  spricht  der  Titel  XVII,  Art.  224  ff. 
von  einer  „Schlußverbandlung^.  Nach  $  296  soll  sich  der  Richter  in 
der  Vornntersucbung  in  die  Lage  der  urteilenden  Richter  versetzen 
und  fragen,  ob  diese  nach  den  Beweisregeln  alle  Tatsachen  der  An- 
schuldigung für  erwiesen  halten  werden.  Dadurch  wird  die  Vorunter- 
suchung verzögert,  und  die  eigentliche  Ilauptuntersuchung  ist  nur  eine 
Wiederholung  der  ersteren.  (Den  neuen  Anforderungen  sucht  diese 
St. P.O.  gereciit  zu  werden  durch  Einfiilirung  der  Staatsanwaltschaft 
und  einer  öffentlich-mündlichen  SclilulU  erhandlung.  Ahnliche  Neue- 
rungen weist  auch  die  St.  P.O.  für  Württemberg  von  ls4;]  auf.) 

Diesen  Milistäudeii,  die  in  ganz  Deutschland  damals  herrschten, 
wurde  ein  P^nde  bereitet  durch  die  Neuordnung  des  Strafver- 
fahrens in  Deutschland  seit  dem  Jahre  1848.  Der  im  vorigen 
Paragraphen  (unter  I)  geschilderte  französische  Strafprozel»  wurde  nach 
Deutschland  übernonimcn.  Bald  nach  lS4b  gelangten  trotz  der  grolien 
Mannigfaltigkeit  der  legislativen  Verhältnisse  doch  auf  dem  weitaus 
größten  Gebiete  Dentschhmds  dieselben  GmndsStze  inr  Geltung.  Eine 


64 


n.  Pount 


St.P.O.  diente  der  andern  zum  Vorbild.  Die  badische  St.  P.O.  wirkte 
auf  die  tbüringiscbe  und  dieae  wieder  auf  die  Österreich iscbe.  Der 
preußische  Entwurf  einer  St.P.O.  von  1S51,  der  allerdings  nur  ge- 
ring:e  Bedeutung  hatte  gegenüber  der  Verordnung  vom  3.  Januar  1S49 
und  durch  ein  Gesetz  von  1852  überflüssig  wurde,  diente  dem 
preuliischen  Entwurf  von  1865  zum  Vorbild.  Dieser  Entwurf  war 
daun  maßgebend  für  die  St. P.O.  von  Oldenburg,  Bremen,  Lübeck, 
Baden.  PienßeD  und  Bayern  .waren  die  einzigen  Liuider,  die  keine  em- 
heitliehe  St  P.O.  hatten;  hier  waren  nur  AbinctentngsgesetKe  des  be>  • 
stehenden  Bechtee  erlassen  ■).  Kein  Strafv^rbihren  mit  Mflndliehkeit 
und  öffenitichkeil^  Staatsanwalt  nnd  Anklagephnzip  haben  eingefflihit 
MecUenbnrg  und  Lippe. 

Die  Bedentnng  der  gerichtlichen  Voruntersuchnng 
ist  in  dem  Verfahren  seit  1848  allerdings  eine  gans  andere 
geworden  als  im  deutschen  Inqnisitionsprosesse.  In  diesem 
hatte  der  Untersuchnngsrichter,  ein  einzelner  Beamter,  die  Sparen  der 
Verbreeben  zu  ermitteln;  einen  eines  Verbrechens  Verdächtigen  zieht 
er  vor  Gericht,  verhaftet  ihn  und  prüft  alle  belastenden  wie  eot- 
lafitenden  Momente  und  Ijüit  sebliefilich  den  Verdächtigen  frei,  wenn 
die  Gründe  der  Verfolgung  in  sich  zusammenfallen  oder  aber  zieht 
ihn  vor  das  Richterkollegium,  welches  dann  nur  auf  Grund  der  Akten 
der  Voruntersuchung,  ohne  sich  sonst  mit  der  Sache  weiter  zu  befassen, 
sein  T'rteil  spricht.  Also  die  Akten  der  Voruntersuchung  bildeten  die 
entsciieuiende  (irundlage  für  das  Urteil  des  Richterkollegiums.  Im 
reformierten  Strafprozel)  da^a^gen  wird  das  Urteil  gefällt  nur  auf 
Grundlage  der  inündliclien  Uauptverhandlung.  Akten  der  Vorunter- 
suchung werden  nur  in  Ausnahmefällen  herangezogen.  Die  Vorunter- 
suchung hat  deshalb  im  neuen  Strafverfahren  nur  die  Aufgabe,  die 
Uauptverhandlung  vorzubereiten,  so  daß  diese  ohne  erhebliche  Uuter- 


1)  So  in  Preulieu  die  Vcrurdiiung  v.  3.  Jau.  ISAii.  Diese  gibt  ciageheode 
Vondiriftm  (Iber  IMlUinmg  der  Staatsanwaltschaft  und  ihren  amtlichen  Wirkung»- 
krab  (Abecfanittl),  Uber  das  Strafverfahren  auf  Grand  der  Priiiii|iifln  der  te«n^ 
liebkeit  und  Mündlichkeit;  hieran  schließen  sich  dann  ausführfidlio  BartunaniBgai 
über  Einrichtung  von  Schwurgerichten,  RechtsniitteU  erfahren  usw.  So  war  auch 
in  Preui^n,  wie  diese  kuize  Inhalttuuigabe  zeigt,  eine  den  Kefonuwünschen 
genugende  laderuug  dea  StnifverfidireDB  goeohaffen.  Die  neben  dieeer  Veroid» 
nnng  in  Kiaft  bleibende  KrimiiialordniiDg  too  1805  liatte  dareh  aie  den  gHMkea 
Teil  ihrer  Bedeutung  verloren:  insbesondere  ist  dieft  der  Fall  hinaiditlieh  der 
Hauptverhandlung  Aber  auch  <lie  ^^>l■<(  luiften  über  die  Voruntersuchung,  soweit 
aie  neben  der  Verordnung  von  lb4ü  bestehen  bleiben,  haben  nur  noch  die  Be- 
deotmig  einer  lintraktion  fOr  ühtenaohiingBrichter.  Vgl.  Opponhoff ,  Die 
pnnfi.  Qeaelae  Aber  Verfahren  in  Stnfaaoben.  Vonede.  B.  & 


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Die  gerichlUdM  Vonrntennchiiag. 


66 


brechunp:en  durchgeführt  werden  kann.  Sodann  aber  besteht  eine 
Veränderung  des  Charakters  der  VonintersuchuDg  darin,  da(^  dem 
l'ntersuchungsrichter  die  Funktion  des  Anklägers  irenoninien  und  diese 
einem  besonderen  Heaniten,  dem  Staatsanwalt,  ül)ertragen  ist,  weil  der 
Richter  unparteiisch  sein  soll;  unter  Vereinigung  der  Rollen  dos  An- 
klägers und  UntersuchungsriclittTs  in  einer  Person  aber  immer  die 
Unparteilichkeit  leiden  wird.  Dem  Staatsanwalt  liegt  daher  die  Pflicht 
ob,  Verbrechen  aufzuspüren  und  zu  verfolgen:  er  hat  auch  die  Al>- 
haltung  einer  gerichtlichen  Voruntersuchung  beim  Gerichte  zu  bean- 
tragen.') Ausgenommen  sind  unaufschiebbare  Ermittelungen,  Sicher- 
beitsmafiregeln,  die  Verdunkelung  der  Sachlage  verhüten  sollen;  diese 
kann  das  Gerieht  ron  Amts  wegen  Tornehmen.  Bei  der  Emriehtong 
der  VornDtersuchung  nacb  den  neuen  Piozeßgnmdslllmi  konnte  das 
Verfahren  in  der  Vomnteranchnng  nicht  in  allen  Einaelheiten  ans 
Frankreich  direkt  übernommen  werden.  In  IVankreich  war  nftmlich 
die  VomntennchnDg  Aufgabe  der  gerichttichen  Polizei,  an  der  auch 
der  CnterBachnngBiicbter  gehOrt  (code  d'instr.  erim.  Art  9.)  Ihre  Auf- 
gabe besteht  in  folgendem:  (code  Art.  8)  ,,eUe  recherche  les  crimes, 
les  d61il8  et  les  oontraTentionsy  en  lassemble  les  ineuves  et  en  liyre  les 
auteuTS  aux  tribunaux".  Die  deutsche  Gesetzgebung  kennt  eine  solche 
gerichtliche  Polizei  zum  Teil  nicht In  diesen  Ländern  ist  der  Staats- 
anwalt  der  Polizei  übergeordm  t;  sie  muß  den  Aufträgen  des  Staats- 
anwaltes Folge  leisten,  ihn  bei  Erforschung  von  Verbrechen  oder  ihren 
Tätern  unterstützen,  wobei  jedoch  die  Selbständigkeit  als  Behörde 
der  Polizei  nicht  genommen  wird.  Andere  Länder  kennen  zwar  eine 
gericlitliche  PolizeiVi.  Hier  ist  aber  der  Untersuchungsrichter  nicht 
Mitglied  derselben.  Insofern  stimmt  die  französische  VoruntersuchuDg 


1)  Preuß.  Vcronln.  1S49.  §§  1,2;  Hannoverscher  Entwurf  §§  ,SS.  41,  J2,  14, 57. 
(Die  Erlit'buiifj:  der  durch  jede  l'liertrotuiij;  der  Srnift.M'rsctzc  begrüiidoten  öffent- 
lichen Kla^i^e  steht  in  ihi-cm  ganzen  Umfau^^e  dem  Staatsanwälte  zu  (§  87);  er  soll 
jeder  straibaren  Handlung  nachfurschen  ($  54i];  Brauuscbweig  §  1,  3,  31  ff.; 
Thflringen  Art  4, 74;  Altnobnig  |  52;'  Entwarf  für  HdnlDgen  §§  10,  86;  Sachsen 
§§36,20,  10'.»,  11.5;  Kurhessen,  Gesetz  v.  184^,  §§2,  15.S,  Gesetz  v.  1S51,  §24. 

2)  Eiit-ipri'iheiid  dem  Code  d'instr.crhii.  Art.  4*5,  49,50^  59.  Huden  Art.51,54; 
Preut'cn  Veroidu.  v.  Ib4  §  ü;  Brauascbwei^  Art.  b;  Kurheä».  &>LP.O. §  144,  145, 
Entwurf  für  Meioiugen  Art.  S6. 

8)  Prenfen  §§  4, 7,  Goeetz  12.  Febr.  1860;  Bayern,  Ootete  v.  1S48,  Art  38; 
Kurhe«sen,  Gesetz  v.  1S4S,  $  142,  G.V  G.  §72;  Thüringen,  Art  4C, 30,91, III,  120, 
I46f.,  152;  Altenbur^,  Art.  2(»,  126,  132;  Oldenburg.  Art.  26,  32,  65 ff. 

4)  Braunschweig,  St.  l'.U.  §  23,  25,  Gesetz  v.  19.  März  lS5ü  §  4;  Sachsen,  Art. 
75 ff.,  134;  Art.  79  vgl.  mit  b3  u.  1U9;  Hannover,  19,  53,  55,  58,  1U3.  (G.  V.6. 
§  52  bezeicbnet  Staatsanwalt  als  Mitglied  der  gerichtlidien  PoUzeL) 

AnhlT  Ol  Crialiiluttanpoloito.  XUL  5 


60 


IL  Pou» 


mit  der  ili  iit.^clien  mvht  iilicreio.  Im  übrigen  sind  die  BeätiiumaDgen 
aber  zii'iiilicli  dio  jrleiclii-n. 

Die  Stautfjanwaltschaft,  die,  wie  oben  iresagt,  alle  Verhrerlien  zu 
verfolj;en  hat,  iiiiil't  eine  Untersuchung  anstellen,  die  den  Zwt'ck  hat, 
den  Straffall  aufzukUiren,  um  erniestsen  zu  können,  ob  sie  eine  An- 
klage stellen  soll  oder  nicht    IlierfUr  sind  zwei  Wege  denkbar: 

1.  Der  Staatsanwalt  als  Ankläger  leitet  die  Erforschungen  selb- 
ständig mit  HUfe  der  ihm  untentoheodeD  Poliin.  Aach  die  Gefiehte 
mtbnen  naeh  den  Vonehrifleii  der  einselnen  L&ider  den  Antiigen  des 
Staataanwalts  Folge  leisten. 

2.  Der  Staatsanwalt  beantragt  bek  Geriebt  die  Vornahme  einer 
Vonmtennebnng;  in  diesem  Falle  verfolgt  das  Gericht  dann  den  Fall 
Yon  Amts  wegen.  Also  sind  swei  Arten  einer  Vornntersnehnng  denk- 
bar. Die  erste,  die  in  den  Binden  des  Staatsanwalts  ruht,  ist  das 
Btaatsanwaltliclie  Emuttlnngsverfabren;  die  zweite  Art  dagegen  ist 
die  gericbtliebe  Voruntersuch nng.  Zwischen  diesen  beiden 
Formen  die  Wahl  zu  treffen,  lie^  dem  Staatsanwälte  ob;  nicht  immer 
aber  steht  ihm  die  Wahl  zwischen  beiden  frei.  Die  Gesetze  in  Deutsch- 
land haben  hier  ihrem  französischen  Vorbild  entsprechend  Beeohrän- 
kungen  eingeführt. 

1.  Bei  Vergehen  der  untersten  Ordnung  (Übertretungen)  findet 
keine  gerichtliche  Vonintersnchunt:^  statt; 

•>.  bei  scliweren  Verbrechen  niuli  sie  stattfinden').  Diese  Vor- 
scliriften  graben  nun  Anlali  zu  f^rolien  Streiti^^keiten,  Die  einen  hielten 
an  der  NotwendiL^keit  der  p:erichtliclien  Voruntersuchung  in  allen 
Fällen  (resp.  in  sclnvierif^eren  Fällen j  fest,  fanden  obifre  Vorschriften 
also  zu  weitgehend;  den  andern  erschienen  diese  Vorschriften  nicht 
weitgehend  {renn«?.  Ihre  Devise  war:  „Hinweg?  mit  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung I"  Die  nähere  Erürterung  dieser  Streitfrage  und  ihre 
Regelung  in  den  Gesetzgebungen  dieser  Periode  möge  uns  im  nächsten 
Paragraphen  beschäftigen. 

§  9. 

Streit  iber  die  Notweadlgkelt  «hier  feriehtlieliea  Yomntersttdiaaf . 

I.  Bestrebungen,  die  gerichtliche  Voruntersuchung  ab- 
zuschaffen. 

1.  Geib  (Reform  des  deutschen  Bechtslebens  S.  104 ff.)  ist  der 
erste  Vertreter  der  Ansicht,  daß  die  gerichtliche  Voruntennchnng 

1)  S.  i'ioul  cu,  VerorUa.  li>4y  §§  4*2,  "5;  Reskript  v.  3.  September  1849  §  2; 
BmanNcfaweig,  §  33;  KmmI,  Geeets  t.91.  Oht.  1848  ff  148->150,  vgL  199fL: 
Thfliingen,  Art  6,  845,  Gesets  r.  9.  Desbr.  1854  f  3. 


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Die  geriditliclie  Vonrnteoadiniig. 


67 


fallen  uniW.  Er  verwirft  die  Anstellunir  von  Untersucliung:sriclitern 
und  wünsclit  eine  Vonintersuchunfj:,  die  der  Staatsanwalt  fülirt.  Sollten 
Handlungen  in  der  Voruntersucbunjr  notier  sein,  /ii  deren  Vornahme 
Mitwirkung:  des  Gerichtes  erforderlich  ist,  so  ist  das  (Bericht  verpflichtet, 
einen«  diesbezüglichen  Antrag'  des  Staatsanwalts  Folge  zu  leisten. 

2.  Der  nächste  erwähnenswerte  Vertreter  dieser  Anschauung  ist 
Brauer  (Justizministerialrat  in  Karlsruhe'}).  Brauer  geht  vom  An- 
klageprinzip aus  und  hält  die  in  Deutechiand  bisher  übliche  Vorunter- 
saefaung  mit  diesem  Prinnpe  für  uiTeraiibar;  deshalb  muß  die  ge- 
riebtliche  Voumtennichiuig  fallen.  Im  übrigen  achliefit  er  flidi  an 
Geib  an,  geht  aber  noch  weiter  ab  diesv  insofern^  als  er  als  die 
einzige  Aufgabe  der  Vomntersnehnng  die  selbsOndige  Sammlung  der 
Anscbnldignngsbeweise  durch  den  Ankliger  (Staatsanwalt)  betrachtet 
(1 2).  Wie  aneb  Geib  Torschligt,  soll  zu  gewissen  Haadlnngen  Mit- 
wirkung «nes  Amtsricbters  nOtig  sein<>  Dör  Angeschuldigte  soll 
genau  wie  in  England  Kenntnis  Ton  den  gegeo  ihn  vorliegenden 
Verdacbtsgründen  bekommen  und  Gelegenheit  erhalten,  sich  seine 
Gegenbeweise  zu  sammehi.  Verkehrt  ist  es,  zwischen  diese  beiden 
Parteien  einen  notwendig- parteiischen  (V)  Untersuch ungsriehter  zu 
setzen  (§2).  Denn  einmal  ist  ihm  die  Aufgabe  des  Anklagens  ge- 
nommen und  dem  Staatsanwalt  übertragen,  sodann  bestand  die  Tätig- 
keit des  Untersuchungsrichters  besonders  im  Vernehmen  des  Ange* 
Kchuldi^'^ten.  Diese  Vernehmung  des  Angeschuldigten  in  der  Vorunter- 
suchung uhir  hält  Brauer  für  völlig  überflüssig,  da  sie  nur  auf  Er- 
wirkung respektive  P>[)ressung  eines  (ieständnisses  hinzielt.  Ein  solches 
Verfahren  aber  widers|)richt  seiner  Ansieht  nach  völlig  dem  Anklage- 
prinzip. Die  dritte  Aufgabe  des  Untersuchungsrichters  war  die  ^^orge 
für  die  Verteidigung  des  Angeschuldigten  in  der  Voruntersucliung. 
Brauer  ist  der  Ansicht,  dali  es  uiit  der  lieaolitung  der  Entlastungs- 
momente durch  den  Untersuchungsrichter  in  der  Voruntersuchung 
ziemlich  schlecht  bestellt  sei  und  meint,  der  Angeschuldigte  könne 
selbst  viel  besser  für  seine  Verteidigung  sorgen.  Die  übrigen  Ge- 
schäfte, die  der  Untmichungsrichter  zu  besorgen  hat,  hält  Brauer 
nicht  für  so  wichtig,  daß  zu  ihnen  —  da  sie  doch  gewöhnliob  nur 
die  Ausnahme  yon  der  Regel  darstellen  —  ein  besonderer  ünter- 
snebnngBri<^ter  erforderlich  sei.  Diese  schon  oboi  erwähnten  Haad- 

1)  Aiisfülirlichc  Abbaadlungen  von  in  §§  ^Vonintcrsuchung  auf  Gnmdhige 
des  Auklaj;e])nu/.i|)s~  im  (icricbtssaai.  1^49.  Abt.  iL  S.  321  ff. 

2)  Brauer  bat  diese  Fälle  eiuzeln  aufgef&hrt  (§  3):  a)  Einnahme  dee 
AugcMehfliiu,  b)  Veriialtaiig  des  AngeschnhligtHi ,  o)  Haniwiiffhiiiig,  Beachlag- 
uhme»  d)  ddlicfae  AbhSr  der  Zeugen. 


68 


II.  Poxsnr 


lun^en  könne  auch  ein  Amtsrichter  auf  Eräuohen  des  Staatsanwaltes 

aubführon  i§  3) 

3.  Ein  weiterer  Vorkämpfer  der  Ansicht:  ^Hinweg  mit  der  ge- 
riobtlicben  Vornotersnchung!''  ist  Stemann  in  Gottdammefs  Aietiiy 
1860  8. 41  ff.  Stemann  betrachtet  die  Lage  der  Vonmtenaehnng  in 
Pteoßeo  nnd  geht  von  dem  dort  geltenden  Gnindaabse  aua»  daß  die 
gerichtliche  Vonintenuehnng  nur  bei  Verbrechen  nOtig  ist,  im  ftbrigen 
aber  vom  Ermeflsen  des  Staatsanwaltes  abbinge.  Beantragt  dieser 
keine  geriehtliohe  Vornntersnehnng,  so  findet  ein  staatsanwaltlicbes 
Ennittlnngsreifabren  fSkrutinialTeifkbren)  statt,  wd^es  dieselbe  Auf- 
gabe bat,  wie  die  gericbtliohe  Vorantersnchnnn^  nftmlioh  „die  Existenz 
nnd  Natur  des  angezeigten  Verbrechens,  sowie  die  Person  des  Titos 
und  die  zu  seiner  Überführung  dienenden  Beweismittel  soweit  zu  er- 
forschen und  festzustellen,  als  dies  zur  Begründung  und  zur  Vorbe- 
reitung der  mündlichen  Hauptverhandinog  nötig  ist*  (s.  Prenß.  Verordn. 
vom  3.  Januar  1849  §  44).  Stemann  scblieUt  hieraus  nun,  daß  der 
Staatsanwalt  auch  bei  Verbrechen  in  diesem  Ermittlungsverfahren  mit 
Unterstützung  durch  den  Richter  in  den  Fällen,  wo  nach  Ermessen 
des  Staatsanwaltes  schon  in  der  Voruntersuchung  urkundliche  Fixie- 
rung von  Beweismitteln  nötig  ist,  ebenso  gut  und  in  viel  kürzerer 
Zeit  die  Voruntersuehunir  al)halten  könnte.  Die  Erfahningen,  die  man 
in  der  Praxis  mit  (ieiii  Kriiiittlunc'sverfahren  fremacht  habe,  bestätigen 
(lies.  Wenn  man  ferner  die  \  ernelinuin^'^  des  Angeschuldigten  als 
einen  nicht  zu  ersetzenden  Vorzug  der  gerichtlichen  Vonintersuchung 
ansehe,  so  könne  diese  \'ernebmung  nur  für  einen  inhjiftierten  Ange- 
schuldigten in  Betracht  kommen,  dem  aus  (h  r  Freiheitsentziehung  ge- 
wisse Nachteile  erwachsen.  Für  einen  luliaftierteu  ist  aber  immer, 
also  auch  im  Ermittlungsverfahren,  die  richterliche  Vernehmung  vor- 
gescbiieben  (Preußisches  Gesetz  vom  12.  Februar  1850  betreffend  den 
Schnta  der  persönlichen  Freiheit  §  5).  Ein  wdterer  Grund,  der  Ste- 
mann aar  Preisgabe  der  geriohflidien  Voruntefsnehung  veranlaßt» 
besteht  in  der  Bescblnßbssung  ßber  das  Besnltat  der  gerichtliehen 
Vomntenuchnng.  Im  ErmitdnngSTerfahren  bestimmt  der  Staatsanwalt 
aUeiny  ob  und  wie  die  weitere  Verfolgung  der  Sache  zu  betreiben  ist 
Das  Gericht  hat  keinen  entscheidenden  Einfluß  auf  das  Verhalten  des 
Staatsanwaltes,  so  lange  dieser  nicht  die  Anklage  erhoben  hat  Ist 
aber  eine  gerichtliche  Voruntersuchung  abgehalten,  so  hat  das  Gerieht 
darüber  zu  entscheiden,  ob  die  Anklage  erhoben  werden  soll  oder 


1)  Wann  bei  diesen  GeBchSfteo  HitviikiiDg  des  Geriobtn  nflUg  ist,  kommt 
hier  nicht  in  Betracht  (s.  dardber  K       bakL  von  Braaers  Abhandlnni^ 


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Die  gerichtlidie  Vonmtenadiang. 


69 


nicht,  und  dem  Staatsanwalt  ist  in  dieser  Hinsicht  jede  Einwirkung 
auf  das  Verbhren  genommen.  Gerade  hierin  liegt  ein  wichtiges  Unter- 
scheidungsmerkmal zwischen  Ermittlungsverfahren  und  gerichtlicher 
Voruntersuchnng.  Diese  Regel  ist  auch  in  den  meisten  Partikular- 
gesetzgebungen durchgeführt.  Eine  Ausnahme  bildet  Braunschweig 
(St. P.O.  §  43);  hier  ist  dem  Staatsanwalt  die  Verfügung  über  die  ge- 
richthche  Voruntersuchung  überlassen.  —  Diese  Vorschrift  von  Braun- 
schweig lobt  Stern ann,  tadelt  das  im  übrigen  Deutschland  geltende 
Verfahren  als  inkonse«|uent:  er  verlangt  für  den  Staatsanwalt,  der 
einmal  das  Amt  des  Anklagens  hat,  auch  ein  unbeschränktes  Recht 
auf  Erhebung  oder  Nichterhebung  der  Anklage.  .\ueh  um  dieser 
Inkonstf|uenz  willen  verwirft  er  die  gerichtliche  Voruntersuchung. 

4.  Zuh  tzt  wäre  wohl  noch  von  den  Juristenj  die  die  gerichtliche 
Voruntersiucliung  beseitigt  wissen  wollen,  Keller  zu  nennen.  Schon 
auf  dem  dritten  deutschen  Juristen  tag  wurde  der  Antrag  Kellers,  der 
fttr  Beseitigung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  plädierte,  durch  die 
drei  Gntaiditen  des  Jnstizrats  Dom  in  Bettin,  Prof.  Oefiler  in  Tübingen 
und  Staatsanwalt  Heinze  in  Dresden  Terworfen.  Daraufhin  bat 
Keller  dann  in  seinem  Werke  «Staateanwaltscbaft  in  Dentscbland^ 
(§  19  6)  sone  auf  Beseitignng  der  gericbtlicben  Vomntersnobnng  be- 
zügliche Ansiebt,  nacbdem  er  Torber  die  Gründe  fttr  Beibebaltong 
der  gericbtlicben  Vomntersncbnng  erwftbnt  nnd  sie  zn  widerlegen 
▼eranobt  bat,  yerteidigt  a)  Seiner  Ansicht  nach  muß  die  gericbtliche 
Vomntersncbnng,  die  im  Inqnisitionsprozesse  des  kanoniseben  Rechtes 
entstanden  ist,  aus  unserem  Strafverfahren  ausgerottet  werden,  weil 
sie  mit  den  Prinzipien  des  deutschen  öffentlichen,  mfindlichen  und 
akkusatorischen  Strafprozesses  unvereinbar  ist  Kdler  wünscht  eine 
Voruntersuchung,  die  sich  an  die  Voruntersucbung  anschließt,  wie  sie 
vor  der  Entstehung  des  Xnquisitionsprozesses  vorhanden  war,  die  also 
konsequent  das  Anklageprinzip  durchführt  b)  Als  zweiten  Grund  für 
die  Beseitigung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  führt  Keller  den 
Zweck  der  Voruntersuchung  ins  Treffen.  Zweck  derselben  soll  ledig- 
lieli  \'(>rbereitung  der  Anklage  und  der  IIaui)tverhandlung  sein. 
Nach  Kellers  Meinung  erreicht  man  diesen  Zweck  am  besten,  wenn 
man  diese  Aufgabe  dem  Staatsanwalt  allein  überlälU.  Dieser  hat  die 
Anklage  zu  stellen,  mub  sich  also  auch  das  hierzu  nötige  Material 
verschaffen,  c)  Wegen  der  Beweisaufnahme,  die  nur  einen  geringen 
Teil  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  ausmacht,  das  ganze  Verfahren 
dem  Untersuchungsrichter  zu  belassen,  hält  Keller  für  unpraktisch 
und  ungerechtfertigt. 

d)  Durch  eine  Aufhebung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung 


70 


IL  POLSSUf 


würden  nach  Kellers  Ansiclit  auch  die  Kolli.siünen  zwischen  Unter- 
suciiun^srichter  nnd  Stant.sunwalt,  die  sich  aus  dem  ln(|iiisitionspro- 
zeß,  der  seit  184S  mit  akkusatorisclien  Formen  vermischt  ist,  erj;reben 
haben,  beseitif^t.  Die  Mittel,  die  man,  um  Kollisionen  zwischen  Stiuits- 
anwalt  und  Untersucliunirsrichter  zu  vermeiden,  einjreführt  hat,  wie 
z.  B.  Akteneinsicht  und  Beschwerden,  nennt  Keih-r  unzureichende  Not- 
behelfe. Sodann  will  Keller  die  gerichtliche  N'oruntersuchung  beseitigt 
wiflsen,  weil  dadurch  das  Ankla^eprivileg  des  Staatsanwaltes  geschmä- 
lert wild,  insofern  als  der  Staatsanwalt  nach  stattgehabter  geriohtficlier 
Vorantersuchung  nicht  mehr  freier  Herr  seiner  EntschlieOnngen  ist, 
sondern  sich  dem  Beschloß  des  Gerichts,  mag  er  anf  Erhebnngr  der 
Anklage  oder  Etnstellang  des  Verfahrens  lauten,  unterordnen  nnd  an- 
passen muß  (was  auch  Stemann  betont),  e)  Kell«'  ist  ferner  der 
Meinung,  daß  durch  eine  gerichtliche  Voruntersuchung  die  Haupt- 
Verhandlung  zu  einer  bedeutungdoses  summarischen  BekapitulatioD. 
also  Sohlnßyerhandlung,  herabgedrttckt  wird,  f)  Auch  werde  der 
Strafprozeß  durch  Beibehaltung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  un- 
nötigerweise in  die  Länge  gezogen.  Durch  Fortfall  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung  würden  die  Geschäfte  des  Staatsanwaltes  und  der 
Verteidigung  sich  vermehren.  Andererseits  ah»  r  würden  die  Unter- 
suchun^'srichter  und  manche  Ursachen  der  Verl&ngerung  der  Unter» 
sucbungshaft  fortfallen. 

II.  Bestrebungen  für  Beibehaltung  der  gerichtlichen 

Voruntersuchung. 

Im  Gegensatze  zu  diesen  Bestrel>un<:en.  die  auf  Beseitifrung  der 
gerichtlichen  Voruntersuchung:  abzielen,  ist  das  Gros  der  Juristen 
für  Beibehaltung  der  in:eri  ch  tli  ch  en  Voruntersuchung. 
Diese  Meiiuin;:  vertritt  besonders  Mitternjaier  im  Gericbtssaal  1862 
S.  36ff.  und  Ahegg').  Ahegg  ist:  1,  für  eine  g:ründliche  und  mög- 
lichst vollständige  Voruntersuchung;  2.  sie  hat  sich  nicht  auf  die  Her- 
stellung der  Voraussetsungen  hinsichtlich  der  Versetenng  in  den  An- 
klagexnstand  zu  beschrSnken  —  wird  aber,  je  gegründeter  sie  ist: 
3.  entweder  zu  dem  Ergebnisse  führen,  daß  eine  rechtliche  Verant> 
wortung  nicht  vorhanden  sei,  ane  bestimmte  Person  in  den  Stand  der 
Anklage  zu  Tcrsetzen;  4.  oder  wofern  diese  Voraussetzung  geboten 
erscheint,  das  Hauptr^ahren  in  einer  der  Gerechtigkeit  entsprechenden 
Wdse  vorbereiten  und  die  Gefahr  beseitigen,  auf  jetzt  erst  hervor- 
tretende neue  Tatsachen  (nova)  eine  Vertagung  zu  verfügen  oder  sofort 

1)  Ober  die  Notwwdigkeit  nnd  den  Wert  einer  gründlichen  Vonmtenndiiuig 
in  Haunerle  VIerteljahrechr.  14.  Bd.  8.  Iff. 


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JHb  geiiditUofa«  Vonmteniiehung. 


71 


ein  nicht  selten  bedenkliches  l'rteil  auszuspreclu  n.  ,').  Die  Er^'ebnis?e 
der  über  jenen  nächsten  beschränkenden  Zweck  hinausziehenden  \'or- 
nnUT'^uchunir  dürfen  als  solche  nirnials  die  Bi(leutun;r  des  nnindHch- 
öffVntlK  litMi  Ihuii>tverfahrcn?ä,  oder  der  l.'nniittelbarkeit  vor  (bMu  er- 
kenneruhm  Oericlite  bceinträclitif^en,  da  nur,  was  in  dieser  auf  <:elir>ri^e 
Weise  Gej^enstand  der  Verhandlungen  ist,  berücksichtiirt  wenleu  darf; 
al)er  (5.  jene  Ergebnisse  el)en  auf  gehörige  Weise  mit  dem  (Miarakter 
der  Unmittelbarkeit  versehen,  werden  dazu  dienen,  das  Reciii  zur  Gel- 
tung zu  bringen.  7.  Die  unmittelbar  vor  dem  erkennenden  Gerichte 
stettfindfiiide  mündlich-öffentliche  Verhandlung  ist  ihrer  Natur  nach 
nieht  eine  bloße  WiederiiolnDi:  oder  Beprodoktioii  des  in  der  Vo^ 
nntersachmig  VoiigekoiDmeDen;  und  selbst  dann  nicht,  wenn  sie,  was 
anob  jener  Bescbifinknng  Nr.  2  nicht  immer  yermieden  werden  kann, 
dem  Inhalt  nach  dnrcbans  nichts  Neues  beransstellt  8.  Und  gesetzt 
es  wire  wirklich  nnr  eine  —  doch  immer  in  anderer  Form  und  vor 
andern  richterlichen  Personen  erfolgende  Reproduktion  —  so  wlie 
dies  für  den  Zweck,  darauf  em  rechtliches  und  gerechtes  Erkenntnis 
zu  giOnden,  kein  Nachteil  —  vielmehr  ein  nicht  zn  Tcrkennender 
Vorteil,  oder  eine  unerläßliche  Voraussetzung  für  eine  die  Gerechtig- 
kdt  fordernde  Hauptverhandlnng  —  darauf  allein  kommt  es  an,  nicht 
auf  andere  Rücksichten,  die  aus  der  Symmetrie,  dem  Zeit-,  Kraft-^ 
Kostenaufwande,  dem  akkusatorisehen  Prinzip  entlehnt  werden  (siehe 
Ahegg  a.  a.  0.  S.  63  ff  ). 

Einige  Juristen  sind  allerdings  für  Beibehaltung  der  gerichtlichen 
Vonmtersuchung;  sie  soll  aber  möglichst  eingeschränkt  werden  (siehe 
Sundelin,  Staatsanwaltscliaft  in  Deutschland  §  17  (Anklam  lSr)0);  s.  a. 
Iloltzendorffs  Strafrechtszcituni;  ISbl  Sp.  50ff.i.  Im  übrigen  aber 
stimmen  die  Meinungen  ;j:rr.ritt  nteils  mit  der  Gt  setzfiebung  überein, 
welche  die  irt  richtliolie  \  orunt^^rsuchung  bei  Verbrechen  für  uner- 
lälMieh,  bei  l  iitTtretungen  für  unznlä-ssig  erklärt,  bei  Vergeben  eine 
gericlitliehe  \'oruntersuchung  in  das  Ermessen  des  Staatsanwaltes  stellt. 
Diese  Vorschrift  hat  ihre  guten  Seiten.  Das  Strafverfahren  in  den 
leichteren  Fällen  findet  schnelle  Erledigung.  Anstoß  bat  man  nur 
daran  genommen,  daß  die  Schwere  des  Verbrechens  als  Maßstab  an- 
genommen wird  für  die  Frage,  ob  eine  gerichtliche  Vorontersncbung 
abzuhalten  ist  y.  Tippeiskirch  (Qoltdammers  Archiv  II  S.  313); 
Dieterid  (ebenda  IV  S.  189ff.)  und  Dalcke  (ebenda  VIII  S.  145ff.), 
welch  letzterer  ffir  mSglichst  große  Einschrftnknng  der  Vomntersachung 
ist,  Tertreten  die  Meinung,  die  Individualität  des  einzelnen  Straffalles 
mflsse  entscheidend  sein  für  diese  Frage;  diese  FVage  sei  dann  in  das 
firmessen  der  Staatsanwaltschaft  zn  stellen. 


72 


U.  PouDir 


Alle  diese  Streitigkeiten  haben  f;:ewi88ermaßen  ihren 
Abschluß  gefunden  auf  dem  dritten  deutschen  Juristentag" 
(1862).  Hier  wurde  der  Antrag  Kellers,  wie  schon  oben  erwähnt  (s. 
S.  b9)  abgelehnt  und  auf  Glasers  Antrag  folgender  Beschluß 
angenommen  (s.  VerbandloDgeii  des  3.  deutschen  JoristeDtages  Bd.  II 
a  72  XL  73). 

I.  Die  gericbtliche  Vonrntenaohmig  mvA  beibehalten  werden, 
weil  nicht  dem  Staatsanwälte,  Bondeni  einem  nnabhftngigen  riGfatieiv 
lidien  Beamten  die  VerfOgnng  über  die  Penon  des  Angeacbnldigten, 
die  Aufnahme  jener  Beweise»  welche  in  der  Hanpkverhandlnng  nicht 
wieder  voigefUhrt  werden  kOnnen,  endlich  die  HerbeisdiaffQng  des 
Vetteidigungsmaterials  anvertrant  werden  kann  (Herbeischaffnng  dea 
Verteidigungsmaterials  nnr  im  Sinne  der  Vorbereitong  der  Haupt- 
TerhandluDg  gemeint). 

II.  Die  gerichtliche  Vonintersnchnng  muß  aber  beschränkt  werden: 
ai  Dadurch,  dal)  der  Staatsanwaltschaft  die  Erbebung  der  öffent- 
lichen Klage  vorbehalten  wird. 

b)  Dadurch,  dal^  die  Staatsanwaltschaft  angewiesen  wird,  der  Er- 
hebung der  öffentlichen  Klage  gerichtspolizeiliche  Vorerhebungen 
. voran sf:«^hen  zu  lassen  (unbeschadet  der  persönlichen  Freiheit  des  Be- 
schuldi^'ten  und  der  Begel,  daii  die  Ergebnisse  derselben  keine 
weiskraft  haben). 

c)  daß  die  Voruntersuchung  wegfällt^  wo  es  sich  nicht  um  Ver- 
brechen schwerster  Art  handelt  und  weder  Staatsanwalt  noch  An- 
geschuldigter sie  verlangen 

Hauptgründe  für  die  Reibehaltung  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung  waren  folgende'^): 

1.  Durch  Aufhebung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  wird  die 
rechtzeitige  und  erfolgreiche  Verteidigung  erschwert.  Überläßt  man 
die  Voruntersuchung  völlig  dem  Staatsanwalt,  so  ist  von  ihm  als 
AnklSger  Ebseitigkeit  und  Parteilichkeit  au  befOrohten.  Ein  Ver- 
teidiger ffir  den  Angeschuldigten  kann  kernen  genügenden  Eiaatz  hier- 
f&r  bieten,  da  man  ihm  auf  keinen  Fall  ebenso  viel  Beohte^  wie  dem 
Staatsanwalt  (AnklSger)  geben  kann.  Demgegenflber  meint  Keller 
(Staatsanwaltschaft  in  Deulachland  S.  262  Ü,),  von  dem  Untennchnnga- 
richter  sei  dieselbe  Einseitigkdt  und  Parteilichkeit  zu  befürchten,  wie 
Yon  dem  Staatsanwälte,  und  gibt  seiner  Verwunderung  darüber  Aua- 

1)  Uber  Punkt  III  der  Bosclilii.sse  des  3.  deutsiclien  Juristeuta^fes  betreffend 
Verbesseruug  der  gericlitlicben  VorunterBuchuug  ist  später  zu  sprechen. 

2)  &  Gntaditen  des  StaatMuiwaltB  Helnse  fai  Dresden,  Veriumdlinigen  des 
3.  deatacben  JnriBtentages.  1.  Bd.  S.  41  If. 


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Die  gttriditiiehe  Voniiitenadiiing'. 


78 


drnck,  da(\  man  den  „früher  so  viel  geschmähten  Inquirenten  jetzt 
auf  einnial  als  Cherub  der  Gereclitigkeit  glorifiziert,  der  mit  gleicher 
Unparteilichkeit  fast  in  einem  Atem  anklagen,  verteidigen  und  unbe- 
fangen richten  kann".  Dabei  vergibt  Keller  aber,  daß  dem  Unter- 
Buchungsrichter  im  neuen  deutschen  Strafverfahren  die  Aufgabe  des 
Allklagens  überhaupt  genommen  ist,  um  ihn  eben  unparteiisch  zu 
madien.  Jetzt  soll  der  Untersuchungsrichter  ganz  unparteiisch  die  Be- 
lastnngs-  und  EDtlaatuDgsinomente  erforschen,  und  ein  Gerichtskollegium 
besehließt  fiber  die  AnUage.  Überi&Dt  man  aber  dem  Staatsanwälte 
diese  Aufgabe  des  UntenuebungsricbterB,  so  ist^  was  liei  dem  alten 
InqnisitioDBproaeBse  so  sehr  getadelt  wurde  „die  KoDzentriernng  ent- 
gegengesetzter Fonktionen  in  dendben  Penon**  wieder  Yorbanden, 
wie  Glaser  scbon  ganz  ricbtig  bemerkt  in  seiner  Verteidigangsrede 
für  BeibebaUnng  der  gerichtlicben  Vorantersncbnng  (s.  Verbandl.  dea 
3.  dentscb.  Joristentages  8.  319). 

2.  Die  geiiobtlicbe  VorDntersacbnng  ist  aber  niebt  nur  Torbe- 
leitendes  Verfahren  für  die  HanptTerhandInng,  sondern  ancb  end- 
gültige Verhandlung,  nämlich  wenn  sie  mit  Einstellung  des  Veifabrens 
schließt  Aus  diesem  Grunde  ist  auch  eine  gründliche  Ausnutzung 
der  Beweismittel  in  diesem  Prozeßstadium  unbedingt  erforderlich. 

3.  Bei  verwickelten  Fällen  ist  die  gerichtliche  Untersuchung  über- 
haupt nicht  zu  entbehren.  Die  Hauptverhandlung  könnte  sich  oft 
tage-,  selbst  wochenlang  hinziehen  bei  umfangreichen  Prozessen.  Dies 
führt  aber  zu  keiner  Zeitersparnis,  im  Oegenteil  Verschleppung  der 
Prozesse  würde  die  Folge  sein.  Andererseits  würde  man  bei  solchen 
Fällen  durch  Beseitigung  der  gerichtlichen  Vonintersuehnng  auch 
nicht  viel  Zeit  sparen,  da  wiederholte  nötige  richterliche  Erhebungen 
sicherlich  den  Gang  des  Verfahrens  aufhalten.  Dafür,  daß  eine  ge- 
richtliche Voruntersuchung  nicht  gänzlich  zu  entbehren  ist,  spricht  auch 
der  Umstand,  daß  die  Staatsanwälte  in  der  Praxis  häufig  eine  gericht- 
liche Voruntersuchung  beantragt  haben  in  Ländern,  deren  Gesetzgebung 
eine  liauptverhandlung  ohne  gerichtliche  Voruntersuchung  billigt 

B.  Dogmatische  Darstellung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  in  dem 
Strafverfahren  der  deutschen  Staaten  (mit  Rücksichtnahme  auf  dieStraf- 
prozefsordnungen  der  einzelnen  Länder  und  etwaige  Reformvorschläge). 

§  10. 

StfUang  mdHetagabBe  desStwitM&waltM  In  der  feriebtlleheaTMnuitemicliuig. 

Die  Stellung  des  Staatsanwaltes  in  den  neuen  Gesetz- 
gebungen Deutschlands  ist  yerscbieden,  je  naebdem  die  Gesetz- 


74 


II.  Pounr 


^ebunfr  (Hannover,  Preuliin,  Braiinscliweifr,  Sachsen)  die  jrericlit- 
liche  U  nf  ersuchun^;  nur  auf  Antra:;  des  Staatsanwaltes 
beginnen  lälH  oder  das  Gesetz  den  Untersuchungsrichter  die 
Verfolgung  der  Verbrechen  von  Amts  wegen  ttberläiU  (so 
in  Baden,  WOrttembeig  und  Bayern).  In  den  LSodern,  die  diesem 
letzten  Prinnp  folgen,  hat  der  Staatsanwalt  während  der  geriehtlicben 
VomntersaehuDg  gar  keine  Befngnisse.  Erst  am  Sehlnsse  der  Vor- 
untersaebung  bd^ommt  er  die  Akten  und  hat  die  Anklage  zn  erheben, 
die  vom  Geriebt  dann  geprflft  wird  anf  ihre  ZnlSnigkeit  Diese 
Meinung,  daß  der  Staatsanwalt  in  der  gerichtlichen  Voruntersuchung 
nicbt  mitwirken  soll,  um  die  inquisitorische  Natur  derselben  zu  wahren, 
vertritt  auch  Oerau  (in  der  Zeitschrift  für  deutsches  Sliafreifobren 
N.F,  IS  H  S.  261  ff,). 

In  den  Ländern  nun,  wo  die  gerichtliche  Voruntersuchung  nur  auf 
Antrag  des  Staatsanwaltes  eintritt,  darf  der  Untersuchungsrichter  ohne 
^en  solchen  Antrag  nur  Handluno:en  vornehmen,  die  keine  Ver- 
sOg^rnng  erdulden  können  (s.  a.  S.  65).  Hat  der  Staatsanwalt  einen 
Antrag  auf  Eröffnung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  gestellt,  so 
muß  der  Untersuchnn^'srichter  diesem  Antrair  Folire  leisten;  in  Han- 
nover (§  77;  1 10)  kann  der  l'ntersueliunpsricliter  den  Antrag  ablehnen, 
und  es  entscheidet  dann  die  Ratskaninier.  Ferner  tritt  die  Fraire  auf, 
ob  der  Untersuchunfrsricbter  sicli  an  die  Anträ^^e  des  Staatsanwaltes 
festhalten  soll,  oder  ob  er  diesell»en  überschreiten  darf  durch  Aus- 
dehnung auf  andere  Straftaten  des  Reschuldigten  oder  auf 
Mitschuldige  ohne  Einwilligunj:  (Ks  Staatsanwaltes.  Die  Ausdeh- 
nung der  üntersuchnng  auf  andere  Straftaten  des  Besch uldijjten  ist 
dem  Untersuchunjrsriehter  all*::emein  nicht  gestattet,  vielmthr  iiat  ».r 
erst  diesbezügliche  Anträge  des  Staatsanwaltes  abzuwarten.  Hinsicht- 
lich der  Ausdehnung  auf  Mitschuldige  nehmen  die  Gesetzgebungen 
eine  verschiedene  Stellung  du.  Während  Sachsen  (Art  124)  und 
Hannover  (§  44)  dies  Secht  dem  Untersuchungsrichter  nicbt  zuor- 
kennen,  spricht  man  es  ihm  zu  in  Braunschweig  (§  34);  Tbfiringen 
(Art  75;  53)  dem  französischem  Rechte  folgend  (s.  H^Iie,  traitö 
V.a  140). 

Dem  Staatsanwälte  steht  femer  das  Becbt  zu,  während  der  gericht- 
lichen Voruntersuchung  Anträge  auf  Verhaftung,  Vemebmung  von 
Zeugen  usw.  zu  stellen,  die  der  Richter  erledigen  soll,  soweit  es  nach 
den  Gesetzen  zulässig  und  von  Wichtigkeit  ist^). 

In  Thüringen  (S  76)  und  Sachsen  (§  109)  ist  es  in  das  freie  Er- 

iTösterreich  77, 104, 110,  145,  148,  186;  Pronfen  »  5  (Bescheid  des  Ober- 
tribnnato  vom  17.  Oktober  1856);  Kurheaeen,  Ges.  v.  1851  }9$,  6es.v.  1648  $  17S. 


Die  gerichtlidie  Vonmtenndrang. 


76 


messen  den  T'ntersucliiinL'-sricbtr'rs  irestellt.  ob  er  d^ri  Anträgen  des 
Staatsanwaltes  Fol^c  leist  en  will.  Hannover  IHi)  thhI  l>raun- 
schweifr  (§  überlassen  dem  Untersuchunirsrichter  ebenfalls  einr 
selbstän(li«i:ere  Reurteilunii:  über  die  ZweckmäHiiiTkeit  der  Anträge. 
Leimt  (Irr  l^ntersiiebungsricliter  AnträjL'e  des  Staatsanwaltes  ab,  so 
stellt  dem  Staatsaiiw  alt  Resehwerde  an  das  Bezirksgericht  (resp.  Rats- 
kammer) frei;  diese  entscheidet  dann  über  den  Antrag  des  Staats- 
anwaltes'). 

Naber  zn  erörtern  igt  sodann  die  Frage,  ob  der  Staats- 
anwalt den  Untersuchnngshandlangen  der  gerichtlichen 
Vornntersuehnng  beiwohnen  darf.  Nach  einigen  Strafprozeß» 
Ordnungen  bat  der  Staateanwalt  das  Becbt,  allen  Untersaehungshand« 
Inngen  beizuwohnen,  also  auch  der  Vernehmung  des  Angeschuldigten*). 

Nach  andern  darf  er  nur  den  Tatbestandsbandlnngen  beiwohnen 
und  im  flbrigen  ist  seine  Gegenwart  ausgeschlossen^. 

Bei  den  übrigen  Untersuchungsbandlnngen  der  gerichtlichen  Vor^ 
Untersuchung  ist  gegen  die  Anwesenheit  des  Staatsanwaltes  nichto  ein- 
zuwenden: er  soll  im  Gegenteil  zu  solchen  Handlungen  eingeladen 

1)  Dies  iit  der  Fall  in  Sachaen  (Art  132.  891,  117,  97,  125),  Thüringen 
(Art  76,  77),  Bayern  (Oeselz  v.  1848  Alt  48),  Knrheflaen  (Geeets  v.  1848  §  155) 
nnd  BraimsdiweMr  (hier  liegt  die  endgültige  Entsdi^img  In  der  Hand  des  An- 

klagOHonatos) 

2)  Preul>eu  $  7,  Oldenburg  §  HO,  Bniunscliwcig  §  44,  Kurheuseu,  Gesetz  v. 
1848  §  152. 

S)  Sadisen  Art  188,  Baden  §45,  Altenbmg  Art  61,  Thüringen  Art  81, 

Hannover  St. P.O.  v.  <i.  N<.v.  isr.f)  91. 

Auch  in  Zoitsiiiril'teii  hat  man  ültL-r  ZulaHsunff  des  Staatsanwaltes  bei  den 
Vonmteräuctiuu^shaudhingcii.  vur  allem  bei  der  N'eruehmuug  des  Angeächuldigteu 
gestritten.  La  Belgique  judidaire  18S4,  No.  8,  ebenso  die  franzö^scfaen  Sebiift- 
atellor  versagen  dem  Staatsanwalt  das  Recht  der  Anwesenheit  bei  der  Verneh- 
mung des  Aniri'sclmldi^toii.  TMesor  :ill<:^onK'in  verbreiteten  Meinung,  die  aueh 
Mittermaier  (An-lüv  fiir  Kriinii'aliciht.  X.  F.  ]'^hh.  2tK")ff.)  vertritt,  tiitt 
Keyser  im  Archiv  tür  Kriminalreciu  iN.  F.  Ib5«i.  S.  lÜTff.  entgegen;  er  verlaugt 
fOr  den  Staatsanwalt  das  Beeht  t>ei  den  Veraelunnngen  des  Angeechnldlgten  zn- 
gej^en  /u  sein,  ohne  allerdin^  irgendwie  in  die  Fragestellung  eingreifen  zn 
dürfen  Er  meint,  vit-r  Aujren  «oiien  mehr  als  zwei.  Oft  könne  aueh  der  Unter- 
t*uchuugsriciiter  in  der  IIaiii»tverhandlunj,'',  wo  er  nicht  zujrefjen  ist,  von  dem 
Angeschuldigten  verdächtigt  werden.  Dem  Icünntc  der  Staatsanwalt,  weuu  er 
bd  den  Veinelunnngen  zugegen  gewesen  nibe ,  i^eidi  eneigisch  entgegentreten. 
Diese  Gründe  flberwiegen  aber  nicht  die  von  der  Gegenpartei  vorgebrachten, 
die  durch  Gegenwart  des  Staatsanwaltes  bei  der  Veniehmung  des  Angeschul- 
ditrteii  den  Zweck  der  X'einelninui'T  als  vereiteh  )»etracliten .  da  iln'er  Meinung 
naclt  der  Angei>ehuldigtc  uu  f^taatbonwalte  seiueu  Feind  erblickt  uud  deshalb  bei 
dessen  (Segenwart  mit  seinen  Antwwlen  nnd  einem  Iraimatigen  Bekenntniase 
zorückhalt»  wird. 


76 


II.  POLZW 


werden  (z.  B.  in  Hannover).  In  Thfiiingen  (Art  79)  und  Prenfien 
(Alt  1)  soll  der  Staatsanwalt  anch  Kenntnis  erhalten  von  aOen  Be- 
aeUttsaein  in  der  geriiditlichen  Yomntersnebnng.  Bei  Berichten  dee 
UntenuchungsrichterB  an  die  Batskammer  nnd  wiehtigen  Handhingen 
(Haftenflassang  usw.)  ist  der  Staatsanwalt  mit  seinen  AntrSgen  zu 
hören  >). 

Bei  den  BenUnngen  in  der  geriehtHchen  VomntMsachnng  darf 
der  Staatsanwalt  zug:e^n  sein.  Diese  Befugnis  erstreckt  sich  aber 
nicht  anf  die  Bescblußfassongen  (Thttringen  St-P.-O.  Art  45.  Ge- 
setz 1854  §15:  Kurbessen  Ges.  ISIS  §  15;  Oroßhessen  §  76).  In 
Sachsen  mnß  der  Staatsanwalt  bei  den  Beratungen  zngcgen  sein, 
widrigenfalls  dieselben  nichtig  sind  (Sachsen  28). 

Wenn  nun  auch  dem  Staatsanwalt  in  einigen  Ländern  die  Gegen- 
wart bei  allen  Untersuchungshandlungen^  insbesondere  beim  Verhör 
des  Angeschuldigten,  nicht  gestattet  ist,  so  kann  er  in  fast  allen  LÄndem 
doch  die  Akten  der  Voruntersuchung  einsehen  und  sich 
so  von  ihrem  Stande  überzeugen-).  Doch  darf  der  Gang  des 
Verfahrens  dadurch  nicht  aufgehalten  werden. 

Der  Staiitsanwalt  soll  ferner  den  Untersuchungsrichter 
durch  Mitteilungen  usw.  unterstützen.  Zu  diesem  Zwecke 
soll  er  seine  ihm  zu  Gebote  stehenden  Organe  (Polizei  usw.)  in  Be- 
wegung setzen'"*). 

Einige  Gesetzgebungen  haben  dem  Staatsanwälte  das  Kecht  ge- 
geben, in  dringenden  Fällen  bei  Gefahr  im  Verzuge  Untersucbungs- 
handlungen  Tonnnefamen,  sieh  dabei  an  das  fransSsisohe  Recht  an- 
schließend, das  dem  Staatsanwalt  bd  den  sogenannten  „dötits  fiagianla'^ 
dies  Becht  zur  Vornahme  Ton  Untexsnchnngshandlnngen  eimfinmte*), 
regelmäßig  aber  ist  sofortige  Überliefemng  des  Materials  an  den 
Bichter  Yorgesohrieben.  Die  Strafprozeßordnung  von  Brannaohweig 
(M  27,  28)  gestattet  dem  Staatsanwälte  nicht  nnr  Vornahme  von  ünter- 
snchnngshandlnngen,  sondern  yerieiht  den  Protokollen  des  Staats- 
anwaltes fiber  solche  Untennichnngshandhingen  sogar  öffentliohen 
Gkuben. 

Zum  Schlüsse  ist  hier  noch  die  wichtige  Frage  zu  erOrtecn, 
ob  der  Staatsanwalt  den  Antrag  auf  Einleitung  der  ge- 

1)  Tharingea  Art  TS,  Hannover  §  Iii,  112,  PmP.  Entr.  18&1  Axt. 256 
Baden  §  61.  Kurhosscn  §  ir»n. 

2)  PrciitH'ii  §  7.  liniunscliweip;  §  44,  Kiirlio»eii  Ce^^ctz  v.  lS4b  §  152, 
Thüringen  Ait,  45,  iSachscn  Art  2Ü,  Ulilenburg  §  ül,  Uauiiover  19. 

8)  Sachsen  ArL  26,  134,  Kuihetten,  Geaets  v.  1848 1 151,  Thüringen  Art  80, 
4)  Es  sind  dies  die  Gesetzgebongen  vun  Altenbnig  S§  ßO,  25,  Freuen  §  7. 
ThflringGD  Art  81,  Oesetz  v.  1854  f  18,  Hannover  i§  58, 54.  Saeheen  Art  76, 8S,  109. 


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IHe  gerlditUohe  Voranterrachiing. 


77 


richtlichen  Voruntersuch  unfj  nach  Eröffnung'  derselben 
zurücknehmen  kann.  Diese  Befugnis  ist  dem  Staatsanwälte  von 
den  Gesetzgel)unj;en  nicht  gejreben  ')•  Ist  der  Staatsanwalt  überzeugt, 
daß  das  \'erfahren  wegen  nachträglich  zu  seiner  Kenntnis  gelangter 
Gründe  eingestellt  werden  müsse,  so  kann  er  die  Einstellung  der  ge- 
richtlichen Voruntersuchung  und  überhaupt  des  Strafverfahrens  bean- 
tragen. Über  diesen  Antrag  entscheidet  aber  nicht  der  Untersuchungs- 
richter, sondm  grandsatzlich  das  Gericht^  Ans  dieser  Toreehrift 
ergibt  rieh  ein  gewiebtiger  Untencbied  zwiaeben  dem  staatsanwatt- 
lichen  EnnitttiiDgSTerbdiien  imd  der  geriehtliehen  VonuitersDobiuig. 
Über  jenee  ist  der  Staatsanwalt  vollkomnieo  Herr,  er  kann  jederaeit 
das  Verfabren  emsteUen,  wieder  anfaebmeD  usw.;  das  Yeifabren 
liegt  also  gaiu  aaßerbalb  des  Strafprozesses  selbst.  Hat  der  Staats- 
anwalt aber  seinen  Antrag  auf  Erdffhnng  der  gericbtlieben  Vomnter- 
saobnng  gesteUl,  nnd  sieh  das  Geriebt  erst  mit  der  Saebe  beftJk,  so 
bat  der  Staatsanwalt  kein  Becbt  mebr,  den  Antrag  rfiekgftngig  zu 
machen,  vielmebr  ist  das  Gericht  Herr  des  Verfahrens.  Also  kann 
nur  dieses  die  Anstellung  der  gerichtlichen  Voruntersnehnng  aus- 
sprechen, nnd  diese  Einstellung  des  Verfahrens  ist  gewissermaßen  ein 
Vrteil  (prozesBoaler  Charakter  der  gerichtlichen  Voruntenachnng). 

6  11. 

Stellnf  «ad  AnllpAeB  dos  l'ntcrsuohnniBrBtMAen  in  der  gcriebtlMMn 

Vonuiteniehii]^.  ■ 

Der  Untersncbnngsricbter  bat  die  Anfgabe,  den  Zweck  der  ge- 
riehtliehen Vornntersachnng  zn  erfüllen,  d.  b.  die  Existenz  nnd  Natur 
des  Verbrechens  und  die  Person  des  Täters,  sowie  die  zu  seiner  Über- 
ffibrung  dienenden  Beweismittel  zu  ermitteln  (Prenßen  §  14,  Hannover 
§  44).  Dazu  ist  nötig:  Beschaffung  des  für  Begründung  der  Anklage 
nötigen  Materials  (Tatbestand;  Beweise  der  Täterschaft,  Entschuldi- 
gnngsgründe  des  Angeschuldigten).  FtTuer  sind  alle  Kenntnisquellen, 
deren  Benutzung  für  die  Hauptverliandhmg  verloren  gehen  könnte, 
in  feierlicher  Heweisform  vorzunehmen  (Zeugen,  Augenschein),  l'ber 
sämtliche  Handlungen  der  gerichtlichen  Voruntersnclnuig  sind  Aktt-n 
zu  führen.  Dies  dient  dazu,  daH  die  Hauptverhandlung  <^\n^'  l'nter- 
brechung  zu  Ende  geführt  werden  kann  und  dal)  eine  Kontrolle  über 
die  \  oruntersuchung  möglich  ist   Im  einzelnen  gilt  folgendes:  der 

1)  Sachsen  §§  27,  116,  230,  Motive  S.  24S,  Bniuuachweig  §49,  Thfiringen 
Axt  95,  Altenbug  Art.  74,  Oldeobuig  Art  64. 

2)  ThOringeii  Art.  9S,  Prau^  1 47,  Haonover  {  77,  SadtBen  Art.  27. 


7a 


Uatersuchuügsricbter  hat  möglichbt  un{>arteii8ch  zu  handeln,  die  Ent- 
lastnngBiiioiiiente  ebenso  sorgfältig  zn  beaebton  wie  die  BelastongB- 
momente.  Im  Vergleich  snin  frfiheran  IaqiiisitionBpr(»e&  bat  der  üntei^ 
sucbiingBricbter  nieht  mehr  die  Zwangsmittel  gegen  den  Angeschul- 
digten, wie  VerdaeblBBtrafen,  LBgenetiafen  usw.  Auch  Enwingnng 
and  Eiachleichnng  Yon  GeBtSndmaaen  ist  dem  Untenncbungsriehter 
Terboten.  Auch  entreeken  sieb  seine  Kacbforschmigeii  niefat  so  weü^ 
daß  keine  beesece  AnfklSrung  der  Sache  an  erboffen  siebt,  wie  ee  im 
alten  Inquisitionsprozesge  der  Fall  war,  sondern  nur  bo  weit,  bis  eine 
Entscheidung  möglich  ist  darüber,  ob  die  Hauptverhandlnng  angestellt 
werden  kann  oder  nicht  <). 

Zum  Zwecke  der  Uerbeiaohaffnng  des  Materixils;  das  aur  Be- 
gründung der  Anklage  dienen  kann«  stehen  dem  Untecsachongsriehter 
alle  gesetzmäßigen  Mittel  zur  Verfügung. 

Die  Vernehmung  der  Zeu^^en  hat  in  der  gerichtlichen  Vorunter- 
suchung regelmäßig  ohne  Eid  zu  ^^^schehen  'j.  Beeidigung  der  Zeugen 
in  der  gerichtlichen  Voruntersuchun';  ist  zulässig,  wenn  der  Verlust 
eines  Zeugnisses  für  die  Hauptverhandlung  zu  befürchten  steht  (z.  B. 
wegen  Krankheit  eines  Zeugen,  Reise  ins  Aii.slanil  usw.).  Außerdem 
aber  auch,  wenn  der  Zeuge  nicht  mit  der  Sprache  herausrücken  will 
Nach  der  Thüringischen  btP.O.  (Art.  ISS)  kann  die  Beeidigung  der 
Zeugen  in  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  auch  auf  Antrag  des 
Staatsanwalts  oder  des  Augchchuldigten  erfolgen.  Auch  über  Kon- 
frontationen von  Zeugen  unter  sieh  oder  mit  dem  Angeschuldigten 
entscheidet  der  Untersuchuugsricbter.  Auf  Antrag  des  Angeschuldigten 
kann  eine  Konfrontation  stattfinden  in  Thüringen,  Art  187;  Hannover 
§  93 ;  Sachsen  Art  ^23.  Die  hmfende  Korrespondenz  des  Angeschul- 
digten mit  Beschlag  zu  belegen,  ist  dem  UnteiBacbungsrichter  gestattet, 
damit  nicht  durch  etwaige  Kollusionen  der  Zweck  der  gerichtHchen 
Vorontersnchnng  gehindert  oder  vereitelt  werde.  Außerdem  daif  der 
Untersttchnngsrichter  die  Beschlagnahme  yomehmen,  wenn  eine  Per- 
son eines  Verbrechens  derart  yerdSchtig  is^  daß  sie  verhaftet  werden 


1)  Eine  Ausnahme  von  dieser  Itegel  büden  Österreich,  St.P.0.  v.  18591, 
ThOriiigeii,Art.  a  n.  198  (8.d«rilber:Bertr«b,  ImGerichtnuJ,  1M8, 1.  Bd.,  &  104CL) 

—  im  (iesotz  vom  9.  Dezember  16M  §  2  aber  geändert  —  die  den  Zweck  der 
gericlitlii  Ikii  Y()runt(>i>uchung  erst  als  erfiUlt  betrachten,  wenii  keine  beaeere 
Aufklärung  der  Sache  zu  erwarten  ist. 

2)  Thüringeu  Gesetz  v.  Ibbi  §29,  Ilaauuver  $  92,  Österreioh  StP.O.  ISftS 
i       Preoi^en  M  ISU.  144,  Saehsen  Art  225. 

3)  Kussel  Gesetz  v.  f  Jtt2,  Bniiuiachweig  1 38,  Hannover  f  92,  Sadiaen 
Art  224  iMoÜve  &  2itöfi.;. 


Die  gerichtUehe  Vorantenachann;. 


79 


soll  oder  könnte  Auch  die  Eroffnunir  der  Briefe  ist  naeli  den 
meisten  Gesetzo:ehun^en  dem  UntersucbuDgshchter,  nicht  aber  auch 
dem  Staatsanwälte  gestattet. 

§  12. 

StdlvBf  des  AnfMdiiMisteB  Ib  4er  geriehtUehea  YemtMWMkuff. 

Der  Angeschuhlij^e  kommt  in  der  p^iclitlichen  Voruntersuchung' 
in  zweifacher  Hinsicht  in  Hetracht.  Zunächst  ist  er  eine  Kenntni8(|uelle, 
also  ein  Beweismittel,  für  den  Richter  wie  jeder  Zeuge,  sodann  aber 
ist  er  der  Angeschuldigte,  d.  h.  eine  Person,  die  im  \  erdachte 
steht,  ein  Verbrechen  begangen  zu  haben.  Im  früheren  deutschen 
Inquisitionsprozeme  ging  man  mit  all«r  HSite  gegen  den  Angeaehiil- 
digten  Tor.  Be«bte  .  hatte  er  ttberhaopt  nicht,  er  war  ganz  der  Will^ 
kfir  des  UntenncfanngsrichterB  fibeftassen,  der  mit  allen  möglichen 
Operationen  gegen  ihn  vorgehen  konnte.  Diese  MifietSnde  konnten 
die  Geaetzgehnngen  nm  die  Mitte  dee  nennzehnten  Jabihvnderts,  die 
für  die  gerichtliche  Vorontennchung  das  Inqnisitionsprinzip  beibe- 
hietten,  nicht  mit  Qbemehmen.  Die  vielfachen  Bestrebnngen  anf  diesem 
Gebiete  liefen  darauf  hinaus»  dem  Angeschuldigten  eine  dem  Anklage- 
pioxesse  mehr  enteprechende  Stellung  zu  geben,  die  ihm  auch  Rechte 
gegenftber  dem  Untersuchungsrichter  gewährt.  Allen  übrigen  Ge- 
setzgebungen ist  in  diesem  Punkte  die  8t.P.O.  für  Braunselnvei^^  voraus 
(Uöff*;  42ff."^).  Für  die  weitere  Entwicklung  dieser  Rechte  des 
Angeschuldif^ten  haben  sodann  die  Verhandlungen  des  :5. 
deutschen  Juristentages  eine  Grenze  markiert.  Darnach  soll  die 
gerichtliche  Voruntersuchung  verbessert  werden:  a)  dadurch,  daß  das 
Hinarbeiten  auf  ein  (ieständnis  des  Anfresohuldiirten  aiif;;ef;eben  wird; 

b)  dadurch,  dali  (sowohl  der  Staatsnnwaltscluift  als  iiueln  der  Vertei- 
digung eine  fortwährende  Einwirkung;  auf  ihren  (iang  erniüglicht  wird; 

c)  dadurch,  dal)  die  ( >ffenthclikeit,  wenifcstens  die  Parteienöffentlich- 
keit, auch  für  sie  als  die  Kegel  anerkannt  wird.  (Verhandlungen  des 
3.  deutschen  Juristentages  IStii^.  Bd.  II.  S.  73). 

Bevor  wir  zu  der  Besprechung  dieser  Punkte  übergehen,  wollen 


1)  Tliüi-ingün  Art  152,  Sachsen  Art.  309,  Hannorer  §  106,  Preutf.  Ent- 
wurf §  123. 

2)  Der  Angeschuldigte  kann  zu  jeder  Zeit  ^cine  Vcmehmung  verlanj^en, 
darf  sich  auch  während  der  Vonintcrsuchunf;  schon  eines  Verteidigers  bedienen, 
der  da»  licciit  der  Aktcncinsicht  hat  und  bei  allen  Uutersuchungabaudluugein» 
insbesondere  bei  der  Vernehmung  des  Angeschuldigten,  zugegen  sein  darf.  Audi 
kann  dm  verkaftete  AngeecfankUgte  ungehindert  mit  seinem  Verteidiger  ticfa  be- 
raten <riuie  Gegenwart  einer  Aa(aiditqMiw»i* 


80 


IL  POLZUf 


wir  noch  kurz  handeln  über  die  Verhaftung  des  Angeschuldigten. 
Der  schwerste  Eingriff,  den  man  in  die  Reehfasphtoe  eines  Hemwfaeii 
tun  kann,  ist  die  Bntzidiung  der  FVeiheii  Im  deotocbeii  Inqoisilioiis- 
proseeee  war  eine  Verhaftang  des  Angeschuldigten  und  endlose  Unter- 
snohnngshaft  an  der  Tagesordnung.  Nnr  eine  sölche  ennSgliehte  es 
ja  anch  dem  Biehter,  den  Angesehnldigten  mfirbe  zn  machen  und  sa 
einem  OestSndnisse  an  bringen.  Derartige  Mittel  sind  bei  dnem  ge- 
bildeten Knltnrrolk  nicht  mehr  erlaubt  Die  Begel  mnß  sein,  da0  die 
Verbaftnng  nnr  in  dringenden  FUlen  erfolgen  darf.  Diese  Bcget 
stellten  auch  die  deutschen  Grundrechte  auf  (Art  III  §  8):  „Die  Frei- 
heit der  Pensen  ist  unTcrletzlich  Jeder  Angeschuldigte  soll 

gegen  Stellung  einer  vom  Gerichte  zu  bestimmenden  Kaution  oder 
Bürgschaft  der  Haft  entlassen  werden,  sofern  nicht  dringende  An- 
zeigen eines  schweren  peinlichen  Verbrechens  gegen  densdbeo  vor- 
liegen." .  .  .  Die  württembergische  Regierung  erklärte  in  einem  Mini- 
sterialreskript  vom  14.  Januar  1849,  diese  Vorschrift  finde  auf  die 
Voruntersuchung  keine  Anwendung.  Ein  solches  Vorgehen  ist  nicht 
zu  billigen;  auch  spricht  der  Wortlaut  obiger  Vorschrift  schon  dagegen 
(s.  Mitterniaier  im  Archiv  für  Kriminalreclit  N.  F.  is  lUl:  «Angeschul- 
digtcr"  =  prövenu  ==  der  in  der  Voruntersuchung  Befindliche;  nach  Zu- 
lassung der  Anklage  heilH  der  Angeschuldijrte:  ..Angeklagter"  =  accus^. 

Ähnliche  Vorschriften  über  Verhaftung,  wie  die  deutschen  Grund- 
rechte sie  geben,  weisen  auch  die  Gei>etzgebungen  der  einzelnen  Staaten 
auf,  so  z.  H.  das  preubische  Gesetz  vom  2 1.  September  1848  und 
Gesetz  vom   12.  Februar  ISöO.    Nacli  diesen  Vorschriften  soll  eine 
Verhaftung  nur  bei  schweren  Verbrechen  erfolgen.    Im  übrigen  soll 
der  Angeschuldigte  aber  gegen  Sicherheitsleistung  aus  der  Haft  ent- 
lassen werden.  Die  Hdhe  derselben,  die  das  Gericht  bestimmt,  muß 
derart  sem,  daß  eine  Fluchtgefohr  ausgeechloseen  erscheiiit  Weiter 
geht  das  französische  Recht,  welches  die  Verhaftung  bei  allen  Ver- 
brechen fordert  Der  gerichtliche  Verhaftungsbefehl  mit  Eotsehei- 
dungsgründen  versehen,  ist  dem  Angeschuldigten  innerhalb  der  ersten 
24  Stunden  der  Haft  zuzustellen  (Preuß.  Geselz  vom  12.  Febr.  1850, 
%  1  IL).  Eine  Art  Haft,  die  im  Inquisitionsproseß  sehr  viel  zur  An- 
wenciung  kam,  war  die  Haft,  um  Kollusionen  zu  venneiden.  Die- 
jenigen Juristen,  die  den  Anklageprozeß  nach  englisdiem  Bfuster  nach 
Deutschland  übernehmen  wollen,  z.  B.  Brauer,  Im  Gerichtssaal  1849 
Abt  II  S.  321  ff.  §5)  sprechen  sich  gegen  die  KoUnsionshaft  aus. 
Ihre  Aufhebung  aber  ist  bekanntlich  nicht  erfolgt 

Vernehmung  des  Angeschuldigten:  Eine  Vernehmung  des 
Angeschuldigten  geschah  im  Inquisitionsprozeese  zu  dem  Zwecke^  ein 


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Die  gcricbtUdie  Vonuitenachniig. 


81 


Geständnis  zu  crlanfcen.  Der  Anpreschuldiffte  war  zu  Aussagen  ver- 
pflichtet; körperliche  Strafen  konnton  <re^^r'n  ihn  anirowondet  werden. 
Derarti<!:es  ist  dem  neuen  Straf verfaliren  pinzlich  fremd.  Die  Gcsetz- 
g:chunf?en  hahen  aber  dennoch  die  Vernehmun«;  des  Ang:e8chuldiirten 
in  der  gerichtliehen  Voruntersuclmnfr  entsprechend  dem  Inciuisitions- 
prinzip,  das  in  ihr  herrseht,  heihchniten:  der  Anfresehuldi^'^te  kann  die 
\  (iiu'hinung  verian^'on,  wenn  er  vt-rhaftet  ist.  In  Braunschweig  (§  42) 
kann  er  die  Vernt  liniiing  jederzeit  fordern.  In  Thüringen  (Ges.  1854 
§  23)  soll  die  ^  ernehmung,  wenn  mr»glieh,  hei  einer  geriehtlichen  Vor- 
untersuchung über  ein  Verbrechen  erfolgen.  Unbedingt  vorgeseh rieben 
ist  die  Vernehmung  in  der  gerichtlichen  Vonintersuchung  in  Hessen 
(Ges  1848  §§157;  172)  und  Hannover  (§§  108;  120).  Dmeli  dieae 
Vernehmung  soU  dem  Angeschuldigten  Gelegenheit  gegeben  werden, 
die  gegen  ihn  vorliegenden  Verdachtsgrttnde  zu  entkräften  und  Ver- 
teidigungsgrflnde  vorzubringen.  Erfolgt  ein  Gestftndnis  des  Ange- 
Bcbuldigten,  so  ist  dieses  anzunehmen.  Ein  Hinarbeiten  auf  ein  solches 
Geständnis  aber  durch  Suggestionen,  kap4i(tae  IVagen,  Versprechungen, 
Vorspiegelungen  usw.  wird  ffir  unzulissig  erklärt*)'  Femer  sind  die 
sogenannten  Ungehorsams-  und  LAgenstrafen  verboten.  Nur  UngebtthTi 
Drohungen  und  Schmähungen  darf  der  Untersuchungfirichter  diszipli- 
narisch ahnden  0>  Allgemeine  Ermahnungen  und  Vorhaltungen  an 
den  Angeschuldigten  und  spezielle  Vorhaltungen  Uber  Widerspruche 
mit  Aussagen  Dritter  erklären:  Bayern,  Art.  43  und  38  —  Thüringen, 
Art  127;  I2:i  —  Sachsen  Art  168;  171  für  zulässig.  So  ist  das  Hin- 
arbi'it<'n  auf  ein  (ieständnis  fn-iHch  nicht  ganz  beseitigt,  aber  goofen 
die  -Mittel,  die  hierzu  angewendet  wcnlrn  dürfen,  ist  im  Vergleich  mit 
denen  des  InquisilionsprozcNscs  durchaus  nichts  einzuwenden.  Bei 
seiner  ersten  Vernehmung  sollen  dem  Angeschuldigten  alle  gegen  ihn 
vurliegenden  Verdachtsgründe  mitgeteilt  werden;  ebenso  sollen  ihm  die 
Gründe  für  eine  etwaige  Untersuchungshaft  angegeben  werden 
(Hannover  $  S2  —  Thüringen,  Art.  103  —  Sat  lisen,  Art.  152).  Diese 
Vorschrift,  die  dem  englischen  Rechte  entnommen  ist,  wird  nicht  nur 
von  den  Gesetzgebungen  anerkannt,  sondern  auch  die  wissenschaft- 
lichen Darstellungen  des  Straf^erfahi'ens,  sowie  die  Keformvorscbläge 
Aber  Verbesserung  des  Stialver&hrens  sprechen  diese  Forderung  aus*). 


t)  Wfirtteniberg  St. P.O.  §  UO,  Baden  StP.O.  §  199,  Bayern  Art  42,  Hifl- 
ringen  Art  126,  Hannover! SS,  Österreich  S 1T7,  Preu^-Entw.  %  197,  Sachsen  Art  17! . 

2)  Kassel,  Gesetz  r.  1848  §  171,  Ili&ringen  Art  98,  Hannover  1 78,  PreoA. 

Entw.  §  21«. 

3)  Z.  B.  Jagcinann,  Gcrichtssaal.  1»49.  I.  122ff.,  Mittermaier,  Archiv 
für  Krim.-Becfat  N.  F.  1849. 

Aithlv  fir  Kriwfaihmthwyotogi»  XIIL  6 


82 


11.  PAumr 


Dagegen  hält  Ahegg.  (Arcliiv  für  Krim. -Kocht  N.  F.  1841  S.  206 ff.) 
die  sofortige  Mitteihinir  der  Ver(Uiclitsgrün(U'  für  verfehlt '). 

Die  Strjifitrozelionlnung  von  Braunschweig  43j  gelit  noch 
weiter;  sie  legt  dem  Untersuchungsrichter  die  Pflicht  anf,  dem  Ange- 
schnldigten  mitzuteilen,  daß  er  su  keiner  Antwort  verpflichtet  sei 

Zulassung  einer  Verteidigung  und  Akteneinsieht 
wfthrend  der  gerichtlichen  Voruntersuchung: 

Nach  Schlufi  der  gerichtlichen  Vomnteranchung  erst  kann  nach 
den  deutschen  Geeetigebungen  der  Angeschuldigte  sich  durch  Einsicht 
der  Akten  von  den  gegen  ihn  Torli^nden  Verdachtsgrflnden  ttber^ 
zeugen;  erst  jelit  kann  er  sich  zu  seiner  Verteidigung  voUstindig  vor- 
bereiten  und  sieh  cTent  einen  Verteidiger  nehmen.  <} 

In  LSndem,  in  denen  eine  doppelte  Prüfung  des  Materials  der 
gerichtlichen  Voruntersuchung  stattfindet,  ist  dem  Angeschuldigten, 
sobald  das  Vorweisungserkenntnis  Rechtskraft  gewonnen  hat,  ein  Ver* 
teidiger  gestattet,  dem  auch  die  Akteneinsieht  erlaubt  ist  (Kurliessen 
§  225  —  Altenhurg,  Art.  180).  Arnold  im  Archiv  für  Kriminalrecht 
N.  F.  1 856  S.  103  ff.  verlangt,  dal^  schon  nach  Erla^ung  des  Ver- 
weisungsurteils und  nicht  erst  mit  Rechtskraft  desselben  dem  Ver- 
teidiger diese  Reclite  gegeben  werden,  wenn  gegen  ein  solches  Er- 
kenntnis eine  Nichtigkeitsbeschwerde  zugelassen  wird,  was  in  Bayern, 
Art.  t>6  —  Altenburir,  Art.  190  -  Sachsen,  Art.  43  und  .32,  der  Fall  ist. 
In  Baden  (Ciesetz  vom  5.  Februar  1851)  ist  dem  AngeschiiMiiri.  n 
selbst  Akteneinsielit  gestattet,  wenn  nicht  besondere  Hinderungsgründe 
vorliegen.  Tliüringen  Art.  196;  19s  —  Weiniar-Schwarzburg  (Novelle 
von  1854  3<t  40;  43  ff.)  —  Nassau  i(n'!selz  vom  17.  Mai  1S49 
Art.  74  gestatten  die  Akteneinsicht  nach  geschlossener  Vorunter- 
suchung schon  vor  Erlassung  des  Verweisungserkenntnisses.  Einige 
von  den  deutschen  Strafprozeßordnungen  gestatten  schon  während 
der  gerichtlichen  VoruntersuchuDg  eine  Verteidigung  mit  Akten- 
einsicht Hier  ist  zu  nennen: 

1.  Braunschweig  (St-P.-O.v.  1849  §8)  0ie  Aktenemsicht  ist 

dem  Verteidiger  schon  während  der  gerichtlichen  Vomntersncfaung 


1)  Der  Onterendninftmlehter  wird  nseh  Aheggs  Meinung  vielflMb  sciiift 

Mittel  \  er])rnu(lu'ii  um!  ziii^eii,  wie  viel  er  bis  jetzt  von  der  Sache  weiß.  Da- 
durch winl  er  ahiT  oft  den  Aiif^e>cimldif^toii  im  Keiifjnoii  bestärken.  AI»o«r^ 
hält  es  für  das  liiciitif^^ie .  derarti^ji-  l'ra^en  nicht  ^'es«-t/li«  h  zu  ref^eln ,  soiidcru 
deui  Ermessen  des  L'nteriiucliuiigsrichicr»  je  nach  Lu^^'  de»  einzelnen  Falle»  zu 
fiberlA8sen. 

•2)  Preuüen,  Vcrord.  1949  $  16,  chenso  Bayern,  Gesetz  v.  1848,  Tharingen, 
äuP.O.Art  6,  li)b,01denbuif:,StP.O.  Ibö7  Art.  173, Hannover, St P.0, 1869, §60. 


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Die  gericfadidie  Vomntennchang. 


88 


gestattet,  sobald  der  Angeschuldigte  verhaftet  ist  oder  ein  Verhilr,  Haiis- 
ßuchung  und  dergl.  abgehalten  ist.  Audi  kann  sieli  der  Verteidiger 
ohne  Gegenwart  dritter  Personen  mit  dem  verhafteten  Angeschuldigten 
besprechen  (§  7).  Eine  Auslieferung  der  Akten  in  die  Wohnung  des 
Verteidigers  findet  nicht  statt.  Daß  auch  dieses  gewährt  werde 
wttoscbt  Tri  est  in  seiner  AbhandluDg:  ^Über  die  Verteidigung  in  der 
Voinntersaehnng  und  Bechtsmittel  gegen  Anklagebeschlüsse"  (Qolt- 
dammers  Axchiy  Bd.  IX  &  662  ff;  800  ff.). 

2.  Baden  (St.-P.-0. 1845  §  189)  bestimmt:  Der  in  PrftTentiThaft  be- 
findliche Angeschuldigte  kann  den  Besuch  yon  Personen,  die  mit  ihm 
in  GeflchSftsTerhlUtnissen  stehen  oder  mit  denen  er  sieh  zu  beraten 
wttnseht^  yerlangen.  Akleneinsieht  ist  dem  Verteidiger  und  Beschul- 
digten unter  Aufsicht  einer  Gerichtsperson  gestatteL 

3.  Anhalt  iGesetz  vom  10.  September  1853,  §  35)  gestattet  eben- 
falls Akteneinsicht  und  Verteidigung. 

4.  Sachsen-Altenburg  (St-P.O.  v.  27.  Februar  1854,  Art.  115)  ge- 
stattet eine  Verteidigung  während  der  Voruntersuchung.  Ist  eine  Ge- 
fährdung der  Untersuchung  zu  befürchten,  so  wohnt  den  Besprechungen 
zwischen  Verteidiger  und  Angeschuldigten  eine  Gerichtsperson  bei. 
Die  Akteneinsicht  ist  dem  Verteidiger  in)  Gerichtslokale  gestattet 

5.  Die  Straf prozeliordnung  von  Sachsen  (13.  Auir.  1855,  Art  41) 
gestattet  gleichfalls  die  Verteidigung  in  der  Voruntersuchiinir,  jedoch 
nur  in  beschränktem  Unifjmge.  Es  ninl»  nämlich  allen  Ht  spreeliungen 
zvvisehen  Verteidiger  und  Angeschuldigtem  eine  Gerichtsperson  bei- 
wuiinen.  Eine  Akteneinsicht  kann  der  Untersuchungsrichter  gestatten, 
wenn  dadurcli  keine  Gefährdung  des  Untersuch ungszweckes  zu  be- 
fürchten ist'). 

Öffentlichkeit  «resp.  Parteieaöffeutlichkeit)  der  ge- 
richtlichen Voruntersuchung. 

Im  Anschluß  an  das  englische  Recht,  wo  die  Voruntersuchung 
öffentlich  ist,  haben  sich  «Dch  in  Deutschland  yereinzelt  Stimmen 
gefunden,  die  eine  solche  Öffentlichkeit  der  gerichtlichen  Vorunter- 
suchung  befürworten,  z.  B.  Daicke  (Goltd.  Aroh.  XIV.  a  15  ff.)^). 


1)  Cb«r  diu  Frage  aelbet,  ob  eine  Verteidigung  und  Aktenwiddit  in  der 
gerichllkhai  Vonintenacbtinir  stattfinden  soll  oder  nicht,  ist  viel  geetritten.  FQr 

Zulassung  der  V«rteldigung  in  der  Vonintersuchung  spricht  sich  aus:  v,  Tippel  s- 
kirch  (üoltdammers  AiHiiv.  II.  S.  :n9ff.),  Dalcko  iGultd.  Aa-h.  XIV.  S.  ir)ff., 
gegen  die  Aktcueiuaicht  üägt  er  Bedenken)  und  btemann  (üoltd.  Arcb.  XVIU. 

3)  Er  wfinaebt  mindeetena  einen  öffentUohen  AbBcblu^  derVonmteiBiicfaung. 
Dadnrch  w&ide  dn  Angeedraldigter,  g^en  den  das  Yeifehren  eingeateUt  wird, 

6» 


84 


IL  POION 


Im  allgemeinen  legte  man  aber  in  dieser  Zeit  weniger  Gfr  wicht  anf 
diese  vollkommene  öffentlitlikeit  (s.  darüber  u.  S.  102  ff.)  als  auf  die 
Parteienöffentlicbkeit.  Eine  solche  kennt  von  deutseben  Gesetzgebungen 
nur  die  Strafprozeßordnung  von  Braunscbweig  (§7),  die  dem  Ver- 
tadiger  des  Angeschuldigten  gestattet,  bei  allen  Unteranchungs- 
^andliingen  nnd  aneh  bei  der  Veroehnning  des  Angeschuldigten  zugegen 
zu  Bein.  Diese  Vonehrift,  die  zunächst  wenig  Anklang  fand,  bat  im  Laiife 
der  Zeit  immer  mehr  Anhänger  gefunden  (s.  darüber  nnten  S.  104  ff.). 

§  18. 

Mint  der  fcifelitUebMi  Tdrantannchuig  ani  Bewhlwillunnir  äfeer  die 

EfefIhnBf  des  HanptTMflArna. 

Erachtet  der  T/ntersucbungsricbter  den  Zweck  der  VorunttT- 
suchung  für  erreicht,  so  scblieIH  er  dieselbe.  Was  nun  das  weitere 
Verfahren  l)etrifft,  so  lassen  sich  nach  den  deutschen  Gesetzgebungen 
dieser  Periode  zwei  Gruppen  bilden: 

1.  Es  ist  die  Einrichtung  einer  Batskammer  Tor> 
h  an  den.  Diese  bat  den  Gang  der  gerichtlichen  Vomniersnchung 
zu  kontrollieren,  ttber  wichtige  Handlungen  zu  beschliefien  und 
Differenzen  zwischen  Staatsanwalt  und  Untersuchungsrichter  zu 
schlichten.  Dieses  Verfahren,  das  in  Frankreich  herrschte  >j  galt  in 
Deutschland  in  Preufien  (Verordnung  v.  1849  %%  47,  76, 1%  Bayern 
(Gesetz  von  1848,  Art  47ff.),  Hannover  (St-P.-O.  %  120^  Baden  (Ge- 

-  setz  von  1851,  8f  30fl,  40,  77  ff.),  kurhessisches  Gesetz  $172ft, 
Oldenburg  (St-R-C,  Art  225  ff^  240  ff.),  Sachsen  (Art  22d  ff.).  Diese 
Batekammer,  die  aus  einem  kollegial iscb  besetzten  Gerichte  besteh^ 
wartet  nach  Schluß  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  die  Antrabe 
des  Staatsanwalts  ab  und  entscheidet  dann  über  das  Resultat  der 
gerichtlichen  Voruntersuchung.  Betrachtet  die  Ratskammer  den  Straf- 
fall nun  zur  weiteren  Verfolgung  geeigne,  so  gelangen  die  Akten  in 
die  Hände  der  Anklagekammer,  die  endgültig  über  die  Eröffnung 
des  Hauptverfahrens  oder  Einstellung  des  Verfahrens  entscheidet. 

2.  Es  ist  keine  Ratskammer  vorhanden.  Die  Akten 
gehen  von  dem  [Untersuchungsrichter  an  die  Staatsanwaltschaft  Diese 
stellt  ihre  Anträge  und  gibt  die  Akten,  wenn  es  sich  um  ein  Ver- 
brechen bandelt,  dann  weiter  an  die  Ankiagekamuicr,  welche  ihrer- 

Tollkommeoer  rehabilitiert  »ein  vor  der  Mitwelt,  da  ein  jeder  sich  von  dem  gegen 
denselben  vorlicK-enden  Vcrdaclit  und  peiner  l-ntschoIdlgUDg  einen  Begriff  über 
die  Unschuld  des  Augeaubuidigtcu  machen  kann. 

1)  Codedlnetroetkni  crimiBelle,  Art.  127—134,  abgeändert  durch  Oeeets  rom 
IT.JoU  18M. 


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Die  geriditUdie  Vornntenndiiuig. 


65 


seits  Beschluß  falU  über  Krüffnun^  des  IlaaptTerfahrens  oder  Ein- 
BteUmig  des  Verfahren».  Lici^t  ein  Verirehcn  vor,  so  ist  ein  Beschluß 
dnes  Gerichtskollegiums  nicht  erforderlich.  Ein  solches  Verfahren 
herrschte  in  Frankreich  seit  dem  Oesetz  vom  17.  Juli  1856*).  Ebenso 
ist  das  Verfahren  jrere^elt  in  liraunschweig  f§  45  ff.);  Altenburg 
lArt.  174  ff..  IS2  ffi;  Thüringen  (Art.  194  ff.,  200  ff.  s.  a.  die  Ab- 
änderunfrt  ii  durch  Gesetz  von  1S54,  4}  ff.i.  Damach  soll  die  An- 
klagekanin i  er  nur  bo.'^oliließen,  wenn  die  Staatsanwaltschaft  wegen 
Verbrechen  Anklage  erhebt  In  den  übrigen  Fällen  beschließt  das 
Gericht  unterer  Ordnung. 

l  her  die  Frage  nun.  welchem  dieser  beiden  Prinzipien  der  Vorzug 
zu  geben  ist,  hat  sich  ein  lebiiafter  Streit  erhoben,  als  in  Frankreich 
die  Katskammer  durch  Gesetz  vom  17.  Juli  1856  abgeschafft  wurde-). 

MittermaierundWalter(Gericbt88aall857l.S.Slff.,II.S.200ff.) 
und  für  Bdbebaltong  der  Batsluinimer  und  also  für  zweimafige 
PrOfong  der  Anklage  bei  Verbreeben*  Sie  sipd  der  Meinung,  daS 
Art  133  des  Code  d'instr.  orim.  bätte  geändert  werden  mfissen,  was 
aaeb  schon  Möbl  (Zeitsobrift  ffir  dentsebes  StrafTerfabren  N.F.  1844, 
S.  230  ff.)  bef&rwortet  bat  Von  Zeitersparnis  könne  keine  Bede  sein. 
Triest  (Holtzendorffs  Strafreobtszeitnng  1861,  Sp.  89  ff.)  ist  nicht 
fUr  direkte  Aufhebung  der  Kalskammer;  er  will  sie  bestehen  lassen, 
damit  sie  dem  Untersnchnngsrichter,  der  im  Zweifel  ist.  Bat  erteilen 
kann  usw.  Nur  hfilt  er  die  zweimalige  Prfifung  der  vor  das  Schwur- 
g^cbt  LM^iörigen  Sachen  für  vollkommen  verfehlt  und  ist  für  eine 
nur  einmalige  Prüfung  der  Anklage  durch  die  Anklagekammw. 
Diese  Ansiebt  von  Triest  bat  viel  für  sich.  Die  zweimalige  Prüfung 
Tersobliogt  nur  unnötigerweise  Zeit.  Die  Beschlüsse  der  Batskammer 
z.  B.  auf  Ergänzung  der  gerichtlichen  ^'orunte^suchung  usw.  kann 
die  Anklagekammer  ebenso  gut  abfassen  wie  die  fiatekaramer.  —  Wie 


1;  Der  rntorsn cliunpsrichter  ontscheidet  hier:  a»  daP  kein  rtrund  zur  Stiaf- 
vcrfolguug  vorbanden  ist;  b)  dui>  die  Sache  au  das  kumpoteute  Polizei-  oder 
Zuchtpolizcigerioht  sn  venreiera  «m;  e)  daf  bei  Verbreehen  die  Akten  durch  den 
Staatsanwalt  an  das  AppeUationsfferidit  gesandt  w»den.  I>ieMe  entBcbeidet  anch 
Ober  Diff^ienaen  zwischen  Staatsanwalt  und  rntersuc  lnin>isnchtcr. 

2»  Siehe  darüber:  Gericlitssaal  is:.-.  Ai)tl.  S.  sl  ff.  II  200 ff,  Holtzendorffs 
Strafrccbtszeitung.  tStil.  Sp.  89.  Den  Anlaß  zu  diesem  Gesetze  gab  Art.  133  des 
Code  dtnatr.  erin.  «nnr  eine  Stimme  genügte  ffir  den  BeecUal^  der  Batskammer, 
daß  der  Straffali  an  die  Anklagekammer  verwiesen  worde.  Nun  aber  batte  der 
Cntersuchungsrichter  Sitz  und  Stimme  in  der  Ratskammer;  also  konnte  er  allein 
schon  Verweisunjr  di-r  .Safhc  an  die  Ankia^^ckaninier  bewirken.  Paher  hat  das 
Gesetz  von  lS5ö  die  iiatäkammer  aufgehuben  und  dem  Lutersuchuugsrichter  ihre 
Befugnisse  fibertragen**. 


86 


IL  POLZIH 


wir  soelx'n  gcselii'n  haben,  entscheidet  über  die  Zulassung  der  An- 
klage nach  abjrelialtener  gerichtlicher  Voruntersucliung  immer  das 
Gericht.  Hei  (U  ni  stjuitsanwaltliclien  I>niittelungsverfaliren  kann  der 
Staatsanwalt  nach  8chluli  desselben  Hclbständig  darüber  entscheiden;  er 
kann  Anklage  erheben  oder  das  Verfahren  einstellen,  liei  der  gericht- 
licben  Voruntersuchung  ist  aber  immer  ein  Beschluß  des  Gerichts  nötig, 
dem  entsprechend  der  Staatsanwalt  eveat  seinen  Antrag  zu  ändern  bat. 

Inhalt  des  ßeschlnsses  Aber  die  gericbtliohe  Vor- 
antersuebang: 

a)  Kein  ErSfhrangBbeschlnfi  ergeht  1.  bei  mangelnder  Zustftn- 
digkeii  In  diesem  FRUeerUSien  Hannoyer  §  117;  PrenO.  Entr.  %  259 
das  bisherige  Verfabiea  fOr  nichtig.  Der  Stnatsanwalt  bat  dann  das 
Beeht^  eine  neue  gericbtliebe  Voronterenebnng  bei  dem  kompetenten 
Geriebt  zn  beantngen.  Verhaftong  und  Beschlagnahme  dllifeii  event. 
innerhalb  einer  festgesetzten  Frist  beibehalten  wefden,  damit  der  Staats- 
anwalt in  dieser  Zeit  die  nStigen  Vorkebrongen  zu  dem  neuen  Ver- 
fahren trefien  kann.  Dagegen  lassen  Bayern  (Art.  154);  Thüringen 
(Ges.  y.  1854,  %  34)  und  Österreich  (§§  50  £f.;  196)  die  stattgefandene 
Vomntersucbnng  als  gültig  bestehen. 

2.  Wenn  die  gerichtliche  Vornntersnchnng  yeryoll- 
fltändigt  werden  soll'). 

3.  Die  endgültige  Entscheidung  kann  für  einige  Zeit 
hinausgeschoben  werden.  Gründe  der  Art  sind:  Abwesenheit  oder 
Flucht  des  Angescliuldigten;  Rücksicht  auf  andere  Prozesse,  deren 
Auagang  für  die  Entscheidung  von  Wichtigkeit  sein  kann. 

b)  Ist  der  Fall  aber  zu  einer  BeschluBnahme  vollkommen  reif, 
so  lautet  der  Beschlui')  je  nach  Inhalt  des  Materials  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung:  1.  auf  Einstellung  des  Verfahrens;  dies  tritt 
besonders  ein,  wenn  vorauszusehen  ist,  daü  die  Anklage  kein  Ötraf- 
urteil  herbeiführen  wird  wegen  Mangels  von  Beweisen  für  Strafbar- 
keit der  Tat  (usw.  usw.)  oder  wegen  nicht  hinreichender  Verdachtsgründe 
nnd  einigen  andern  Gründen-).  Dem  Einstellangsbescbfaifi  smd  die 
für  Einstellung  des  Yerfobrens  maßgebend  gewesenen  Gründebeizufügen. 

2.  auf  Weiterfttbrung  des  Verfahrens  (sog.  ?er- 
weisnngsbeschlnß)  d.  h.  das  Gericht  bJUt  den  yorliegenden  Stoff 

1)  Danastadc  Art.  öO,  Nassau  Art.  82,  Preo^n  41,  77,  Braanachweig 
S  97  fr.,  ThOringen,  Gesets     1854  S  SS,  Hannoyer  §  114,  Kassel,  Oeselz  t.  1891 

$  S7.  Sachsen  Art.  237. 

2i  Darnistadt  Art.  77,  Nassau  Art.  79,  *^:{,  l'rculH'n  47,  7H.  Brann- 
schweij;  §  ys,  Hannover  §§  115,  124.  Kassel.  Cosetz  v.  1851  §37,  Uesetz  v.  lJ>4y 
§§  176,  ISb,  Buden,  Gesetz  v.  1851  §  79,  Thüriugeu,  Gesetz  v.  1854  $35,  Prenj. 
Entw.  §  262,  Sachsen  Art  285. 


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Die  gerichtlicfae  VonmtenadiiiDg. 


87 


zur  Rejrründiin^'  t'iuer  wirksamen  Ankln^n'  für  ausreichend  und  be- 
auftraget den  Staatsanwalt,  diesem  Hosi-Iilnl»  entsprechend  seine  Ankhi-re 
zu  stellen.  Der  \'erwei3un^;shescliiur>  kann  den  .Straffall  nun  weiter- 
freben  u)  an  ein  Strafgericht  unterer  Ordnung.  Da  für  derartige  Fälle 
eine  gerichtliche  Voruntersuchung  unzulässig  ist,  würde  das  Natür- 
liche sein,  daß  in  einem  solchen  Falle  der  Besch lul)  des  (Tcrichts 
auf  Einstellung  des  Verfahrens  lautet  und  der  Stiuitsan waltschalt 
das  weitere  tiberlassen  bleibt  (so  Österreich  §  199).  Die  meisten  Ge- 
setzgebungen dieser  Periode  haben  aber  diese  Konsequenz  nicht  ge- 
sogen und  yerlangen  einen  Verweisungsbeschlaß  ß)  an  ein  Stnf- 
gerieht  mittlerer  Oidnnng,  /)  an  ein  Schwurgericht  bei  Verbrechen. 
Neben  dieser  VerweiBang  an  ein  (s^cht  mnfi  der  Beechlnfi  enthalten: 
die  Tat  mit  ihren  erbeblichen  Beetandteilen,  StmferhöhungsgrQnden 
(Darmetadt  und  Naasan)  nnd  die  rechtliche  Gnindlage  der  Ankhige. 

Ober  die  rechtliche  Natur  des  Verweisnngsbeschlusses 
ist  viel  gestritten  worden.  Die  Bexeichnmig  in  den  einsebien  Gesetz- 
gebnBgen  („Beechlnfi,  Erkenntnis,  Urteil,  Entscheidnog^)  deoten  eben- 
faÜB  darauf  hin.  Als  Urteil  ist  der  Beschluß  nicht  anfznfiusen,  da 
er  nicht  definitiv  entscheidet  über  Schuld  oder  Unschuld,  sondern 
nur  über  Batsamkeit  des  weiteren  Hauptverfahrens  sich  ausspricht. 
In  gewissem  Sinne  hat  der  Beschluli  aber  doch  die  Bedeutung  eines 
Urteils,  nämlich  wenn  er  auf  Einstellung  des  Verfahrens  lautet.  Die 
gerichtliche  Voruntersuchung  gegen  eine  bestimmte  Person  wegen 
eines  bestimmten  Verbrechens  darf  nämlich,  wenn  der  Beschluß  auf 
Einstellung  des  Verfahrens  lautet,  nicht  wieder  aufgenommen  werden, 
es  sei  denn,  d&U  neue  erhebliche  Verdachtsgründe  bekannt  werden''^). 

III.  Teil. 

Die  gerichtliche  Vorontersochung  in  der  Strafprozess- 
orduong  für  das  Deutsche  Reich. 

A.  Dm  geltende  Recht 

§  14. 

bkfttt  and  dang  der  i«riditiielieB  Toruitenwdnuf  . 

I.  Der  zweite  und  dritte  Entwurf  der  Beichsstrafprozefiordnung 
ging  in  der  BeschrBnkung  der  gerichtlicben  Voruntersuchung  ziem- 

1)  So  Darmstjult  Art.  *^2,  Nassau  Art.  S4,  Braunsdiwcig  §  *.t^ ,  Haniiov<  r 
116.  124,  Baden,  Gesetz  v.  1851  §  80.  Kassel,  Gesetz  v.  1851  §  37,  Thiuiugen 

Oeeetz  v.  1654  1 84,  PrniO.  Entw.  §  263,  Sachsen  Art.  236. 

2)  Saduen  Art.  886,  Thüringen  Art.  334,  Baden,  Gesetz  v.  1S51  §  IIB 
Hannover  $  126,  Bnumscbweig  $  48,  NassM  Art  91  ff.,  Darautadt  Art  89  ff. 


88 


II.  POLZIX 


lieh  weit  Er  eiUürte  die  geriobUiobe  VonmleiBiieliang  für  notwendige 
in  leichsgerichUicben  Sacheni  für  nnnittaBig  in  Saehen,  die  tot  die 
Schöffengerichte  gehören.  In  den  Übrigen  FSUen  soll  das  ErmeeseD 
des  Staalsanwaltee  entscheiden  Über  die  Fcage^  oh  ^e  gerichtliche 
VornnterBachang  stattfinden  soll  oder  nicht  (3.  Entwurf  %  149).  Er- 
folgt in  diesen  letiteren  FSllen  aber  unmittelbar  Erhebung  der  An- 
klage durch  den  Staatsanwalt,  so  kann  das  Gericht  die  Ffihrnng  oner 
gerichtlichen  Vomntennehung  Terantassen,  wenn  es  die  Sache  dnreh 
das  aufiergerichtlicbe  Ermittelungsverfaliren  nicht  für  genügend  vor- 
bereitet erachtet  Die  Keiclisstraf Prozeßordnung  selbst  (§  176)  folgt 
der  bisherigen  gesetzgeberischen  Praxis  nnd  erklärt  die  gerichtliche 
VonintersQchung  für  notwendig  in  den  Sachen,  die  zur  Zuständigkeit 
des  RHiclis«:erichts  oder  der  Schwurgerichte  gehören  (§1761).  In 
den  Straf>acli(  n.  für  die  das  Landgericht  kompetent  ist,  find^  eine 
gerichtliche  Vuruntersudiiing  statt: 

r)  Auf  Antrag  dt»  Staatsanwaltes,  der  bisherigen  Gesetzgebung^ 
folgend. 

b)  Auf  Antrag  des  An,ü:tbeliTildifrten,  wenn  er  erhebliehe  Gründe 
geltend  macht,  die  eine  gericlitlielie  Voruntersuchung  zur  Vorbereitung 
seiner  Verteidigung  nötig  crsdieinen  lassen  (§  17G  II)  entsprechend 
dem  Vorschlag  dess  3.  deutschen  Juristentages.  Uber  einen  der- 
artigen Antrag  des  Angeschuldigten  entscheidet  das  Gericht  t§  199  III). 

c)  Auf  Anordnung  des  Gerichtes.  Dieses  kann  nämlich,  falls 
eine  gerichtliche  Yorontersuchung  nicht  abgehahien  ist,  sur  besseiea 
Aufklärung  der  Sache  die  Eröffnung  derselben  anordnen  bei  der  Be- 
schlußfassung über  die  Eröffnung  des  Hauptveifahrens  (§  200).  Diese 
Bestimmung  tritt  hier  zum  ersten  Male  auf;  sie  bezweckt  eine  Ver- 
hinderung Idchtfertiger  Anklageerhebung  durch  den  Staatsanwalt 

In  den  Strafsachen,  die  vor  das  Schöffengericht  gehören,  ist  die 
gerichtliche  yonmtersnchung  ebenso  wie  vor  1877  unzulässig.  Statt- 
finden kann  sie  bei  derartigen  Straelen,  wenn  sie  infolge  mee  Zu- 
sammenhanges mit  einer  anderen  Sache  höherer  Ordnung  yeri>unden 
werden  i^j  ITi;  vgl.  §5)*). 

Ii.  Die  Eröffnung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  erfolgt  auf 


1)  Gnoist  und  v.  Bar  wünschten  in  ihren  Benicrknnf2:cn  znm  Entwurf 
einer  Strafprozclionlnunj.'-  eine  ohli<ratorische  gericlitliclie  Wtnuitersuchunfr  in  allen 
Uaftsachen.  Dies»es  Veilangcu  war  uuch  nach  den  Vurecliriften  des  Entwurfes  I 
über  Verhaftang  bereditigt.  Dnrch  Ändenmg  dieser  Paragraphen  (99,  114,  115) 
Ober  Verhaftung  ist  die^ieni  Wunstehe  genügend  Rechnung  getragen  und  eine  ge- 
richtliche Voruntei-sucliun^'  in  lIaftBacbeiiflberflfi88ig(8.  a.  &  Mayer,  Bemakimgen 
zur  ätrafprozeßordnusg,  ä.  104). 


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Die  geriditHche  Voruntemidiiiiig.  89 

Antrag'  des  Staatsanwalts  und  {;ilt  als  Erliehunfr  (icr  öffent- 
liclien  K!a<re.  Dius  frrschah,  um  dem  Staatsanwalt,  dem  die  Initia- 
tive der  Slrafverfojf^un^  zusteht,  die  Einwirkung  auf  da^  Verfahren 
zu  entziehen,  wenn  er  einmal  die  Sache  dem  Gerichte  ührrwiesen 
hat.  Die  Motive  zur  Stratprozeliordnun^;  (S.  8S)  rechtferti^j;en  dies 
damit,  (lall,  wenn  einnud  das  Kichteramt  sich  mit  der  öffentliclien 
Kla^e  befaJit  habe,  es  ebenso  sehr  dem  Wesen  einer  Strafsache  als 
der  Würde  des  strafriehterfiohoi  Amtes  eotsiiieche,  den  Fortgang  der 
Saehe  Dioht  mehr  dem  eiiiseitigeii  ErmeMen  der  StaateanwaHsehaft 
zu  anterBtelleD,  daß  die  Klage  vidmehr  dnreh  richterliche  Eniaeheidung 
ibie  Erledigang  finden  mllBse.  —  Außerdem  hat  diese  Maßnahme 
einen  bedeutenden  praktischen  Wert  Bei  komplizierten  StiaffiUlen 
nämlich  wird  die  Frist  von  höchstens  vier  Wochen,  Aber  die  ein 
Haftbefehl  vor  Erhebung  der  öffentlichen  Klage  nicht  ausgedehnt 
werden  darf  (St-P.-O.  §  126),  oft  nicht  genügen.  Wenn  nun  der 
Antrag  auf  Eröffiiung  der  gmhtlichen  Voruntersuchung  nicht  der 
Erhebung  der  GffeDtlichen  Klage  gleichstünde,  so  wUrde  sich  als 
zwingende  Notwendigkeit  erprehen,  daß  bei  Ahlauf  der  Haftfrist 
der  Staatsanwalt  entweder  eine  nicht  genügend  vorbereitete  Anklage 
erhebt  oder  aber  einen,  wenn  auch  noch  so  schweren  Verbrecher 
wieder  in  Freiheit  setzen  mul).  —  Dieser  Antrag  der  Staatsanwaltschaft 
auf  Eröffnung  der  gerichtlichen  Voruntersuchunf!:  muß  den  Beschul- 
digten und  die  ihm  zur  T^ist  ^relegte  Tat  enthalten  i§  177\  Weitere 
Angaben  über  Verdacbts^rründe  usw.  enthält  dieser  Antra^^  nicht. 
Dem  Antruij:  sind  die  bisher  ireführten  Akten  beizule^^en.  Der  l'nter- 
suchun^srwlitt  r  linl  den  Antrag;  des  Staatsanwalts  auf  seine  Zulässij^- 
keit  zu  prüfen.  »Stflit  der  Eröffnunj^  der  ^^t  ru  litlichen  Vonuiter- 
suchuuf?  nichts  im  Wep',  so  eröffnet  der  Untt'rsuchun/;srichter  die 
Voruntersuchung'  durch  eine  diesbezüjLrliche  Vcrfü^^un^  (§  182).  — 
\'('n  dieser  Zeit  an  kann  der  Stmit.sanwalt  die  Khiijre  nicht  mehr 
zuriieknelimen  ^§  154).  Gegen  diese  Vorseliiift  des  §  ir)4  sind  viel- 
fach Einwendungen  erhoben.  Man  verlangt  vielfach  für  den  Staats- 
anwalt das  Recht,  die  Klage  zurücknehmen  zu  können  bis  zum  £r- 
öffoung8be8chluß(soS.  May  er ;  ähnlichstem  an  n,  im  GlericbtssaalXXV). 
Die  Österreichische  Strafprozeßordnung  von  1873  (§  t09)  geht  noch 
weiter  und  gestattet  die  Zurücknahme  der  Anklage  durch  deo  Staats- 
anwalt noch  in  der  Hauptverhandlung,  bis  zu  dw  Zeit,  wo  der 
Gerichtshof  sich  zur  FSUung  des  Erkenntnisses  zurückgezogen  hat 
Durch  eine  solche  Bestimmung  wird  das  Anklageprinzip  folgerichtig 
duiohgeführt  Die  Vorschrift  ist  daher  auch  vielfach  mit  Freuden 
begrüßt,  z.  B.  von  Bar  (Prinzipien  der  österreichischen  Si-P.'O.  von 


90 


IL  PoLzm 


1873  in  Orünhuts  Zeitschrift  1874,  8.  305). . .  Immerhin  dürfte  aber 
die  Vorschrift  der  deutschen  StrafprozeÜordnung,  nach  der  der  Staats- 
anwalt die  Klage  niebt  mehr  sniHekiiehiiien  kann,  sobald  sieh  das 
Gericht  mit  der  Saebe  befkßt  bat,  den  Voizag  Terdienen,  denn  es 
widerspricbt  dem  Wesen  der  gericbtlioben  Vomntersnebnng  als  ein» 
Handlung  des  Geriebts,  dafi  an  dem  Geriebt  femstehender  Beamter 
dieselbe  inhibieren  nnd  iUnsorisch  maobenkann  und  der  SelbsIXndigkeit 
nnd  ünabbftngigkeit  des  Geriohls  Schranken  setzen  durfte.  Ganz  ab- 
gesehen von  diesen  prinzipiellen  Gründen  würde  eine  derartige  Befognia 
den  Staatsanwalt  oft  zn  ToieOiger  Beantragung  einer  geriobtlieben  Vor- 
nntersnchnng  verleitmi,  da  ihm  jederzeit  die  Rilcknahme  des  Antragea 
gestattet  ist.  Hierdurch  würde  der  Untersuchungsrichter  nutzlos  belastet. 

Hält  der  Untersuchungsrichter  den  Antrag  des  Staatsanwaltes 
für  unzulässig,  so  hat  das  Gericht  über  die  Zulässigkeit  des  Antrages 
zn  entscheiden,  nicht  der  Untersoohungsrichtcr  selbst').  Abgelehnt 
werden  kann  der  Antrag  nur  wegen  Unzuständigkeit  des  Gerichts 
oder  wegen  Unzulässigkeit  der  Strafverfolgung  oder  der  Vorunter- 
suchung selbst  (§  178,  <j  t7();.  Außerdem  ist  der  Antrac:  abzulehnen, 
wenn  die  in  ihm  bezeichnete  Tat  unter  kein  Strafgesetz  fällt  (§  17S). 
Nach  §  178  II  kann  der  Beschuldigte  vor  der  Beschlußfassung  ge- 
hört werden.  Das  hängt  mit  dem  Rechte  des  Beschuldigten  zusammen, 
gegen  die  Verfügung,  durch  welche  auf  Antrag  der  Staatsanwaltschaft 
die  Voruntersuchung  eröffnet  worden  ist,  aus  den  ebengenannten 
Gründen  Einwand  zu  erheben,  über  den  ebenfalls  das  Gericht  ent- 
scheidet. Bei  reichsgerichtlieiien  Sachen  ist  für  diese  Beschwerden 
kom])etent  der  erste  Strafsenat  des  Reichsgerichts  (§  138,  G.-V.-G) 
Wird  dagegen  die  gerichtliche  Voruntersuchung  auf  Antrag  des  Ge- 
richtes eröffnet  (§  200),  und  ist  der  Angeschuldigte  hierbei  gehört, 
so  bat  er  kein  Mittel,  die  Vomntenpehnng  anznfeebtea.  Gegen  den 
Besehlnfi  des  Geriehtes  über  solebe  Bänwendungen  des  Angeschul- 
digten hat  letzterer  ein  Beebtsmittel  nnr  bei  dem  Einwand  der  Un- 
snstKadigkeit  (|  180,  vgl.  §  16).  Femer  haben  der  Staatsanwalt  und 
der  Besebnldigte  das  Beebt  der  sofortigen  Besohwerde  gegen  den 
Gerichtsbeschlnß,  wdcher  den  Antrag  auf  ErOffnnng  der  Vorunter- 
snohnng  gemftß  §  176  und  §  199  ablehnt 

1)  DastndcItOrtloff  (Goltd. Archiv.  XXX. S.JnMff..  ZcitM-lir.  f.  pos.  St  U.W. 
1SS2.  S.  497 ff  ),  der  überhaupt  dem  Unterauchungsi-ichter  möglichst  wcitgeheude 
Befugnisse  geben  will.  Der  UnterBttchungsricfater  aoU,  nach  Ortlof  f ,  alle  in  den 
Bereich  der  Vornntenocfanng  fallenden  VerfQgangen  and  Entaeheidnngeii  sdlMt 
troffen  nnd  aoBffihren.  Das  Gericht  soll  sidi  nur  mit  Beecfawerden  gegen  solche 
Beechlflaee  des  UnteiaochnagBricbten  zu  befassen  haben. 


IHe  geriditlidie  Voinntenadmii;. 


91 


III.  Führung  der  gericbtlicben  Vorantersachung  —  Übertragang 

an  einen  Amtsrichter. 

Die  Voruntersuchuno;  wird  in  der  Kefrel  von  dorn  ünteröiichungs- 
richter  des  Landfrericlits  eröffnet  und  geführt,  der  geiiiiiri  §  60  des 
G.  V.-G.  durch  die  Landesjustizverwaltunfj  bestellt  wird.  Ausnahms- 
weise kann  durch  Heschluß  des  I^ndfrerichts  auf  Antrag'  der  Staats- 
anwahschaft  die  Führung  der  Voruntersucliun^^  einem  Amtsricliter 
übertragen  werden  (§  183).  Was  diesen  Punkt  betrifft,  so  wünscht 
Seeger  (Gerieldssaal  Bd.  33,  S.  241 — 247 1,  daß  nicht  nur  die  Führung 
der  gerichtlichen  Voruntersuchung  durch  einen  Amtsrichter  erfolgen 
kann,  sondern  auch  die  Eröffnung  derselben,  eine  Meinung,  die  auch 
Thilo,  Keller,  Puchelt  und  Ortloff  (Ztschr.  f.ges.  St-R.-W.  1882, 
8.  497)  Tertreten.  —  Löwe  und  Doeho  w  dagegen  yerlangen  zar  Er* 
öffhimg  der  gerichtlicheil  Voranteraoehung  den  Beschlnfi  des  Unter- 
snchiiiigBrichterB.  Nach  ihnen  kann  der  Amtsrichter  die  geriohdiohe 
Vomntennchnng  nnr  fuhren,  nicht  aber  ancb  sie  erSffnao.  Dieser 
Meinung,  die  auch  dem  Wortlant  des  §  183  entspricht^  ist  wohl  eben 
dämm  der  Voring  sn  geben,  wenngleich  zn  bemerken  ist,  daß  prin- 
zipiell gegen  die  G^egenmeinnng  als  BeformTorschhig  nichts  ein- 
zuwenden wire.  Um  Vornahme  einzelner  Untersnchnngshandlnngen 
kann  der  Untersuchungsrichter  die  Amtsrichter  ersuchen;  diese  müssen 
einer  solchen  Aufforderung  des  T^ntersuchungsrichters  entsprechen,  es 
sei  denn,  daß  sie  mit  ihm  denselben  Amtssitz  haben.  In  diesem 
Falle  können  die  Amtsrichter  eine  diesbezügliche  Aufforderung  des 
Untersucbungsrichters  ablehnen  (§  183  II  und  III).  Bei  dem  Reichs- 
gericht, wo  kein  ständiger  Untersuchungsrichter  vorhanden  ist,  wird 
er  für  jeden  einzelnen  Fall  aus  der  Zahl  der  Mitglieder  durch  den 
Präsidenten  bestimmt  (4}  1^4  1).  Der  Präsident  kann  jedes  Mit- 
glied eines  andern  deut.schen  (Jcrichts  und  jeden  Amtsrichter  zum 
Untersuchungsrichter  resp.  zum  Vertreter  desselben  für  einrn  be- 
stinunten  Geschäftskreis  bestellen  ijj  IM  II)  Diese  Untersucliuiigs- 
riehter  und  ihre  Vertreter  haben  gleiehtalls  das  Recht,  um  Vornahme 
einzelner  Untersuchungshandlungen  die  Amtsrichter  zu  ersuchen 
(§  184  III). 

IV.  Art  der  Führung.  Der  Untersuchungsrichter  hat  die  ihm 
durch  den  Zweck  der  Untersuchung  gegebene  Aufgabe  nach  eigenem 
Ermessen  mit  den  ihm  überwiesenen  Nachforschungs-  nnd  Zwangs- 
mitteln zn  erfüllen.  So  steht  in  seinem  Ermessen  die  Vereidigung 
der  Zeugen  in  der  Vomntersnchnng  im  Falle  des  §  65  II,  sowie  die 
Konfrontation  von  Zeugen  (§58);  femer  hat  er  das  Recht,  Vntet- 
suchungshaft  anzuordnen  und  event.  wieder  aufzuheben,  letzteres  jedoob 


92 


iL  Pou» 


nur,  falls  der  Stajitsanwjilt  zustimmt :  andernfalls  entscheidet  das  Ge- 
richt über  die  Aufhebunj;  der  Untersuehun^shaft      124  Iii. 

The  ReihenfoliTf,  in  der  der  Untersuchunprsrieliter  die  einzelnen 
llandlunj^^'n  vornimmt,  ist  seinem  Ermessen  überlassen.  Zur  Ver- 
fügung: stehen  ihm  die  Behörden  und  Beamten  des  Polizei-  und 
Sicherheitsdienstes.  Sie  haben  Aufträge  des  Untersuchungsrichters 
um  Ausführung  einzelner  Maßregeln  oder  zur  Vornahme  von  Er- 
mittelungen auszuführen  (§  1S7).  Gewisse  Grenzen  für  seine  Tätig- 
keit Bind  dem  Untersnebium^ebter  gezogen. 

1.  Seine  Tätigkeit  ist  auf  die  Vonmtersiiebaiig  besehiinkt;  er 
darf  in  Sachen,  deren  Vorontennicbang  er  geführt  hat,  weder  Mit- 
glied des  erkennenden  Gerichtee  sein,  noch  bei  außerhalb  der  Han|it' 
Verhandlung  erfolgenden  Entich^dungen  der  Strafkammer  (s.  B.  Er 
OfbiungBbeechluß)  mitwirken  (§  23,  II). 

2.  Femer  ist  dem  UnterouehungBriobter  eine  Grenae  geaagen 
duieb  den  Antrag  der  StaataanwaltBchaft.  Ergibt  rieh  nimlioh 
im  Laufe  der  Voruntersuchung  Anlaß  zur  Ausdehnung  derselben  auf 
eine  Person  oder  Tat,  die  im  Antrage  dee  Staatsanwaltes  nicht  be- 
zeichnet ist,  so  bat  der  üntersucbungsricbter  nur  in  dringenden  f^len 
die  in  dieser  Besiehung  nGtigea  Untersuch ungshandlungen  von  Amta 
wegen  vorzunehmen;  im  übrigen  aber  muü  der  Untersuchungsriditer 
den  Staatsanwalt  hiervon  benachrichtigen  und  dessen  weitere  Ver> 
fOgung  abwarten  isj  is'.ti. 

3.  Eine  dritte  Grenze  ist  der  Tätigkeit  des  Untersuchungsrichters 
gezogen  durch  den  Zweck  der  Voriint<'rsuchnng  1S8).  Die  Vor- 
untersueliung  ist  nicht  weiter  ausziidiiinen  als  erforderlich  ist,  um 
eine  Entscheidung  darüber  zu  begründen,  ob  das  llauptverfahren  zu 
eröffnen  oder  der  Angeschuldigte  außer  Verfolgung  zu  setzen  sei.  — 
Auch  sind  Beweise,  deren  Verlust  für  die  Hauptverhandlung  zu  be- 
sorgen stellt,  rider  deren  Aufnahme  zur  Vorbereitung  der  Verteidigung 
des  Angeschuldigten  erforderlich  erscheint,  in  der  Voruntersuchung 
zu  erheben.  Schließlich  muß  der  Untersuchungsrichter  noch  einige 
Formvorschriften  beachten  (§§  1S5,  186).  Bei  der  Vernehmung  des 
Angeschuldigten,  der  Zeugen  und  Sachverständigen,  ebenso  bei  Ein- 
nahme des  Augenscheines  muß  der  Untersuchungsrichter  einen  Ge- 
lichtsschreiber  zuziehen.  In  dringenden  FSllen  kann  der  Untere 
suchungsrichter  eine  ihm  geeignet  eradieinende  Person  als  Gerichts- 
schreiber  zuziehen,  diese  Person  ist  dann  zu  vereidigen.  Ferner  ist 
über  alle  Untersucbungsbandlnngen  ein  Protokoll  au&unehmen. 

y.  Bei  der  Vornahme  von  Untersucbungsbandlnngen  besteht  ein 
wichtiger  Unterschied,  je  nachdem  die  Beweiserhebungen  nur  vor- 


Die  goriditlidie  Vorantmnacbiiiig. 


98 


bereitender  Natur  sind  oder  endirültiore.  die  in  der  Hauptverhandlunir 
nicht  aufjj:enoiiin)L'n  werden,  sondern  nur  aus  den  Protokollen  verle.sen 
werden.  Während  näniheh  der  Untersuchun<;:8richter  die  vorbereiten- 
den Untersuehungshandlun^'en  allein  resp.  unter  Ziizieliunjr  eines 
Gerichtsschreihers  (§  IS.'))  vorninunt,  ist  hei  den  Beweiserhebungen, 
die  in  der  Hauptx  erhandlunfc  nicht  wiederholt  werden  ')  der  Staats- 
anwaltschaft, dem  An<reschuldifrten  und  seinem  \'erteidiger  die  An- 
wesenheit bei  der  Verhandlung  zu  ^jestatten      191  I — III). 

VI.  Die  Rechte  des  Angeschuldigten  in  derVoruuter- 
saehnng  sind: 

a)  Einwendungen:  Nach  §179  kann  d«  Angenhnldigte  gegen 
die  Verfügung,  durch  welehe  die  VornnteiBuebnng  auf  Antng  des 
StaateanwaltB  eröffoet  wird,  ans  den  im  §  178  I  beseichneten  QrOnden 
Einwand  erheben;  dies  Becht  gebt  fflr  ihn  Terloren,  falls  die  Vor- 
nntenncbnng  auf  Geriohlsbeschlnß  eröffnet  und  der  ilngesohuldigle 
vorher  gehört  ist  Über  diesen  Einwand  entscheidet  das  Gericht 

b)  Rechtsmittel:  Gegen  den  Beschluß  des  Gerichts,  der  den 
Antng  des  Angeschuldigten  auf  Eröffnung  der  gerichtlichen  Vor- 
untersuchung aUehnli  findet  die  sofortige  Beschwerde  statt 

c)  Nach  §  193  kann  bei  Einnahme  von  Augenscheinen  unter 
Zuziehung  von  SaohverstSndigen  der  Ang:eschuldig:te  die  von  ihm  für 
die  Hauptverhandlung  vorgeschlagenen  Sachverständigen  laden  lassoi 
resp.  selbst  laden;  sie  dürfen  an  den  erforderlichen  Untersuchungen 
sich  beteiligen,  sofern  sie  die  gericbtsseitig  bestellten  Sachverständigen 
in  ihrer  Tätigkeit  nicht  hindern. 

d)  Von  großer  Bedeutung  für  den  Angeschuldigten  ist  auch  das 
Recht  der  Akteneinsicht  (St.-P.-O.  $  147),  welches  er  durch  seinen 
Verteidiger  ausüben  kann,  soweit  hierdurch  keine  Gefährdung  des 
üntersuchungszwecks  zu  befürchten  ist  (vgl.  n.  §  17  I  am  Ende). 

e)  Sehr  wichtig  ist  die  verschiedene  Stellung  des  Angeschuldigten 
in  der  gerichtlichen  V'oruntersuchung,  je  nachdem  er  sich  auf  freiem 
Fuße  befindet  oder  in  Untersuchungshaft  ist.  Ist  über  den  An- 
geschuldigten die  Untersuchungshaft  nicht  verhängt,  so  kanu  er  mit 
seinein  Verteidiger  und  mit  der  Öffentlichkeit  unbeschränkt  ver- 
kehren, sowie  allen  endgültigen  Beweiserhebungen  der  Yorunter- 
Buchung  beiwohnen.  Ist  er  dagegen  verhallet,  so  treffen  ihn  große 
BesohiSnkungen.  Zunichst  kann  der  Untersuchungsrichter,  so  lange 
das  HanptverCabren  .noch  nicht  eröffnet  ist,  schriftliche^  an  den  An^ 


1)  So  Einnahme  von  Augenscheiiien ,  Vemefamung  von  Zeugen,  die  in  der 
Haoptveriumdlung  am  Endieinen  veiliindert  Bind  mw. 


94 


U.  PoLzni 


jüreschuldi^t'n  p  richt»  tc  Mittt  ilun^en  zurüekwt'isen ,  wenn  iliiii  nicht 
vorherige  Einsieht  gestattet  wird.  Sodann  kann  mündlichen  Unter- 
redungen des  Angeschukiigten  mit  seinem  Verteidiger  eine  Gerichts- 
persoD  zur  Aufsiebt  beigegehen  werden  (§  148  11  u.  III.)  Schheß- 
fieh  kana  der  Angescbuldigte  bei  endgültigen  Beweberbebungen  in  der 
Vorontenachiing  seine  Anwesenheit  nur  verlangen,  wenn  die  Hand- 
lungen an  dem  Orte  yorgenommen  werden,  an  dem  er  sieh  in  Haft 
befmdet  (§  191  IV)i). 

VII.  Schluß  der  gerichtlichen  Voruntersuchung:  Der 
Schluß  der  gerichtlichen  Voruntecsnchung  ist  dem  Angeschuldigten 
mitsnteiien  (f  195  III);  femer  hat  vom  Schlüsse  der  gerichtlichen 
Vornntarsnchung  ab  der  Verteidiger  das  unbeschrSnkte  Becht  der 
Akteoeinsicht  (|  147);  schliefMich  geht  der  Angeschuldigte  des  Beohtes, 
den  Einwand  der  ünsuständigkeit  des  Gerichtes  zu  erheben,  Teriustigy 
wenn  er  ihn  nicht  vor  Schiaß  der  gerichtlichen  Voruntersuohnng  er» 
hoben  hat  (§  16).  Dies  zeigt  schon  hinlänglich  die  Bedeutung  des 
Schlusses  der  gerichtlichen  Vonmtersuchung.  Deshalb  ist  es  von  Wert^ 
den  Schluß  der  gerichtlichen  Voruntersuebung  genau  zu  bestimmen. 
Es  sind  über  den  Schloß  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  drei 
Meinungen  aufgestellt: 

1.  Mit  der  t'bersendung  der  Akten  durch  den  Untersuchungs- 
richter an  den  Staatsanwalt,  gemäß  §  195  I,  ist  die  gerichtliche  Vor- 
untersuchung geschlossen.  Die  Richtigkeit  dieser  Meinung  ergibt  sich 
aus  St.-P.-O.  §  195:  Der  Angeseliuldigte  ist  von  dem  Schlüsse  der 
Voruntersuchung  in  Kenntnis  zu  setzen  und  zwar  naturgemäß  durch 
den  Untersuchungsrichter.  Dies  wird  der  Untersuchungsricliter  tun 
wenn  er  nach  §  195  I  den  Zweck  der  Voruntersuchung  für  erreicht 
hält  (so  Heneke- Beling,  Löwe,  Ilosenfeld). 

2.  Eine  zweite  Meinung  nimmt  den  Schluß  der  Voruntersuchung 
an,  wenn  der  Staatsanwalt  die  Akten  mit  seinen  Anträgen  an  dajs 
Gericht  sendet,  wodurch  er  zu  verstehen  gibt,  daß  er  von  einer  Er- 
gänzung der  Voruntersuebung  gemäß  $  195  St-P.-O.  absieht  —  (so 
Glaser,  Ullniann,  y.  Kries;  ähnlich  John,  nach  dem  der  Staats- 


1)  Diese  BenachtuiUgimg  des  veriiaftcteu  Augesch uKtigtou  hat  mau  vielfach 
mh  Recht  gerügt,  iiubeBondere  die  Beedirlnkniigen  des  §  148  II  n  III.  DieM 
Vonchriften  völlig  zu  beseitigen,  ddrftc  aber  nicht  angebracht  erscheinen,  da 

dann  der  Zweck  der  Uutcrsu(  lmii«r  (Uuch  Kollii^iviTien  sehr  leicht  gefährdet  werden 
konnte.  Wo  eine  »olclic  (Jifahr  nicht  zu  licfiUchtcii  ist  ,  wird  es  Sache  ein«»s 
verständigen  üntersiichungönchter»  sein,  »u  lauge  er  überzeugt  sein  kann,  einen 
reclrtachaffenen  Verteidiger  vor  dch  za  haben,  diesem  möglichst  ungehinderten 
Verkehr  mit  dem  Angeadmldigtoi  za  gestatten. 


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Die  gOTichtlidie  Vorantenadmng. 


06 


anwalt  und  nicht  der  Untersuchungsrichter  die  Voruntersuchung!:  zu 
schlicPitn  hat  .  —  Hierdurch  will  man  eine  Wiederöffnunjr  der  Vorunter- 
suchunfr  pniiilt  §  195  II  vermeiden,  die  hei  der  suh.  1  vertretenen 
Meinung;  allerdinp:s  niög:lich  ist.  Die  Anhänjrer  dieser  zweiten  Meinung 
erreichen  ihren  Zweck  aber  doch  nicht.  Denn  auch  bei  ilirer  Ansicht 
vom  Scldusse  der  Voruntersuchung  ist  die  Möghchkeit  einer  Wiedereröff- 
nung derselben  nicht  beseitigt.  Eine  solche  ist  nämlich  gemäl^  §  200 
St-P.-O.  noch  möglich  durch  Anordnung  des  Gerichts  hei  der  Ent- 
scheidung über  (lif  Eröffnung  des  Haupt  Verfahrens.  Also  führt  diese 
Meinung,  die  einem  Mangel  abhelfen  will,  der  ihr  selbst  doch  wieder 
in  gleichem  Maße  anhaftet,  zu  unbefriedigenden  Resultaten. 

3.  Will  man  eine  Wiedereröffnung  der  Voruntersuchung  ver- 
meiden, 80  kann  man  dies  nur  dadurch,  daß  man  den  Schloß  der 
VonintenachuDg  eist  annimmt,  wenn  der  ErSffnnngsbeBohluß  Aber 
das  Hanptverfahren  ergangen  ist,  eine  Meinung,  die  ein  weimar.  Min.- 
Reskr.  Tom  2(i.  Dez.  1882  vertritt,  n.  a.  Birkmeyer. 

Gegen  diese  Meinung  spricht  aber  entschieden  die  JSinteilmig  der 
Stra4>n>zeßordnnng;  es  dfirfte  anch  sonderbar  erscheinen,  die  Vor- 
nntenncbnng  ttber  den  ihr  im  Qesets  angewiesenen  Babmen  ans- 
dehnen  zu  wollen  in  einen  neuen  Abschnitt  des  Verfahrens  hinein, 
der  sowohl  vom  Verfahren  mit  vorgingiger,  gerichtlicher  Vorunter- 
suchung, als  auch  ohne  solche  bandelt  und  der  den  Untersuchungs- 
nchter  mit  keinem  Worte  erwähnt  Somit  wäre  wohl  der  ersten 
Meinung  der  Vorzug  zu  geben,  und  diese  Ansicht  ist  auch  augen- 
blicklich Torherrschend. 

B.  Kritiscber  Teil. 

§  15. 

(!)t«lluu(^  der  gerichtlichen  Vorunterüaehuiigr  ge^uUber  deiu  8taat8anwaltücheii 

ESrniltt^lmifBTierfidireii. 

Hat  die  gerichtliche  Voruntersuchung  gegenüber 
dem  staatsanwaltlichen  Ermittelungs verfahren  eine  Exi- 
stenz!) c  icc  Ii  t  i  gu  njir  und  inwit'fernV  Das  ist  die  hier  zu  erörternde 
Frage.  Der  Zweck  biulir  Verfahren  ist  nämlich  derselbe.  Sowohl 
die  gerichtliche  Wnuntersuchung  als  auch  das  sta^itsanwaltliche  Er- 
mittelungsverfahren haben  den  Zweck,  dir  I [au|)tverhanfllung  vor- 
zubereiten und  eine  Entscheidung  darüber  zu  begründen,  ob  das 
Ilauptverfahrcn  /n  eri.ffm-n  ist  (St.-P.-O.  §  1S8  vgl.  168).  Von  vielen 
Seiten  ist  daher  die  Frage  aufgeworfen,  oh  nicht  eins  dieser  beiden 
Verfahren  überflQssig  sei,  und  zahlreiche  Juristen  haben  sieb  für 


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96 


II.  l'ounr 


Beseitigung  der  gerichtlichen  YomntenncbnDg  «nsgesprocheii  Die 
Gründe  hierfür  waren:  die  gericbtliehe  Voruntersuohnngbeein- 
trftehtige  die  Hanpt7erhandlung  in  ihrer  eoteeheidenden  Be- 
dentang,  insbeeondeie  die  Unmittelbarkeit  der  Beweieaufiiahnie  in 
denelben.  Dieser  Emwand  ist  im  nftobaten  Paragrapbeii  dieeer  Dar^ 
ateUnng  za  erOrtera.  Ferner  sprieht  man  der  geriobtlieben 
Vornnteranehnng  ihre  Exietenaberechtignng  ab,  weil  ein 
„Biobter'^  mit  ibrer  Fübrnng  betrant  ist  Die  Angabe  eines 
Biehtera  bestehe  eben  nnr  im  Richten,  niebt  im  Srmittelny  welches 
doob  die  Hanpttitigkeit  des  Untersuchnngsriehters  bilde*).  Diese  theo- 
retisehe  Behauptung,  die  von  v.  Kries,  Hugo  Meyer,  Zuckern,  a. 
aufgestellt  wird,  ist  nicht  stichhaltig.  Denn  das  Ermitteln  an  sich  ist 
keine  dem  Richter  femliegende  Aufgabe.  Auch  in  d^r  Hauptver- 
handlung bildet  es  ja  einen  henronagcnden  Bestandteil  Heiner  Tätig- 
keit^).  Es  kann  sich  also  nur  daniin  handeln,  ob  praktische  Gründe 
die  Ermittelungstätigkeit  des  Untersuchungsrichters  neben  dem  staats- 
anwaltliehen Ermittelungsverfahren  als  entbehrlich  oder  gar  als  schäd- 
lich erscheinen  lassen.  In  dieser  Hinsicht  hat  namentlich  Hugo 
Meyer  (Mitwirkung  der  Parteien  im  Strafprozeß,  Erlariircn  1S73) 
folgendes  ausgeführt:  Die  gerichtlicbe  Voruntersuchung  werde  in 
vielen  Fällen  nur  eine  Wiederholun des  staatsanwnltliclien  Er- 
mittel ungsverfabrens  sein;  gebe  der  UntiTsucliungsriebter  aber  über 
eine  solche  Wiederholung  des  staatsanwaltlichen  EriDitthingsverfabrens 
in  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  liinaus,  so  leide  die  Einheit 
des  üntersucbungsplanes  darunter,  es  werde  auch  die  Hauptverhand- 
lung leicht  zu  einer  Wiederholung  der  gerichtlichen  Vonintersuchung 
werden.   Die  Stellung  des  Staatsanwaltes  (Antragstellung  —  Antrag 

1)  S.  ().  §  !)  und  femer:  Hugo  Meyer,  Mitwirkung  der  Parteien  im  Straf» 
prozeC,  Eiiiin^eu  1873;  Wahlberg,  Kritik  dos  Entwurfs  einer  StP.O.  für  das 
DeutBcho  Kcich,  S.  62ff.;  Ulimann,  Bemerkungen  zum  Entw.  einer  St. P.O.  für 
das  Dentsebe  Reich  in  HoHzendorffB  Straf rechtszeitung,  1&73;  v.  Rries,  Zelt- 
•dur.  f.  gea.  StRW.  DL,  1889,  &  1—105,  insbeaondere  8. 79 IT.;  Zneker,  Gerichta- 
aaal,  47.  Bd.  8.436-  462;  derselbe  auf  der  IX.  Jahrosversammiung  derdeutschea 
Lundeegnippe  der  Internat,  krini.  Vereiniofunj?  (Bremen),  v^rl.  Mitteilungen  der 
kulturpolitischen  Gesellschaft:  und  iieucrdinpi  auf  <lem  KougreU  in  Dresden 
(&.  Juni  1903),  insbesondere  Zucker  und  Mittermaier. 

2)  8ow«it  die  TKligkiit  des  UntenaobmigBriehters  aber  nicht  im  Bnnittdn 
besteht,  soll  die  gerichtliche  Vonintenndinng  die  Hauptverhandlong  beeIntriMi- 
tigen.   SchluD  daraus:  „Hinweg  mit  der  gerichtlichen  Voruntersuchung". 

.3)  Ebenso  H.  GroÜ,  ^Zur  Frage  der  Vonintei-suchung''  in  diosciu  Aiehiv 
Bd.  XIIL  S.  191  ff.  Mit  vollem  KecJit  sagt  GroU:  „Richter  ist  der,  der  die 
Sache  sun  Rechten  bringt  und  wendet**.  Nicht  also  lediglich  hn  ,RiohteB'*  (,£atr 
•ehetden")  besteht  die  TItigkeit  des  Richters. 


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Die  gerichtliche  Voranteraachung.  97 

auf  ErfcänzuDf::  usw.)  zum  UntersuchuDgsrichter  in  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung  störe  die  Einheit  des  Untersuohungsplanes.  Nicht 
eine  Beschleunigung  des  Verfahrens  trete  ein  bei  Beibehaltung  der 
genohtUohenVonmienaehnng,  sondern  dnegewal  tige  Verzögerung, 
b)  im  Interesse  der  Verteidigung.  Wenn  bei  der  Vernehmung  deB 
Angeschuldigten  aneh  der  Zwang  zu  «nem  GeetSndnis  ansgeflchloBsen 
ist  und  nach  §  343  des  Beiebastiafgesetzbuchee  schwer  beBttaft  wird, 
so  ist  im  ftbrigen  doch  in  der  gerichtlichen  VomnteiBuchung  noch 
der  alte  deutsche  InquisitionsproneB  mit  seinen  Fehlem  und  Schwächen 
Torhanden.  Meyer  hält  die  gerichtliche  VomnteiBUchung  somit  für 
eine  Gefährdung  des  Angeschuldigten,  trotz  der  watgehenden 
Befugnisse,  die  der  erste  Entwurf  der  Strafprozeßordnung  dem  An- 
geschuldigten hot.  Auch  Wah  i  her^'  (Kritik  des  Entwurfs  einer  Straf- 
prozeßordnung für  das  Deutsche  Reich  S.  62)  hätte  lieher  die  gericht- 
liche Voruntersuchung  beseitigt  gesehen.  Ebenso  ist  Uli  mann  (Be- 
merkungen zum  Entwarf  einer  Strafprozeßordnung;  auch  in  Holtzen- 
dorffs  Stralrechtszeitung  1873)  für  Fortfall  der  gerichtlichen  Vor- 
untersuchung. Alle  diese  berufen  sich  auf  Gründe,  die  früher  schon 
Stemann  und  Keller  aufc:estellt  haben  (s.  o.  S.  67  ff.).  Wenn  die 
Gegner  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  glaubten,  sie  könnten  die 
genehtliche  Voruntersuchung  noch  tilgen  aus  der  Strafprozeßordnung, 
so  hatten  sie  sich  getäuscht.  Die  Meinung  der  grolu'n  f^berzahl  der 
Juristen  war  für  ihre  Beibehaltung,  besonders  weil  man  in  ihr  neuer- 
dings ein  Ersatzniittel  für  die  aufgehobene  Berufung  in  Strafsachen 
erblickt  fs.  v,  Bar:  Kritik  der  Prinzipien  des  Entwurfs  einer  Straf- 
prozeßordnung u.  a.),  wie  es  in  Deutschland  schon  vorher  der  Fall 
war  in  Schwurgerichtssaclien.  Damals  schon  hielt  man  die  gericht- 
liche Voruntersuchung  in  Schwurgerichtssaclien  für  unerläßlich.  In 
den  übrigen  Strafsachen  w^rd  der  Ersatz  für  die  nicht  unerläßliche 
gerichtliche  Voruntersuchung  in  der  Statthaftigkeit  einer  zweiten  Instanz 
gefunden  (s.  0  pp enhof f  zu  §  75  der  preuß.  Verordnung  von  1849).  — 
Die  Gründe  der  Gegner  der  geneliilichen  Vonmtmiefauiig  wurden  viel- 
fach widerlegt,  so  in  den  Verhandlungen  des  III.  denlschen  Jarislen- 
tages,  sodann  von  Gneist  (Vier  Fragen)  u.a.  In  neuerer  Zeit  hat  sich  fUr 
Beseitigung  der  gericht&chen  Vonmtersnchung  noch  Kries  ausge- 
sprochen (s.  Zeitschrift  für  gesamte  Strafrechtswissenscbaft  IX  S.  1 
bis  105).  Erics  will  das  Stafveifiihren  in  zwei  Stadien  zerlegen: 
a)  Das  Stadium  der  Ermittfamgen  (Vorverfohren).  Dies  soll  der 
Staatsanwalt  führen  und  nur  er  kann  es.  Ein  Biditer  ist  nicht  dazu 
geeignet,  da  sdne  Aufgabe  im  Eichten  und  nicht  im  Ermitteln  be- 
stehen kann. 

AnUv  Mr  KrimiBaUBthtopoloi^  XIII.  7 


DiyiliZüa  by  GoOgle 


08 


IL  Poumr 


b)  Das  Stadium  der  Aburteilung:  ('Hauptverfaliren  .  Hiervon  au8- 
frehend  wünscht  v.  Kries  die  Beseitigung  der  gerichtlichen  Vorunter- 
suchung. Der  Staatsanwalt  soll  das  Vorverfahren  führen;  für  Hand- 
lungen, die  notwendig  richterliche  Mitwirkung  verlangen,  wie 
besonders  die  Verhaftung,  wünscht  v.  Kries  einen  besonderen  Arrest- 
prozeß, dessen  Akten  ein  Amtsrichter  führen  soll,  getrennt  von  den 
Akten  des  Vorverfahrens.  Die  Nachteile  dieses  Reform vorschlaga 
von  Kries  hat  Kronecker  (in  der  Zt  für  ges.  St-R-W.  X,  S.  518  ff.) 
naehgewiaaen.  Was  die  Beedtigung  der  geriehffichen  Vorontersucbung 
betriff^  80  Terweist  Eroneeker  anf  Gneist  (Vier  Fragen)  und 
den  dritten  Deiitaehen  Jnristentag.  Kroneoker  seibat  mdnt,  daß 
das  Inatünt  der  geriobtlieben  YoranterBnohung  unklaren  nnd  wider- 
aprachBToUen  Yorstellnngen  enfq[irangen  ist,  sein  Dasein  auch  nur 
den  Bestrebungen  verdankt,  die  alte  Einrichtungen  im  neuen  Ver- 
fahren beibehalten  wollen.  Kroneoker  hSlt  ebenfiüls  für  recht 
fraglich,  ob  der  Untersnchungsriohter  die  Interessen  der  Anklage  als 
auch  der  Verteidigung  in  unparteiischer  Weise  gldcbmäßig  vertreten 
werde.  Solehe  Mißstände  erkennt  Kronecker  an.  Mit  Bedit  aber 
sagt  er:  man  solle  erst  einmal  ein  Verfahren  vorschlagen,  welches 
diese  MSngel  vermeidet!  Das  ist  bisher  noch  nieht  geschehen!  Was 
nun  den  sogenannten  Arrestprozeß  betrifft,  den  von  Kries  vonohligt, 
so  kann  man  sich  auch  hier  wohl  der  Meinung  von  Kronecker  an- 
schließen, der  in  ihm  materiell  nichts  anderes  sieht  als  eine  gerichtliche 
Voruntersuchung.  Das  Verfahren  in  einem  solchen  Arrestprozeß  würde 
sehr  kompliziert  und  schwerfällig  sein.  Besonders  dieTrennung  der  Akten 
dürfte  fast  unmöglich  erscheinen  (s.  Zt.  für  ges.  St,-R.-W.X,  526  und  527). 

Schließlich  spricht  sich  noch  für  Beseitigung  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung  aus  Zucker  (Gerichtssaal,  Bd.  47,  S.  436—462). 
Er  beruft  sich  auf  seine  Vorgänger,  die  die  gleiclie  Meinung  vertreten 
wie  er,  ohne  selbst  neue  Gründe  für  die  Beseitigung  der  gerichtlichen 
\'oruntersuchung  angeben  zu  können.  Die  Gründe  der  Motive  zur 
deutschen  Strafprozeßordnung  für  Beibehaltung  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung  hält  er  nicht  für  stichhaltig. 

Im  Gegensatze  zu  den  bisher  Genannten  haben  die 
übrigen  Juristen  sich  für  Beibehalt  ung  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung  ausgesprochen  (so  v.  Bar:  Kritik  der  Prin- 
zipien des  Entwurfs.  — -  Hissen:  Bemerkungen  zum  Entwurf 
du«r  St-P.-O.  und  S.  Majer:  Entwurf  einer  denlsehen  St-P.-0.) 
in  Übereinstimmung  mit  den  Motiven  zum  Entwurf  der  Reichsstral- 
prozefiordnung.  Die  Motive  (zu  §  149  des  3.  Entwurfs)  geben  zu, 
daß  es  der  Anklageform  des  heutigen  Yeifahreus  entspreche,  daß  die 


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Die  geriehtüohe  Vonmlerenohiuig. 


99 


gerichtliche  Voruntersnchung  fortfalle.  Gänzlich  za  entbehren  aber 
sei  sie  nicht.  „Wo  mit  Rücksicht  auf  die  Schwierigkeit  und  Weit- 
läufigkeit der  Sache  die  Staatsanwaltschaft  genöti^  sein  würde,  das 
Gericht  wiederholt  mit  Anträgen  auf  Beweiserhebungen  anzugehen, 
da  ist  es  im  Interesse  der  Einlieit  des  Untersuehungsplanes  und  der 
Beschleunigung  des  Verfahrens  geboten,  von  vornlierein  von  einem 
aui^ergerichtlichen  Ermittelungsverfahren  abzusehen  und  dem  Gerichte 
die  Führung  der  Voruntersuchung  zu  überlassen.  Wo  ferner  aus 
denselben  Rücksichten  ein  sorgfältigeres  Eingehen  auf  die  Verteidigung 
des  Beschuldigten  schon  im  Vorverfahren  geboten  erscheint,  nament- 
lich dann,  wenn  derselbe  mit  einem  Verteidiger  noch  nicht  versehen 
ist,  da  verdient  gleichfalls  die  gerichtliche  Voruntersuchung  vor  dem 
außergerichtlichen  Ermittelungsverfahren  den  Vorzug,  da  mindestens 
▼on  dem  Bescholdigten  nicht  erwartet  werden  kann,  daß  er  überall 
SU  der  Staatsanwallsebaft  das  Yerlmnn  hege,  dieselbe  weide  aebie 
Bechte  in  yOllig  genügender  Weise  wahmehmen.*^ 

Mir  seheinen  namenUieh  folgende  Gründe  fflr  die 
Ezistensberechtigangder  gerichtlichen  Vornntersuchnng 
gegenflberdemstaateaawaltliehenErmittelnngsverCahien  sn  sprechen: 

1.  Znnftchst  ist  der  Staatsanwalt  von  staatBrechtlioher  Seite  ein 
abhängiger  Beamter,  der  Befehlen  nnd  Anordnungen  seiner  vorge- 
setsten  Behörde  nachznkommen  hat  Der  Untersnchnngsriditer  hin- 
gegen ist  TdUig  freier  Herr  seiner  selbst  nnd  an  die  Anordnungen 
keiner  Behörde  gebunden.  Der  Untersuchungsrichter  kann  also  ge« 
gebenenfalls  viel  unbeeinflußter  seine  Ermittelungen  anstellen  als 
der  abhängige  Stsatsanwalti  der  jeden  Befehl  von  oben  gehorsamst 
anszuführen  hat. 

2.  Weil  aber  der  Untersuchungsrichter  persönlich  unabhängig 
ist,  deshalb  konnten  ihm  Machtbefugnisse  zur  Verfügung  gestellt 
werden,  welche  man  der  Staatsanwaltschaft  als  einer  abhängigen 
Beh(>rde  nicht  gewährt  hat  und  auch  de  lege  ferenda  nicht  wird  ge- 
währen können  1). 

Der  Untersuchungsrichter  kann  Zeugen  und  Sachverständige  bei 
Vermeidung  von  Ordnungsstrafen  laden  und  erstere  eventuell  zwangs- 
weise vorführen  lassen.  Er  kann  nötigenfalls  zu  eidlichen  Ver- 
nehmungen schreiten.  Ihm  stehen  die  Zwangsmittel  der  Verhaftung, 
Durchsuchung  und  Beschlagnahme  zur  Verfügun::.  er  kann  Akte 
definitiver  Beweisaufnahme  mit  der  Wirkung  vornehmen,  daß  seine 

1)  Kulemann,  Reform  ilcr  Vonmtorsuchung,  Berlin  1903,  S.  47.  sieht  kohl 
Bedenken  darin,  auch  dem  Staat-^anwalte  die  Machtbefugnisse  des  Uutersuflnings- 
richtcrä  zu  geben;  su  das  lischt,  Zeugen  und  Angeschuldigte  zu  vomelimeu. 

7* 


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100 


IL  Poun 


Protokolle  als  gerichtliche  in  der  Hauptverhandlong  verlesen  werden 
können  usw.  usw. 

Der  Staateanwalt  dajregen  ist  überall,  wo  er  gericlitliclier  Unter- 
suchunjjshandlungen  für  den  Zweck  des  Emiittelungsverfahrens  be- 
darf, darauf  angewiesen,  sieb  mit  einem  entsprechenden  Ersuchen  an 
das  zuständige  Anitsfirericht  zu  wenden. 

Es  erscheint  mir  hiemach  klar,  dali  gerade  in  wichtigen  und 
schwierigen  Fällen  die  Konzentrierung  der  Untersuchung  in  den 
Händen  eines  peisdnlich  unabhängigen,  sachlich  aber  mit  erhöhter 
Haehtrolikommenhot  aoBgerfisteten  Bauntm  bowoU  im  Interoese  der 
Sehleanigkeit  als  var  aUem  im  Intemae  der  Wahiiwftwnnittelnng 
gelegen  Ist 

In  letzterar  ffinsioht  kommt  {HRaktiseh  noeb  besonden  in  Beteidit^ 
daß  der  üntennehnngsnebter  die  Vemehmungoi  an  seuiem  AmtsaHa 
regefanftfUg  persönlich  ansfährt,  wSbiend  sieb  die  Staatsanwaltschaft 
hierf&r  in  weitem  Umfimge  der  Hilfe  der  Polisei  an  bedienen  pflegt 
Der  Untersnchnngsriebter  arbeitet  insoweit  also  mit  weitaus  anyer- 
läflsigmn  Material  schon  deshalb,  weil  nnr  die  persönliche  Rfiokspiaohe 
mit  dem  betreffenden  Menschen  einen  wiikliehen  Einblick  in  dessen 
Glanbwllrdigkeit  gewährt  0* 

3.  Eän  weiteres  Argument  zugunsten  der  gerichtlichen  Vor- 
untersuchung ist  die  heatige  Beschränkung  der  Haft  im  staatsanwalt- 
lichen Ermittelungsverfahren  auf  die  Maximaldauer  von  vier  Wochen. 
Solange  diese  Sehiaoke  besteht,  ist  die  gerichtliche  Voruntersuchung 
sdion  aus  diesem  Grunde  unentbehrlich.  Denn  wenn  die  Zeit  von 
vier  Wochen  in  concreto  zur  Aufkläning  nicht  genügt,  so  ergibt  sich 
bei  Reseiti<rung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  für  den  Staats- 
anwalt nur  die  Wahl,  den  Verdächtigen  ungestraft  laufen  zu  lassen 
oder  abor  bei,  wenn  auch  nur  geringfügigem  Verdachte,  leichtbin  die 
Anklage  zu  erheben.  Der  eine  Ausweg  wäre  ebenso  unerträglich  wie 
der  andere. 

§  16. 

IMe  SteUuBp  der  sofehtiiehea  Tenutersnehmiff  sur  Haaptrerlunfliuif  . 

Die  Gegner  der  geriebtlicben  Voruntersuchung  hehaui)tcn,  dal» 
dieselbe  der  Hauptverhandlung  die  entscheidende  Bedeutung  nehme, 

1)  AuB  eben  dieeen  GrBnden  ist  auch  H.  Groß  für  ßcibchaltiug  der  go- 
richtiichcn  Voruntcrsucluins:  (v;;!.  Archiv  f.  Kniuinalaiithropologie  u.  Kriminalistik. 
19031.  Lcitler  kam  mir  diese  Schrift,  die  fast  durcliwc^  den  Standpunkt  d'u^vr 
Arlieit  teilt,  erst  nach  Fertigstellung  dieser  zu  Gesicht,  so  dali  ein  näliorcs 
Eingehen  auf  dieinteressanten  Auaffihnmgea  von  H.  Groß  nicht  mehr  mOglich  wir» 


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IKe  geriohtliehe  Yoniiitentidkimg. 


101 


insbesondere  die  Unmittelbarkeit  der  Beweisaiifnabme  in  der-^olben 
beeinträcbtige  und  die  üauptverbandlang  zu  einer  Scbluliverbandlung 

bera))(l  rücke. 

Das  aber  ist  unrichtig:.  Auch  wenn  eine  ^gerichtliche  Vorunter- 
suchung stattgefunden  hat,  gründet  sich  das  Urteil  des  erkennenden 
Gerichts  lediglich  auf  die  in  der  Hauptverhandlung  selbst  erfolgte 
Ueweisaufnahme,  nicht  auf  die  Akten  der  Voruntersuchung.  Freilich 
muB  da*  Gericht  und  insbesondere  der  Vorsitzende  diese  Akten  ge- 
nau kennen,  um  die  Hauptverhandlung  sachgemäß  leiten  zu  können'). 
Die  Annahme  aber,  daß  diese  Aktenkenntnis  ein  Vorarteil  erzeuge-) 
nnd  die  HsnptverliaadlaDg  deshalb  etwa  lediglich  zur  Konstetierung 
dieser  TargeÜSten  Ansieht  diene^  wire  nur  dann  riefatig,  wenn  der 
betreEfende  Biehter  von  den  Grundlagen  unseres  heutigen  Staaf- 
prozesses  keine  ansreiehende  Vorstelhing  hätte.  Wer  diese  Kenntnis 
besitsty  der  weiß  aueh,  daß  er  den  Torakften  ToOkommen  selbstindig 
firtttend  gcigenflbeistehen  mufi.  ünd  wer  dies  nicht  weifi^  der  würde 
sieh  aneh  durch  die  Akten  des  staatsanwalflidien  ErmitbelungSTer- 
fahrens  ebenso  irreführen  lassen  kSnnen,  wie  durch  die  der  gericht- 
lichen Voruntersuchung;  für  ihn  müßte  man  also  überhaupt  die  Be- 
seitigung jedes  aktenmäfiigen  Ermittdungsveifthrens  foidem,  was 
wohl  ni^and  beabsichtigen  wird. 

Der  vorbereitende  Charakter  der  Voruntersuchung  wird  auch  im 
Gesetze,  §  188  I,  mit  aller  Schärfe  markiert  Sie  ist  „nicht  weiter  aus- 
zudehnen, als  erforderlich  ist,  um  eine  Entscheidung  darüber  zu  be- 
gründen, ob  das  Hauptverfahren  zu  eröffnen  oder  der  Angeschuldigte 
außer  Verfolgung  zu  setzen  sei^.  Daß  nach  Abs,  II.  „Beweise,  deren 
Verlust  für  die  Hauptverhandlung  zu  besorgen  steht,  oder  deren 
Aufnahme  zur  Vorbereitung  der  Verteidigung  des  Angeschuldigten 
erforderlich  erscheint,  in  der  Voruntersuchung  zu  erheben'*  sind,  ist 
ein  allgemeiner,  unentbehrlicher  Grundsatz  des  Strafprozesses,  welcher 
auch  nach  Beseitigung  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  unverändert 
aufrecht  erhalten  w i  rden  müßte. 

Öcbließlich  meint  man,  die  gerichtliche  Voruntersuchung  sei  zu 

1)  Ebenso  G.  Gro^:  „Will  aber  ein  Vorsitzender  sein  schwierige  und 
höchst  verantwortliches  Amt  richtig  und  frowissenhaft  versehen,  so  ist  es  seine 
aller  wichtigste  Pflicht,  auf  das  Peiulicliste  genau  irifurmiort  zu  sein;  eine  schwie- 
rt Yeriumdlmig  m  leiten,  ohne  auf  das  Sot^gfältigste  davon  unterrichtet  m  eeb, 
was  ▼orkommt  und  Toikonuiien  kann,  eiUire  ieh  ala  gremeolofle  Gewiaaais- 
loBlgkeit". 

2)  Neuerdings  mit  besonderer  Scharfe  von  Kulemann  betont.  Nach  ihm 
soll  es  über  menschliche  Kraft  gehen,  den  Akten  der  Voruntersuchung 
gegenfiber  Tonirteilafrei  m  blelbea. 


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102 


II.  Poxdsn 


beseitigen,  weil  (liesoll)e  ein  Richter  führt,  der  Ijeute  den  Unter- 
suchnnfrsrichter  spielt,  also  Ermittelungen  anstellt  und  morgen  wo- 
niö;j:licli  Mitglied  des  erkennenden  Gerichts  ist,  also  richtet.  Dal> 
hierdurch  die  Objektivität  dieses  Richters  und  damit  der  Wert  der 
Hauptverhandlung  beeinträchtigt  wird,  kann  ich  ebenfalls  nicht 
finden.  Denn  ausgeschlossen  ist  der  Untersuchungsrichter  als  Mit- 
glied dee  erkennenden  Gerichts  nach  St-P.-O^  §  23  II  bei  Aburteilung 
▼Ott  SadiCfD»  in  denen  er  die  geriehtüehe  Voniiitenneliung  gefiUut 
hat  WesliBlb  er  mm  in  anderen  ^mlBaehen,  wo  er  nieht  die  V<Nr- 
nnteiHnehung  geführt  hai^  nieht  Mitglied  des  erkennenden  Qeriehta 
sein  Bolly  kann  ieh  nieht  einleben.  Das  einsige  ZugeBOndnis,  daa 
man  hier  maehen  konnte,  um  Bolehen  Einwendungen  endgültig  daa 
Wort  abKoaehneiden,  wäre^  daß  der  in  der  Begel  für  ein  Jahr  be- 
stellte üntennohnngsriehter  in  dieser  Zeit  überhaupt  nur  als  soleher 
zu  besehtftigeii  ist  und  unter  keinen  ümstinden  Mitglied  des  er- 
kennenden Geiiohts  wShrend  seiner  Amtsperiode  sein  darf.  Ich 
persönlich  aber  halte^  wie  gesagt,  ein  solebes  Zugestindnis  niebt  für 
eifordarlieb. 

§  17. 

OüntUehkelt  umL  Jf MMlUelüMit  4er  feriehtitohea  YmaKbtamOamt* 

Die  Vorteile,  welche  die  Beibdialtnng  der  geriehtliehen  Vor- 
unteisuebuig  gewährt,  habm  wür  soeben  Uaigelegt  Die  Sttnunen 
derer,  die  ctie  gerichtliche  Voruntersncbnng  beseitigt  wissen  wollen, 
▼eiBtunimen  auch  mehr  und  mehr.  Gerade  neuerdings  freilieb  scheint 
man  wieder  sehr  die  Beseitigung  der  Yomntersnchnng  zu  wfinscben, 
wie  ans  den  Zeitungsreferaten  über  die  Sitzung  der  Intern,  krim. 
Vereinigung  v.  5.  Juni  1903  in  Dresden  hervorgeht  Aber  auch  ein 
großer  Teil  derer,  die  an  sich  für  Beibehaltung  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung  sind,  wünscht,  daß  große  VeiSnderungeQ  dieses  Ver- 
fahrens vorgenommen  werden. 

I.  Öffentlichkeit  der  gerichtlichen  Voruntersuchunfr: 

1 .  So  wird  von  vielen  Seiten  verlangt,  dali  das  Verfahren  in 
der  gerichtlichen  Voruntersuchung  ein  unbeschränkt  öffent- 
liches sei<).  Die  Öffentlichkeit  der  gerichtlichen  Yonmtersuchung 
hält  man  für  erforderlicli : 

a)  Im  Interesse  des  Angeschuldigten:  wenn  nämlich  die 

1)  Gncist,  Vier  Fragen.  Köhne,  Deutscher  StrafprozeO  und  seine  Reform. 
Berlin  1S95,  S.  5Tff.  Oiaser,  Ges.  kleine  Schrifttn.  T.  2r)lff.  Stemann,  Goltd. 
Archiv.  VITT.  41  ff.  Zachariac,  Handb.  des  Strafproz.  I.  in.  TT.  f.^.  Der 
deutäche  Jiuibteiitag  (ilannovor  lbT3).  Prius  et  Pagam^ni,  Keforme  de  l'in- 
Btrnction  pr^paratoire  oi  Belgiitue.  Paris  1872.  Neaerdfugs:  Knlemann,  Befoim 


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Die  f(erichtlicbe  Vonrntei-äuciiung. 


103 


YoziuifeiniebuDg  nicht  genügend  Verdaobtsgrtinde  geliefert  hat,  so  daß 
das  Verfahren  eingestellt  werden  muß,  soll  anf  dem  Angeschuldigten 
in  der  öffentlicben  Meinung  ein  Makel  mtzen  bleiben.  —  Der  in 
höherem  Maße  verdächtigte  Angeklagte  sei  demgegenüber  noch  im 
Vorteil,  weil  sebe  Unsehnld  in  der  öffentlichen  Hanptverhandlnng 
klar  zutage  treten  kann. 

b)  Im  Interesse  der  Zeugen:  die  Öffentlichkeit  des  Verfahrens 
soll  auf  ihre  Wahrhaftigkeit  einen  größeren  Einfluß  machen  als  die 
Vereidigung.  Anf  diese  Weise  hofft  man  die  Widersprüche  der  Aus- 
sagen in  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  mit  denen  in  der  Hanpt- 
Terhandlung  zu  beseitigen. 

c)  Im  Interesse  des  Richters:  Die  Öffentlichkeit  des  Verfahrens 
soU  ein  wirksames  Mittel  sein,  um  jeglichen  Zwang  zu  Gestiind- 
nissen  usw.  unmöglich  zu  machen. 

Diesen  Gründen  kann  ich  nicht  zustimmen.  Zunächst 
hat  der  Angeschuldigte  von  der  Öffentlichkeit  der  Vorunter- 
suchung: kaum  g:rolien  Gewinn.  Vielleicht  ist  ein  solcher  dann 
gegeben,  wenn  seine  Unschuld  eklatant  zutage  tritt,  l  lterall  aber, 
wo  irgend  welche  Verdachtsmomente  übrig  bleiben,  dürfte  die  ( Öffent- 
lichkeit ein  direkter  schwerer  Nachteil  für  den  Angeschuldigten  sein, 
—  DaH  auf  die  Zeugen  die  Öffentlichkeit  unter  Umständen  ein- 
wu-ken  kann,  ist  gewil»  möglich,  das  Entscheidende  aber  wird  die 
Art  und  Weise  sein,  wie  der  Richter  mit  ihnen  umzugehen  versteht. 
Ist  es  im  Interesse  der  Waliriieitsenuittelung  nötig,  so  kann  Be- 
eidigung erfolgen.  Und  ein  Zeuge,  der  sicli  nielit  sciieut,  einen 
Meineid  zu  leisten,  wird  sich  auch  nicht  durch  die  Öffentlichkeit  von 
einer  falschen  Aussage  zurückschrecken  lassen.  —  Der  Unter- 

der  Voruntersuchung.  Berlin  1003,  AuBer  den  im  Text  angegebenen  Gründen, 
die  bei  allen  Verfeehtem  der  Uffcntliehkeit  wiederkehren,  verspricht  sich  Kule- 
nianu  von  der  Öffentlichkeit  der  Yoruntersudiang  grolie  Erfolge,  indem  er  be- 
hauptet, auf  diese  Wehe  werde  die  Volk  inteieBriert  weiden,  nur  l^tdecktuig  der 
Verbrechen  ttitenwlikeii  (S.  11  ff.).  Und  dieser  Vorteil  soll  die  Kachteile  der 
Öffentlichkeit  bei  weitem  aufwiegen.  Ich  kann  diese  Ansicht  nicht  teilen.  Wer 
nicht  ohnehin  das  Interesse  an  Verfnlfriing  eines  bestimmten  Verbrechens  besitzt, 
den  wird  auch  eine  ülfeutlidie  Voruntersuchung  nur  ausnahmsweise  zur  Mit- 
wirkimg  in  dieser  Bichtang  Tenmiassen.  In  den  StSdten  wird  dies  femer  auch 
kaum  eiforderiieh  sein,  da  hier  meistena  eine  gut  oiganisierte  nnd  saUreidie 
Polizei  vorhanden  ist,  so  daß  man  hier  auf  die  Mit^kung  des  unbeteiligten 
Volkes  verzichten  kann.  Vom  Lande  her  aber  werden  uiibefciligte  Volkskreise 
ükh  nicht  in  die  bei  den  Landgenchtcu  stattfindenden  \  erhancllungeu  bemühen 
nnd  überdies  besteht  gerade  auf  dem  Lande  vielfach  eine  Abneigung  zur  aktiven 
BeteiUgmtg,  weil  man  sich  schont,  mit  den  Gerichten  in  Berührong  ni  kommen 
nnd  OTont  anch  die  Bache  des  Veii»reehers  nnd  seiner  Genossen  fOrchtet 


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IL  P0L2IK 


snohnngsriohter  selbst  soUieSfieh  wird  sieh  wohl  so  leiefat  nicht 
dam  herbeUassen,  einen  GestSndnisiwing  aassBObea.  DalUr  ist  dorob 
seme  Ansbildnng  und  St-G.  B.  §  343  wohl  genügend  Vonoige  getroffen. 
Für  eine  nnbesehränkte  Öffentliehkeit  der  geriehüiohen  Vomnfer- 
snehnng  kann  ich  mich  somit  nicht  aosspreoheni).  Sie  wlie  flbrigeiis 
praktisch  nur  für  Vernehmungen  allgemein  erreichbar,  während 
andere  Untersnohnngshandlungen,  z.  ß.  zahlreiche  Angensebeinsein« 
nahmen,  schon  rem  technisch  keine  öffentliehe  Vornahme  gestatten. 

Die  Wahrung  der  Interessen  der  Parteien  aber  kann 
man  m.  £.  auch  durch  die  Parteienöffentlichkeit  erreichen-!. 

2.  Verspricht  somit  eine  völlige  Öffentliohkeit  dsr  gericht- 
lichen Voruntersuchung  nicht  viel  Nutzen,  so  ist  von  yielen 
Seiten  für  teilweise  Öffentlichkeit  der  geiiohtlichen  Voruntersuchung 
plädiert.  Insbesondere  wünscht  man  einen  öffentlichen  Ab- 
.schliil»  (lerselben'i.  Gegen  einen  solchen  öffentlichen  Abschluß 
der  gerichtlichen  Voruntersuchung  hat  sich  m.  E.  mit  Recht  aua» 

1)  Heinz  CS  Vorschlag  iBcilafrehpft  zum  r.oriolits.«.inI.  27.  Bd.),  die  Öffent- 
lichkoit  der  ^criclitlii-lion  Vonintcrstichunj;  in  das  Krniosson  dos  l'iitersucliungs- 
ricbters  zu  gtellea,  dürfte  vollkoiumen  wcrtluH  t>ciu.  Der  AussdiiuLi  der  Offent- 
Udikeit  dfiilto  dann  dodi  wohl  dorchwcg  die  Begd  bidben. 

2)  Ebenso  S.  Mayer,  Entwurf  dner  doutschen  Strafprozefioidniing.  Klein- 
f  ello  r,  (Jcriclitssaal.  3?t.  S.  417  4S0  u.a.  f^n  luMicrdiii^'s  Synions  frtrccht)  auf 
dem  Kon^'ieli  der  internationalen  knm.  Vereinigiinji;  in  Petei-sburg.  Mittoilnnfren. 
10.  Bd.  1.  lieft.  1902.  Symons  hält  die  Üffcutiichkeit  für  den  Angeacliuldigteu 
direkt  geflhriich;  anfierdem  kann  dar  wahre  Titer,  falls  gegen  einen  Unadml- 
digen  der  Verdacht  sich  einmal  richtet,  durch  die  Öffentlichkeit  der  Verhandlang  die 
Maßnahmen  des  Geriehts  erfahren  und  sich  mit  Leicllti^^kpit  in  Sicherheit  bringen. 

.3)  So  Dalcke,  Goltd.  Archiv.  XIV.  S.  2»iff.  und  v.  B:ir:  Kritik  der  Prin- 
zipien. S.  28.  —  V.Bar  meint,  auf  eine  inquisitorische  gerichtliche  Vorunter- 
anchung  k6nne  nicht  nnmittdÜNur  dne  akknaatoriache  Haoptveriiandlnng  folgen. 
Für  den  Fall,  daß  man  sich  nicht  für  völlige  Parteienöffentliehkeit  entachUeOen 
kann,  maeht  er  daher  folf^enden  Vorschlag:  „In  allen  wichtijren  Sachen  muß  der 
öffentlichen  Haui»tverhandluiifj  vorausfrehen  eine  öffentliche  Verhandinnj?  vor 
einem  lüchter,  der  nicht  der  Untersuchungsrichter  sein  darf,  in  welcher  die  Par- 
teien die  Stehe  ammnariich  unter  Angabe  der  Beweiamittel  Mrörtem,  aber  aucii 
2^gen  und  SadiTerstflndige  zur  nichtddlichen  Vernehmung  zur  St^e  bringen 
kOnnen.  Die  richterliche  Entscheidung  besehr&ikt  sich  auf  den  Ausspruch,  ob 
mit  HQcksicht  auf  die  Anklaj^e,  ^s■ie  t-ie  der  Kliifrer  beabsichtifit  nnd  dem<remäl! 
auch  im  Termine  zu  foniuiliereu  liat,  die  Uauptvcrhandluug  genügend  vorbereitet 
iat  ^neht  in  dieaem  Tennitte  vorgebradite  Bewefenlttel  kteea  In  der  Bai^- 
%*eriiandlung  nur  naeh  Ermessen  des  OericfatsvorBitzenden  und  von  selten  der 
Ankla}:o  überhaupt  nicht  vorj^ebracht  werden.)  Ein  Rechtsmittel  gegen  diese 
F2nt8cheidun^'-  findet  nicht  statt."  Diese  ^'erhandlun{2:  soll  den  Beschluß  über  Er- 
öffuuug  des  iiauptveriahrens  überflüssig  machen  und  gleichzeitig  die  Stelle  eines 
SeblttßverhOrs  emnehmen,  welches  die  Motive  zn  §  162  des  EntwmfB  IH  dnr 
JStP.O.  verwerfen.   Dieser  Vorschlag  v.  Bars  würde  sich  sonst  etwa  decfan 


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Die  gerichtlidie  Yonrntemichiuig. 


106 


^esprochon  S.  M ay er  (a,  a.  0.  S.  1 10).  Mayer  meint,  man  würde 
auf  diese  Weise  zwei  Haui)tverbandlun^ren  bekommen,  und  diese 
Oefalir  lie^^t  allerdini^s  auch  nahe.  Die  Unmittell>arkeit  der  llaupt- 
verhandlung  würde  entschieden  darunter  leiden,  und  sehr  leicht 
könnte  im  Laufe  der  Zeit  die  Foi^^c  eintreten,  d&ü  die  Uauptver- 
bandluDg  zu  einer  Scbluftdekoration  herabsänke. 

3.  Eine  unbeschränkte  Öffentlichkeit  der  gerichtlichen  Vorunter- 
suchung kann  ich  somit  nicht  empfelilen.  Das  einzige  Zugeständnis 
das  man  hier  machen  könnte,  wäre,  vulle  ( )ffentlichkeit  zu  gestatten 
für  die  endgültigen  lieweiserhebungen ,  die  in  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung  vorgenommen  werden,  sofern  der  Durchführung  der 
Öffentliehkeit  nicht  technische  Schwierigkeiten  in  den  Weg  treten. 
Größeren  Wert  dagegen  hat  die  Parteienöffentlichkeit, 
nnd  darftber  herTBcht  &8t  ▼SUige  Einigkeit  Die  geeetslichen 
Vonchriften  hierttber  nnd  die  folgenden:  Die  Stiafproaeßordnnng 
gestattet  die  ParteienOffentticfakeit  grondsttdieh  nnr  bei  den- 
jenigen Handhmgen,  die  aller  Voranaeicht  nach,  in  der  Hanpt- 
▼erhandlnng  nicht  nnmittelhar  voigenommen  werden,  sondern  nur 
ans  dem  Protokoll  Teriesen  werden;  also  bei  Einnslinie  des  Angen- 
scheines (§  191 1  TgL  §  193),  femer  bei  Vemehmnng  von  Zeugen  nnd 
Sachverständigen,  die  aus  wichtigen  Gründen  am  Erscheinen  in  der 
Ilauptverhandlung  verhindert  sind  ({^  191  II,  III  bis  V);  wegfallen  kann 
die  Anwesenheit  des  Angeschuldigten  im  Falle  des  §  191  IV  *)  und 
wenn  die  Gefahr  besteht,  daß  ein  Zeuge  in  seiner  Anwesenheit  nicht 
die  Wahrheit  sagen  werde  (§  192).  Weitgehender  waren  die  Be- 
stimmungen des  1.  Entwurfs  der  St.-P.-O.,  welcher  Parteieniiffentlich- 
keit  hei  allen  Zeugen vemelimungen  gestattete.  Im  übrigen  ist  die 
Parteienöffentlichkeit  ausgeschlossen,  insbesondere  bei  der  Vernehmung 
des  Angeschuldigten  (ij  190  Iii.  Diese  Bestimmungen  der  St,-P.-0. 
hält  man  vielfach  für  nicht  weitgehend  genug-)  und  fordert  mit 

mit  dem  Vorscliliip*  Walilbrr^-s  (Kritik  des  Ejit^viirfs  einer  St.P.O.i,  <lcr  nicht 
volle  Önentlichkcit,  wie  v.  Har,  somlorn  nur  l'aiteiiMiöffontHchkeit  fordert  für 
die  Beeclilulifassuug  über  die  Eröffnung  dee  liauptverfalirens.  Ein  weiterer 
Unteracfaied  bestdit  darin,  dafi  Bar  nur  einen  Richter  bei  der  von  ihm  vor- 
gesdiia^ttieD  Veifaandlung  wflDBcht,  während  der  Beschluß  über  die  Kröffnong 
des  Hanptverfahrens  vor  einem  Richtcrkolleginm  abgefalU  wird.  Ilioiv.ii  ist  zu 
benu'rkoii .  daü  ein  HichterkoUegium  immerhin  objelitiver  entacbeiden  wird  als 
ein  einzolncr  Kichter 

1)  §  191.  IV.  Einen  AmiMnieh  anf  AmreBenhcit  hat  der  iddit  anf  freiem 
FnB  l»efindUche  AngeBdinldigte  nnr  bei  solchen  Teminen,  wddie  an  der  Ge- 
richtsetelle des  Orte!)  abgehalten  wonlen.  wo  er  slch  in  Haft  befindet. 

2)  So  V.Bar,  H.  Mcvcr,  S.  Mayer,  Nissen,  in  ihren  Bemerkungen  tVttk 
Entwurf  der  btP.Ü.,  Stemauu  im  üerichissaal.  XXV'.  IbSff. 


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106  IL  PoLsm 

Kech  t  vor  allem  die  Parteienof  feilt  lieh  keit  für  al  le  Zeugen  - 
vernehniu nf::en  und  besonders  für  die  Vernehmung?  des 
Anf^eschuUiigten')-  Dafregen  ist  auch  nichts  einzuwenden,  der 
An^a^schnldigte  kann  dadurch,  daß  er  alles  gegen  ihn  vorliegende 
Beweismaterial  erfährt,  seine  Verteidigung  Torbereiten;  dasselbe  gilt 
für  den  Verteidiger ;  der  Staatsanwalt  auf  der  anderen  Seite  ist  in  der 
Lage,  seine  Anklage  gehörig  TonoberateD.  Für  die  YmehiDiuig 
dee  Beeohiüdigten  ist  die  Puteienafl^füchkeit  inaofein  toh  Bedeatung, 
ab  etiraigeii  EnwingoogeA  voa  Geetändniaeeii,  die  naeh  der  Offent- 
UcbeD  HeinBg  so  liiofig  TocluHiiiiiea  loUen,  endgültig  ein  Biege! 
TOigeschoben  wird.  Wie  weit  aoUen  nun  aber  die  Beebte 
gehen,  die  dem  Verteidiger,  Angeeebnldigten  nnd  Staats- 
anwalt dnrcb  die  Parteiendff  entliobkeit  verlieben  werden? 
Vidfaeb  fordert  man,  daß  die  Proseßbeteiligten  dnreb  Fragen,  An- 
tiSge,  Anstellnng  yon  EreozTerbOren  nsw.  anf  den  Gang  der  Ve^ 
handlnng  einwirken  können.  Diese  Fordemng  gebt  zu  weit  Oewiß 
würden  sieb  manche  Zweifel  nnd  Wideraprttehe  von  Zeugenaussagen 
beseitigen  lassen.  Dieser  Vorteil  ist  aber  gering  gegenüber  den  Naeb* 
teilen,  die  ein  solches  kontradiktorisches  Verfahren  mit  sich  bringen 
würde.  Durch  ein  solches  kontradiktorisches  Verfahren  würde  näm- 
lich schon  in  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  die  ganze  Beweis- 
aufnahme erschöpft  werden.  Die  Stellung  der  Voruntersuchung  zum 
Hauptverfahren  als  vorbereitendes  Verfahren  würde  erschüttert  werden, 
denn  die  Voruntersuchung:  soll  nur  eine  l'bersicht  über  das  Beweis- 
material, nicht  aber  eine  erschöpfende  Ik'weisaufnahme  liefern,  die  der 
Hauptverhandlung  vorzubehalten  ist  -).  Ein  kontradiktorisches  Ver; 
fahren  würde  die  Voruntersuchung  zu  einer  Hauptverhandlung  unter 
Ausschlul^  der  vollen  Öffentlichkeit  machen.  Die  Hauptverhandlung 
würde  demgegenüber  nur  eine  Wiederholung  der  Beweisaufnahme  in 
feierlicher  Form  werden,  die  sich  nur  durch  völlige  Öffentlichkeit 
auszeichnen  würde.  Sodann  aber  könnte  das  Verfahren  leicht  durch 
chikanöses  Vorgehen  der  Parteien  erheblich  verzögert  werden.  — 
Um  diese  Nachteile  zu  vermeiden,  hat  man  den  Vorschlag  gemacht, 
den  Prozeßbeteiligten  die  Anwesenheit  bei  den  Vernehmungen  der 

1)  iso  btemann,  H.  Meyer,  S.  Mayer,  rilmann  u.a.,  besomU'is  Dr. 
E.  Benedikt  und  Dr.  W. Scbneeborger  (Mitteilungen  der  kuiiurpulitiiM:bcn 
(«eidhduifl,  1902)  auf  der  IX.  JahreBvenammlang  der  deatechen  Landeegmppe 

der  inteniationalcn  kriminalisti^'hen  Verdnigang  in  Bremen.  Noch  weiter  geht 
Mittermai  er  (Verh.  d.  int.  kriin.  V^erein.  5.  Juni  1003  in  Drcsdem.  Nu-Ii  ihm 
tioll  der  Verteidiger  berechtigt  sein,  sellistilndiir  Howeismittel  zu  saimuehi  und 
Gericht  und  Polizei  soll  ihm  evcuL  zu  diescuj  Zwecke  iur  Verfügung  gestellt  werden. 

2)  S.  0.  §  16  Anbog. 


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Die  geriehtlidie  VortmtenadHmf  . 


107 


Zeup^cn  und  des  ADp:eschuldigteii  zwar  zu  «restatten;  ihre  Rechte 
sollen  aber  lediglich  im  „Zuh<">ren''  bestehen.  Kine  Parteicnöffentlich- 
keit  in  diesem  Malie  ist  sicherlich  von  ^[rölierem  Werte  als  eine  blolW' 
Akteneinsicht'),  da  die  Einsicht  von  Akten  nie  ein  so  lebendiges 
Bild  von  der  Sache  ^ribt,  jils  wenn  man  mit  eigenen  Augen  den  Ver- 
lauf der  Sache  ansieht.  Durch  Zuhören  wird  den  Prozeltbeteiligten 
die  Sache  klarer,  und  speziell  für  den  Verteidiger  des  Angeschuldigten 
würde  schon  das  Zuhören  eine  Vorbereitung  der  Verteidigung  des 
Angeschuldigten  ermöglichen.  Dies  ist  aber  auch  der  einzige  Vor- 
teil, den  diese  Art  von  Parteienöffentlichkeit  gewährt.  —  Gerade  in 
Frankreich,  wo  die  Parteienöffentlicbkeit  in  diesem  Maüe  gesetzlich 
sanktioiiieit  ist  (Geaeti  vom  8.  Des.  1897),  bat  man  wUecbte  Er- 
fahrangen  mit  diesem  Yerfahren  gemacht,  wie  die  aiufilhrlieben  Hit- 
teUnngen  yon  OnrtiiiB  (Zeitscbr.  für  ges.  Si-R.-W.  XXIII,  S.  1  bis  40) 
eigeben. 

„Haß  und  Mifltranen**  gegen  die  üntemiehnngsriehter  biaoliten 
diee  Gesets  zustande,  bei  dessen  Beratung  nioht  das  geringste  Maß 
von  GrfindKchkeit  beobachtet  wnide.  Da  ferner  die  PloteienOffent- 
liehkeit  nur  für  die  «Voranteranobnng'^y  nicht  für  das  ganze  Yorver- 
fahlen  gilt^  sucht  man  das  Gesetz  in  FEankreieh  zu  umgehen,  indem  man, 
falls  irgend  angfingig,  keine  Vomntersachung  abhält  Außerdem  ist  tnits 
der  Yonchriften  des  Gesetzes  dennoch  eine  Gestfindniserpressung  durch 
die  UnterBUchungsrichter,  der  das  Gesetz  vorbeugen  sollte,  möglicb|  da  bei 
derErklSrung  des  UnterBuchungsrichters  an  den  Angeschuldigten,  „er  sei 
zu  keiner  Erklärung  verpflichtef^  niemand  zugegen  ist  Sodann  aber 
hat  sich  gezeigt,  daß  nur  ein  geringer  Prozentsatz  der  Angeschuldigten 
sieb  eines  Verteidigers  in  der  Voruntersuchung  bedient  hat,  da  die  Beob- 
achtung der  Förmlichkeiten  des  Gesetzes  von  1897  -)  das  Verfahren  ver- 
zögert und  somit  die  Untersuchungshaft  verlängert.  Ferner  betreiben  die 
Verteidiger,  wenigstens  die  Of fizialverteidiger,die  Verteidigung  in  der  Vor- 


1)  Dio  nach  §  147  II  St. P.O.  deoi  Verteidiger  gestattet  werden  kaiin  bereits 
während  der  VonuitersDcbiuig,  falls  keine  Gefährdung  dee  Untersachmigszweckee 
zn  befttrditcn  ist      Bar,  Hugo  Heyer,  Nissen,  Stemmnn,  8.  Mayer 

neuerdings  Benedikt  und  Schnccb erger  auf  der  IX.  .Tahresversaninihing  der 
internationalen  kriminaJistissehcn  Veroini^ning  wfinsrhcn  unbeschninkto  Aktcnein- 
Hcht,  was  ich  allerdings  für  etwas  bedenklich  halte;  es  könnte  dies  ininierhiu 
Anlaß  zu  Kollusionen  geben,  wie  sich  dies  in  Frankreich  zeigt  (vgl.  Curtius  in 
Zeitschr.  f.  gee.  StB. W.  XXIIL  S.  Mtl.},  Ans  eben  diesem  Grande  daif  man 
auch  iiit-lit  ungehinderten  schriftlichen  und  mündlichen  Verkehr  des  verlinftctoi 
Angescliuldifrten  mit  seinem  Vorteidiirer  «restatten  und  sind  die  Vorschriften  der 
StrafprozcLiordnung  hicriiber  wohl  am  Platze  (vgl.  oben  Ö.  94  Anm.  1). 

2)  Vgl.  das  Nahcrc  oben  Ö.  61. 


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108 


IL  POUOB 


Untersuchung^  nur  lässic:  und  zwar  in  i^cwisser  Hinsicht  mit  Reclit,  da  sie 
darauf  verzichten,  ^AufpassiT"  dos  l  ntersurhunfrsrichters  zu  spielen;  denn 
es  entspricht  kaum  der  Würde  ein(  s  Verteidigers,  als  stummer  Zuhörer 
bei  den  Vernelimunfj^en  sitzen  zu  müssen.  —  M.  E.  dürfte  es  daher  das 
liiehti<re  sein,  den  Prozeßheteiligten  möglichst  viel  Befugnisse  ein- 
zuräumen. Ihre  Grenzen  müssen  diese  Befugnisse  aber  dann  finden, 
wenn  durch  sie  die  Unmittelbarkeit  der  Beweisaufnahme  in  der 
Hauptverbandlung  beeinträchtigt  wird. 

Eb  miifi  Strang  yenueden  werden,  daß  die  HaaptFerbandlimg 
zu  einer  Wiederholung  der  VomnlierBiichung  herabsinkt  Za  weit 
geht  daher  der  Wunsch,  den  ProseBbeteiligten  das  Abfingen  von 
Sieogen,  Anstelliing  Ton  Erenzrerhören  usw.  zu  gestalten.  Hietdnrdh 
geht  die  entseheidende  Bedeutung  der  Haaptrerhandlung,  wie  oben 
gezeigt,  yetloren.  M.  E.  mftssen  daher  die  Befugnisse  der 
Prozeßbeteiligteu  derart  begrenzt  werden,  daß  sie  das 
Recht  haben  „zuzuhören*^  und  am  Schlüsse  des  Termins 
berechtigt  sind,  Anträge  zu  stellen,  tlber  deren  Zulassung 
der  Untersuchungsrichter  nach  freiem  Ermessen  zu  ent- 
scheiden hat  Weitere  Bechte  beeinträchtigen  die  Haupt- 
verhaodlung  oder  verzögern  das  Verfahren  und  sind 
daher  den  Prozebbeteiligten  zu  versagen.  Sieht  man  aber 
in  dieser  Form  der  FarteienöfCentlichkeit  keinen  besonderen  Vorteil, 
dann  allerdings  ist  es  besser,  man  läßt  die  Parteienöffentlichkeit  über- 
haupt schwinden,  wie  dies  besonders  von  SeeU)  empfiehlt^  als  daß 
man  weitergehende  Rechte  gewährt. 

II.  Vielfach  ist  mau  auch  gegen  die  Schriftlichkeit  der  ge- 
richtlichen Voruntersuchung  zu  l-\'lde  gezogen  und  hat  die  Münd- 
lichkeit an  ihre  Stelle  setzen  wollen-). 

Alle  diese  Autoren  wünschen  ein  der  englischen  Vorunter- 
suchung entsprechendes  Verfahren  (s.  o.  §  7  II).  Iiiergegen  sind 
folgende  Einwendungen  zu  machen.  Zunächst  ist  eine  völlige  Münd- 
lichkeit, wie  man  sie  wünscht,  nie  zu  erreichen.  Es  muß  ja  doch 
ein  Protokoll  geführt  werden,  welches  allerdings  kurz  sein  soll  und 
nur  die  Ikweiserhebungen  enthält  Auf  Grund  eines  solchen  Pro- 
tokolls soll  aber  bei  etwaigen  Meinungsverschiedenheiten  zwischen 
Staatsanwalt  und  Untersuchungsrichter  ein  Gerichtehof  entscheiden 
(so  Kronecker);  Eronecker  selbst  tadelt  an  der  heutigen  Vor- 
untersuchung, daß  ein  nur  durch  Protokolle  mangelhaft  untmchteter 

1)  V^I.  (ieric'litssaal.  l'^74.  S.  4'.»ff. 

2)  Kruuecker,  Zcitachr.  f.  ges.  0t.lt. \V.  Vli.  (IbbT.)  S.  3^5 if.  v.  Tippels- 
kirch,  Ctoltd.  Archiv.  1854.  S.  8291!.  Gnelst,  Vier  Fnigen. 


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JJie  geriditlidie  yornntenacbaiig. 


109 


G«riohtBbof  über  die  Eröffnung  der  Ilauptverhandlun^  entscheidet. 
Bei  seinem  Vorsclilai:  ist  das  Gericht  aber  noch  viel  mangelhafter 
unterrichtet,  wenn  Mf  imm^verschiedenheiten  zwiselien  Staatsanwalt 
und  rntersuchungsricliter  bezüglicii  Eröffnung?  der  Hauptverhandlung;, 
die  sie  nach  Kroneckers  Vorschlag  aussprechen  sollen,  ausl)r»'ciipn ; 
wie  nämlich  auf  Grund  des  kurzen  Protokolls,  das  Kroneeker 
empfiehlt,  das  (iericht  eine  objektive  Entscheidung  treffen  soll,  ist 
mir  nicht  recht  klar.  Also  ein  Protokoll  muH  doch  geführt  werden. 
Aul'terdem  soll  diese  mündliche  Voruntersuchung  auch  noch  die  heu- 
tige Beschlulifassung  über  die  Eröffnung  des  Ilauptverfahrens  ersetzen. 
Tut  man  dies  (vergl.  Kronecker),  so  hat  man  überhaupt  keine  ge- 
nchtliche  Voruntersuchung  mehr,  denn  diese  sog.  mündliche  gericht- 
liche Vonmtersucbung  ist  dann  nichts  weiter  als  eine  Beschlußfassung^ 
Aber  die  Erflffidung  des  HauptTerEahiens  Sodann  aber  ist  die  pmk- 
tisohe  Dnrdiflibrbarkeit  einer  solcben  mfindlichen  Vonmtersncbanf^ 
mit  Recht  bezweifelt^.  Es  wflrde  eine  solche  Vorantersnchung  eine 
große  Yenohleppong  der  Proseese  nnd  vor  allem  eine  maßlose  Be- 
lästigung der  Zeugen  henrormfen.  Voraassetzung  fOr  diese  mflnd- 
lidie  Yomntennchnng  ist  immer,  daß  die  An^iabe  des  staaisanwalt- 
liehen  Eimittelnngsyerfabrens  bereits  Tollkommen  gelOst  ist  Ist  dies 
nicht  der  Fall,  so  versagt  der  ganze  Apparat  Besonders  wflrde  dies 
eintreten  bei  einem  etwaigen  Weohsd  in  der  Person  des  Angeschul- 
digten. Hier  wflrde  die  ganze  Verhandlung  nutzlos  sein  und  müßte 
ganz  Ton  neuem  begonnen  werden,  weil  der  Angeschuldigte  ja 
Kenntnis  von  allem  vorgebrachten  Belastungsmaterial  haben  soll. 
Auch  manche  Beweiserhebungen,  die  jetzt  schriftlich  geschehen,  würden 
fflr  die  Hauptverhandlung  verloren  gehen,  z.  B.  es  stirbt  ein  Zeuge 
in  der  Zeit  zwischen  Voruntersuchung  und  Hauptverhandlung.  Schließ- 
lieh  das  wichtigste  aber  ist,  daR  eine  solche  Voruntersuchung  entweder 
nicht  gründlich  genug  ausfällt,  dann  kann  man  sie  lieber  ganz  fallen 
lassen;  oder  aber  sie  füllt  zu  gründlich  aus  und  diese  Gefahr  liegt 
sehr  nahe.  Kronecker  behauptet,  die  schriftliehen  Protokolle  der 
jetzigen  gerichtlichen  Voruntersuchung  beeinträchtigten  die  münd- 
liche Haupt  Verhandlung.  Meiner  Meinung  nach  aber  kann  die  Huupt- 
verhandlung  nicht  schlininier  beeinträchtigt  werden  als  durch  eine 
solche  mündliche  Vor  Untersuchung.  Die  Haupt  Verhandlung  würde 
eine  immer  untergeordnetere  Stellung  bekoiumen,  falls  sie  nicht  ganz 
fortfällt,  was  Kronecker  ja  auch  bei  leichten  Fällen  gelten  lassen 
will.    Mit  der  Zeit  würden  sich  durch  Einfülirung  eines  solchen  Ver- 

1)  So  mit  iJecht  v.  Ki  ie;*,  Zcitschr.  f.  ges.  StR.W.  IX.  95ff. 

2)  Su  iieiuze  a.  a.  O.,  v.  Krics  a.  a.  0. 


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110 


n.  Pounx 


fahrens  die«ell)en  l  hclstände  ergeben,  die  ,im  genieinrecbtlicben  In- 
quisitionsprozelt  f^eberrscbt  haben.  Die  Trennung  von  Vorunter- 
suchung und  Hauptverfabren  würde  verwischt  werden.  Und  diese 
Mißstände  werden  meiner  Meinung  nach  auch  immer  eintreten,  wenn 
die  gerichtliche  Voruntersuchung  und  die  Ilauptverbandlung  von  den- 
selben Prinzipien  beherrscht  sind.  Auch  heute  noch  ist  Zachariaes 
Vorschlag  zu  berücksichtigen,  der  da.s  Inquisitionsprinzip  verbunden 
mit  Schriftlichkeit  und  Heimlichkeit  des  Verfahrens,  als  einzig  brauch- 
bare Form  für  die  Vonmtersacüung  betrachtete  (Zachariae:  Ge- 
broehea  und  Beform  to  Krim.-Fn»ze8Bes.  Güttingen  1846.  S.  224£L). 
010  nftehate  Folge  ron  der  EinfiihrnDg  einer  mtndlidieii  gericht- 
liehen  YomntefBncbaQg  wlMe  die  Einf&hnmg  des  BeformyoiBehlages 
sdn,  den  John  in  sdnem  Kommentar  znr  Stn4>roBeßordnung 
(II,  S.  188lf.)  macht:  «Die  Trennung  des  VerCahrens  in  Vonrer 
ftJuea  ataatoanwaltlichea  ErnuttelnngfTerCahren  und  gerichtliehe 
Vorantarsnchnng)  und  HanptreiCahren  ist  anfinigebeo.  Derselbe  Vo^ 
schlag  war  für  den  gemeinrechtlichen  InqoisitionsproBeß  von  Dal> 
berg  (Entwarf  eines  Ctosetzbnches  in  Krimiaalsachen,  Teil  I,  Ab- 
schnitt VI,  §  1  gemacht,  süeß  damals  aber  anf  schweren  Wideistaad 
und  Widerspruch  (s.  bes.  Eschenbach:  Generalinquisition  §  8). 
Nach  Johns  Vorschlag  würde  eine  Verhandlung  stattfindon,  wie 
Kroneoker  sie  für  die  gerichtliche  Vomntersuchung  wünscht,  auf 
welche  hin  sofort  das  Urteil  gesprochen  wird,  indem  dem  Unter- 
suchnngsrichter  frloioh  eine  Anzahl  Richter  oder  Geschworene  bei- 
gegeben werden.  Ein  solches  Strafverfahren  läßt  vielleicht  an  Kürze 
nichts  zu  wünschen  übrig,  aber  welche  Garantien  bietet  es?  Nach 
V.  Kries'  Meinung  bedeutet  der  Vorschlag  von  John  nichts  weiter 
als  Einfühning  des  tremeinreclitlichen  Inquisitionsprozesses  verbessert 
durch  Einführung  der  ()ffentlichkeit,  verschlechtert  dadurch,  daß  die 
Trennung  von  untersuchendem  und  erkennendem  Hicbter  aufgegeben 
wird. 

Ganz  neuerdings  hat  sich  Bornhak  für  eine  raiindliche  und 
öffentliche  Voruntersuchung  ausgesprochen.  Er  tadelt  besonders  die 
Zersplitterung  der  staatlichen  Strafaktion,  daß  sich  zuerst  die  Polizei, 
dann  der  Staatsanwalt,  darauf  der  Untersuchungsrichter,  dann  wieder 
der  Staatsainviilt  mit  der  Sache  beschäftige;  daß  dann  noch  ein  Ge- 
richtsbesch lu  Ii  über  die  Eröffnung  des  Haupt  Verfahrens  folge,  ehe  es 
znr  Hauptverhandlung  komme.  Born  hak  schwebt  als  Ziel,  das  so 
schnell  wie  mögli^  erreidit  werden  muß^  vor  Augen  ein  Otteutlidier 
nnd  mflndficher  Inqnisilionsproseß.  Der  Änklageprozeß  nnd  mit  ihm 
die  StaatsanwaltBchafl  ist  au&nheben.   Das  Vonrer&hren  denkt  sich 


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Die  geridbtUcbe  yorantenudniii^. 


III 


Bornhak  folgendermaßen:  es  ist  öffentlich  und  mündlich.  AUeAuB- 
SiO^en  müssen  aber  ausführlich  protokolliert,  verlesen  und  von  den 
vernommenen  Personen  genehmigt  werden.  Die  Zeugen  sind  sofort 
zu  vereidigen.  Das  Vorverfahren  ist  ein  allgemeines,  solange  ein  be- 
stimmter Beschuldigter  noch  nicht  vorhanden  ist.  Ist  er  vorhanden, 
so  kommt  es  zum  besonderen  Vorverfaliren,  welches  durch  Beschluli 
des  Amts-  rCvSp.  Untersuchungsrichters  eröffnet  wird.  In  diesem 
besonderen  Vorverlahren  dürfen  üntersuchungshandlungen  nur  vor- 
genommen werden,  wenn  der  Verteidiger  und  der  Beschuldigte  ge- 
laden sind.  Der  Verteidiger  hat  sich  passiv  zu  verhalten,  hat  höchstens 
ebenso  wie  der  Angeschuldigte  das  Recht  der  Antragistellung  von 
Entlastungsmomenten.  Der  Untersuchungsrichter  betreibt  daä  Vor- 
verfaloaii  T<m  AmtB  wegen  md  hat  sowohl  die  ESnUaBtangs-  wie  Be- 
lastnngsmomente  zu  berfleksiehtigeii*  Die  Besohlußtonng  Uber  Er- 
Qffhnng  des  Hanpt^erfobrens  erfolgt  bei  Veigeheii  duroh  den  Unter- 
snchimgsriehter  allein;  bei  Yerbreohen  wird  ein  zweiter  Richter  als 
Korreferent  zugezogen.  Sind  beide  Tenohiedener  Ansieht,  so  ent- 
scheidet der  Direktor  der  Strafkammer.  Auch  im  Hanptyerfohren 
soll  der  Unteisnchnngsriehter,  der  das  Yorrerfahren  gef fthrt  hat,  Sitz 
nnd  Stimme  haben. 

Ffir  diesen  Vorschlag  wird  Bornhak  wohl  wenige  Anhänger 
finden.  Ein  Verfahren,  welches  vor  100  Jahren  henschte  und  trotz 
seiner  großen  Nachteile  erst  nach  vieler  Mühe  beseitigt  wurde,  wieder 
einzuführen  mit  einigen  Verbesserungen  wie  Mündlichkeit  und  Öffent- 
lichkeit, die  übrigens  bei  Bornbaks  Verfahren  darehaas  keine  Be> 
deutung  haben,  dürfte  kaum  ratsam  sein. 

In  ähnlichem  Sinne  spricht  sich  Knie  mann  aus.  Auch  er  wünscht 
eine  mündliche  und  öffentliche  Voruntersuchung,  da  weder  der  Staats- 
anwalt und  Verteidiger  noch  die  Anklagekammer  sich  ein  vorläufiges 
Urteil  über  die  Sehidd  oder  Unschuld  des  Angeschuldigten  erlaul)en 
können  auf  Grund  der  Akten,  die  „ein  so  trauriges  Surrogat  der 
Wirklichkeit"  bilden  sollen.  Daher  erkläre  sich  auch  der  Milibrauch, 
der  in  praxi  beim  Eröffnungsverfahren  herrische.  Der  Referent  er- 
kundige sich  meistens  beim  Untersuchungsrichter  über  den  Eindruck, 
den  der  Angeschuldigte  bezw.  Zeuge  auf  ihn  gemacht  habe.  Die 
übrigen  Mitglieder  der  Ankhigekammer  seien,  ohne  die  Akten  über- 
haupt durchzulesen,  der  Meinung  <les  Referenten,  die  in  fast  allen 
Fällen  auf  Eröffnung  des  Ilauptverfahrens  geht,  da  man  ,,dem  er- 
kennenden Gericht  nicht  vorgreifen  dürfe".  Diese  Mißstände  in  praxi 
sind  für  Kulemann  der  Hauptgrund,  aus  dem  die  Voruntersuchung 
einer  Beform  bedarf.  Nicht  anf  Grundlage  von  Akten  soll  gehandelt 


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112 


werden,  da  sie  mir  ein  tranrigeB  Surrogat  der  Wirldiolikeit  bilden 
nnd  weil  es  oaeh  Eolemanns  Andcbt  „über  die  menacUiehe  Kraft* 
jedes  erkennenden  Richters  ^ebe,  den  Akten  der  Voruntersnchang 
gegenüber  vomiteüafrei  sn  bleiben;  yielmehr  üff entlich  und  mündlieh 
8oU  die  Vomntersuchung  gesebeben.  Über  die  Eröffnung  des  Haupt- 
Verfahrens  entscheidet  dann  notgedrungen  der  Untersudinngariehter 
da  keine  Akten  vorhanden  sind,  und  er  soll  dazu  allein  geeignet  sein, 
weil  nnr  er  nnterricbtet  ist  über  die  Einzelheiten  des  bisherigen  Ver- 
fahrens. Und  ans  diesem  Grunde  soll  der  üntersuchungsricliter,  <len 
man  nach  Kulemann  zweokmänifrcr  „Untersuchungsbeamter"  nennen 
soll,  auch  in  der  Ilauptverliandlung  die  Anklage  vertreten;  daneben 
soll  ihn  der  Verletzte  als  Nebenklä^^er  unterstützen,  bei  Fehlen  eines 
solchen  der  Staatsanwalt.  Dies  sind  m  Kürze  die  Reformgedanken 
Kulenianns.  —  Auch  dieser  Reform  Vorschlag  läuft  ungefähr  auf  das- 
selbe hinaus  wie  die  von  Kronecker  und  Bornhak.  Man  bekommt, 
wie  Kulemann  dies  auch  wünscht,  ein  Vorverfahren,  das  schon  sämt- 
liche Beweismittel  sammelt  und  erschöpft,  und  hinterher  ein  feierliches 
Nachspiel,  welches  man  dann  noch  „Hauptverhandlung"  nennen  will, 
Da  keine  Akten  vorhanden  sind,  mul»  das  Gericht  ja  notwendiger- 
weise den  Ausführungen  des  Untersuchungsrichters  Folge  leisten,  und 
man  könnte  dann  ja  auch,  um  die  Reform  vollständig  zu  machen, 
diese  :HauptveihaDdluDg  beiseite  lassen.  Denn  der  Unteisuchnngs- 
riehter  isl  denn  dneh  bei  weitem  geeigneter,  das  ürtell  sn  ftUen,  als 
das  erkennende  Geriebt,  das  naeb  Enlemanns  Vorseblag  gar  kerne 
Ahnung  hat  von  dem  ihm  vorliegenden  Fall,  und  aneh  keine  Akten, 
ans  denen  es  sieh  die  erforderliche  Kenntnis  yerBohaffen  kann.  Wie 
nftmUeh  ans  der  „knrsen*^  Hanpt?erhandlung|  die  Eulenuum  verlangt 
wegen  der  Qrfindfichkeit  seines  YonrerfiahrenSy  sieh  die  Biehter 
ein  seibetindiges  Urteil  bilden  sollen,  ist  mir  nieht  reeht  klar.  Sie 
werden,  wenn  sie  flberhanpt  entsehaden  sollen,  sdion  der  Meinung 
des  ünterBuchungsriohters  folgen  mllsaen.  Wur  würden  somit  wieder 
ein  Verfahren  bekommen,  in  dem  die  Tittigkeit  der  strafverfolgenden 
Behörden  auf  eine  einzige  Person  kruuentriert  wird.  Dieses  Verfahren 
soll  dann  große  Vorteile  bieten  dadurch,  daß  es  öffentlich  und  münd- 
lich ist  Die  Öffentlichkeit  wird  dazu  beitragen,  daß  der  Untersuch ungs- 
zweck  in  vielen  Fällen  vereitelt  wird,  wie  oben  S.  103  dargelegt 
Die  Mündlichkeit  ist  gedgnet,  jeder  Verzögerung  des  Verfabrens  vorzu- 
beugen. Wir  bekommen  auf  diese  Weise  ein  sehr  kurzes,  summarisohes 
Strafverfahren,  bei  dem  der  Staat  auch  jährlich  große  Summen  sparen 
kann  (Kulemann  8.  6  I  i.  Aber  Garantien  bietet  ein  solches  Verfahren 
ganz  und  gar  nicht.  Wie  oben  (§§  15  u.  16)  ausgeführt,  gewährt 


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Die  goricbtlicbe  Voruntereucbung. 


113 


die  heutige  gerichtliche  Vonmtersuchung  dodi  entschieden  bessere 
Garantien  (ür  eine  gerechte  Strafreditspflege.  Kommen  in  praxi  bei 
diesem  Verfahren  und  dem  Uber  Eröffnung  des  Hanptyer&hieoB 
wirklich  so  schwere  VerstSfie  gegen  die  gesetxUcben  Bestimmiingen 
Yor,  wie  Knlemann  behauptet  und  mit  ihm  viele  andere,  so  ist  das 
Gesetz  doch  hieran  wohl  nicht  schuld.  Jedes  Gesetz,  das  in  praxi 
nicht  ordentlich  angewendet  wird,  fahrt  naturgemäß  zu  Hifiständen. 
Deshalb  ist  man  m.  £.  aber  noch  nicht  berechtigt^  die  Beseitigung  dieses 
Gesetzes  zu  verlangen.  Denn  wer  bliigt  daffir,  daß  das  reformierte 
Gesetz  nicht  ebenso  lüssig  angewendet  wird?  Gerade  aber  die  Fehler, 
mit  denen  das  Verfahren  in  praxi  behaftet  sein  soll,  werden  neuer- 
dings als  Gründe  aufgestellt,  die  die  Beseitigung  der  gerichtlichen 
Voruntersuchung')  resp.  eine  radikale  Umwälzung  des  ganzen  Straf- 
Tcnrfahrens  rechtfertigen  sollen.  —  Und  man  muß  sich  tatsächlich 
wundem,  daß  auf  dem  letzten  Kongreß  der  Internationalen  kriminali- 
stiscben  Vereinigung  in  Dresden  (6.  Juni  1903)  nur  ein  «ttziger  Jurist 
gegen  derartige  Reformvorschläge  aufgetreten  ist.  Dr.  Weingart  steht, 
wenigsten  nach  den  Zeitungsberichten,  die  anscheinend  auf  Grund 
besonderer  Sachkenntnis  energisch  Beseitigung'  der  gerichtlichen  Vor- 
untersuchung verlangen,  vereinzelt  mit  seiner  Meinung  da.  Weingart 
sa^t  ganz  mit  Kecht:  Die  Mißstünde  des  Verfahrens,  die  neuerdings 
hervorgesuciit  werden,  iiiu  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  die 
Existenz  zu  rauben -j,  sind  durciiwci,'  solcher  Art,  daß  sie  im  Ver- 
waltungswege beseitigt  werden  können,  wenn  gut  vor- 
gebildete gewissenhafte  Richter  das  Verfahren  gemäß 
den  Vorschriften  des  Gesetzes  führen-').  Und  diese  Ansicht 
ist  auch  durchaus  die  meinige.  Die  Beibehaltung  der  gericht- 
lichen Voruntersuch  ung  vi  ellei  ch  tm  it  er  w  ei  tertcrl'arteien- 
öffentlichkeit  erscheint  mir  bedeutend  vorteilhafter  als 
alle  Beformvorschläge,  die  neuerdings  gemacht  werden. 

Im  obigen  habe  ich  darzulegen  gesucht,  daß  die  gerichtliche 
Voruntersuchung  eine  große  Bedeutung  in  unserem  Strafverfahren  hat 
daß  sie  insbesondere  neben  dem  staatsanwaltlichen  Ermittelungs- 
yerbihren  entschiedene  Existenzberechtigung  besitast  Sodann  habe  ich 
untersucht,  ob  eme  fundamentale  und  radikale  Änderung  der  gericht- 
lichen Voruntersuchung  wünschenswert  ist  Ich  bin  zu  der  Ansicht 

1)  Die  riltri;^(Mis  meines  Erachtons  noch  das  kleinere  Cbei  wäre  gegenüber 
den  Keformvoi-schlägen  \un  Kroneckor,  Jolin,  Bornhnk  und  Kulemunn. 

2)  Denn  mit  sachlichcu  Argumenten  die  Beseitigung  der  VonmterBachuug 
begrfinden  sn  wollen,  ist  meine«  EiBditens  nicht  möglich  (vgl  §  15  a.  16). 

3)  Eben  dieser  Ansicht  ist  auch  H.  Groß  aia.0.  S.  2Sff* 
Arahir  (Ar  Ktiminahuithiopologi*.  XUI.  8 


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114 


II.  Pousur 


gekommen,  da(>  dies  nicht  der  Fall  ist.  Ks  dürfte  überhaupt  in  den 
vielen  Vorschlägen,  die  für  radikale  Veränderung  der  •rerichtlichen 
Voruntersuchung  der  deutschen  Strafprozeßordnung  gemacht  sind, 
nicht  sehr  viel  Brauchbares  vorhanden  sein,  wie  schon  v.  Eries  (Zb. 
für  ges.  St-R.-W  IX  S.  95  ff.)  sagt  Es  soll  duoliai»  mobt  YvAMmA 
werden,  daß  nnsoro  beatige  geriehtliohe  Vonuttersachnng  anch  ihre 
sehwaohen  Sdten  hat  Die  BeformTonehUlge  aber  haben  neben 
manchen  Vorteilen  anoh  wieder  ihre  großen  Kacbteile  nnd  swar  smn 
Teit  dieselben,  die  man  der  heutigen  Yoranteraachnng  yorwirft,  zom  Teil 
nooh  schlimmere,  die  bd  Einfabrong  der  Reformyorsobläge  in  der 
Praxis  sieb  erst  lecht  fflhlbar  machen  würden.  Dahv  dürfte  es  wohl 
das  Richtigste  sein,  nnsere  geiicbtlicbe  Yorantersnchung,  allerdings  mit 
erweiterter  ParteienQffentlichkeit,  zn  behalten,  solange  man  kdn 
besseres  Verfahren  an  ihre  Stelle  setzen  kann. 

§  18. 

Atthaay:  Kurze  Cbersl<>ht  UI>or  die  ireriehtUche  VorunterKuehung  in  dea  wieh- 
tigsten  «uberdeatächeu  enroplUseheu  Stimfprozeüiordnuiiir^n* 

I.  Nächst  Deutschland  dürfte  vor  allem  die  österreichische 
Strafprozeßordnung  von  1S73  zu  berücksichtigen  sein.  Als 
wichtigster  Unterschied  gegenüber  der  deutschen  Voruntersuchung  ergibt 
sich  hier,  daß  der  Süiafsnnwalt  über  die  Klage  völlig  freier  Ilerr 
bleibt.  Der  Staatsanwalt  näinlich  hat  das  Kecb^  jederzeit  die  be- 
antragte gerichtliche  Voruntersuchung  aufzuheben;  auch  nach  be- 
endeter Voruntersuchung  ist  es  in  das  Ermessen  des  Staatsanwalts 
gestellt,  ob  er  die  Anklage  erliclien  will  oder  nicht.  Eine  gerichtliche 
Heschlußfassung  über  die  Eniffnung  des  Ilauptverfahrens  findet  in 
der  Kegel  niclit  statt;  nur  falls  der  Beschuldigte  eine  solche  beantragt, 
ist  dieselbe  erforderlich;  die  Entselieidiing  des  Gerichts  ist  aber  auch 
in  diesem  Falle,  wenn  es  dem  Antrage  des  Angeschuldigten  (Be- 
schuldigten nach  der  österr.  St.-P.-O.)  Folge  leistet,  mehr  eine  Prüfung, 
ob  der  P^inspruch  des  Angeschuldigten  gegen  die  vom  Staatsanwalt 
erhobene  Anklage  begründet  ist,  als  eine  Beschluiifassung  über  Er- 
öffnung des  Ilauptverfahrens.  —  In  Deutschland  dagegen  ist,  wie 
bekannt,  dem  Staatsanwalt,  sobald  er  die  Eröffnung  der  gericliiliciien 
Voruntersuchung  beantragt  hat,  jede  selbständige  Verfügung  über 
die  Klage  genommen.  Das  Gericht  entscheidet  über  die  Eröffnung 
des  HauptverfohrenSy  nnd  an  diese  Entscheidungen  ist  der  Staats- 
anwalt gebunden.  Abgesehen  von  diesem  prinzipiellen  Unterschied 
stimmt  die  gerichtliche  Voruntersuchung  der  öeterr.  Stw-P.-0.  mit  den 
Vorschriften  der  deutschen  Strafprozeßordnung  fast  yöUig  übeiein; 


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Die  gerichtliche  Voiunteraachaiig. 


115 


Bo  t)cson(lers  hinsichtlich  der  Znlässi^^keit  der  gerichtlichen  Vorunter- 
suchung, der  Verteidigung  des  Angeschuldigten,  des  Rechts  der  Akten- 
einsicht,  der  Parteienöffentlichkeit  nsw.  Als  Abweichungen  sind  zu 
erwähnen,  daß  der  Antrag  des  Staatsanwalts  anf  EfOffinmg  der  ge- 
rioh1iu)hen  Voniiitenniebiiiig  die  Angabe  aller  VerdachtsgrUnde  ent- 
halten rnnls  (österr.  St-P.-O.  %  92  II),  was  sieh  au  der  deutschen  Straf- 
prozefiordnnng  (§  177}  nioht  ergibt;  ferner  hat  der  Untenaehiings- 
richter  nach  dsteir.  St-P.-O.  §  92  lU  das  Beeht,  die  Znläasigkeit  des 
Antrags  des  Staatsanwalts  nach  allen  Bichtungen  zu  prOfeo,  während 
naoh  der  deatschen  StrafprozeßordanDg  (§  178)  die  PrÖfamg  des 
üntenmchnngsriehteis  sieh  nnr  daranf  erstreek^  ob  der  Antrag  des 
Staatsanwaltes  einigen  einseln  anfgefllhrtea  Voranssetznngen  entaprioht 
Bei  der  Veniehmmig  des  Besehnldigten  sind  naöh  der  Osterreiohisehen 
Strafprozeßordnung  zwei  Gerichtszengen  zuzuziehen;  diese  Vorschrift 
besweckt  eine  Sicherstellung  des  Angeschuldigten  vor  Anwendung 
unerlaubter  Zwangsmittel  durch  den  Untersuchungsrichter.  Immerhin 
zweckmäßiger  dürfte  es  doch  sein;  dem  Verteidiger  des  Angeschol- 
digton  die  Anwesenheit  zu  gestatten;  die  Anwesenheit  des  Verteidigeis 
hat  für  den  Angeschuldigten  entschieden  mehr  Nntsen,  als  die  sweier 
Gerieb  tszengea. 

In  Ungarn  gilt  die  Strafprozeßordnung  von  189ö. 
Die  Vorschriften  über  die  Voruntersuchung  unterscheiden  sich  wenig 
von  denen  der  deutschen  Strafprozeliordnung.  Zu  erwähnen  wäre 
nur:  obligatorisch  ist  die  gerichtliche  Voruntersuchung  („Untersuchung- 
genannt) bei  allen  Prelidelikten  und  bei  den  Verbrechen,  die  mit 
mehr  als  5  Jahr  Freiheitsstrafe  resp.  mit  der  Todesstrafe  bedroht 
sind.  Bei  Ergreifung  des  Täters  in  flagranti  ist  eine  gerichtliclu;  Vor- 
untersuchung nicht  erforderlich.  Bei  der  Vernehmung  des  Angeschul- 
digten sind  wie  in  Österreich  zwei  (Tcrichtszeugen  zuzuziehen,  Parteien- 
öffentlichkeit bei  ihr  wie  bei  den  Zeugenvernehmungen  ist  in  der 
Regel  nicht  gestattet. 

II.  Italien.  Hier  gilt  augenblicklich  noch  der  Codice  di 
procedura  penale  ron  1S6  5.  Dieser  brachte  aber  keine  Beform 
des  Strafprozesses^  sradeni  war  lediglioh  eine  BeTisiou  des  Godice 
Yon  1859,  der  seinerseits  ebenso  wie  die  Straf prozefk>rdnuig  von  1897 
nur  ebe  getreue  Kachbildong  des  Oode  d'instruotion  criminelle  Frank* 
leichs  Yon  1808  ist  Es  kann  somit  auf  Frankreich  Tcrwiesen  werden. 
Zu  erwähnen  ist  allerdings  noch,  daß  augenblicklich  eine  Beform 
des  Strafprozesses  in  Italien  vorbereitet  wird')*  Die  für  die 


1)  Vgl.  V.  Bar  in  Goltd.  ÄxMv.  1901.  8. 88fr. 

8» 


Diyilizua  by  v^üOgle 


116 


IL  Pouor 


crerichtliche  Voruntersuchuni^  hier  geplanten  Reformen  bestehen  in  folg-en- 
deni :  Der  Untersuchungsrichter  soll  bei  der  Vernehmung  des  Be- 
schuldigten diesem  die  Hescliuldigung  und  die  gesammelten  Beweise 
nebst  Quellen  kundtun,  ihn  auüerdem  darauf  aufmerksiini  machen, 
daß  er  zu  keiner  Antwort  verpflichtet  sei.  Falls  der  Angeschuldigte 
noch  keinen  Verteidiger  hat,  soll  von  Amts  wegen  der  Untersncbungs- 
riehter  ebioi  Bolofaeii  beatelleD.  IHdit  khur  za  etaAm  ist  ans  dem 
EDtwnrfOy  ob  bei  der  Vernehmung  des  Ängeechnldigten  Parteien- 
öflendiehkeit  herrsohen  soll,  die  im  flbrigen  nnr  wie  anefa  in  Dentsch- 
land  bei  endgültigen  Beweiserhebungen  in  der  geciehtlichen  Vor- 
nntennehong  snUssig  ist  In  Saishen,  die  vor  die  Gerichte  mittlerer 
Ordnung  gehdren,  ist  die  Eröffnung  der  Voruntersuchung  in  das  Er- 
messen des  Staatsanwaltes  gestdlt  Der  Angeschuldigte  und  das  Ge- 
richt können  eine  solche  nicht  beantragen,  was  sehr  su  bedauern  ist. 
Von  sweifelhaflem  Werte  eisoheint  mir  ferner  die  Vorschrift,  daß  die 
Beschlußfassung  über  die  Eröffnung  des  Hanptveifahrens  mfindlioh 
erfolgen  soll  und  bei  einem  Geständnis  des  Beschuldigten  die  Haupt- 
verhandlung  ausfallen  kann.  Im  übrigen  stellt  der  Entwarf  für  die 
gerichtliche  VorunterBuchnng  ähnliche  Vorschriften  an^  wie  sie  die 
deutsche  Strafprozelbrdnung  aufweist 

III.  Spanien >):  In  Spanien  sieht  es  mit  der  Strafgesetzgebong 
sehr  schlecht  aus.  Bis  1872  war  der  ganze  Prozeß  völlig  inqui- 
sitorisch und  schriftlich.  1872  wurde  ein  Verfahren  eingeführt,  das 
sich  vollkommen  auf  der  Höhe  der  Gesetzgebunfron  'der  zivilisier- 
testen Staaten  Europas  bewegte.  Bereits  1875  aber  wurde  das  münd- 
liche und  öffentliche  Verfahren  der  Ilauptverhandlung  witnler  be- 
seitigt und  es  herrscht  bis  heute  noch  der  schriftliche  Inquisitions- 
prozeß. 

IV.  England:  Für  England  gilt  noch  heute  das  Verfahren,  wie 
es  in  §  7  II  dieser  Arbeit  geschildert  ist.  Es  gibt  in  England  noch 
immer  keine  Staatsanwaltschaft  trotz  vieler  Wünsche,  die  auf  Ein- 
führung einer  solchen  wie  einer  gerichtlichen  Voruntersuchung  ab- 
zielen-). Klage  zu  erbeben  ist  in  England  Sache  des  Verletzten,  der 
sich  auch  sein  Ankiageniaterial  selbst  sammelt.  Also  ist  für  eine  ge- 
richtliche Voruntersuchung  kein  Platz.  Es  findet  unter  Umständen 
nur  eine  mündliche  kontradiktorische  Verhandlung  statt,  die  man 
freilich  „Vomntersucbung'*  nennte  die  in  Wirklichkeit  aber  nichts 

1)  Thicracb,  AnwendimgBgebiet  der  Frivatklage.  Berlin  1901.  (ä.den§ 

über  ^Spanien'".) 

2)  Vgl.  Liepmauu,  Zcitschr.  f.  ges.  St  It.  \V.  VI.  413ff.  Hahn,  Materialien 
zur  St  P.O.  (2.  Aufl.  1884.)  1.  Bd.  8. 166.  Amn.  1. 


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Die  gericbtHdie  VomBtemidiaiMir. 


117 


anderes  ist,  als  eine  Beschlnßfassnng  Uber  die  Eröffnimg  des  Hanpt- 

▼erfahrens. 

V.  In  Frankreich  herrscht  noch  heute  der  Code  d'instruction 
criminelle  von  1808^  durch  einige  Novellen  geändert.  Für  die  Vor- 
antersuchung  kommen  in  Betracht  die  Gesetze  von  1S56  (Aufhebung 
der  Ratskammer)  und  besonders  das  Gesetz  vom  S.  Dezember  1897, 
welches  erweiterte  Parteienöffentlichkeit  in  der  gerichtlichen  Vorunter- 
suchung gestattet,  aber  ein  kontradiktorisches  Verfahren  in  derselben 
mit  Recht  zurückweist.  Über  alles  dies  s.  o.  §  7  I.  Das  französische 
Verfahren  ist  im  übrigen  auch  maßgebend  für  Belgien  und  Hol- 
land; es  sind  hier  nur  Abänderungsgesetze  ergangen,  so  in  Belgien 
ein  Gesetz  von  1S52  und  1874;  in  Holland  die  Strafprozeßordnung 
von  ISSG  mit  Novellen  von  1886,  1887  und  1889.  Alle  diese  Ge- 
setze haben  an  dem  Verfahren  in  der  gerichtlichen  Voruntersuchung 
so  gut  wie  nichts  geändert  In  diesen  Liindern  herrscht  also  eine 
geheime,  inquisitorische  Voruntersuchung  oline  l'arteienöffentlichkeit, 
eine  grolJe  Beschränkung  des  Verkehrs  zwischen  dem  Angeschul- 
digten und  seinem  Verteidiger  und  beschränkte  Akteneinsicht;  es 
gelten  somit  ziemlich  dieselben  Vorschriften  wie  in  Deutschland. 

VI.  Norwegen*):  Das  tiftero  norwegische  StiafyeE&hren  er- 
innert sehr  an  den  alten  gennanis^en  Strafprozeß.  Es  galt  ein 
öffendiches^  mfindliohes  Anklageyerfialiren  yor  den  Gangerichten,  in 
denen  jeder  Gangenosse  ein  Stimmrecht  hatte;  also  das  Volk  gab  den 
Bichterspmch.  Erst  |im  12.  Jahrhundert  kamen  ordentliche  Richter 
anf.  Die  Bestfttigang  des  Urteils  dnroh  das  Volk  yerschwindet  mehr 
und  mehr  und  beschrSakt  sich  anf  die  ^Lebens-  nnd  Ehrensachen**. 
Allmfthlioh  bildete  sidi  nnn  anch  die  Auffassung  auf ,  dafi  der  Staat 
als  solcher  anr  Verfolgung  ^der  Veibreehen  befugt  tuL  Eine  Ver- 
pflichtung hierzu  wurde  erst  im  17.  Jahrhundert  anerkannt  Die 
Verfolgung  lag  damals  der  Zivilobrigkeit  (Amtsmänner)  ob^  eine  Staats- 
anwaltschaft bestand  nicht.  Eine  gerichtliche  Voruntersuchung ,  die 
dem  Anklageverfahren  widersprach,  gab  es  bis  in  diese  Zeit  nicht 
Gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  drang  dann  aber  der  Inquisitions- 
prozeß  in  Norwegen  ein,  und  das  (tericlit  verfolgte  nun  die  Ver- 
brechen von  Amts  wegen,  zu  welchem  Zwecke  natürlich  eine  gericht- 
liche Voruntersuchung  nötig  erschien.  Genau  wie  in  Deutschland  bildete 
mit  der  Zeit  die  gerichtliche  Voruntersuchung  den  Mittelpunkt  des 
Strafverfahrens,  demgegenüber  das  Hauptverfabren  in  den  Hinter- 
grund trat    1877  wurde  für  Norwegen  eine  Strafprozeßord- 

1)  Vgl  Ila'.'^eriip,  Zoitechr.  f.  gcä.  St.itW.  IX.  lOSff.  and  daselbst  Anhang: 
Norwegische  ättafprozeßordnaiig  von  1S87. 


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118 


IL  POISIN 


nnn^  erlassen,  die  dem  Inquisitionsprozesse  ein  Ende  bereitete.  Seit- 
dem lierrscht  ein  akkusatorisches  Verfahren  mit  einer  ^richtlichen 
Voruntersuchung  in  den  schwierigeren  Fällen.  Die  Vorschriften  des 
Gesetzes  bringen  uns  dabei  nichts  Xeues,  da  die  norweirische  Straf- 
prozeßordnung sich  die  deutsche  Strafprozeßordnung  direkt  zum  Vor- 
bild genommen  hat. 

VII.  Schließlich  möchte  ich  noch  die  gerichtliche  Vorunter- 
Buchung  in  den  Kantonen  der  Schweiz  Ije8j)rechen 

A)  Charakter  der  Voruntersuchungj  ihre  Stellung 
zum  Haupt verfah ren: 

Eine  gerichtliche  Voruntersuchung  in  dem  Sinne,  daß  von  ihrer 
Eröffnung  an  das  Gericht  allein  die  weitere  Verfügung  über  die 
Sache  in  Händen  hat,  ist  vorbanden  in  Wallis,  Graubünden,  Glarus^ 
Zug,  Freiburg,  Genf,  Waadt,  Solothnm,  Neuenbürg ;  St.  GsUen,  LnxeKn, 
Bern  (Erimmaliioteraachiingj;  zweifellialt  ut,  ob  auch  Scbwyz  biolier 
gehört  Der  Name  für  die  gerichtliohe  Vornnteisiiehung  ist  yei^ 
schieden;  in  den  Kantonea  mit  akknaatorisehem  Yearfohren  f9hrt  aae 
den  Titel  VonmteEBndiiuig  (anch  üntenochimg),  wihiend  man  ia 
den  Kantonen  mit  inqniflitoriflohem  Yer&hien  die  Beacichnnng  „Haupt- 
nntenachnng"  für  sie  findet  Eine  gerichtspoliBeifiche  Vonlnfte^ 
tniihüng  in  dem  Sinnci  daß  swar  daa  Gericht  die  Yonintenachiuig 
führt,  die  StaatsanwaltBchafl  aber  die  VeEfflgung  über  die  Klage  be- 
hält, also  über  die  Erhebung  der  Klage  entscheidet,  ist  vorhanden  in 
Uri,  Ob-  und  Nidwaiden,  AppenaeU,  Schaff  hausen,  Tessin,  ßaselstadt. 
BaseUand,  Thurgau,  Zürich,  Aargau,  sowie  die  korrektioneile  Unter- 
sucbnng  in  St  Gallen,  Lnzem,  Bern.  Hier  haben  wir  also  im  eigent- 
lichen Sinne  keine  gerichtliche  Voruntersuchung,  sondern  nur  ein 
staatsanwaltlichcs  Ermittelungsverfahren;  denn  der  Richter,  der  hier 
die  Untersuchung  führt,  ist  kein  Richter,  denn  es  fehlt  ihm,  da  er 
den  Anträgen  des  Staatsanwalts  Folge  zu  leisten  hat,  ja  vollkommen 
die  dem  Richter  eigentümliche  Selbständiprkeit  und  Unabhängigkeit. 
Er  ist  vielmehr  nur  ein  Gehilfe  der  Staatsiinwaitschaft.  Charakte- 
ristisch für  die  «icrichtliche  Voruiitt  rsuchung  der  Kantone  der  erst- 
genannten Gruppe  ist,  dal)  dies  Verfahren  nicht  die  Erhebung  der 
Anklage,  sondern  vieliiielir  Fundierung  des  Urteils  bezweckt  Es  hat 
sich  in  diesen  Kantonen  also  der  alte  ln(piisitionsprozeß  erhalten,  wo 
es  auch  Aufgabe  der  Voruntersuchung  wurde,  den  Fall  spruchreif 
zu  machen. 

l)  Im  AnschluC  an  die  neuci"ding}»  erschienene  Disftoitnti'tn  von  C.  Meyer: 
Kritische  uml  vergleichende  I>ar.''tenung  der  VunrntersttchttUg  uacü  den  kantonalea 
ÖtrafpiDzeliordnuugen.   Zürich  l*^y7. 


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Die  geriditUcfae  Yonmteniidiiiiig. 


110 


An  den  alten  Inciuibitionsprozeli  erinnert  aueli,  daB  das  (iericbt 
diese  Vornntersuchunp  von  Amts  wej^en  eröffnen  kann  und  niclit  auf 
einen  Antrag  der  Staatsanwaltschaft  z\i  warten  braucht.  Nur  wenn 
bereits  ein  polizeiliches  Ennitteiun^sverfahren  voraus^a^^'anjüccn  ist, 
wird  die  Untersucliung'  auf  Antrag  des  Staatsanwaltes  eröffnet.  Nach 
Schluß  der  Voruntersuchung^  entsciieidet  dann  (his  Gericht  über  Ver- 
setzung:: in  den  Anklii^^ezustand  und  es  findet  dann  eine  öffentliche 
Schiuliverhandlung  statt.  In  ihr  wird  das  Urteil  entweder  auf  Grund 
der  Akten  der  Voruntersuchung  gefällt,  so  daß  das  erkennende  Ge- 
richt nicht  einmal  mehr  neue  Beweise  erheben  darf  (so  Uri,  Schwyz, 
UnterwaldeOf  Appenzell,  Scfaaffhaiueii,  WalÜB),  oder  aber  es  findet  eine 
öffentliehe,  mttndiiebe  akkusatoriache  Hanptrerhandlung  statt,  in  der 
das  Gericht  auf  Grand  eigener  unmittelbarer  Ansehauung  seinen 
Spruch  fiUlt  (80  GranbOnden,  Glarus»  Zug,  Freiburg,  Bern,  Genf, 
Waadt,  Neuenberg;  St.  Gallen  und  Luzem  bd  KriminidfäUen).  Da- 
neben aber  besteht  die  Voruntenuehung  fort,  als  ein  Stadium  der 
Beweiserbringung.  Dies  Verhiltnis  ist  aber  unhaltbar;  es  hätte  hier 
die  Vornntersuchung  beschrttnkt  werden  mdssen  auf  eine  bloße  Vor- 
bereitung der  Anklage  und  Hanptverhandiung,  was  aber  in  den  Ge- 
setzen dieser  Kantone  nicht  geschehen  ist;  yielmebr  haben  wir  eine 
inquisitorische  Vornntersuchung  mit  voller  Beweiserbringung  und 
dazu  cnie  akkusatorische  Hauptverhandlung,  die  die  Stellung  einer 
Beweisreproduktion  einnimmt.  Die  Hauptverhandlung  ist  also  nur 
eine  Wiederbclung  der  Voruntersuchung.  Die  richtige  Konsequoiz 
haben  nur  BaseUand,  Baselstadt,  SolotburUf  Zürich,  Aargau  und 
Thurgau  gezogen,  wo  es  Zweck  der  Voruntersuchung  ist,  die  Sache 
soweit  aufzuklären,  daß  eine  Anklage  erhoben  und  die  Hauptver- 
handlung ohne  grof5e  TjnterhrecliunL'-  diircliirefülirt  werden  kann.  — 
Von  Bedeutung  ist,  daÜ  die  \'oruntersuchung  in  den  Kantonen  durchweg 
heimlieh  ist;  eine  Ausnahme  macht  hierin  nur  Neuenburg  fArt.  286\ 
welches  die  Öffentlichkeit  der  Voruntersuchung  in  das  Ermessen  des 
Untersuchungsrichters  stellt 

Bi  Voraussetzungen  und  Notwendigkeit  der  Vor- 
untersuchung; St el  1  u n g  des  Staatsanwaltes  in  derselben. 

Abgesehen  von  den  Fällen,  wo  das  Gericht  von  Amts  wegen 
direkt  ohne  ein  vorheriges  Ermittelungsverfahren  die  Voruntersuchung 
beginnt,  ist  die  Eröffnung  derselben  von  einem  Antrage  des  Staats- 
anwaltes abhängig.  Notwendig  ist  die  gerichtliche  Voruntersuchung 
nach  französischem  Vorbild  bei  Verbrechen;  bei  Vergehen  bildet  ihre 
Abhaltung  die  Regel,  pdiseiliehe  Ermittelungen  genügen  jedoch  in 
Tessin,  Genf,  Aargau,  Baselstadl^  Uri,  Appenzell;  unstatthaft  ist  die 


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120 


IL  PoLsni 


Vonmteröucliuug  in  Polizeistraf  fällen,  sowie  bei  der  Amtsklage  in 
Vrif  wo  Personen  in  amtlicher  Eigenschaft  durch  Eid  verpflichtet 
sind,  gewisse  Veiiirechen,  die  ilrnen  zu  Ohran  kommen,  einzuklagen. 
Sobald  die  gerichtliche  Vornntenachiing  eröffnet  ist,  hat  das  Gericht 
daa  weitere  VeiUien  allein  in  der  Hand.  Die  Tätigkeit  der  Staats- 
anwaltschaft  beachrSnkt  sieh  darauf,  den  Unfeeranchnngariohter  zu 
nnterstlitaen  nnd  AntrSge  zu  stellen;  anfieidem  hat  sie  das  Beeht, 
allen  Untersnohnngshandlnngen  beizuwohnen.  Eine  Ausnahme  bildet 
hier  nur  der  Kanton  Waadf^  wo  der  Staatsanwalt  in  der  Begel  den 
ZengenTemehmangen,  sowie  dem  Verhör  des  Angeschuldigten  nicht 
beiwohnen  soll.  Geschieht  es  dennoch,  so  ist  auch  der  Verteidiger 
des  Angeschuldigten  zuzulassen. 

C)  Die  Stellung  des  Angeschuldigten: 

Für  die  Vernehmung  des  Angeschuldigten  gelten  ähnliche  Vor- 
schriften, wie  in  der  deutschen  Strafprozeßordnung.  Ein  Becbt  auf 
Kenntnisnahme  der  Akten  und  des  Heweismaterials  eriLennm  nur  die 
Kantone  mit  vorwiegend  akkusatorischem  Verfahren  an.  Hier  hat 
der  Angescliuldifi^e  resp.  sein  Verteidiger  das  Recht  der  Akteneinsicht 
schon  während  der  Voruntersuchung.  Tessin,  Obwalden,  Neuenburg, 
Glanis,  St.  Gallen,  Graubünden  gestatten  die  Akteneinsicht  dem  Ver- 
teidiger. Nicht  gestaltet  ist  sie  in  Wallis;  fakultativ  in  Solotburn; 
ZUrich  und  Aargau  gestatten  auch  fakultativ  dem  Angeschuldigten 
die  Akteneinsicht.  Am  weitesten  in  dieser  Richtung  geht  Genf  (Art.  63): 
en  matiere  criminelle,  la  copie  de  toutes  les  pißces  de  la  procödure 
est  dclivröe  i\  l'inculpe,  sans  frais  et  sur  jiapier  libre,  avec  la  signature 
du  greffier,  cinq  jours  au  moins,  avant  que  la  chambre  d'instruction 
ait  ä  statuer.  Teilnahme  an  Untersuchungshandlungen  ist  dem  An- 
geschuldigten gestattet  in  Zürich  und  Aargau,  sobald  förmliche  Ver- 
handlungen vor  dem  Untersuchungsrichter  erfolgen ;  in  Genf  nur,  wenn 
der  Angeschuldigte  es  verlangt. 

Der  Vertddiger  darf  an  allen  üntersuchungshandlungen  teil- 
nehmen in  Zürich,  Genf  und  Aaigan.  Waadt  und  Tessin  beschränken 
die  Gegenwart  auf  Augenscheinseinnahmen  und  Haussuchungen. 
Außerdem  ist  in  Waadt  der  Verteidiger  dann  immer  zuzulassen,  wenn 
der  Staatsanwalt  zugegen  ist  bei  der  Vernehmung  des  Angeschuldigten 
resp.  der  Zeugen.  Ausgeschlossen  ist  die  Anwesenheit  des  VerteidigeiB 
wie  die  des  Angeschuldigten  selbst  in  Baselstadt,  Thuigau,  Solothum 
und  Neuenbürg.  Wie  sich  aas  dem  Yorigen  ergibt,  ist  eine  Verteidigung 
des  Angeschuldigten  schon  während  der  Voruntersuchung  nur  in  einigen 
Kantonen  gestattet,  nämlich  in  Baaelstadt,  Waadt,  Genf,  Neuenbürg, 
Tessin,  Zürich,  Solothum  und  Aaigau.  Und  auch  diese  gestatten  die 


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Die  gcrichtiiehe  Vonmtemidiiiiig. 


121 


Gegenwart  des  Verteidigers  beim  ersten  Verhör  des  Angeschuldigten 
nirgends.  Der  Verkehr  des  Angeschuldigten  mit  seinem  Verteidiger  ist 
in  der  Regel  frei  und  ungehindert.  Nur  in  Sulotliurn  besteht  die 
Aufsicht  durcli  eine  Oerichtsperson.  Aulierdeni  kann  der  Verkehr 
des  Angeschuldigten  mit  dem  Verteidiger  in  einigen  Kantonen  auf 
gewisse  Zeit  verboten  werden  (sog.  mise  au  secret),  so  in  Aargau, 
Zürich,  Waadt  auf  14  Tage;  in  Neuenl)urg  und  Genf  auf  8  Tage. 

VIII.  Kesumö:  Aus  dem  obigen  ergibt  sich,  daß  in  allen  Straf- 
prozeßordnungen, die  wir  betrachtet  haben,  außer  England,  eine  ge- 
richtliche Voruntersuchung  sieh  findet.  Die  Unterschiede  und  Ab- 
weichungen, die  sich  zeigen,  sind  keine  fundamentalen^  abgesehen  von 
Spanien  und  dem  Teil  der  Schweiz,  wo  noch  der  alte  Inquisitions- 
prozeß  in  Übung  ist  Diese  fast  durchweg  ähnliche  Behandlung  der 
gerichüichen  VonrnterBUchong  in  den  Strafprozeßordnungen  der  ein- 
zelnen LBnder  aägt  aebon,  dftB  eine  fandameatale  Änderang  der  ge- 
richtlichen VonrnterBuohong  der  dentalen  Strafprozeßordnung  nicht 
am  Platze  ist  Vielmehr  nehmen  wäi  yiele  L&nder  die  denteche 
Stni^inrosefiordnnng  direkt  zum  Vorbilde,  so  Norwegen  nnd  der 
italienisohe  Entwurf  einer  Stmfprozefiordnnng  vom  Jahre  1900.  Wenn 
man  in  Dentaohland  eine  radikale  Änderang  der  gerichtlichen  Vor- 
nnterBüchnng,  die  so  vielfach  yeriangt  ward,  Tomehmen  wollte^  könnte 
man  sich  anf  das  Verfahren  anderer  Lftader  nicht  berufen,  da  hier 
gldche  oder  ganz  fthnfiche  Gmndsitze  herrschen  wie  in  Dentachland  % 
sondern  müßte  ein  in  keinem  I^de  bbher  geübtes  Verfahren  ein- 
führen.  Ob  dies  zweckmäßig  isl^  erscheint  mir  sehr  fraglich.  €terade 
die  Tatsache,  daß  besonders  in  neuerer  Zeit  bei  Reformen  der  ge- 
richtlichen Voruntersuchung  in  anderen  Ländern  die  deutsche  Straf- 
prozeßordnung mehrfach  zum  Vorbild  gedient  hat,  scheint  mir  zu 
beweisen,  daß  unsere  gerichtliche  Voruntersuchung  doch  nicht  ein 
so  schlechtes  und  mangelhaftes  Verfahren  ist,  wie  vielfach  behauptet 
wird. 


t)  England  kaau  deshalb  nicht  zum  Vorbilde  dieoeu,  weil  es  keine  gcricht- 
lidie  Vornntenuchung  besitzt  Vgl  oben  1 7,  II  «n  Ende  and  §  8.  IV. 


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III. 

£rfaliroDgeii  über  einige  wichtige  Gifte 
und  deren  Nachweis. 

Tob 

Prof.  Dr.  Julius  Kratter. 

Bearbeitet  nach  einem  im  Vereine  der  Arzte  in  btcicriuurk  am  23.  Februar  1903 
gehaUmenVoxtnig  mit  uigeBchloii«n«i  DemonatiatioBeii. 

Aus  dem  leiehen  Sebatee  langjllirigen  gerichtsärztlicbeii 

und  g^richdich-chemiBchen  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  der  Ver- 
giftungen einiges  Neue  und  auch  für  weitere  Kreiae  Wiaaenawerte 
daiznatelleni  ist  der  Zweck  der  folgenden  Mitteilungen.  Damm  werde 
ich  auch  nicht  gerade  die  Seltenheiten  gewiaaermaOen  als  eine  Art  * 
von  Raritätensammlung  vorführen,  sondern  einige  neue  Erfahnmgra 
Uber  altbekannte  und  häufig  gebrauchte  Gifte  erörtom. 

A.  Anorganische  Gifte. 
/,  Amen. 

Ich  beginne  mit  dem  König  der  Gifte  —  dem  Arsen.  Man  darf 
dieaea  Gift  wohl  so  bezeichnen,  weil  es  wenigstens  bei  uns  und  den 
angrenzenden  Tündern  weitaus  das  verbreiteteste,  bekannteste  und  meist 
gebrauchte  Gift  ist.  Man  könnte  es  mit  Recht  auch  das  Ilausgift  des 
Steirers  nennen;  denn  es  ^\ht  Gebenden  in  Steiermark,  z.  Ii.  im 
Koralpengebiet,  wo  es  kaum  in  einem  Bauernhause  felilen  dürfte. 
Man  kennt  es  liier  fast  nur  in  den  zwei  Formen  als  weiHen  und 
gelben  Arsenik,  weilier  und  gelber  ITüttenraucli  (Ilütlrach)  genannt 
Der  weilte  Arsenik  ist  bekanntlich  Arsentrioxyd  (Asi  0:0  oder  arsenige 
Säure,  der  gelbe  im  chemisch  reinen  Zustande  Arsentrisulfid  (AszSs). 
Wegen  seiner  fast  völligen  Unlöslichkeit  ist  chemisch  reines 
Arsentrisulfid  un giftig.  Der  in  den  Händen  der  Leute  befind- 
liche gelbe  Arsenik  ist  aher  ein  künstlich  durch  Zu.summen- 
schmeizen  von  weitem  Arsenik  mit  iSeliwefel  dargestelltes  Fräparat, 
das  zum  geringsten  Teile  aus  Arsentrisulfid,  dagegen  zum  weitaus 


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Erfahningen  fiber  einige  wichtige  Gifte  und  dvrea  KachwelB.  128 


größten  Teile  ans  araeniger  Sftnre  besteht  und  daher  in  hohen  Grade 

giftig  ist. 

Wir  haben  selbst  in  mehreren  Fftllen  den  Gebalt  des  gelben 
Arseniks  an  arseniger  Säure  quantitativ  genau  bestinimt  iin<l  gefunden, 
daß  die  gebräuchlichsten  Sorten  85  95  Proz.  Arseotrioxyd  enthalten. 
Dieser  künstlich  hergestellte  gelbe  Arsenik  ist  also  gewissennaßen  nur 
ein  durch  Schwefel  gelb  gefärbter  weilier  und  scheint  sich  auch  einer 
größeren  Beliebtheit  zu  erfreuen  als  dieser.  Ich  kann  es  wenigstens 
nicht  als  einen  Zufall  betrachten,  wenn  etwa  '■^j*  meiner  fälle  Ver- 
giftungen mit  dem  gelben  Arsenik  betreffen. 

Man  muß  sieli  mit  Recht  fragen,  wie  so  es  kommt,  daß  dieses 
Gift  eine  solche  Verbreitung  im  Volke  gefunden  hat.  Die  Antwort 
glaube  ich  auch  aus  meinen  Erfahrungen  gel)en  zu  können.  Für  den 
Steiermiirker  ist  der  xVrsenik  eine  Art  von  Universalmittel,  das  den 
verschiedenartigsten  Zwecken  dient.  Der  Pferdeknecht  oder  der  Hauer 
selbst  mischt  ihn  ab  und  zu  zum  Futter,  damit  die  Pferde  besser  aus- 
sehen, feuriger  und  leistungsfähiger  werden;  er  nascht  selbst  etwas  mit, 
wenn  er  ihn  den  Pferden  reicht  und  wird  so  zum  Arsenesser.  £r 
tat  dies  auf  Omnd  der  mystischen  Vorsteliiing,  daß  der  Arsenik 
dem  Pferde  nur  dann  nfiltzt^  wenn  der  Heir  aneb  etwas  davon  genießt 
Dem  Arsenesser  gUt  der  Arsenik  als  bestes  Mittel  zur  Erhaltnng  der 
Gesundheit,  zur  Verhütung  von  Krankheiten  nnd  znr  Errdchnng  eines 
langen  Lebena  Arsen  bebt  die  gesohwichte  Manneskrsft  nnd  regt  die 
Gesehleehtslnst  an,  ist  daher  ein  gesehfitztes  Aphrodisiacnm;  es 
befreit  aber  anch  von  den  Folgen  dee  Geschlechtslebens  nnd  ist  des- 
wegen als  FmebtabtreibnngBmittel  beliebt  Man  kann  damit  die 
Ratten  nnd  MSnse  im  Hanse  vertilgen,  aber  auch  dem  Nachbar  das 
Vieh  „veiffitteni''  (vergiften)  und  besitzt  eine  gewaltige  Angriftswaffe, 
wenn  es  gilt  den  alternden  Mann  hinterlistig  in  das  bessere  Jenseits 
zu  befördt  rii.  um  den  jnngen  Knecht  freien  zu  können,  oder  wenn  der 
Mann  sein  Eheweib  „vergeben**  i)  will 

Für  alle  diese  Verwendungsarten  unseres  Giftes  besitze  ich 
meist  mehrfache  kasuistische  Belege,  welche  ich  im  folgenden  zum 
Teile  auszugsweise  mitteilen  werde. 

In  mancher  Bichtung  sind  auch  die  Darreichungsarten 
interessant,  wofür  ich  in  vorliegenden  Präparaten  lehrreiche  Beispiele 
besitze:  hier  ein  Stück  Käse,  in  das  von  der  beite  her  Einschnitte 

1)  In  Steiermark  steht  noch  die  andte  Fonn  ^veiifeben*  ffir  «vefgifleii* 

lifiiu  I.amh  niko  in  (Jrbrauch.  >Sic  hat  ihn  veij:eboir  sie  hat  ihn  vergiftet, 
ist  (Muc  oft  gehörte  Hedewenduog.  Bekanntlich  i&t  du  Wort  «Gift*^  vf«  ngeben* 
abgeleitet. 


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124 


in.  Kbatteb 


gemacht  wurden,  welche  mit  Arsenpulver  bestreut  sind,  da  ein 
KnQdel,  aus  Kartoffeln,  Kleie  und  KolilblUttern  her^^estellt,  in  dessen 
Mitte  sieh  ein  pjoHes  Stück  gelben  Arseniks  befindet,  bestimmt  für  die 
Schweine  des  Nachbars,  die  jedoch  merkwürdifi^erweise  den  Lecker- 
bissen nnl)erührt  lie<ren  ließen,  bis  er  jiuf^refunden  wurde  und  zu 
(ierichtslianden  kam.  Klüger  hat  es  jene  Häuerin  jremacht,  welche 
den  in  diesem  (Hase  befindlichen  Kukurutz  in  Wasser,  dem  Arsen  bei- 
gemengt war,  kochte  und  das  so  hergerichtete  Lieblingsfutter  der 
Hühner  in  den  Ilühnerhof  des  Nachbars  warf.  Als  dessen  Hühner 
plötzlieh  fast  alle  verendeten,  sammelte  der  beschädigte  Hühnerbesitzer 
sorgfältig  die  noch  vorfindlichen  Maiskörner  und  brachte  diese  sowie' 
auch  einige  Hühnerkröpfe  zu  Gericht.  Der  in  den  vorliegenden 
Kröpfen  befindliche  Mais  ist  wie  der  aufgelesene  Mais  stark  arsen- 
haltig gefunden  worden. 

Es  ist  jedenfalls  die  laffinierteste  Art  der  Giftbeibhngung,  wenn, 
wie  hier,  die  araemge  Store  dnrcb  längeres  Koehen  in  Wasser,  Suppe, 
MUeby  Kaffee  nsw.  in  LSsnng  gebraeht  wurde;  wegen  seiner  yöUigen 
Gem<di-  und  Geschmacklosigkeit  bleiht  das  Gift  nnerkannl^  jeder  von 
uns  würde  eine  so  znbeieitete  Speise  essen,  ohne  etwas  zn  merken. 
Trotz  der  dadurch  gewissermaßen  Terbttrgten  Möglichkeit  der  heim- 
lichen und  lacht  unentdeckt  bleibenden  Bobringung  ist  diese  Art 
doch  nicht  die  häufigste;  vielmehr  ist  die  gewöhnliche  Darreiohungs- 
art  die,  daß  die  fdn  oder  grob  gepulverte  Substanz  als  solche  auf 
eine  Speise  gestreut  oder  in  räi  GeMnk  gegeben  wird.  So  ist  hier 
ein  StMz  «US  Maismehl  (das  gewöhnliche  Frühstück  des  Steirers)  mit 
aufgestreutem  weißem  Arsenik,  hier  Mehl,  da  Salz  mit  beigemengtem 
gelben  Arsen,  hier  ein  Hustentee  aus  Eibischwurzel,  Johannisbrod 
(sog.  Bocks-Hörndl)  und  Zucker,  dem,  wohl  in  der  frommen  Absicht, 
den  armen  Huster  baldigst  von  sanem  Leiden  zu  erlösen,  ein  ansehn- 
liches Stück  gelben  Hüttenrauchs»  wie  man  es  im  Präparate  sieht, 
beigemischt  worden  ist. 

Erstaunen  erweckt  es  zu  erfahren,  welch  große  Mengen  des 
Giftes  mitunter  zur  Verwendung  kommen  und  wie  grobe  Mengen 
sich  in  den  Händen  der  Leute  befinden.  Dafür  nur  einige  wenige 
Belege:  In  einem  jüngst  chemiseh  untertsuchten  Falle  von  auswärts 
vorgekomnieneni  (  Üftmord  fanden  wir  im  Magen  ungelöst  und  durch 
Sehläninien  isolierbar  l,*>31',)g  weiben  Arsenik,  dazu  noch  im  Magen 
und  Darm  l)ei  d«'r  Üxydition  (l,S994  g,  somit  im  ganzen  2,5313  g 
ar.senige  8äure  in  den  ersten  Wegen.  Diese  Erfahrung  hat  deswegen 
eine  besondere  Hedeutung,  weil  im  allgemeinen  gewib  nnt  Recht  ge- 
lehrt wird,  dub  grobe  Giftmengen  für  Selbstmord  sprechen.  Ich  habe 


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Erfahnugen  über  einige  wichtige  Gifte  und  deren  Nacliweis. 


126 


bei  Selbstmördern  allerdings  auch  schon  bedeutend  p:r(UU're  Mengen 
im  Magen  vorgefunden,  Mengen,  die  man  mit  dem  Löffel  schöpfen 
konnte,  wie  in  vorliegenden  Präparaten  zu  erselien  ist;  allein  ich  selbst 
hätte  im  angeführten  Falle  unbedenklich  erklärt,  die  große  Menge 
spreche  weit  mehr  für  eigene,  wie  für  fremdhändige  Beibringung, 
wenn  letztere  nicht  unzweifelhaft  sichergestellt  gewesen  wäre.  Es 
fltebt  fest,  daß  diese  g;roße  Menge,  die  doch  nur  ein  Bmehteil  der 
wirklich  eingeftthrten  sein  konnte^  dem  Manne  von  seinem  Weibe  in 
die  Mehlsuppe  gemischt  wurde,  die  es  ihm  zum  lYtthstfick  bereitete 
nnd  zwar  in  Form  des  sogenannten  Giftmebls,  das  ist  fein  gepnlverter 
weißer  Arsenik. 

In  anderen  lUlen  sind  30,  50  nnd  bis  zu  100  g  weißen  oder 
gelben  Arseniks  in  Stücken  als  Vorrat  bei  Hansdnrchsnchungen 
angefunden  worden;  alle  Toigewiesenen  Objekte  entstammen  foren- 
sisehen  FKQeo.  Das  schönste  Stflok  meiner  Sammlung  gehOrt  auch 
dahin.  Im  Jahre  1893  starb  hier  die  Waat  eines  Fiaokeis  an  akuter 
Arsenvergiftung.  Bei  der  wegen  des  Verdachtes,  daß  sie  von  ihrem 
Manne  yergiftet  worden  sei,  eingeleiteten  Voruntersnchnng  wurde  im 
Hause  dieses  prachtvolle  Stück  weißen  Arseniks  vorgefunden,  das 
an  einer  Seite  deutliche  Scbabespuren  aufweist  Es  wiegt  nur  um 
ein  geringes  weniger  als  ein  halbes  Kilogramm,  reicht  also,  selbst 
wenn  man  die  tödliche  Gabe  fUr  arsenige  Säure  statt  mit  0,1—0,2  g 
mit  0,5  g  ansetzen  wollte,  zur  tödlichen  Vergiftung  von  wenigstens 
lu<l(>  Menschen  hin!  Da  die  legalf  Erwerbung  solcher  Giftmengen 
sicher  ausgeschlossen  ist,  so  kann  nur  an  ungesetzliche  Wege  der  Be- 
schaffung gedacht  werden.  Kenner  der  Landessitten  lenken  den  Ver- 
dacht dieses  ungesetzlichen  (lifthsmdels  auf  fremdzustäiidigc  Hausierer. 

Ich  uK'Jclite  noch  i'int'  niciit  uninteressante  Tatsache  hervorhel)en. 
Das  saure  chrdinsaure  Kali  hat  wenigstens  für  den  I^ien  eine  ge- 
wisse Ähnlichkeit  mit  hochgelb  gefärbten  Sorten  des  Arseniks;  es  gil)t 
eine  Sorte  roten  Arsi  niks,  die  im  äuberen  Ansehen  dem  genannten 
Chromate  wirklich  sehr  nahe  kommt.  Wir  haben  nun  schon  mehrere 
Vergiftungsfälle  (versuclite  Giftmorde)  zu  untersuchen  Gelegenheit  ge- 
habt, wo  Kaliumbichromut  zur  Verwendung  gekommen  ist  —  und  zwar, 
wie  ich  glaube  sicher  annehmen  zu  dürfen,  —  weil  die  betreffenden 
dieses  Salz  für  gelben  Arsenik  hielten;  die  Anwendung  des  saueren 
chromsanren  Kalis  beruhte  also  auf  einer  —  Verwechslung.  Daß 
es  sich  so  TerhAlt»  scheint  mir  zunächst  durch  die  Art  der  Ver- 
wahrung des  yermeintUchen  Arseniks  sichergestellt  zn  sein.  Der 
Steierer  verwahrt  nSmlich  sein  Hansgift  in  der  Begd  besondeiB  sorg- 
fiUtig.  Vielfach  in  Papiere  ^gewickelt,  vergiftbt  er  seinen  Schatz  — 


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126 


IIL  isUEUTTEB 


denn  der  B^itz  des  Giftes  ist  ihm  ein  wertvolles  Gut  —  in  der 
tiefsten  Ecke  seiner  Truhe  oder  in  einem  Winkel  oder  verborgenen 
Boke  BoineB  Kastens,  za  dem  er  deu  Sohltlflael  stels  liei  ridi  tilgt. 
Auch  ein  Fach  des  Qeldtäsdhchens  dient  als  Aufbewahrangsoit  oder 
dn  Lederbeatelehen  ans  gefaltetem  Leder  mit  Zngriemen  TerseUieO- 
bar.  In  einem  Falle  war  eine  leore  Patronenhülse^  die  mit  einem 
Korkstoppel  venchlossen  wnide^  znm  Giftmagazin  ganz  sinnreuA 
heigeriohtet  worden;  der  ganze  Ranm  war  mit  Stftcken  von  gelbem 
und  weifiem  Areenik  gefOIlt  Anoh  leere  Zflndbolzsehfichtelehen 
worden  wiederholt  dafOr  in  Yerwendnng  genommen.  Geoan  ebenso 
sorgfiUtig  nnd  mitunter  eigenartig  verwahrt  wurde  in  unseren  FUleo 
das  in  Rede  stehende  falsche  Arsen  —  das  Kaliumbichromat.  Als  Bet- 
spiel diene  aus  meiner  Sammlung  ein  echt  steiriscbes  Ledertäsohebea 
der  geschilderten  Art,  welehes  den  rotgelben  Schatz  in  StQoken  ent- 
hält, die  —  saneres-chromsaueres  Kali  sind.  Davon  war  eme  be- 
achtenswerte Menge  einem  Gerichte  sauerer  Rüben,  die  wir  unter- 
sachten,  beigemischt  worden.  Auf  eine  Chromsänrevergiftang 
war  es  gewiß  nicht  abgesehen  (!),  sondern  der  Täter  vermeinte  wohl 
zweifellos  den  so  bekannten  gelben  Hüttenrauch  besessen  nnd  ver- 
wendet zu  haben. 

Dafs  aber  meine  Ansicht,  es  liege  diesen  Fällen  eine  Verwechs- 
lung' zu^^rundc.  mehr  als  eine  naheliegende  Konjunktur  ist,  geht 
aus  einem  anderen  hierfür  beweisenden  Falle  hervor:  Eine  ältere 
Bäuerin  kocht  sich  einen  Kukurutzhrei  und  bemerkt  dabei  eine 
verdächtige  Gelbfärbung  des  zur  Zubereitung  verwendeten  Wassers. 
Da  sie  mit  ihrem  Schwiegersohne  in  stetem  Unfrieden  lebt,  vermutet 
sie  einen  Vergiftungsversuch,  begibt  sich  mit  dem  eben  gar  gekochten 
Sterz  im  Topf  zum  Bezirksgericht  und  erstattet  dort  die  Anzeige  überihre 
Wahrnehmung.  Bei  der  Hausdurchsuchung  findet  der  Untersuchungs- 
richter eine  mit  verdächtigen  Resten  einer  gelben  Substanz  verunreiniirte 
Militär-Eßschale  und  mehrere  andere  ähnlich  verunreinigte  Gebrauchs- 
gegenstftnde  sowie  das  Hehl,  welches  zur  Bereitung  des  oberwähnten 
Sterzes  gedient  hat  Die  dortgericbtlichen  GericbtsSizte  erklfiren  Uber 
Befragen  mit  Bestimmtbeii^  daß  die  fraglichen  Beimengungen 
und  Verunreinigungen  gelber  Arsenik  seien.  Daanfhin 
werden  die  Gnzer  Gerichtsohemiker  ansdrUcklieh  beauftragt  an  den 
ihnen  eingesandten  Ooiporibns  delicti  nur  die  quantative  Aisen- 
bestimmnng  auszufahren.  Die  Untersuchung  ergab  in  simtlidien 
Objekten  völlige  Ab wesenbeit  von  Arsen,  —  wohl  aber  fibenül 
die  Anwesenheit  von  Kaliumbichromat  u.zw.  im  Mehl  in  euier 
an  die  tödliche  Dosis  heranreichenden  Menge.  —  Nach  wenigen 


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EifahraiifeD  ftber  dnigo  wichtige  Qifte  imd  deraa  Nachweis. 


127 


Wochrn  erhielten  die  Sachverständit^en  das  Aktenmaterial  und  ein 
weiteres  Untersuchun^sobjekt  aus  dem  Besitze  des  Hescliuldigten  zur 
Bestimmung:  zui^esandt.  Es  war  ein  wohlgereinigtes  gläsernes  Tinten- 
faß, in  dem  sich  ein  schönes  Stück  sauren  chromsauren  Kalis  (bei- 
läufig 12  g  schwer;  befand.  Bei  den  Akten  lag  auch  die  Ver- 
nehmung des  Beschuldigten,  der  eingestanden  hatte,  daß  er  seine 
Schwiegermutter  mit  Arsenik  vergiften  wollte ;  er  habe  das  gelbe,  im 
Tinteoglas  sorgfältig  verwalirte  Stück,  von  dem  ein  Teil  zor  Tat  ver- 
wendet wurde,  von  einem  Hirten  aU  Arsenik  gekanft  und  ea 
immer  dafür  gehalten. 

Aber  niobt  nnr  die  Gifte  werden  verkannt  und  verweehaeU,  son- 
dern aneb  die  Vei|fiftnngen.  Eine  vermutete  Arsenvergiftung  wird 
durcb  die  Ldehenöffoung  nicht  aUzu  selten  als  ein  natttriicbes  Ge- 
scbehnis  erkannt  Gewisse  BancbfeUentsflndnngen,  namentlieh  sobdie 
naeb  Darmdnrchbrilclien,  DarmveiBoblingnngen  und  emgeklemmten 
Brttehen  gleioben  bekanntliob  Vergiftungen,  wie  ein  Ei  dem  anderen; 
.  sind  sie  doch  auch,  wie  wir  beute  wissen,  wirkliche  Vergiftungen  nur 
mit  dem  Unteiscbiede^  dafi  in  diesen  schweren  Krankheitsfällen  das 
Gift  im  Körper  selbst  entsteht;  sie  sind  wdogene  Intoxikationen  zum 
Unterschiede  von  jenen,  wo  das  Gift  von  anßen  in  den  Körper  ein- 
geführt wird,  die  man  als  exogene  Intoxikationen  bezeichnet  Aus 
einer  solchen  Verwechslung,  aneh  mit  gewissen  Infektionskrankheiten, 
wie  Cholera,  Typhus,  Sepsis  usw.  kann  niemandem  ein  Vorwurf  ge- 
macht werden;  die  Erscheinungen  während  des  Lebens  machen  eine 
sichere  Unterscheidung  oft  unmöglich.  Von  diesen  allgemein  be- 
kannten Dingen  will  ich  hier  nicht  weiter  handeln;  ich  möchte  nur 
ein  ])aar  besondere  Fälle  solcher  Verkennungen  kurz  schildern  und 
dadurch  das  lehrreiche  Gebiet  der  Vergiftuugs-Irrungeu  durch 
neue  Erfahrungen  erweitern. 

In  einem  Falle  handelte  es  sich  um  die  Frage,  ob  Arsen-  oder 
Wurstvergiftung  vorliege.  Ein  etwa  20 jähriges  Mädchen  ist 
unter  Vergiftungserscheinung  gestorben.  Die  chemische  Untersuchung 
hat  in  allen  Organen  die  Anwesenheit  von  Arsen  ergeben.  Es  war 
auf  den  Gesaintkörper  eine  Menge  von  0,2175  g  als  arsenige  Säure 
berechnetes  Arsen,  somit  mehr  als  die  kleinste  tödliche  Dosis  vor- 
gefunden worden.  Da  die  Untersuchung  weder  einen  Anhaltspunkt 
für  Mord,  Selbstmord  oder  beabeiebtigte  IVnebtabtreibung  ergab,  wohl 
aber  die  Möglichkeit  einer  zuGUligen  Vergiftung  mit  einer  alten  Wurst 
vorzuüegen  sohien,  so  wurde  uns  die  fVage  gestellt,  ob  eine  Ver- 
weobslung  der  dureb  Wurstgift  oder  durch  Arsen  beibdgef&brten 
Vei^giftungserscbeinungen  ausgeschlossen  sd? 


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128 


HL  Kbatteb 


Wir  beantworteten  sie  folf]:endeniianen: 

„Die  Wurstverf^iftunf^  (Botulismus  oder  Allantiasis)  beruht,  wie 
heute  wissenschaftlich  fe8tf::e8tellt  ist,  auf  einem  Gemisch  organischer 
Basen  (Fäulnisbasen),  unter  denen  das  Ptomatropin,  welches  sich  bei 
UDzweckmäliiger  Darstellung  der  Würste  leicht  bildet,  das  Wichtigste 
ist  Nach  Falck  ist  die  Verwendung  alten  Fleisches,  das  Mischen  des 
gehaoktan  Fleisches  mit  Him,  Semmel,  Mileb,  das  Einfallen  in  sehr 
dicke  Darmabechnitte  n.  dgi.  nnzweckmlßiges  Znbereiten  der  Wfintey 
sowie  za  eohwache  Bäneherong,  zumeist  die  Una4she  der  Bildmig  des 
Wuistgifles.  Die  Wnrstyeigiftang  tritt  daher  fast  ansnahmaloe  als 
Masseny ergif tnng  auf  nnd  istselbstalBsolche  selten.  EinzelfiUle  mit 
tödliehem  Ausgang  sind  nur  sehr  spSrlich  in  der  literstor  veneiehnet 

Das  Wnratgift  ist  vorwiegend  ein  Nervengift  nnd  finßert  sieh 
znnftobst  in  Ohrensanaen,  Schwindel,  Eingenommenheit,  Eopfsohmen, 
GehOrtftnsohnngen,  Pnpillenerweitenmg  nnd  Beaktionslofligkeit  der 
Papillen,  Ptosis,  Doppelt-  nnd  Esrbensehen.  Daam  von  Seite  des 
Verdannngskanales:  weiße,  später  rissige  Zange,  R5te  der  Bachen-  . 
Schleimhaut,  Aufhören  der  Speichelsekretion,  Aufstoßen,  Erbrechen, 
Durchfall  mit  hartnäckiger  StahlveiBtopfung  abwechselnd,  Schmerz 
bei  Palpation  des  Leibes,  zuweilen  Kolik.  Der  Henschlag  nimmt 
nach  vorübergehender  Steigerung  an  Frequenz  ab^  er  wird  klein, 
schwach,  kaum  fühlbar.  Die  Stimme  rauh,  heiser,  aphoniseh.  Der 
Tod  erfolgt  in  der  Regel  innerhalb  Yon  4^8  Tagen  unter  zunehmendem 
Kräftoverfall  iCollaps). 

Verixleiclit  man  damit  die  bekannten  Erscheinungen  der  irastro- 
intcstinalen  Form  der  Arsenversriftung.  welche  bei  subakutem  Ver- 
lauf in  dersell)en  Zeit  zum  Tode  führt,  so  kann  nicht  verkannt  werden, 
daß  eine  Reihe  von  Syini)tonien  sich  bei  beiden  Yerg:iftungen  findet, 
wenn  auch  andere  wesentlich  verschieden  sind  und  das  (iesaint- 
bild  der  einen  Ver^nftun^  von  dem  der  andern  wohl  unter- 
scheiden läßt.  Bemerkt  sei,  daii  in  der  vorliegenden  Kranken- 
gescliielite  auch  nicht  ein  Symptom  angegeben  erscheint,  welches 
ausschlielilich  einer  Wurstvergiftung  zugeschrieben  werden  müßte, 
während  andererseits  alle  beobachteten  Krankheitserscheinungen  einer 
Arsenvergiftung  wohl  entsprechen.  Immerhin  ist  es  schwierig,  solche 
Differenzialdiagnoseu  am  Lebenden  zu  stellen. 

Wir  beantworten  sohiu  die  Frage  dahin,  daß  eine  Verweohs- 
lung  der  durch  Wurstgift  mit  den  durch  Arsen  herbei- 
geführten Vergiftnngserscheinangen  darjohans  nicht 
ausgeschlossen  erscheine." 

In  derselben  Sache  stellte  das  Gericht  noch  eine  zweite  immerhin 


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Erfabmngai  Aber  einige  wichtige  Qifto  und  deren  Nadiweis. 


129 


etwas  seltsame  Frage  daliiiiL'ohend,  ob  (die  Annahme  einer  Wurst- 
vergiftung vorausgesetzt)  der  Giftstoff  „Arsen"  der  Wurst  sclion  von 
Anfang  an  beigemisclit  sein  mußte  oder  aber  sich  aus  faulem 
Fleisch  auch  originär  bilden  könne? 

Wir  beantworteten  diese  Frage  w^ie  folgt: 
Arsen  ist  ein  Grundstoff  (Element)  und  kann  niemals  und  unter 
gar  keinen  Bedingungen  aus  etwas  Anderem  entstehen;  er  kann  sich 
absolut  nicht  erst  in  einer  Wurst  bilden,  sondern  muß,  wenn  er  in 
derselben  vorhanden  war,  in  diese  von  außen  gebracht  worden  sein. 
Erwiesen  ist  es  jedodi  (da  «Ine  Wnrst  oder  ein  Best  davon  zur 
Untoreaehung  nidit  votlag)  dmeh  nichts,  daß  die  M.  Z.  nnr  durah 
die  Wurst  das  Gift  „Aisen'',  das  nun  einmal  in  ihren  Organen  un« 
zweifelhaft  vorhanden  war,  sieh  ebverleibt  haben  kdnna  Wie  dies 
tatsichlich  geschah,  entnefat  sich  natflrlich  vollständig  unserer  Be- 
urteilung. Wir  mttssen  nnr  noch  bemerken^  daß  auch  die  Leichen- 
befunde, namentlich  die  VefSndemngen  im  Magen  und  Dannkanal, 
fttr  die  Arsenvergiftung  sprechen.'* 

Die  interessanteste  Vergiftnngsiniing  lag  im  folgenden  Eslle  rot: 
Auf  einem  Gntshofe  in  der  Umgebung  von  Graz  war  plötzlich  ein 
BD  großes  Sterben  unter  dem  Geflügel  aufgetreten,  daß  der  Verdacht 
einer  absichtlichen  böswilligen  Vergiftung  entstand.  Man  vermutete, 
da  die  Tiere  unter  Durchfällen  akut  verendeten,  eine  Abfütterung 
mit  Arsen,  was  in  Steiermark  nicht  allzu  selten  vorkommt.  Eine 
verendete  Gans  war  behufs  Untersuchung  an  die  k.  k.  Untersuchungs- 
anstalt für  Lebensmittel  gesandt,  von  dieser  jedoch  abgelehnt  und 
dem  gerichtlich-medizinischen  Institute  übermittelt  worden. 

Die  von  uns  vorgenommene  Obduktion  des  Tieres  hat  nun  das 
überraschende  Ergebnis  der  Anwesenheit  eines  interessanten  Darm- 
parasiten  geliefert.  Der  Darm  war,  wie  dies  noch  schön  an  Prä- 
paraten zu  sehen  ist,  gespickt  mit  zahlreichen,  in  die  ^\'and  ein- 
geboliitenj  3—5  mm  langen,  wurmähnlichen  Parasiten,  deren  fach- 
niünnisclie  Pestimnmng  sie  als  sog.  Kratzer'^  (Echinorhynchus  poly- 
morphus)  erwies.  Dieser  I'arasit  wird  im  Darme  von  Gänsen,  Enten 
und  anderen  Wasservögeln  geschlecbtsreif.  Als  Zwischenwirt  fungiert 
der  m  Tfimpeln  lebende  Flohkrebs  (Gamodaros  pnlex).  Diesen  fressen 
die  Wasservögel  und  so  gelangt  die  im  flohkrebs  befindlicbe  Larve 
des  Ecbinorbynchns  in  den  Verdanungskanal  der  Vögel,  wo  sie  sich 
zum  gescUechtsreifen  Tiere  entwickelt  Der  Parssit  veranlaßt,  in- 
dem er  sich  in  die  Darmwand  einbohrt,  Darmentzündung  (Enteritis) 
und,  indem  er  bis  zum  Bauchfell  vordringt  und  auch  dieses  durch- 
bohrt, Bauchfellentzfindnng  (Peritonitis).  Bei  Masseninfektion  kann 

ArUt  fflr  KiiBlaalaiitlifopologl«.  XIU.  9 


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130 


HL  Kbatteb 


or  auch  Endemieen  bervorrufeu,  was  im  gedachten  Wirtdchaftsbofe  der 
Fall  war. 

Man  sieht  aus  diesen  Beispielen,  dali  das  Gebiet  der  möglichen 
Yergiftunf^sirrungen  noch  keineswegs  erschöpft  ist. 

Ich  kann  diese  Erörterung  nicht  schließen,  ohne  za  erwähnen, 
daß  es  auch  noch  eine  andere  und  zwar  absichtliche  Tänschnng,  eine 
flimnlierte  Arsenvergif  tung  gibt^  d. fa.es  gibtFftUey  wo  jemand 
ans  Boshat  oder  Bachsnoht  behauptet,  es  m  ihm  Gift  von  einer  be- 
stimmten Person  in  emer  Speise  beigebraoht  worden.  Er  fibermittelt 
d«n  Geriehte  oder  dem  (Gendarmen  ein  Gettß  mit  einem  Speiserest 
und  siehe  —  obenanf,  so  leeht  anffiUIig  hingestrent,  liegen  grOfiere 
nnd  kleinere  Stüokehen  gelben  Arseniks  mit  ganz  irischen  Bmeh- 
ilSohen,  im  Innern  des  Objektes  keine  Spnr  des  Giftes!  loh  habe 
durch  eine  sorgftltige  üntersnchnng  einen  dersrtigen  Fall  anfoudeoken 
vermocht,  der  dnrdi  das  nachtrSgliche  Geständnis  bestätigt  wnide^ 
und  einen  anderen  Fall  begatachtet,  wo  eine  Person,  die  allerdings 
erbrochen  hat,  zur  Vortäuschung  eines  an  ihr  TerUbten  Mordversuches 
ebenfalls  gelben  Arsenik  auf  das  Erbrochene  streute  und  dann  den  er- 
hebenden Gendarmen  mit  auffälliger  Eindringlichkeit  auf  die  gelben 
K5mer  aufmerksam  machte. 

Bevor  ich  auf  die  Erörterung  des  Arsennacbweises  übergehe, 
möchte  ich  noch  kurz  bemerken,  daß  sich  bei  den  Hausdurch- 
suchungen mitunter  verschiedene,  einzeln  verwahrte  oder  auch  ge- 
menj^te  (lifte,  sowie  eigenarti^^'c  Zubereitun^'en  finden.  So  sahen  wir 
Oemenj^'o  von  wi  iUein  und  gelbem  Arsenik,  von  Arsen  und  Eisenvitriol, 
Arsen  und  Kupfervitriol,  Arsen  mit  versehiedenen  ^'etrockneten  Wur- 
zeln vermengt  u.  dergl.  Die  seltsamste  Komposition  ist  aber  un- 
zweifelhaft die  folixende:  In  einem  Marburger  Vergiftungsfall,  wobei 
ein  Mensch  an  akuter  Arsenvergiftung  zu^Tunde  gegangen  war,  fand 
man  bei  der  Suche  nach  Gift  in  einem  verschlossenen  Glasgefäße 
dies  Gemenge  aus  Schnaps,  ordinärem  Kauchtabak,  grobgepnlverteni, 
weißem  Arsenik  und  einer  grünen  Eidechse  vor.  Da  ich  nur  nur  vor- 
stellen kann,  daß  bei  dieser  Zubereitung  irgendein  Aberglaube  mit- 
spielte, bezeichnete  ich  diese  seltsame  Giftmischung,  die  in  der  Tat 
eine  Merkwürdigkeit  meiner  Sammlung  darstellt,  als  „Zaubertrank'^  >). 

1)  Anmerkung  des  fleranegebers.  Es  dttifte  sich  hier  tun  einVoIks- 

mittol  gegen  Wet'bscifieber  handeln;  solche  kommen  hiiafig  durch  Soldaten,  die 
im  malaiiareiclieu  Ungarn  gedient  liaben,  iiarli  Osterreich  und  von  da  auch  nach 
Deutselilaud ;  sie  sind  sehr  vei-scliifdcn,  stiuinien  aber  dann  überein,  daU  sie: 
1.  etwas  Arsen,  2.  etwas  sehr  ächarfes  (l'feffer,  Capsicum,  Asche,  Tabak)  und 
3.  etwas  recht  Ekelballes  enthalten.  Als  letzteres  werden  empfohlea:  7  lebende 


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Erfahnmgen  flb«r  «inige  irlebüge  (Hfte  and  deren  Nadiweis.  ISl 

Der  c  h  e in  i  8  0  Ii  e  X  a  c  h  weis  d  es  A  r s e n  s  in  einem  Objekte 
ist,  wenn  Körnchen  isoliert  werden  können,  leiclit,  wenn  das  Gift 
jedoch  ausschließlich  in  den  Orp:anen  deponiert  ist,  nur  durcli  eine 
mühevolle  und  aulSerordentliche  Sor^xfalt  erfordernde  Arbeit,  unter 
allen  Umständen  aber,  wenn  es  überhaupt  vorlianden  ist,  mit  abso- 
luter Sicherheit  zu  erbriDgen.  Leider  gilt  dies  nicht  vou  jedem  an- 
•deren  Gifte. 

Es  ist  hier  nicht  der  Platz  die  Methoden  des  Arsennachweises 
im  einzelnen  zu  schildern  und  die  verschlungenen  Wege,  die  für  den 
Ungeübten  nur  allzu  leicht  auch  Irrwege  werden  können,  zu  ver- 
folgen, welche  erforderlich  sind,  um  aus  einem  Stück  Leber  oder 
Niere,  aus  Erbrochenem  oder  Kot,  aus  der  Magen-  oder  Darmwand 
•das  Amen  lusm  m  cntwiekehi,  big  es  endlich  iiiiiler  der  Glflhstelle 
im  Gasableitiiiigerohre  des  HarshBohen  Apparates  ak  spiegelnder 
Metallbdag  im  chemiseh  reinen  Znstande  ersebeint  oder  sieb  ab  das 
Doppelsais  der  arsensanren  Ammon-Magnesia  in  feinen,  weißen  Kii- 
ataUnadebi  am  Boden  nnd  den  Winden  eines  Ghttbeobeis  anssebeidet, 
nm  in  dieser  Form  der  WXgnng  angefUbit  sn  werden,  sondern  es 
sollen  nnr  die  Gnmdzflge  knrs  erörtert  nnd  einige  ErCiahmngen 
▼on  praktiseb-forensisobem  Bekuige  mitgeteilt  werden. 

Das  Endsiel  jedes  forensiseh-obemiseben  Giftnacb- 
weises  ist  die  Darstellung  des  Giftes  ans  dem  Objekt  im 
xeinen  Znstande.  Es  muß  also  jeder  Giftkörper  znnftehst  isoliert, 
aus  den  Organen  nnd  ans  den  im  Organismus  öingangenen  Ver 
ibindunfjon  frei  gemaebt  nnd  der  rein  dargestellte  Körper  durch  ent- 
scheidende Reaktionen  sichergestellt  (identifiziert  i  werden.  In  jedem 
Falle  sind  also  zwm  Operationen  erforderlich:  die  Isolierung  nnd  die 
Identifiziemng. 

Die  Isolierung  eines  Giftes  aus  Leichenteilen  beruht  auf  der 
genauen  Kenntnis  seiner  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften 
und  auf  einer  entsi)rechenden  Anwendung  derselben  zur  Abtrennung 
-des  in  den  Kfirperi^eweben  befindlichen  Giftes.  Wie  der  Waidniann 
•den  Spuren  des  Wildes  oft  stunden-  und  selbst  tagelang  foigfii  iniiB, 
bis  er  es  zur  Strecke  bringt,  so  verfolgt  der  Chemiker  das  gesuchte 

Läii8o  oder  l'.i  Ktllcrassoln  auf  nüchternen  Mafien,  zerqnefciclitr  Spinnen  auf 
Butterbrot,  Öchlangenexkremente  usw.  Dazu  wird  Sehnaps  ^oinuiktn.  der  mir 
Paprika,  Pfeffer,  Asche,  Tabak  und  etwas  Arsen  angesetzt  ist.  Alle  drei  iiomedicu 
finden  deh  im  „Ztnbertrank".  Za  bemerken  ist,  dtfi  Anen  tateloliHeh  (Tinct 
Fowleri)  gegen  Wechaelfiober  verweudet  wird,  namentlich  wenn  der  Kranke 
€hinin  nielit  veitiä;;t:  dal!  heftiger  l-^kel  in  \i('lon  Fällen  jjewaltig  einwirken 
kann,  ist  bekannt,  allerdings  kann  er  aber  nicht  Bakterien  töten. 

üans  GruU. 
9* 


Diyilizua  by  v^üOgle 


182 


m.  Kbattbb 


Gift  durch  die  oft  verschlunprenen  Pfade  zahlreicher  Einzeloperationen 
hindurch  his  zu  dem  Punkt«  ,  wo  er  am  chemisch  reinen  Körper  die 
Identitätsrcaktionen  ausführen  kann.  Und  wie  der  erfahrene  und  des 
ReviiTcs  kundif^e  Jäger  rascher,  leichter,  sicherer  und  häufig:er  zu 
Schusse  kommt  als  der  unkundifre,  so  kann  auch  nur  der  kundige 
Gerichtschemiker  die  volle  Gewähr  eines  zuverlässigen  Ergebnisses 
bieten,  während  forensisch-chemische  Untersuchungen  in  der  Hand 
des  auf  diesem  Gebiete  ungeübten,  wenn  auch  theoretisch  nocb  80 
wohlbewanderten  Gbemikeis  nieht  Bvr  dieMm  aeUwt  mitimtor  un- 
geahnte Sohfrierigkeiteii  bereiften,  aondeni  aneh  niobt  immer  eine 
genügend  aehere  Unterlage  für  die  Bechlipieohiiiig  bieten  werden. 

Die  forense  Chemie  iat  eben  eine  aal  ein  beitimmtes  piak- 
tisebeB  Ziel  gerichtete^  daher  angewandte  Chemie.  Sie  hat  deswegen 
auch  ihrem  Sondenweoke  dienende  bOBondere  Methoden  imd  Unter- 
snchnngsginge  aoBgebildeti  wie  dies  bei  anderen  angewandten  ohe- 
miflchen  Disziplinen,  der  Nafarnngsmittdohemie»  Agriknltozehemie^  der 
chemieohen  Teohnologi®  luw.  anch  der  Fall  ist  Nur  die  volle  Kenntnia 
des  Endzweckes,  die  Vertrantheit  mit  den  foreneiaefaen  Aufgaben  und 
Zielen,  eine  reiche  Erfahrung  nnd  nicht  zum  wenigsten  dem  Zwecke 
entsprechende  besondere  Laboratoriumseinrichtnngen  können  die  Ge- 
währ vollkommen  zuverlässiger  Untersuchungsergehnisse  liefern  nnd 
solcher  bedarf  die  Rechtspflege  unbedingt  Die  Sache  ist  von  so 
hoher  Bedeutung,  so  ernst  und  wichtig,  daf)  ich  mich  als  dermalen 
ältester  Vertreter  der  forensischen  Medizin  in  Österreich  einer  Pflicht- 
verletzung schuldig:  fühlen  würde,  w^enn  ich  es  nicht  ungeschent 
sagte,  dali  nach  meinem  Dafürlialten  diesen  Voraussetzungen 
nur  ein  chemisch  ausgebildeter  Arzt  und  ein  den  foren- 
sischen Zwecken  ansschlielilich  dienendes  Laboratoriuni 
jpi  entsprechen  vermögen. 

Dieses  mir  vorschwebende  Ideal  einer  gerichtlich-chemischen 
Untersuchungsstelle  suchte  ich  beim  Neubau  des  Institutes  zu  ver- 
wirklichen. Die  chemische  Abteilung  des  neuen  Grazer  forensischen 
Institutes  besitzt  an  Einrichtungen,  Apparaten  und  Gerätschaften  alles, 
was  zur  raschen,  kunstgerechten  Ausführung  von  toxiologi sehen  Un- 
tersuchungen notwendig  ist,  und  vermag,  weil  nur  dem  einen  Zwecke 
dienend,  auch  großen  Anfordemngen  zn  genügen.  Noch  immer 
wird  an  seiner  inneren  Ansgeetaltong  nnd  VervoUkommnong  ge- 
arbeitet nnd  hat  mich  in  dieser  Tätigk^t  vor  allem  mein  lieber 
Firetmd  und  Schüler,  Dr.  Fritz  Pregl,  Assistent  am  physiologischen 
Institut  unserer  Universität  und  Privatdozent  für  Physiologie,  in  außer- 
ordentlicher Weise  mit  Bat  nnd  Tat  unterstützt  Sdt  einer  Reihe  von 


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Erfahnmgen  ftber  einige  wiohlage  Gifte  und  denn  Naehweb.  188 


Jahren  als  beeideter  GLTichtscliemiker  mein  pflichtgetreuer  und  ua- 
ennüdlicher  Mitarbeiter  auf  dem  (iobiete  der  forcnsen  Chemie  ist  er, 
vom  praktischen  Bedürfnis  getrieben,  Erfinder  neuer  Api)arate  und 
zahlreicher  Modifikationen  von  alten  geworden,  welche  dem  Sonder- 
zwecke angei>ar»t^  uns  vorzügliche  Dienste  leisten.  Ich  erwähne  unter 
anderem  besonders  konstruierte  Wasserbäder,  neue  Extraktionsapimrate 
für  Zwecke  der  Alkaloiduntersuchungen,  einen  neuen  Vakuumtrocken- 
schrank,  eine  neue  Form  des  Marsh  sehen  Apparates,  die  den  Vorteil 
großer  Zeitersparnis  bietet,  eine  liöchst  zweckmäßige  Titrirvorrichtung, 
einen  Desarsenierungsapparat  und  vieles  andere.  Einiges  von  dem 
genannten  hat  Dr.  Pregl  auf  der  Karlsbader  Naturforscherversamm- 
iung  (1902)  ausgestellt  und  demonstriert  Außer  bei  uns  stehen  diese 
äußerst  zweckmäßigen  and  den  forensischen  Aufgaben  bemnden  an- 
gepafiton  Euukhtongen  kaum  noch  irgendwo  in  Verwendung. 

ünaer  ohemisch-forenBiflohei  Laboratoriitm  ist  eine  Sache  fBr  sieh, 
d.  h.  in  diesem  Banme  werden  nur  geriohttioh-chemisohe  Unter- 
SQohnngen  ansgeltthrt  Schüler  betreten  ihn  niemale.  Hier  haben  nur 
die  mit  der  Untersnchnng  Beanftmgten  und  ihr  Gehilfe^  der  Laborant 
des  Institutes,  Zutritt  Die  ünteranehmigsgegenBtftnde  stehen  unter 
Sperre.  Hier  befindet  sich  auch  unser  größter  Schals  —  die  chemis  ch 
reinen  Beagentien,  deren  meist  yon  uns  selbst  durehgeffthrte  Her- 
stdluttg  einen  sehr  großen  Aufwand  von  Zeit  und  Mühe  erforderte. 

Kehren  wir  nach  dieser,  vteUeieht  doch  nicht  für  überflüssig 
erachteten  Abschweifung  zum  Arsennachweis  zurück,  so  besteht  die 
Schwierigkeit  hier  hauptsächlich  in  der  Beschaffung  absolut  arsen^ 
freier  Beagentien.  Von  Haus  ans  Bind  fast  in  aUen  bei  der  Isolierung 
des  Arsens  zur  Verwendung  kommenden  Prüfungsmitteln  Spuren  von 
Aisen  enthalten,  so  in  der  Salzsäure,  Schwefelsäure,  im  KaUumchlorat, 
Ammoniak,  Zink  usw.  Der  aus  Schwefeleisen  erzeugte  Schwefel- 
wasserjstoff  enthält  neben  diesem  Gas  auch  Arsenwa^sserstoff  —  kurz 
aus  der  fast  unbei^renzten  Allgegenwart  des  Arsens  in  der  Natur 
(wenigstens  spurweise),  sowie  aus  der  i'berempfindliclikeit  der  Marsh- 
schen  Reaktion,  welche  hundertste!  Teile  eines  Milligramms  mit  er- 
schreckender Deutlichkeit  wahrnehmen  lälU,  erwachsen  Gefahren  für  die 
Richtigkeit  des  pjidergebnisses,  gegen  welche  der  forensische  Chemiker 
unausgesetzt  anzukämpfen  hat.  Wir  eröffnen  beispielsweise  zur  Unter- 
suchung einlangende  Pulver,  welche  möglicherweise  Arsenik  sein 
oder  enthalten  könnten,  grundsätzlich  nicht  in  diesem  sakrosankten 
Räume,  sondern  an  einem  anderen  Orte,  weil  wir  uns  vor  der  Ver- 
stäubung fürchten.  Ich  kann  in  der  Tat  als  das  Ergebnis  einer 
viertelJahrhuDdertjährigen  Erfahrung  sagen,  es  ist  keine  so  besondere 


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184 


in.  Kjuttsb 


Kunst,  auch  noch  eine  minimale  Spur  von  Arsen  uns  einem  Objekte, 
in  dem  es  vorhanden  ist,  als  Arsenspie^el  zu  erhalten;  es  ist  dagegen 
ein  Beweis  wirkliehen  Könnens  eines  forensen  Chemikers,  wenn  er 
bei  Objekten,  die  kein  Arsen  enthalten,  auch  vollkommen  blanke 
Röhren  bekommt.  Hier  liegen  solche  als  Beweis  der  absoluten  Reinheit 
der  von  uns  bereiteten  arsenfreien  Reagentien  in  größerer  Zahl  vor. 

Auf  die  Schwierigkeit,  auch  der  geringsten  Arsenspur  in  den 
Beagentiai  sicher  aaszuweicheOf  ist  es  wohl  zarQduiifttbreD,  wenn 
beute  noch  nioht  sichergestellt  aRBcbemt,  ob  Argen  sie  normaler 
Bestandteil  in  menschlichen  Organen  vorkommt  oder  nicht 
An  der  Schwelle  des  20.  Jahrhunderts  konnte  Armand  Qantieri) 
noch  vor  der  Pariser  Akademie  der  Wissensohaften  die  Bebaaptong 
anfistellen,  daß  in  der  SdiUddrIlse,  BrostdrHse^  ThymnsdrSse  and  im 
Gehirn  des  Hmsehen  normalerweise  Aisen  enthalten  sei,  in  ge- 
ringsten Spmen  auch  noch  in  Haaren,  Hant^  Hilch,  Knochen,  während 
die  fibrigen  Organe  davon  frei  wiren  und  Ziemke^  in  Beilin  (gegen- 
wfirtig  in  Halle  a.  S.)  sowie  Hddlmoser')  in  Wien  konnten  bald 
darauf  als  Ergebnis  besonderer  Untersnchnngen  den  Satz  aQSsprecheD, 
daß  Arsen  nicht  zu  den  integrierenden  Bestandteilen  des  menschlichen 
Körpers  gehört.  Gautier  hält  auch  jetzt  noeh  an  seiner  Bebaaptmi|^ 
fest  und  stützt  sich  aul^er  auf  seine  eigenen  auf  Uirtersuchungsergeb- 
nisse Ton Lapierre,  Pagel,  Imbert,  Abenius  und  Bertrand*). 
Daß  ein  solcher  Streit  heute  noch  möglich  ist,  beweist  mehr  als  alles 
andere  die  Schwierigkeit  eines  exakten  Nachweises  oder  Ausschlusses 
geringster  Arsenspuren '^).  Wer  recht  hat,  kann  hier  nicht  ent- 
schieden werden,  es  sei  nur  l)enierkt,  daß  die  Gau ti ersehen  Arsen- 
spuren, auch  wenn  sie  tatsächlich  vorkommen,  toxikologisch  belanglos 
sind,  da  auch  er  die  zur  gerichtlich-chemischen  Untersuchung  ge- 
langenden Organe  des  Mensehen:  Magen,  Gedärme,  Leber,  Milz, 
Nieren  eventuell  Herz,  Lungen  arsenfrei  gefunden  hat.  Eine  gegen- 

1)  Gautier,  Sur  l'eiistanoe  normale  de  l'araeQic  chez  les  animaax  et  aa 
locaKsationdaucertaiiwoiganes.  Comptrend.deracad.deeadeiio.  129.  Bd.  8. 989. 

2)  Ziemke,  Über  das  Vorkommen  von  Arsen  in  menschlichen  Orfranon 
und  seinen  Nai  hwcis  auf  biologiBchem  Wege.  Vierteljahnachr.  f.  ger.  Med.  S.F. 
XXIIL  1902.  1.  Heft.  S.  51. 

3)  Uüdlmoäer,  Enthalten  gewisse  Organe  des  Körpers  physiologischer- 
weise  Anetit  Zeittclir.  f.  pbys.  Chemie.  SS.  Bd.  1901.  Heft  S  n.  4.  8. 829fy. 

4)  Gautier,  Arsenik  kommt  nunuaierwcisc  im  tinlBchai  OiganiODiM  vor 
Z«it»chr.  f.  piiys.  Chcniio.  nfi.  Bd.  V.m.  lieft  l.  S.  .^01. 

5)  Derselbe,  (ieuauigkeitsgrad  des  Nachweises  von  Spuren  von  Arsen  in 
den  organisclien  Substanzen.  Bull.  Soc.  Chini.  Paris  29.  Bd.  S,  639—643.  Nach 
Chem.  Zentralblatt  74.  Jabrg.  190S.  II.  S.  524. 


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Eifahmogen  fiber  einige  wichtige  Gifte  und  deren  Nachweis. 


135 


teilige  Behauptung  würde  allcrdinjirs  auch  durch  unsere  Erfahninjjen 
auf  (las  hcstimnitehte  widerlej^t  werden;  denn  die  zuletzt  f:;:enannten 
und  in  Vir^^iftungsfällen  ausscblieltHch  untersuchten  Organe  des 
M  enschen  sind  normalerweise  bestiuimt  arsenfrei.  So  haben 
wir  sie  hundertfältig  gefunden. 

D&t>  augebliche  (oder  wirkliche?)  normale  Vorkommen  von  Arseo 
in  einzelnen  menschlichen  Organen  wird  also  niemals  zu  ein»  TrfUrang' 
des  Untemidiiingsergebiiiflses  fflbren  können;  diese  Ge&hr  ist  viel 
größer  wateoB  der  nieht  yollkommen  gereinigten  Beagentien. 

£b  kdnnte  sich  nun  die  Vorstelinng  aufdrängen,  daß  es  mit  dem 
iHiemisehen  Nachweis  einer  ArBenveigiftnng  fiberbanpt  schlecht  be> 
stellt  nnd  die  forense  Toxikologie  nicht  in  dto  Lage  sei,  eine  yoll- 
kommen gesicherte  Unterlage  für  die  Bechtsprechoog  su  schaffen. 
Zn  dieser  H«nnng  kdnnte  man  um  so  leichter  kommen,  als  ro  alle* 
dem  anch  noch  die  Gefahr  des  Antimonspiegels  Yorhandenist 
Antimon  liefert  hekanntlich  einen  Ähnlichen  spiegelnden  Belag  im 
Ableitnngsrohr  des  Marsh  sehen  Apparates  wie  Arsen.  Antimon  und 
Arsen  kommen  sehr  bSnfig  gemeinsam  in  der  Natur  vor  nnd  es  sind 
daher  viele  Beagentien  nicht  nur  arsen-  sondern  auch  aatiraonhältig* 
Je  gerin^^ere  Spuren  vorhanden  sind,  desto  schwerer  ist  ohne 
weiteres  Verfahren  der  Arsenspiegel  von  Antimonspiegel  zu  untO^ 
scheiden.  Diese  Gefahr  besteht  aber  für  wirklieh  ^fachkundige  nur 
tbeoretisch,  obgleich  gerade  das  Antimon  in  der  Geschichte  der  Arsen- 
vergiftungen schon  wiederholt  eine  sehr  verhängnisvolle  Kolle  gespielt 
hat,  80  unter  anderem  in  dem  berühmt  gewordenen  Korneul)ur<rer 
Vergiftungsprozeß Wir  trennen  durch  die  sogenannte  Me versehe 
Schmelze  das  Antimon  als  wasserunlösliches  Natrium pyroantimoniat 
vom  Arsen  ah,  bevor  dieses  in  den  Marsh  sehen  Apparat  kommt,  und 
leiten  überdies  dk-  Gase  aus  der  Entbindungsflasche  zunächst  durch 
ein  mit  Chlorkalcium  und  Kaliumhydroxyd  beschicktes  U-Rohr,  wo 
Antimonwasserstoff  zerlegt  und  diis  Metall  «gebunden  wird.  Spiegel,  die 
bei  diesem  Verfahren  entstehen,  können  überhaupt  nur  Arsenspiegel  sein. 

Es  ergibt  sich  demnach,  dab  bei  saehkiinili^^er  und  sorgfältiger 
Durchführung  der  chemischen  Untersuchung  wohl  jeder  Irrtum  aus- 
geschlossen und  eine  vollkommen  sichere  Unterlage  für  die  Becht- 
sprechung  gewonnen  werden  kann ;  es  ist  andererseits  aber  auch  klar, 
wie  schwer  den  Bedingungen  einer  unanfeditbaren  chemischen  Analyse 
zu  genügen  ist. 

1)  Der  Konieuburgcr  Ver^iftunfj^fipiozcli  ilSöT  — 1859),  darpjestellt  von  cineitt 
prakt  Juristen,  nach  den  Akten  und  fleii  nicht  zur  Verhandlung  gelangten  med. 
ehem.  Gutachten  von  Fresenius,  Delffs,  Schneider,  ockaaeasteia,. 
Schlager  und  Dole  und  der  Wiener  med.  Fakultät  Wien  ISSO. 


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136 


m.  Kbaitcb 


AUerdings  besteht  nocli  eine  sebr  ins  Gewicht  fallende  Siehentng, 
die  MengenbestimmiiDg  des  Giftes  —  der  quantitative  Arsen- 
nach  weis.  Hieraber  will  ieh  mioh  an  dieser  Stelle  nur  ganz 
snmniariseh  ftaßenu  Wir  haben,  wenn  wirUieh  eine  aknte  Aisenik- 
vergiftnng  yorlag,  stets  wägbare  Mengen  ans  den  Organen  erhalten. 
Solche  Mengen  sind  aber  aach  fiUlbar.  Man  erhSlt  also,  beyor  die 
Marsh  sehe  Scblnßreaktion  angestellt  wird,  schon  einen  sichtbaren 
NiederBcblag,  der  je  nachdem  entweder  aisensanre  Anunon-Magnesia 
oder  auch  Schwefelarsen  ist,  und  nach  dem  analytischen  Gange  gar 
nichts  anderes  sein  kann.  So  bat  man  das  Arsen  schon  sieher  erkannt, 
bevor  die  Marshsche  Probe  angestellt  wird.  Diese  hat  nur  noch  den 
Wert  der  Hestätigung  einer  bereits  festgestellten  Tatsache.  Oft  ist 
dann  der  Marshsche  Apparat  überflüssig,  weil  der  dem  Gerichte  als 
Belegstück  zu  tibergebende  Spiegel  Tiel  rascher  auf  trockenem  Wege 
durch  Schmelzen  der  gewogenen  arsensauren  Magnesia  mit  einem 
Gemenge  von  Cyankalium  und  Soda  erhalten  werden  kann.  Wir 
haben  manchen  Vergiftungsfall  mit  positivem  Ergebnis  untersucht, 
ohne  den  Marslischen  Apparat  zu  verwenden.  UnerlälHicli  wird  seine 
Verwendung  überhaupt  erst,  wenn  eine  wägbare  Arsennienge  nicht 
vorlumden  ist.  Dann  kann  es  sich  aber  nur  mehr  um  Spuren  bandeln, 
also  um  kleinste  Bruchteile  von  Milligrammen, 

Ob  und  in  wie  weit  solche  aus  chemisch  untersuchten  Organen 
erhaltene  An5ensi)uren  toxikologisch  verwertet  werden  können,  das  zu 
beurteilen  ist  nicht  Aufgabe  des  Gerichtscliemikers,  sondern  Sache  des 
Gerioiitsarztes.  Dieser  hat  nicht  nur  bei  der  Arsenvergiftung,  sondern 
in  einem  jeden  Vergiftungsfalle  das  Ergebnis  der  chemischen  Analyse 
mit  den  iRoltucliteten  Krankheitserscheinungen  und  den  aufgenommenen 
Leiclitnbefunden  sorgfältig  zu  vergleichen.  Erst  aus  einer  sachlichen 
gerichtsärztlichen  Darlegung,  welche  sich  auf  die  ganze  Beweistrias 
(KrankheitserscheinuDgeu,  Leiohenbefonde  nnd  chemisehea  Giftaaoh- 
weis)  ersb!eckt  nnd  stützt,  kann  sich  der  fUr  die  Bechtoprechnng 
unbedingt  erforderliche  Schluß  ergeben:  N.  N.  ist  an  dieser  oder  jener 
Vergiftung  gestorben. 

Die  chemische  Untersuchung  yermag  sonach  auch  bei 
einem  positiTen  Ergebnis  niemals  den  Bestand  mer  Vergiftung 
zu  erweisen,  sondern  sie  kann  nur  dartnn,  daß  in  den  Organen 
Gift  und  wieviel  davon  vorhanden  war.  Damil,  daß  in  den  Leichen- 
teilen eines  Menschen  Arsen  gefunden  wurde,  ist  noch  lange  nicht 
erwiesen,  daß  dieser  Mensch  auch  au  einer  Arsenveigiftung  gestorben 
sei  Denn  er  kann  entweder  ein  Arsenesser  gewesen  sein  oder  vor 
seinem  Tode  medizinale  Mengen  von  Arsen  bekommen  haben  oder 


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Erfahrangen  über  einige  wichtige  Gifte  und  deren  Nachweis.  137 


das  Arsen  ist  als  eine  zufällige  V'erunreinigung  von  aulien  in  den 
Leichnam  gekommen,  z.  B.  durch  arsenhaltige,  künstlieh  gefärl)te 
Blumen,  Kränze  und  anderen  Leicheuschmuck,  oder  durch  arsenhältige 
Friedhoferde.  Für  alle  diese  Möglichkeiten  besitze  ich  kasuistische 
Belege,  die  im  einzelnen  liier  mitzuteilen,  viel  zu  weit  führen  würde. 
Nur  beispielshalber  erwähne  ich  eioigQ  mir  besonders  wichtig  er- 
scheinende Erfahrungen. 

Wir  haben  in  Steiermark  äemlich  yiel  ArsenesBer.  Wieder- 
holt ist  es  nun  Torgekoninien,  daß  im  Verlanfe  der  Untenncbnng 
oder  Veriiandlung  die  Behauptung  anftanohte,  der  yentorbene  N.  N. 
war  ein  Arseneflser.  Diese  Bebanptong  kann  natiirlieh  wahr  oder 
unwahr  sein,  gleiehvieli  es  entsieht  die  Fnge^  ob  sich  auch  unter  der 
Annahme,  daß  der  Verstorbene  ein  AisenesBer  gewesen,  noch  be- 
haupten läßt,  daß  «ne  (kriminelle)  akute  Arsenyeigiftnng  TorUege^  und 
es  ergibt  sieh  für  den  beurl^enden  Geriditsarzt  weiter  die  Frage,  ob 
die  forense  Chemie  Anhaltspunkte  sn  bieten  vermöge^  um  etwa  auch 
die  akute  Arsenyergiftung  eines  Arsenessers  zu  beweisen. 

Zunächst  ist  klar,  dal^  bei  einem  Arsenesser  alle  Organe  arsen- 
haltig sind.  Arsen  leiebert  sieh  aber  bei  habituellem  Genüsse  auch 
im  Organismus  an,  da  es  wegen  seiner  Affinität  zu  den  £iweiKkÖrpem, 
namentlich  zum  Zellprotoplasma,  auch  schon  bei  einmaliger  Einver- 
leibung lange  zurückgehalten  und  fixiert  wird.  Es  wird  beim  Arsen- 
esser daher  in  den  sogenannten  zweiten  Giftwegen ,  besonders  in  der 
Leber,  diesem  Giftfilter  des  Organismus,  ziemlich  viel  Arsen  vorhanden 
sein,  wenig  dagegen  in  den  ersten  Wegen  (Magen  und  Darmkanalj, 
wenngleich  auch  diese  nicht  völlig  frei  sind,  da  Arsen  sowohl  durch 
die  Galle,  wie  die  Magen-  und  Darmdrüsen  abgeschieden  wird.  Soll 
ein  an  Arsen  (n-wühnter  akut  vergiftet  werden,  so  muli  er  grolie  Gift- 
raengen  erli alten,  denn  er  verträgt  unter  Umständen  ohne  Schaden 
tödliche  (iahen.  Wir  finden  also  dann  neben  grolWn  Mengen  von 
Arsen  in  <len  ersten  Wegen  auch  auffallend  viel  Gift  in  den  zweiten, 
namentlich  der  Leber  vor,  und  es  kann  auf  Grund  eines  solchen 
chemischen  Befundes  mit  voller  Sicherheit  die  akute  tödliche  Arsen- 
vergiftung eines  mutmaßlichen  Arsenessers  behauptet  werden.  Es  ist 
jedoch  unwahrscheinlich,  daß  jemand  Arsenesser  w  ar,  wenn  die  zweiten 
Giftwege  nur  spärliche  Mengen  von  Arsen  enthielten,  denn  je  kürzer 
die  Vergiftung  dauerte,  um  so  weniger  Gift  ist  in  den  zweiten  Wegen 
abgelagert  Sind  jedoch  reichliche  Mengen  you  Arsen  in  der  Leber, 
dagegen  nur  Spuren  oder  weit  geringere  Mengen  im  Magen  und  den  Ge- 
därmen  nachgewiesen  worden,  so  ist  das  Arsenessen  wahrscheinlich,  die 
akute  Vergiftung  dagegen  unwahrscheinlich,  ja  sogar  höchst  zweifelhaft 


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138 


1X1.  Kbatter 


Dies  ^'\\t  auch  für  jene  Fälle,  wo  die  Einverleibung  des  Gifte» 
nicht  durch  den  Mund,  sondern  anderswie  geschieht,  z.  B.  durch  Em- 
fuhren  Yon  Arsen  in  die  Scheide,  was  mir  zweimal  Toigekotnmett  iat 
Auch  m  diesen  Fillen  entsteht  BFeebdnrchfatt  und  es  wird  von  dem 
zirkulierenden  Gifte,  das  von  der  Soheidenschleimbant  aus  resorbiert 
wurde,  TerhSltnismäfiig  viel  durch  die  Drfisen  der  Magen-  he- 
ziefaungswdse  Darmsehleimhaut  in  die  Höhlungen  dieser  Oigane  mit 
den  massigen  wässerigen  Ausscheidungen  abgegeben.  Hagen  und 
GedXrme  samt  ihrem  Inhalt  sind  also  unter  Umständen  auch  dann, 
wenn  sie  nicht  als  erBte  Giftwege  sondern  aJs  AnsBcheidungswege 
bei  anderweitiger  Einverleibung  dienten,  die  wichtigsten  Unter- 
snchnngsobjekte  bei  akuter  Arsenyergiflung. 

Solchergestalt  konnten  wjr  mehrmals  auf  Gnind  des  Ergebnisses 
der  quantitativen  chemischen  Analyse  die  kriminelle  Vergiftung  eines 
mutmaßlichen  ArsencBScrtt  behaupten  und  umgekehrt  auch  die  Be- 
hauptung des  Arsenessens  als  unwahrscheinlich  zurückweisen. 

Es  sind  uns  aber  auch  Fälle  Foigekommen,  wo  trotz  des  Auf - 
'findens  von  Arsen  in  den  Organen  die  Vergiftung  nicht  an- 
genommen werden  konnte.  Eine  solche  Zurückhaltung:  ist  besonders 
bei  Spätexhuniierten  dann  f^cbotcn,  wenn  gleichzeitig  die  Fried- 
hoferde arsenhaltig  gefunden  wurde.  Es  liegen  schon  alte  Versuche 
von  Orfila  u.  a.  vor,  welche  l)eweisen,  dal»  in  den  uneröffneten 
Leichnam  von  auüen  keine  Gifte,  namentlich  nicht  Arsen,  gelangen 
können. 

Von  dt.T  liichtigkeit  dieser  Versuch sergebnisse  haben  wir  uns  vor 
einigen  Jahren  in  einem  Ernstfalle  zu  überzeugen  Gelegenheit  gehabt 
In  den  Organen  einer  wegen  \'erdaclit  des  Giftniordt  s  nach  14  Monaten 
exhumierten  Leiche  ist  keine  Spur  von  Arsen  gefunden  worden,  obwohl 
die  Friedbüferde  stark  arsenhaltig  war. 

Ist  also  die  Verwesung  der  Leiche  noch  nicht  so  weit  vor- 
geschritten, daß  die  Körperhöhlen  eröffnet  sind,  so  kann  der  Magen^ 
die  Leber  usw.  niemals  durch  Eindringen  von  der  Friedhoferde 
her  araenbaltig  geworden  sein.  In  solchen  iUlen  liegt  nur  die 
^e  Gefahr  vor,  daß  etwa  die  Ätzte  mit  ron  arsenhalligem  Erd- 
reich beschmutzten  Händen  die  Eingeweide  an&seen!  Wenn  diese 
grobe  Verunreinigung  ausgeschlossen  werden  kann,  beweist  der  Be- 
fund Ton  Arsen  bei  einer  ausgegrabenen  Leiche  mit  noch  geschlossenen 
E9rperhöblen,  daß  es  von  außen  in  den  noch  lebenden  Körper  ein^ 
geführt  wurde. 

Ganz  anders  hat  man  zu  urteilen,  wenn  die  KÖrperhdhlen  schon 
eröffnet  waren,  wobei  ich  bemerke,  daß  ein  gewöhnlicher  Sarg  keinen 


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ErfRhnngai  Aber  doige  wlditige  Gifte  and  deno  Naehweis. 


189 


Schutz  ^?egen  das  Eindringen  von  aus  der  Friedhoferde  in  die  Nieder- 
schlagswässer übergepingenen  Arsen  zu  bieten  vermag.  Wird  in 
solchen  Fällen  nur  wenig  xVrsen  in  den  niensclilichen  Überresten  ge- 
funden, dann  kann  im  Höchstfälle  die  Möglichkeit  einer  Vergiftung 
zugegeben  werden,  ein  Gutachten,  das  in  der  Regel  für  die  Begründung 
einer  Anklage  als  unzureichend  betrachtet  werden  dürfte.  Su  war 
es  in  einem  unserer  Fälle,  wo  eine  Aufhebung  der  über  5  Jahre  im 
Grabe  gelegenen  Leiche  stattfand.  Die  Leichenreste  und  die  Grab- 
erde enthielten  Arsen.  Das  chemische  Gutachten  gelangte  auf  Grund 
▼on  eigens  angestellten  VeiBachen  Uber  die  Fortbewegung  des  Arsens 
im  Boden  za  folgenden  Brgelmiflsea: 

1.  £b  kann  nicht  öeher  ftnageschloasen  werden,  daß  flbeiliaiqit 
Arsen  yon  anfien  in  die  Leiche  dee  J.  &  gelangt  ist 

2.  Es  kann  mit  der  grOßteo,  der  Gewißheit  nahekommenden 
Wahrwsheinliehkeit  ansgeschloeBen  werden,  dafi  die  ganze  Menge  Ton 
Arsen,  welche  in  den  Besten  der  inneren  Organe  des  J.  S.  anf- 
gefonden  worden  ist  (37,2  Milligramm  aJs  arsenige  Sftnre  bereehnetes 
Arsen)  yon  anßen  dabin  gdangt  sei 

Bei  diesem  Falle  wurden  yon  uns  Gerichtschemikem  umfäng- 
liohe  Untersnohnngen  über  die  Bedingungen  des  Übertrittes 
von  Arsen  ans  der  Friedhoferde  auf  Leichen  angestellt,  deren 
Eigebnisse  von  mir  veröffentlicht  worden  sindO*  D«a  Interessenten 
yerweise  ich  auf  das  Original,  wo  die  ganze  Frage  auch  nach 
ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  dargestellt  ist  Hier  möchte  ich 
als  neues  Ergebnis  unserer  damaligen  Versuche  nur  kurz  hervorheben, 
daß  verschiedene  Erdarten  das  Arsen  auch  in  verschiedenartiger 
Bindung  enthalten,  so  dal)  es  nicht  genügt,  bloß  den  Arsengehalt  eines 
Friedhofes  zu  bestimmen,  sondern  es  muß  in  jedem  Falle  die  Lös- 
lichkeit des  Arsen  in  der  betreffenden  Erdiirt  und  das  Ab- 
sorptionsvermögen der  Erdart  für  Ar.^en  bestimmt  werden.  Von 
diesen  beiden  Faktoren  hängt  vor  allem  der  Übertritt  in  den  Leich- 
nam ab. 

Es  gibt  arsenhaltige  Erden,  deren  Arsen  w  eder  durch  kaltes,  noch 
durch  siedendes,  noch  durch  ammoniakalisches  Wasser  gelöst  werden 
kann  und  wo  die  Aufschlicßung  der  Verbindung  nur  durch  Säuren 
gelingt:  das  Arsen  ist  in  einer  für  die  Grabwässer  vollkommen  un- 
löslichen Verbindungsform  in  der  Erde  vorhanden.  Es  gibt  aber  auch 
im  kochenden  Wasser  und  in  Ammoniakwasser  lösliche  Verbindnngs- 


1)  Kratter,  Über  das  Eiadriugcn  von  Areen  aus  der  Fricdbufseixlü  ia 
den  LeichBam.  Wiener  kUn.  Wochenechr.  1896.  Nr.  47. 


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140 


III.  Kbatteb 


formen  arsfiilialtif^er  Erden,  ja  in  dem  oben  erwähnten  Falle  ist  es 
»purweise  80^?ar  in  kaltes  Wasser  überfjefranjj^en. 

Die  Fortbewegung  etwa  irelösten  Arsens  bäng^  nun  vom  zweiten 
Faktur,  von  dem  Absorptionsverniü<::en  des  Bodens  al>.  Es  ist  von 
vornberein  klar,  dali  stark  kalk-,  niajrnesia-  und  eisenhaltige  Erden 
selbst  Lösungen  von  leichtlöslieiien  Arsensalzen  in  kurzer  Zeit  in  un- 
lösliche Verbindungsformen  überfüliren,  d.  b.  sie  binden,  und  ihr 
Vordringen  hemmen  müssen.  Umgekehrt  gibt  es  Erdarten,  aus  welchen 
immer  wieder  neue  Spuren  in  Wasser  übergehen.  So  war  es  in 
unterem  Falle. 

Wie  ^  roter  TtA^  sieht  eioli  dnreh  die  alle  imd  neae  Utentar 
immer  wieder  die  Angabe  Ton  der  Mamifikation  der  Arsen- 
leichen  oder  wenigsteoa  einzelner  Teile  der  Ldobe.  Naeh  meinen 
Erfahrungen  iat  dies  nieht  richtig,  sondern  die  Mnmifikation  kommt 
als  dne  physikalische  Leichenerscheiiiiiiig  bei  allen  Leichen  yor, 
wenn  die  äußeren  and  inneren  Verwesungsbedtngungen  dies  ermög- 
liehen.  Sind  diese  der  Yertrooknung  gflnstig,  dann  mumifiziert  der 
Leichnam,  wenn  nicht,  dann  entwickelt  sich  kolliqnatiye  Fftnlnis  oder 
bei  sehr  großer  Bodenfeuchtigkeit  Fettwachs  (Adipo^).  Die  Diagnose 
dner  ArsenTcrgiftung  findet  nach  meinen  Erfahrungen  in  den  Leicben- 
veränderungen  keine  Stütze,  und  ist  der  Mythus  von  der  Mumifi- 
kation der  Arsenleicben  vielmehr  geeignet,  das  unbefangene  Urteil 
des  ßeobacbters  zu  trüben.  Idi  habe  dies  schon  vor  Jahren  mit 
aller  Beeämmtheit  in  dem  Satze  ausgesprochen,  dessen  Richtigkeit  ich 
seither  immer  wieder  bestätigt  fand:  „Die  so  oft  behauptete  Mumifi- 
kation der  mit  Arsenik  vergifteten  Leichen  habe  ich  bei  zahlreichen 
Untersuchungen  und  Exhumierungen  niemals  beobachten  können*). 

Ebenso  unricbtii:  ist  die  Bebauptung  von  der  Konservierung 
der  isolierten  Oriraiie  und  Leichenteile  bei  der  Arsen  Vergiftung. 
Man  kann  vielnjebr  bei  den  zur  cliemiscben  Untersuchung  kommenden 
I^icbenteilen  liochgradigste  ])utriüe  Fäulnis  auch  dann  beobachten, 
wenn  eine  Arsenvergiftung  vorliegt 

//.  Phosphor. 

Der  Phosphor  nimmt  eine  hervorragende  Stellung  unter  den 
Giften  der  Gegenwart  ein.  Seine  Gescbiclite  als  Vergiftungsmiticl 
beginnt  erst  150  Jahre  nach  seiner  Entdeckung,  nämlich  mit  der  Er- 
findung der  Phosphorzfindhölzchen  im  Jahre  1833.   Die  Köpfchen 


l)  K  ratter,  „Vcrgiftuugcu-  in  Dradches  Bibhutliek  der  mediziniscbeu 
WiiBensdiaftsn.  Band:  Cror.  Med.  u.  Hyi^aie.  21.  o.  2S.  Heft 


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Effahnuigeii  Uber  einige  wichtige  Gifte  und  deren  Nadiw^  141 

dieser  Zündhölzer  enthalten  je  nach  der  Darstellun^sweise  wechselnde 
Mengen  von  •ielbeni  Phosphor.  Der  Gehalt  eines  Köpfchens  schwankt 
nach  den  dankenswerten  Untersuchungen  von  Smita')  zwischen 
0,167  und  1,78  Milligramm.  Die  meisten  enthalten  0,5—1  Milligramm 
und  man  wird  gut  tun,  etwaigen  Berechnungen  über  die  Menge  des 
einverleibten  Giftes  diesen  Mittelwert  zugrunde  zu  legen.  15  Milli- 
gramm Phosphor  können  schon  schwere  Vergiftungserscheinungen 
hervorrufen  und  50  Milligramm  (0,05  g)  sind  als  tödliche  Gabe  für 
einen  erwachsenen  Menschen  anzusehen.  Die  Köpfchen  eines  Schäch- 
telcbens  (bei  100  Stück)  enthalten  also  leiohlich  die  tödliohe  Dosis. 

Giftig  sind  alle  Alten  der  gewOhnlieheii  ,^chwefelh5l&ehen^  das. 
sind  Züadlidlser,  die  aufier  dem  Pbosphoricdpfchen  noeb  mit  dem  nn- 
giftigen  aber  gut  brennbaren  Sohwefel  an  ihrem  vorderen  Ende  be- 
legt sind,  dann  aber  aneh  die  meisten  sog.  Salon-  nnd  Waehssfindr 
bölzehen,  gleichgültig,  weleh  gleißende  Farbe  immer  die  Kdpfeben. 
tragen.  Ungiftig  dagegen,  wenigstens  im  Sinne  der  Pho6phor7e^ 
giftnng,  sind  die  zwar  von  BSttger  in  Dentsehland  eifandenen,  voik 
nns  jedooh  als  „sohwedisobe''  besmcbneten  Streiobbökohen.  Sie  ent- 
halten wohl  anob  Phosphor,  aber  nnr  in  der  nahezu  nngiftigen  Modi- 
fikation des  roten  oder  amorphen  Phosphors,  der  bekanntlich  duroh« 
Erhitzen  des  giftigen,  gelben  oder  kristallinischen  im  Sauerstoff  freien 
Puiunie  auf  260<>  gewonnen  wird.  Auch  dieser  ist  nur  an  der  Reib- 
fläche vorhanden,  während  der  Kopf  des  Hölzchens  chlorsaures  Kali, 
meist  mit  Zusatz  eines  ehromsanren  Salzes,  als  leicht  sauerstoffabgebende 
Masse  enthält. 

Ein  höchst  gefährliches  Gift  ist  also  ganz  allgemein  verbreitet  und 
ohne  jede  Beschränkung  billigst  in  todbringender  Menge  zu  beschaffen. 
Was  Wunder,  wenn  die  Pliosphorvergiftungon  noch  immer  zunehmen. 
Sie  werden,  wie  sie  mit  den  Pliospborzündhölzern  gekommen  sind, 
auch  mit  diesen  verschwinden  —  dann,  wenn  bei  uns  das  geschieht, 
was  einige  Staaten,  beispielsweise  Schweden  schon  getan  haben,  die 
zwangsweise  Einführung  der  giftfreien  Streichhölzer;  denn  die  übrigen 
phosphorhaltigen  Präparate,  die  als  liattengift  benutzte  Pho8])hor- 
latwerge,  das  Pliosphoröl  und  die  Phosphorpillen  haben  sozusagen 
gar  keine  praktische  Bedeutung,  da  durch  sie  nur  ganz  vereinzelte 
Vergiftungen  vorgekommen  sind.  Mir  selbst  ist  niemals  eine  andere 
als  durch  Zündholzköpfchen  hervorgerufene  Phosphorvergiftung  unter- 
gekommen. Ob  wir  trotz  der  Einfachheit  der  Gegenmaiinabmc  etwa 


1)  ämita,  L'ntorsuchuugca  Qber  den  Phosphorgehalt  der  Zünühülzchcu. 
Friedreichs  BUtter  f.  ger.  Med.  46.  Jahig.  169».  &  194. 


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142 


IlL  K  BATIKS 


schon  am  X'orabende  der  letzten  Zündbolzvergiftang  ätebeO}  wage  ich 
gleichwohl  zu  bezweifeln. 

Im  Gefj:ensatz  zum  Arsen  und  sämtlichen  übri^n  Giften  kommt 
die  deletäre  Wirkung  dem  Phosphor  selbst  zu.  Der  Grundstoff,  da> 
Element,  und  noch  die  ihm  nahestehenden  Wasserstoffverbindungen 
8md  giftig,  nicht  aber  seine  Sanerstoff Verbindungen ;  im  Gegenteile 
ut  die  OMbx  der  Vergiftang  vorüber,  wenn  der  Organismns  den 
Phosphor  aneh  nur  bis  sa  nnterphosphoriger  S&nre  oxydiert  hat 
Aber  diese  Oxydation  geht  viel  langsamer  von  stiUten,  als  man  denken 
sollte.  Der  Entgiftungaarbeit  des  Organismns,  d.  h.  seinem  Bestreben, 
den  einverleibten  Phosphor  in  nngiftige  Oxydstionsstnfen  fiberznftthren, 
eiliegt  er  selbst  in  einer  sehr  großen  Zahl  von  FftUen  oder  erieidet 
sehwento  Störungen  in  lebenswiohtigen  Organen.  Alle  Kiankheits- 
erseheinnngen  sind  reaktive  Vorginge  des  Organismus  behufis  Ent- 
giftung, ein  wütender  Kampf  der  Teile  im  Organismus  gegen  sii 
fremdes  Agens,  in  welohem  Millionen  von  Zdleiehen  das  Gampfbld 
bedecken. 

Innerhalb  der  mir  in  dieser  Arbeit  gesteckten  Grenzen  kann  es 
nicht  meine  Aufgabe  sein,  bekanntes  wiederzukäuen  und  eine  Dar- 
stellung der  Vergiftungsersoh einungen  zu  geben.  Diese  sind  hundert- 
fältig beschrieben  worden  und  Gemeingut  des  ärztlichen  Wissens.  Der 
Häufigkeit  des  Vorkommens  halber  hat  wohl  jeder  Arzt  ein-  oder 
das  anderemal  gerade  diese  Vergiftung  schon  als  Student  zu  sehen 
Gelegenheit  gehabt  Es  gibt  gewiß  viel  mehr  Ärzte,  die  keine  Arsen-, 
als  solche,  die  keine  Phosphorvergiftung  gesehen  haben.  Ich  möchte 
nur  auch  über  diese  Vergiftung  einige  forensisch  belangreiche  Erfah- 
rungen bezüglich  ihrer  Erkennung  am  Leichentiscbe  imd  des 
chemischen  Nachweises  mitteilen. 

Die  wichtigsten  organischen  Verändeningen  sind  bekanntlich  all- 
gemeiner Ikterus  (Gelbsucht),  fettige  Entartung  der  Leber,  der  Nieren, 
des  Herzens  und  der  gesamten  Muskulatur,  endlich  Blutungen  an 
den  allerverschiedensten  Stellen  des  Körpers  in  Form  von  größeren 
und  kleineren  subkutanen,  subserösen  und  submukösen  Blutpunkten 
nnd  -flecken,  hervorgegangen  aus  der  fettigen  Degeneration  der 
KapilhirgefitSe.  Die  Blntongen  der  Haut  können  mitunter  andi  so 
recht  großen  blauen  flecken  gedeihen.  Ein  solcher  Mensch  sidit 
dann  wie  geprügelt  aus.  Ich  sah  Blntunterlanfungen  der  Augenlider, 
wie  man  sie  in  der  Regel  nur  nach  schweren  SohSdelverietEungen 
zu  finden  pflegt  Zu  emstlichen  T&nschungen  kdnnen  diese  tzotsdem 
fOr  den  einigermaßen  erCahrenen  Arst  wohl  nicht  Anlaß  geben. 

Da  diese  multiplen  Blutanstritte  fftr  die  Diagnose  der  Phospho^ 


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Erfahnnig«ii  Aber  einige  widitige  €llfte  und  dereo  TUwAwem,  148 


Tergiftong  von  großer  Bedeutung  sind,  ist  es  sehr  wichtig,  ihre  lieb- 

ling:8sitze  zu  kennen.  Diese  Stellen  sind  das  Brustfell,  wo  sie  nament- 
lich im  hintom  Mittelfollranm  länp:s  der  Kr»rporsohlagader  zu  um- 
fänf^lichen  Blutfloeken  irodeihen  können,  dann  das  Zwerchfell,  Netzte 
und  Gekröse,  Achstlhrihlen  und  Schenkelbeujjen.  Man  soll  es  nie 
unterlassen,  bei  vermuteter  Phosphorver^iftung  gerade  an  diesen 
Stellen  n.ich  Blutungen  zu  fahnden.  In  manchen  Fällen  sind  sie  so 
zahlreich,  dal^  die  serösen  Häute  und  die  von  ihnen  überzogenen 
Organe  wie  getigert  aussehen,  in  anderen  Fällen  dagegen  kommen  sie 
recht  spärlich  vor  oder  sie  fehlen  wohl  auch  ganz.  Und  gerade 
darauf  möchte  ich  kurz  zu  sprechen  kommen,  weil  ich  diesen  Um- 
stand in  den  gebräuchlichen  Lehrbüchern  nirgends  mit  genügender 
Schärfe  hervorgehoben  finde. 

Der  Arzt  findet  überall  das  Bild  der  sogenannten  kUttsischen 
Phosphoryeigiflimg  beeehiiebeii.  Dieses  Bild  trifft  aber  Buir  fllr  eim 
besohiftnkte  Zahl  der  FUle  sil  Findet  er  dann  einmal  die  tjrpisefaen 
Befände  nichl^  so  kommt  er  begreiflieberweise  mit  seinem  Urteil  ins 
Sehwanken,  wornns  ihm  aneh  gar  kein  Vorwurf  erwaehsen  kann,  da 
ihm  in  der  Sohnle  die  dogmatisehe  Ansehannng  beigebcaeht  wnide, 
80  und  nar  so  sieht  eine  jede  Phosphorrergiftong  ans.  In  Wirklieh- 
keit  aber  Teihfilt  es  sieh  anders. 

Die  Leiehenbefnnde  hängen  ganz  wesentlieh  yon  der 
Daner  der  Vergiftung  ab.  Sie  sind  andere,  wenn  die  Vergiftung 
10 — 20  Stunden,  andere,  wenn  sie  3  Tage,  und  wieder  andere,  wenn 
sie  5—8  Tage  angedauert  hat  Und  dies  alles  kommt  vor.  Pliosphor^ 
yergiftnngen  können  in  weniger  als  24  Stunden  zum  Tode  führen, 
oder  in  3 — 4  Tagra,  adet  sie  dauern  eine  Woche  und  darüber  an. 
Während  des  ganzen  Vergiftungsverlaufes  schreiten  die  Veränderungen 
der  Organe  fort  und  es  ist  daher  selbst  für  den  I^ien  einsichtig,  dal) 
ein  bis  dahin  völlig  gesundes  Organ,  beispielsweise  die  Leber,  anders 
aussehen  wird  und  nniB,  wenn  sie  weniger  als  24  Stunden  als  wenn 
sie  3  oder  4  mal  21  Stunden  oder  gar  lü  Tage  unter  der  (üftwirkung 
stand.  Sie  ist  im  ersten  Falle  für  die  Beobachtung  mit  freiem  Auge 
kaum  merklieh  verändert,  im  zweiten  stark  vergrößert,  plump,  brüchig, 
fettrt  ieli,  kurz  vom  Ausselx'u  der  Leber  einer  geschoppten  Gans  mit 
hochgradig  gespannter  Kapsel,  im  letzten  endlich  selbst  kleiner  als 
normal,  schlaff,  erfüllt  mit  Zerfallsprodukten  der  untergangenen  Zellen, 
die  K:i|>sel  gerunzelt.  (Janz  ähnlich  verschieden  gestalten  sich  die 
VeriindiTungen  des  Herzens,  der  Nieren,  der  Muskeln  und  vor  allem 
auch  der  lilutgefäije  nai  li  der  Dauer  des  Prozesses.  Infolgedessen  gibt 
es  Phosphorvergiftungen  ohne  jede  Blutung,  solche  mit  wenig  zahl- 


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144 


HL  Kbattib 


reichen  oder  nur  ganz  vereinzelten  Blutaustritten  und  endlich  welche 
mit  unzUhlharon  großen  und  kleinen  Blutextrava^aten  in  nahezu  allen 
Organen  des  Körpers. 

Dieser  flüchtige  Hinweis  auf  die  Variabilität  der  I^ichenhefiinde 
dürfte  genügen  zur  Erkenntnis,  daß  die  anatomische  Diagnose  der 
Phosphorvergiftung  keineswegs  immer  leicht  und  sicher  ist;  sie  kann 
sich  im  Gegenteile  mitunter  so  schwierig  gestalten,  daß  die  Frage  an 
die  Chemie  unerläßlich  wird,  auch  wenn  es  sich  gar  nicht  um  eine 
krimineUe  Vergiftung  handelt  Die  Schwierigkeit  der  Leiebendiagnosük 
wird  noch  wegeotlich  erhöht  dnreh  den  Umstand,  da0  keine  einzige 
OiganTerSndemng  der  Phoephorvergiftnng  aneschließlieh  zukommt 
und  daß  andere  Prozease  ganz  ühnliohe  Yeiinderungen  erzeugen.  Ich 
verweise  nur  auf  die  akute  gelhe  Lebentrophie  und  gewisse  Formen 
der  Blutvergiftung  (Sepsis),  ohne  hier  auf  eine  ErOrtbrung  der  mitunter 
reoht  sehwierigen  Differenzialdiagnose  einzugeben.  Aueh  beim  Be- 
stände ehronisoher  Fettdegeuemtion  der  Leber,  des  Heizens  und  der 
Nieren,  die  so  hSnfigen  Oiganentartungen  dnioh  AlkoholmiDbnuich, 
kann  die  Diagnose  der  Phosphorvergiftung  am  iLeiobentische  auf 
Sehwierigkeiten  stoßen  und  kann  es  sieh  nötig  erweisen  die  Chemie 
zu  Eate  zu  ziehen. 

Um  sieb  über  die  Möglichkeit  und  die  Aussichten  des  cliemischeii 
Nachweises  eine  klare  Vorstellung  machen  zu  können,  bedarf  es  zu- 
nächst einer  kurzen  Betrachtung  der  Schicksale  des  Phosphors 
im  lebenden  Organismus  und  in  der  Leiche.  Der  in  den 
tierischen  Körper  eingeführte  Phosphor  beginnt  sofort  durch  Sauer- 
stoffaufnalinio  sich  zu  oxydieren.  Erst  werden  die  niedrigen  Oxydations« 
stufen  unterphosphorige  Säure  und  pliospliorige  Säure  gebildet,  die 
aber  auch  bald  durch  weitere  Angliederung  von  Sauerstoffatomen  in 
die  höchste  Oxydationsstufe  des  Phosphors,  in  Phos|)horsäure,  über- 
geführt werden.  Diese  und  deren  Salze  sind  normale  Bestandteile 
des  Tierkörpers  und  kommen  daher  pliosphorsaure  Salze  sowohl 
im  Harne  immer  vor  als  sie  auch  aus  den  Geweben  erhalten  werden. 
Der  Phosphor  ist  also  nur  so  lange  .als  ein  von  außen  eingeführter 
Giftstoff  nachweisbar,  als  er  noch  unoxydiert  im  Blute  kreist  oder 
noch  als  niedrige  Sauerstoffverbindung  in  den  Organen  vorhanden  ist. 
War  schon  während  des  Lebens  die  Oxydation  bis  zur  Bildung  von 
Phosphorsäure  vorgeschritten  oder  ist  dieselbe  nach  dem  Tode,  wo 
der  Chemismus  kdneswegs  stille  steht,  soweit  gediehen,  dann  besteht 
keine  Möglichkeit  mehr,  ihn  chemisch  nachzuweiseo. 

Wie  schon  oben  bemerkt  volhsieht  sich  die  Oxydation  des  Phosphor 
im  Organismus  nicht  sehr  rasch.  Wir  finden  daher  selbst  bei  subakutem 


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ErfthmiigeD  ftber  dnigo  wiohtige  Gifte  und  deren  Nachweis. 


145 


Verlauf  der  Verflnftiin^',  du  in  tödlichen  Füllen  immerhin  <;röi)ere  Men<ren 
genommen  werden  muBten,  in  derRep^l  noch  unoxydierten  Phosphor  auf, 
mindestens  alter  unterphosphorige  oder  pliosphori^^e  Säure.  Mit  der 
fortschreitenden  Fäulnis  aber  wird  der  zur  Zeit  des  Todes  noch  vor- 
handene Phosphor  weiter  umgewandelt  und  daher  sein  Auffinden  um 
so  unsicherer,  je  längere  Zeit  vom  Tode  an  verstrichen  ist.  Ra.scher 
geht  dieser  Unjwandlungsprozeß  vor  sich  bei  sezierten  als  bei  ganzen 
Leichen,  weil  bei  er.«iteren  der  Luftzutritt  zu  den  Organen  ein  weitaus 
leichterer  ist.  Gleichwohl  sind  Fälle  bekannt  geworden,  wo  er  sich  in 
exhumierten  Leichen  noch  nach  8  Wochen  nachweisen  lieli.  Nach 
10 — 12  Wochen  findet  man  ihn  nur  mehr  als  phospborige  Säure  und 
nach  höchstens  16  Woehoii  flberfaaapft  nicht  mehr,  das  hdfit  nur  noeb 
als  PbosphoiBänre,  was  eben  die  Veigiftong  nicht  mehr  beweiaea  kann. 

Das  sind  also  die  von  der  Natnr  gezogenen  Grenzen  der  Nach- 
weisungsmöglicbkeit  des  Pboepbois.  Sie  sind  recht  enge  im  Veiigldcb 
zu  anderen  Qiften.  Ihre  Kenntnis  ist  beim  Arzt,  Untersaohnngsricbter  und 
Staatsanwalt  Ton  auf  der  Hand  liegender  Bedeutung.  Wie  viel  unnfitse 
Arbeit,  Zeit  und  Geld  mögen  für  venpStete  Leiohenausgrabungen  und 
chemische  Untersuchung  su  weit  yerwester  Leichenteile  bei  Termuteter 
Phospborveigiftung  wohl  schon  Terausgabt  worden  sein?  Außerhalb 
der  oben  angegebenen ,  gewiß  äußersten  Grenzen,  gibt  ss  kernen 
chemischen  Pbosphomachweis  mehr.  Im  Vergleich  zur  zeitlichen  Nach- 
weisnngsmöglichkeit  des  Arsens  kann  ich  getrost  sagen:  Phosphor 
ist  in  Leichen  kaum  so  viele  Wochen  lang  sicher  nachweis- 
bar als  Arsen  Jahre. 

Ans  dieser  Erkenntnis  folgt  aber  noch  eine  andere  Lehre.  Bei 
vermuteter  Phosphorvergiftung  ist  es  auch  im  Gegensatz  zur  Arsenver- 
giftung für  die  Erbringung  des  objektiven  Beweises  ganz  und  gar  nicht 
gleichgültig,  ol»  rasch  oder  langsam  amtagehandelt  wird.  Einii^e  Tage 
Verzögerung  in  der  Anordnung  der  Exhumierung  können  hier  sehr  viel 
bedeuten.  Da  liegt  aber  noch  die  geringere  Gefahr.  Die  viel  größere 
besteht  in  der  üblichen  Behandlung  des  Untersuchungsmaterials.  Die 
bei  der  Exhumierung  und  Leichenzergliederung  etwa  noch  vorhandenen 
Spuren  von  Phosphor  werden  in  den  zerschnittenen  Organen,  zu  welcher 
der  Luftsauerstoff  fast  unbehinderten  Zutritt  hat,  nun  rasch  oxydiert.  Es 
ist  also  dringend  geboten,  daß  sie  mit  größter  Eile  und  so  verpackt, 
dali  nur  wenig  freier  Kaum  in  den  Glasgefäßen  vorhanden  ist,  zur 
ehemischen  Untersuchung  gelangen,  und  der  Chemiker  hinwiederum 
muß  sich  klar  sein,  daß  jede  Stunde  mehr,  die  das  bereits  in  seiner 
Hand  befindliche  Objekt  bis  zur  Inangriffnahme  der  Arbeit  weiter  fault, 
das  Besultat  der  ganzen  üntetsuchung  gefiUirden  kann.  Nach  meinen 

AiüUt  f«r  KrinlnalaBthtopolatto.  IUI.  10 


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U6 


UL  Kbattse 


schliminen  Erfalinnifren  in  flicsor  Richtung  horrsclit  bei  allen  heteiligU*n 
Faktoron,  namentlich  nucli  l>ei  den  Ärzten,  die  ja  die  sachkundigen 
Berater  des  Juristen  sein  sollen,  völlige  Verständnislosigkeit  für  die 
Bedeutung  dieser  Sache.  So  kommt  es,  dal»  nicht  selten  eine,  aber  auch 
zwei  und  mehr  Woclien  vergehen,  bis  die  chemische  Untersuchung  an- 
geordnet oder  das  zur  Untersuchung  bestimmte  Objekt,  welches  nach 
dem  gegenwärtigen  Geschäftsgänge  leider  nor  allzuviel  Hände  zu 
passieren  hat,  in  jirbeit  fgmomtmt  f/ML 

Meines  Eraefatens  solHe  Voisorge  getroffen  sein,  daß  von  der 
L^chenzergliederung  oder  -Ati^giabQng  an  bis  zur  Inangriffnafane 
der  ehemisohen  Arbeit  jede  weitere  Zersetziing  ansgeeehlossen  ut 
Einzig  die  „Instruktion  ffir  das  Verfahren  der  Ärzte  im  EOnigreiefa 
Bibern  bei  den  geriebtiiohen  Untersnohongen  meoachlicher  Leiehen*^ 
Yom  9.  Dezember  1880  enthält  meines  Wissens  eine  dieses  Ziel  an- 
strebende Bestimmung  im  $  21,  welche  lautet:  «Die  Gefäße  sollen  zur 
Konserviernng  der  in  sie  aufzunehmenden  Organe  samt 
Inhalt  reinen  Weingeist  enthalten.  Wenn  sie  gefüllt  sind,  werden 
sie  luftdicht  mit  dem  Pfropfen  und  darübergelegter  Blase  oder 
Pergamentpapier  verschlossen"  .  .  .  Speziell  bei  Phospliorvergiftungen 
hat  zwar  dieses;  V(  rfaliren  den  Nachteil,  daß  dadurch  eine  wichtige 
Reaktion,  das  Leuchten  der  Dämpfe,  Terhindert  wird,  allein,  da  wir 
Phosphor  auch  anderweits  sicher  nachzuweisen  vermögen,  so  fällt 
dieser  Nachteil  ])raktisch  nicht  ins  Gewicht  und  es  bleiben  die  grofiCD 
Vorteile  der  sofortiiren  Sistierunj?  jeder  weiteren  Zersetzung. 

Der  chemische  Nachweis  strebt  zunächst  die  Abtrennung?  etwa 
noch  vorhandenen  freien  Phosphors  an.  Die  Isolierung:  aus  den 
Leichenteilen  oder  anderen  Ol)]ekten  erfol^-t  wegen  seiner  Flüchtig- 
keit durch  Destillation  aus  dem  mit  Weinsäure  angesäuerten  Organbrei. 
Enthalten  die  übergehenden  Dämpfe  .auch  nur  noch  geringste  Spuren 
von  Phosphor,  so  leuchten  sie  im  dunkeln  Räume;  es  ist  dies  schöne 
Spiel  der  Phosphoreszenz  im  Kühlrolire  zu  beobachten.  Die  Reaktion  ist 
nicht  nur  absolut  beweisend,  sondern  auch  glücklicherweise  so  empfind- 
lich, (lab  sie  den  Nachweis  minimalster  Giftmengen  gestattet.  Nach 
Fresenius  zeigte  1  Milligramm  Phosphor  in  200000 Fächer  Ver- 
diinnung eine  halbe  Stunde  lang  das  I^euchten,  eine  Beobachtung,  die 
ich  oft  zu  bestätigen  Gelegenheit  hatte.  Bringt  man  ein  Zandhölzcben, 
das  auch  nur  «n  halbes  Milligramm  oder  w^th  weniger  Phosphor 
enthält,  in  einen  Destillierkolben  mit  schwach  angesäuertem  Wasser,  w» 
ist  starke  und  andauernde  Phos])horessenz  zu  sehen.  Leider  wird  das 
Leuchten  der  Dämpfe  durch  die  gleichzeitige  Anwesenheit  von  Alkohol 
Äther,  Kupfervitriol,  Sublimat,  Terpentinöl,  Wasserstottniperozyd, 


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Eiffthmngen  Ummt  einige  widitige  Gifle  und  deren  Nadiweia. 


147 


Karbolsäure,  Tetroleum,  Benzin,  Chloroform,  Fette  und  Fettsäuren,  und 
durch  manche  Fäulnisprodukte,  wie  Schwefchvajiserstoff ,  verhindert. 

Während  also  der  positive  Ausfall  dieser  Reaktion  ein  ab.suluter 
Beweis  für  das  Vorhandensein  des  Giftes  ist,  kann  aus  dem  nej^ativen 
Ausfall  nicht  im  entferntesten  auf  die  Abwesenheit  desselben  fj:esclilossea 
werden.  Ein  Gerichtschemiker,  der  sich  damit  begnügte,  würde  sioh 
eines  Kunstfehlers  schuldig  machen. 

In  jedem  Falle  ist  daher  auch  das  Destillat  zu  untersuchen. 
Salpetersaures  Silberoxjd  (IlöUensteinltmunp:)  wird  durch  die  ge- 
ringsten Mengen  von  Phosphor  zu  schwarzem  i'liosphorsilber  redu- 
ziert (Sc  her  er  sehe  Reaktion).  Wir  benutzen  daher  eine  Vorlage  von 
SUberlösung  auch  zur  quantitativen  Bestimmung,  indem  wir  das  ge- 
Bamie  tob  ihr  aufgenommeiid  Desdllat  dureh  Ozydalioii  in  Phosphor- 
Bänre  ttberfuhren  und  diese  als  Magnesiumpyrophosphat  beetunmen. 

Zur  ungestörten  Beobachtung  der  Phosphoreuenz  besteht  im 
Gruer  forensiachen  Institute  eine  besondere  Einriohtang.  Eine  als 
cbemiseher  Heid  heigeriohlete  Nisehe  isl  matt  sehwaiz  aust^ieziert; 
eigene  AbbtendnngsYoirichtnngen  schließen  jeden  tSnschenden  Reflex 
der  Glasröhren  des  H i ts ch  e r  1  i chschen  Apparates  aus.  Diese  Kisohe 
ffir  die  PhosphordestiUation  befmdet  sich  in  dem  mit  einer  Ver- 
dunkelungs-EiBiielitan^  versehenen  Hörsaal,  womit  unter  einem  dem 
Lehrzwecke  Becfanung  getragen  erscheint 

Wenn  aber  überhaupt  kein  freier  Phosphor  mehr  Torhanden  ist, 
dann  führt  noch  das  Verfahren  von  Dusart-Blondlot  zum 
Ziele,  welches  den  Nachweis  der  niedrigen  Sauerstoffverbindungen  des 
Phosphors  mit  großer  Sicherheit  gestattet  Unterphosphorige  Säure 
und  phosphorige  Säure  werden  im  Wasserstoffentwicklungsapparat 
in  Phosphorwasserstoffgas  übergeführt,  welches  beim  Durchleiten 
durch  eine  Silbernitratlösung  unter  Abscheidung  von  Silber  und 
Phosphorsilher  und  gleichzeitiger  Bildung  von  l'hosphorsäure  zersetzt" 
wird.  Piios))liürsilber  liefert  mit  nascierendem  Wasserstoff  wieder 
Phosphorwjisserstüff ,  welcher  der  F'lamme  eine  smaragdgrüne 
Färbung  erteilt.  Dies  sind  die  verhältnismäßig  einfachen  Grund- 
lagen eines  \'erfahrens,  dessen  Ausführung  viel  Zeit  und  technisches 
Geschick  in  Anspruch  nimmt.  Ich  begnüge  mich  hier  nur  mit  der  Fest- 
stellung, daü  diese  schöne  aber  schwierige  Methode  eine  kleine  Kunst- 
leistung darstellt,  welciie  nur  der  Hand  des  besonders  Geübten  gelingt. 

Man  ersieht  aus  alledem,  daü  der  Nachweis  des  Phosphors  in 
Leichenteilen  oder  andren  Objekten  keineswegs  eine  so  glatte  und 
einfache  Sache  ist^  sondern  daß  auch  hier  nur  eine  kunstgeübte  Hand 
ein  sicheres  Resultat  zu  Terbttigeu  vermag.  Und  gerade  bei  einer 

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148 


IIL  KSATISB 


fraglichen  Phosphorvergiflung  ist  der  chemische  Nachweis  und  seihst 
schon  dor  (|iialitative  alles;  denn  auch  schon  die  kleinstes  pur  von 
freiem  Phosphor  in  den  Organen  heweist  die  Vergiftung. 

Phosphor  wird  selten  zur  Ausführung  von  Morden  verwendet. 
Die  heiniliclie  Beibringung  des  Giftes  ist  wegen  seiner  auffälligen 
widrigen  Eigenschaften,  namentlich  des  knohiaucliartigen  Geruches, 
schwierig.  Der  Versuch  wird  leicht  entdeckt,  und  es  bleibt  bei  dem- 
selben. Anstandslos  auszuführen  ist  der  Mord  gewiß  nur  an  ganz 
kleinen  Kindern  und  an  nicht  vollsinnigen  Erwachsenen.  Ich  habe 
als  ein  Unikum  die  Vergiftung  eines  drei  Tage  alten  Kindes  durch 
die  Mutter  mit  sieben  Zündholzköpfchen  gesehen  und  beschrieben  >). 
Die  Vergiftung  verlief  selir  naob,  in  efeva  10 — 13  Stunden,  die  Leieben- 
befnnde  lieferten  keine  AnbaltBpnnkte  Ar  eine  Phoi^horvergiftung, 
bei  der  ebemieeben  Untenmebong  landen  aloh  nodi  Zflndbokköpfeben 
in  den  QedSnnen! 

Um  80  binfiger  findet  Pboipbor  für  Selbetmoidzwecke  and 
Tor  allem  aar  Fraebtablroibang  Verwendnng,  In  der  angefttbrien 
Arbeit  babe  ioh  ToUgfiltige  Beweise  für  letatgedaehte  YeranlasBong 
der  PboBpborreigiftang  eibraefat  Ana  einer  daadbat  mügetdlten 
Statiatik  der  PboaphoitodeafiUle  in  Graz  innerbalb  von  17  Jabren  et- 
gibt  aieb,  daß  von  53  Flllen  45  oder  86|5  PA»,  auf  das  weiUiebe 
und  nur  7  oder  13 1/2  Proz.  auf  das  männliche  Geschleobt  fallen.  Im 
gleiehen  Zeiträume  kamen  in  Graz  26  TodeafiUle  an  ArsenTergiftoDg 
TOr,  davon  betrafen  17  Männer,  9  Frauen,  somit  Männer  65,4  Proz., 
Weiber  34,6  Proz.  Ich  hielt  mieb  daher  fUr  berechtig^  den  aacb 
noch  heute  gültigen  Sats  aoasaapreeben: 

Phosphor  ist  vorwiegend  ein  Weibergif t,  Arsen  mehr 
ein  Mfinnergift.  Alle  Frauen  meiner  Zusammenstellnng  standen  im 
fortpflanzung«fähigen  Alter,  nur  sechs  hatten  dasselbe  überschritten; 
die  meisten  waren  bei  Beginn  der  Vergiftung  schwanger  oder  hatten 
kurz  vor  der  Aufnahme  in  die  Krankenanstalt  abortiert. 

Phosphor  ist,  wie  ich  ebenfalls  nachgewiesen  habe,  ein  ebenso 
gefährliches  als  unverläßliches  und  gleichwohl  immer  wieder  an- 
gewendetes Fruchtabtreibungsmittel.  In  meiner  Kasuistik 
finden  sich  folgende  typische  Fälle:  die  Schwangere  stirbt,  ohne  dnß 
Abortus  zustande  kam  oder  der  Abortus  ist  eingetreten,  und  darnach 
stirbt  sie  infolge  des  einverleibten  Giftes,  oder  sie  abortiert  und  bleibt 
am  Lehen  ({lusitiver  Erfolg)  oder  sie  abortiert  nicht  und  stirbt  auch 
nicht,  sondern  übersteht  die  Vergiftung  nach  vielwöchentlicher  Krank- 

1)  Kruttcr,  IMitT  ^ll<l^pllOl•  und  Anteil  als  Fnichtabtreibuiigsiuittei.  Viertel- 
jahrsschr.  f.  ger.  Med.  3.  Folge.  Bd.  23.  1902.  1.  lieft.] 


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Erfal^niigeD  Obet  einige  widitige  Gifte  and  deren  Nechwde.  149 

heit,  kommt  am  normalen  Ende  der  Schwanf^orscliaft  nieder,  brin«^t 
ein  lebendes  Kind  zur  Welt  und  wird  dann,  wenn  sie  aus  den  Wochen 
ist  —  wegen  versuchter  Fruchtabtreibung:  ab2:eurteilt  (A.  o.  0.  7.  Beob.). 

In  den  letzten  drei  Jahren  haben  sich  die  Fruchtabtreibunt^en 
durch  Phosphor  mit  tödlichem  Ausgang  sehr  bedeutend  vermehrt,  so 
daß  man  den  Eindruck  empfängt,  als  näherten  wir  uns  einem  Zu- 
stande, von  dem  dasselbe  gilt,  was  Robert')  in  seinem  ausgezeich- 
neten Lehrbuclie  der  Intoxikationen  von  Schweden  behauptet:  ,,ln 
Schweden  war  vor  der  zwangsweisen  Einführung  der  phosphor freien 
Zündhölzer  der  Phosphor  geradezu  Modemittel  zur  Fruchtabtreibung, 
freilich  meist  mit  letalem  Ausgang/ 

Interessant  ist  die  zunächst  von  meinem  SohttlerD.  A.  Wassmuth^) 
nenerdings  experimentell  festgestellte  Tatsaehe  des  Überganges  miBeres 
Giftes  auf  die  Fracht  Dadurch  wird  diese  im  Mnttertoibe  reigiftety 
und  es  entitebt  ein  typisches  anatomisches  VetgtftungsbUd  der  FVnoht 
Btt  einer  azbortierten  menschlichen  Leibesfraöht  habe  ich  diese  Ver- 
ftndemngen  als  die  Phosphormgiftnng  einer  Fracht  erwiesen,  eine 
Tatsache^  die  znr  Entdedning  der  Yerbreoherin  f iihrte,  welche  in  einer 
HeUanstalt  an  den  nnyerkennbaren  Erooheinnngen  einer  Phosphor- 
Tcrgiftong  nach  Aborhis  krank  damiederlag.  Das  GestSndnis  be- 
stitigte  die  wissenschaftliche  BeweisfQhmng. 

///.  Quecksilber. 

Das  Quecksilber  und  seine  Verbindungen  werden  vielfach  für  ge- 
werbliche, technische,  kosmetische  und  besonders  auch  für  medizi- 
nische Zwecke  verwendet.  Dadurch  ist  nicht  allzu  selten  Gelegenheit 
zu  absichtlichen  und  fahrlässigen  Vergiftungen  geboten,  die  teils  als 
leichtere  oder  schwere  akute  Intoxikationen  verlaufen,  teils  zu  chro- 
nischen Vergiftungen  führen.  Selbstmorde,  aber  auch  Mordyersuehe 
mit  Sublimat,  dem  fast  anssehließlieh  in  Betracht  kommenden 
giftigstem  Quecksilbentalze,  sind  nntf  mehrfach  vorgekommen. 

Schon  das  metallische  QaecksUber  wirkt  giftig,  wenn  es  in  feiner 
VerteUnng  als  sog.  Quecksilberdampf  eingeatmet  wird,  wosn  nament- 
\Ußi  bei  der  Verhüttang  in  Qnecksilberwerken  und  bei  gewissen 
technischen  Betrieben  Anlaß  geboten  ist,  oder  wenn  es,  wie  dies  auch 
wiederholt  vorkam,  als  grane  Salbe  namentlich  von  Quacksalbern  ver- 
stSndnisloB  angewendet  wird.  Hierbei  entsteht  eme  chronische  Ver- 
giftnng,  die  als  Merknrialismns  wohlbekannt  ist  Davon  soll  hier 
nicht  weiter  gesprochen  werden. 

1)  K  ob  ort,  Lehrbuch  der  Intoxikationen.  Stuttgart  1993.  8.416. 
l)  Dr.  Anton  Wassmuth,  Übertritt  des  Phosphors  auf  menschliche  und 
tierische  Früchte.  Vierteljahraschr.  f.  ger.  Med.  S.  Folge.  Bd.  26.  1903.  Heft  1.  S.12ff. 


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160 


IIL  KXATTSB 


Akiito  Veri:iftnn;xon,  welclie  bei  stürniischeni  Verlaufe  ausnahms- 
weise schon  in  weni^'en  Stunden  zum  Tode  führen  können,  in  der 
Regel  alit  r  erst  in  einigen  Tagen  töten,  werden  nur  durcli  Verbindungen 
des  Quecksilbers  lierv(»rgerufen.  Dieselben  sind  nach  dem  Grade 
ihrer  Tiislichkeit  starke  oder  schwächere  Oifte,  so  daß  man  von 
diesem  fJesichtspunkte  aus  mit  Recht  von  starken  und  milden 
Quecksilberpräparaten  sprechen  kiinn.  Unter  ersteren  versteht  man 
solche  QuecksilberverbindungeUj  welche  in  Wasser  und  verdünnter 
Salzsäure  leicht  löslich  sind,  unter  letzteren  solche,  welche  dadurch 
nicht  gelöst  werden.  Von  den  zwei  Verbindungsreihen,  welche  Merkur 
bildet,  sind  im  allgemeinen  die  Oxyd-  oder  Merkuriverbindungen  die 
Sterken,  die  Oxydul-  oder  Merkuroverbindongen  die  schwachen  Gifte. 

Die  am  aUerhftnfigsten  sdhwere  akute  Vergillangen  berrorrnfeDde 
QneekflilbenreibindnDg  ist  das  Qaeoknlbefchlorid  (Hg  CI2),  der  sog. 
Sublimat;  es  wird  dabor  in  den  Lebibflobem  Tiellaoh  pars  pro 
toto  nnr  von  der  Sublimatreigiftung  gebändelt  Der  Zinnober,  eine 
besondere  Form  dee  SchwefelqneekaUbefSy  kann  wegen  seiner  gSna- 
Ueben  UnUMiebkeit  wobl  als  nngiftig  betrachtet  werden. 

Die  Leicbenbefnnde  gestalten  sieb,  wie  bei  der  Pbospbor- 
▼ergiftnng,  Terscbieden  nach  der  Daaer  des  KrankbtttB?eilaiifes. 
Zunächst  besteht  nur  Angfarong  der  Sdileimhftnte  in  den  eisteii 
Wegen,  Mundhöhle,  Speiseröhre,  Magen  nnd  Zwölffingerdarm  mit 
reaktiver  Entzündung.  Tiefergreifende,  ausgedehnte  Yerschorfnng  ist 
in  der  fiegel  nur  im  Magen  infolge  der  hier  länger  andauernden  Ein* 
Wirkung  des  Giftes  zu  beobaohten.  Sie  kommt  zustande  durch  die 
Verbindung  des  Zellprotoplasmas  mit  dem  Quecksilber  zu  QuecksUber- 
albuminat,  wodurch  die  vom  Gifte  berührten  Zellen  ertötet  werden. 
Dabei  wird  die  Säure  des  eingeführten  Metallsalzes  frei,  beim  Subli- 
mat also  Salzsäure,  welche  ihrerseits  ebenfalls  Eiweiß  angreift  und  so 
die  Ätzwirkung  des  Metalles  verstärkt.  Ein  Metallsalz  wirkt  daher 
um  so  stärker  ätzend,  je  stärker  seine  Säure  ist  Die  schwefelsauren, 
salzsauren  und  salpetersauren  Salze  sind  deshalb  stärkere  Atzgifte,  als 
etwa  die  kohlensauren  oder  essigsauren  desselben  Metalles.  Der  Grad 
der  Verschorfung  der  ersten  Wege  ist  demnach  hei  ein  und  demselben 
Metallgift  verschieden  einmal  nach  der  Menge  un<l  Konzentration  der 
Lösung,  daunaberauch  nach  der  Stärke  'j  der  Säure  des  verwendeteuSalzes. 

1)  Es  wflrde  Uer  m  wdt  fflhren  die  besprocfaeoen  Wirkungen  der  Hg-Salae 

im  Lichte  der  clektrfM^en  DiBBodationstheorie  von  Arrhonius  zu  betcichtMi. 

Ich  ziehe  (iaher  vor,  an  »licstr  Stelle  liolxr  iiodi  den  älteren  Anschauungen 
zu  folgen  und  vorweise  nur  anT  I»  res  er :  ..Ziu  riiannakologie  des  Qaecksilben." 
Arch.  f.  exp.  raihul.  u.  rhanuakol.  1!>"J3.  32.  lid.  Ö.  456. 


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Erfahningen  fibM*  einige  wichtige  Gifte  and  deren  Nachweis. 


151 


Von  der  Stärke  der  Älzwirkurijr  einerseits  und  der  Dauer  der 
Vergiftuu«5  andererseits  hängt  hinwiederum  der  Grad  der  reaktiven 
Entzündung  der  verätzten  Gewebe  ab.  So  ist  sclion  die  Priniär- 
wirkung,  das  primäre  Verätzungsbild,  bei  den  Einzelfällen  graduell 
oft  recht  wesentlich  verschieden:  Die  Verschorfung  ist  je  nach  Um- 
ständen mehr  oberfläcblicii  oder  tieCdringend,  ausgebreitet  oder  örtlich 
beschränkt. 

Der  Endeffdd  ist  aber  keineswegs  aassoblielUick  von  dem  Grade 
der  Vevitznng  der  ersten  Wege  abhängig,  sondern  wesenüich  bedingt 
von  den  Wirkungen,  die  das  lesorbierte  und  zirkulierende  Gift  in  den 
entfernteren  Organen,  die  wir  die  sweiten  Giftwege  nennen,  ecsengt. 
Hier  treten  neue  Sekundärerscb einungen  auf.  Im  gewissen 
Sinne  ist  die  Venchoifung  sogar  ein  Schutzmittel  der  Natur  gegen 
die  Terderblichen  SekundSrwirkungen.  Sie  behindert  und  verlang- 
samt wesentlich  die  Aufsaugung  und  Verbreitung  des  Giftes  im 
übrigen  Organismus. 

Frühzeitig  entwickeln  sich  bei  der  Sublimatvergiftung  die  Ärzten 
wohlbekannten  Veränderungen  in  den  Nieren,  wo  bald  nach  der  Ein- 
führung des  Quecksilbers  auch  dessen  Ausscheidung  anfängt.  Sie 
bestehen  in  akuter  Entzündung  derselben  (Nephritis),  Fettdegeneration 
und  schlielMich  selbst  Ablagerung  von  Kaiksalzen,  manchmal  in  dem 
Grade,  daß  sie  beim  Durchschneiden  knirschen,  —  wenn  diese  letzte 
Veränderung  der  Mensch  erlebt.  Jedenfalls  sind  die  oft  und  ein- 
gehend besebriehenen  Nierenerscheinungen  kaum  charakteristisch  2:0- 
nug,  um  für  sicli  die  anatomische  Diagnose  einer  Sublimatvergiftung 
zu  sichern;  denn  iranz  gleiche  Veränderungen  treten  auch  bei  zahl- 
reichen anderen  Vergiftungen  in  den  Nieren  auf  und  ist  der  Zustand 
dieses  Organes  wesentlich  von  der  Dauer  der  Vergiftung  abhängig. 
Sie  stützen  aber  als  w  ichtige  Teilerscheinung  des  gesamten  Vergiftungs- 
bildes die  Diagnose,  die  allerdings  auch  hier  oft  genug  erst  durch 
die  chemische  Untersuchung  zur  Evidenz  erhärtet  werden  kann. 

Charakteristischer  ist  schon  der  sch  warze  Quecksilb crsaum 
am  Zahnfleisch  und,  bei  Einverleibung  des  Giftes  durch  den  Mund,  die^ 
eigenartige  schiefergraue  Farbe  der  Mundschleimhaut,  der  Speiseröhre- 
und  auch  noch  des  Magen.  Als  besonders  wertvoll  für  die  Diagnose 
gelten  mit  vollem  Becht  die  sekundären  Veränderungen  im  uateisten 
DOnndärm  (Ileum)  und  im  Dickdarm.  Sit  bestehen  in  Geschwttren 
des  Dünndarmes  und  in  diphtheritischer  VerschwSmng  des  Dickdarmes. 
Es  entwickelt  sich  eine  toxische  Dysenterie  (Quecksilberdysentcrie).  Sie 
gleicht  so  sehr  der  gewöhnlichen  Dysenterie,  daß  Yirchow  eriüilrte^ 
er  kSnne  keine  anatomischen  Unterschiede  zwischen  dies^  beidea 


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168 


UL  Khattbb 


l'rozcssen  anirrbcn.  Hier  nuiC»  wieder  die  riieniie  entscheiden  ~  denn 
in  der  toxisch  erkrankten  I)ariii\vund  ist  (^KiecksillxT  ah^'chi^ert.  Weil 
das  (^uecksilher  auch  durch  die  Darnidrüsen  aus^'eschieden  wird,  ent- 
stehen eben  die  ^'eschvvürigen  Prozesse  —  sie  sind  die  Wirkung  einer 
Öekundärätzun^'  wie  es  auch  die  niercurielle  Nephritis  ist. 

Man  hat  sich  nun  vorzustellen,  daii  in  einem  rasch  tödlich  ge- 
wordenen Falle  diese  diagnostisch  wichtigen  Sekundärerscheinungen 
vollständig  fehlen  oder  geringgradig  entwickelt  sind,  da  zu  ihrer  Tollen 
Ausbildung  die  Zeit  mangelte.  In  den  letzten  Jahren  habe  ich  bald 
Dachdiunder  drei  iol<Ae  sehr  akut  verianfeiie  SelbBtmordftUe  dnroh 
SnbKmak  seziert,  wo  keine  oder  nur  ganz  geringfügige  Daral▼e^ 
Sndeningen  vorhanden  waren.  Der  Tod  war  bei  allen  dreien  innerhalb 
der  ersten  drei  Tage  eingetreten;  bis  zu  dieser  Zeit  ist  also  Sublimat* 
Dysenterie  noch  nicht  vorhanden.  Wir  finden  in  solchen  EBllen 
nur  Verinderungen  der  ersten  Wege  vor. 

Andererseits  gibt  es  auch  EUle^  wo  diese  fehlen  und  nur  Sekunder- 
ersoheinungen  vorhanden  sind  —  dies  dann,  wenn  die  Einverldbnng 
des  Giftes  nicht  vom  Munde  ans  erfolgt  ist  So  war  es  in  dnem  sehr 
interessanten  Falle  von  Sublimatvergiftung  bei  einer  auf  der  hiesigen 
Gebärklinik  laparotoniierten  Frauensperson.  Es  mußte  wegen  eines 
absoluten  Geburtsbindernisses  der  Kaiseischnitt  ausgeführt  werden. 
Die  Frau  starb  unter  klinisch  nicht  klar  ausgeprägten  Erscheinungen 
am  sechsten  Tage  nach  der  Operation.  Die  von  Prof.  Eppinger 
vorgenommene  Obduktion  ergab,  wie  mir  von  seilen  der  Klinik  mit- 
geteilt wurde,  Nekrosen  an  der  Naht  des  Bauches  und  der  Gebär- 
mutter und  eine  Gastroenteritis  necroticans  von  solchem  Aussehen,  dalt 
der  erfahrene  patholoirische  Anatoni  den  dringenden  Verdacht  einer 
vorliegenden  Bubliniatvergiftun«:  auszusprechen  sich  veranlaßt  sah. 
Ich  wurde  ersucht,  die  chemische  l'ntersuchun.ir  der  Leichenteile  vor- 
zunehmen. Sie  fiel  i»ositiv  aus;  in  den  Organen  wurde  Quecksilber 
nachgewiesen^  und  es  la^r  somit  tatsächlich  eine  Subliuiatvergiftunir  vor. 

Das  Sublimat  kannte  nur  von  den  in  einer  Suldimatlilsung 
gewaschenen  und  während  der  Operation  oft  in  SubliniatliisuDg  ab- 
gespülten Händen  des  Operateurs  an  das  reritoneuin  und  die 
Eingeweide  gekommen  sein!  Man  wird  mir  gewiß  zustimmen,  wenn 
ich  ohne  jeden  weiteren  Kommentar  diesen  Fall  als  einen  sehr  lehr- 
reichen bezeichne. 

Damit  darf  ich  wohl  die  Erörterung  ftber  das  Leiehenbild  der 
Sublimatvergiftung  schließen. 

In  Bezug  auf  den  chemischen  Nachweis  ist  nur  wenig  zu 
bemerken.  Die  einschlägigen  Heihoden  sind  so  ausgearbeitet  und 


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Erfahnmgen  Qber  dniine  iriditiiii«  Gifte  mid  deren  Nadiwds. 


163 


erprobt,  (laß  Qooh  minimalste  Mengen  von  QnecksUber  in  den  Organen 
aufgefunden  werden  können.  Das  auch  von  uns  stets  geübte  Ver- 
fahren, das  durch  energische  Oxydation  nacli  Bahn  Fresenius  in 
Lösung  gebrachte  und  durch  Schwefelwasserstoff  gefällte  Quecksilber 
elektrolytisch  abzuscheiden  —  es  schlägt  sich  in  sauren  I^sungen  am 
Kiipferpole  als  Metallbelag  nieder  —  und  dann  in  einer  einseitig  ge- 
schlossenen Glasröhre  durch  Entwicklung  von  Joddämpfen  in  das 
scharlachrote  Quecksilberjodid  überaufübren,  gestattet  noch  bis  zu 
',111.1  Milli;:raniiii  sieber  zu  erkennen.  Dies  ist  auch  die  z\veckniär)igste 
Metbude,  um  l^uecksilber  im  Harn  und  im  Erbrochenen  naclizuweisen. 
Ist  mehr  als  eine  Spur  vorhanden,  was  bei  Vergiftungen  innner  zu- 
trifft, so  kann  es  nicht  selten  in  der,  wenn  nötig  etwas  eingeengten 
Flüssigkeit  (llam,  Mageninhalt)  direkt  nachgewiesen  werden.  Man 
säuert  die  zu  untersuchende  Flüssigkeit  an,  filtriert  und  taucht  in  die 
klare  Lösung  einen  Streifen  von  blankem  Kupferblech.  Soweit  das 
Kupfer  benetzt  wird,  bildet  sich  ein  Belag  von  metallischem  Queck- 
silber, ein  vereinfoehtM  Verfahren,  das  bei  aknten  Vergiftungen,  wenn 
noeh  UtsliGhe  QnecksUberBalce  im  Magen  vorhanden  sind,  Bethel  am 
LeichentiBche  angewendet  werden  kann. . 

Ich  mnfi  nnr  aneh  an  dieser  Stelle  wieder  henrorfaeben,  daß  natllr- 
lieh  das  Auffinden  einer  Spur  von  Quecksilber  in  einem  Objekte  oder 
anch  in  Leichenteilen  an  sieh  noch  nit^t  m  bewdsen  vermag,  daß 
eine  QneeksUberveigiftang  voiÜegt  Es  kann  sich  anch  um  anfällige 
Verunreinigungen  handeln.  So  fanden  wir  einmal  im  Erbrochenen 
eines  mit  gelben  Arsenik  vergifteten  und  an  Arsenvergiftung  gestorbenen 
Mannes  regnlinisobes  Queckalber,  fttr  dessen  Herkunft  eine  ErkUhnng 
nicht  gefunden  werden  konnte.  In  den  Organen  war  keine  Spur  davon 
anfzufinden. 

In  einem  anderen  EsUe,  der  uns  auch  nicht  ganz  eindeutig  zn 
sein  schien,  sahen  wir  uns  sogar  veranlaßt,  im  chemischen  Gutachten 
Bedenken  auszusprechen,  welche  den  Zweck  hatten  vor  einer  mög- 
licherweise irrigen  Deutung  eines  chemiscben  Befundes  zu  schützen. 

Der  Fall  ist  folgender: 

Am  2(1.  Dezember  1902  erkrankte  Mitzi  K.  in  Leoben  nach  dein 
Oenuli  von  Wein,  der  ihr  von  ihrem  Liebhaber  gereicht  worden  war, 
unter  Erscheinungen,  welche  eine  Vergiftung  vermuten  ließen.  Sie 
wurde  ins  Spital  gebracht,  wo  der  Magen  mit  5  Liter  Wiisser  aus- 
gespült wurde.  2si>  cm '  des  ersten  Spülwassers  kamen  zur  chemischen 
Untersuchung.  Wir  fanden  (Quecksilber  in  Spuren  darin,  die  wir  nur 
mehr  abschätzen  konnten:  es  waren  etwa  einige  Hundertstel  Milligramm. 
Dies  veranlalke  uns  nachstehende  Bemerkungen  auzufügeu: 


164 


UL  Kbattkb 


..Man  könnte  demnach  an  eine  Verjjriftiinj;  mit  einem  Quecksilber- 
salz (JSublimat,  weißer  Präzipitat  u.  derj;l.)  denken.  Allein  wir  lialten 
uns  für  verpfiiclitet  darauf  hinzuweisen,  dal»  der  chemische  Ik'fund 
Wold  nur  mit  fxröCiter  Vorsieht  im  Sinne  einer  Ver^nftun^  wird  forensisch 
verwertet  werden  können  u.  z.  a.)  wegen  der  sehr  g^eringen  (unwä^^baren) 
S{)uren  dts  im  Magenspülwasser  vorgefundenen  Giftes;  b)  weil  nicht 
ausgeschlossen  werden  kann,  dal)  es  sieb  um  eine  zufällige  Ver- 
unreinigung handelt,  nachdem  möglicherweise  in  der  offenbar  nicht 
neuen,  aus  dem  Krankenhause  stammenden  Flasche  sich  einmal 
Sublimatlösung  befunden  haben  konnte,  noch  mehr  aber,  weil  die 
Flasche  unzweckmäüigerweise  mit  direkt  aufgeträufeltem  rotem  Siegel- 
lack verschlossen  war.  Da  die  roten  Siegellacke  Zumober,  also 
one  Qneokflübenrefbiiidiing,  enthalteii,  ist  avcli  cKe  MSgfiohkeü  mthi 
sicher  anssEUBcbließen,  dafi  dadureh  eine  Spur  Ton  QneeluUber  ins 
Objekt  gelangen  konnte.'' 

IV.  Bfet. 

Die  forenae  Toxikologie  hat  vorwiegend  mit  den  akuten  Ver- 
giftungen zu  tun,  in  dem  Hafte,  dafi  der  Qeriohtsarzt,  wenn  er  tob 
einer  Veigiftnng  schleohtweg  spriohti  anseehlieBlioh  nnr  die  akute  meint 
Das  rührt  davon  her,  weil  die  forensisob  bedeutsamen,  kriminellen  und 
nicht  kriminellen  Vergiftungen  fast  ausnah  ndos  einen  akuten  Verlanf 
nehmen,  wfthrend  die  gewerblicli«  n,  technischen  und  ökonomische 
Vergiftongen,  sowie  die  durch  den  Mißbrauch  von  Genußmitteln  er- 
zeogten ,  v o r w iegend Znstandsbilder  einer  chroniBohenlntoxikation 
hervorrufen.  Trotzdem  empfinde  ich  es  als  einen  zu  beklagenden 
Mangel,  wenn  die  Darstellungen  der  Giftlehre  selbst  in  den  besten 
Lehrbüchern  der  gerichtlichen  Medizin  sich  fast  ganz  auf  die  akuten 
Vergiftungen  beschränken.  Die  einer  solchen  Beschränkung  wohl  zu- 
grunde liegende  Meinung  von  der  Hedentungslosigkeit  der  chronischen 
Vergiftungen  für  die  gerichtliche  Medizin  vermag  ich  nicht  zu  teilen. 
Selbst  vor  dem  Kriminalforum  kommen  chronische  Intoxikationen  zu 
beurteilen,  wie  ich  sogN  iili  an  einem  Beisiiit  l*.-  zeigen  werde.  Allein 
die  Bedürfnisse  der  Strafreehtspflege  siml  noch  niciit  das  Um  und 
Auf  der  berechtigten  Ansprüche  der  gesamten  Rechtspflege  an  die 
Heilkunde.  Dem  Gesamtumfange  dieser  zu  genügen  ist  nach  meiner 
Meinung  Aufgabe  der  forensen  Medizin.  Sie  wird  also  auch  den 
Ansprüchen,  welche  aus  der  modernen  Sozialgesetzgebung  mit  Eiu- 
schlul)  des  Lrl>ensniitteigesetzes  ent.si)ringin,  gerecht  werden  müssen. 

Von  dieser  höheren  Warte  aus  betrachtet  kommt  der  Gerichtsarzt 
nicht  gar  zu  selten  in  die  Lage  auch  Uber  chronische  Veigiftungen 


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Erfahrnngcn  über  einige  wichtige  Gifte  and  deren  Kacbwds.  156 

pro  foro  urteilen  zn  mlteeii}  namenüioh  tiei  ÜDfaUbegntBehtongen  und 
LebensmittelfälBchnngeii. 

Ein  Gift  nun,  das  nur  sehr  selten  zu  akuten,  um  so  öfter  aber 
zu  chronischen  Vergiftungen  Anlaß  gibt,  ist  Blei.  Und  gerade  des- 
halb gUiubte  ich  es  in  den  Kieis  dieser  Betrachtungen  einbeziehen  zn 
sollen. 

Das  reine  Metall,  welches  keine  akuten  Störungen  hervorruft, 
vermag  selbst  in  geringen  Mengen  fortgesetzt  einverleibt  nach  längerer 
oder  kürzerer  Zeit  chronische  Blei\  ergiftung  hervorzurufen.  Im  Altertum 
hat  das  metallisclie  Blei  dadurch,  dal)  man  es  zu  Kesseln  und  Trink- 
geschirren verwendete,  sehr  oft  zu  Vergiftung  geführt.  Heute  meidet 
man  Bleigeschirre,  nur  bleierne  Wasserleitungsröhreii  stehen  noch  wie 
vor  2000  Jahren  in  Verwendung,  allein  von  ihnen  drolit  wenig  Ge- 
fahr, weil  die  heutige  Technik  sie  so  herzustellen  versieht,  dal)  kein 
Blei  gelöst  wird.  Ich  habe  dies  in  einem,  für  den  tirolischeu  LandeS' 
Sanitätsrat  erstatteten,  veröffentlichten  Fachgutachten  näher  ausgeführt'). 
Dagegen  haben  Bleiklmme^  Bleipapier,  der  BleHlbemig  tob  NIhaeidei 
der  Bleigehalt  der  Lettern  nsw.  zn  Bleivergiftungen  geführt 

Die  VecbindQngen  dee  Bleies  sind  alle  giftig.  Praktisch  kommen 
vorwiegend  in  Betracht:  Das  Bleiozyd  (PbO)  unter  den  Kamen 
Bleiglätte,  SilbeigUttte,  Goldglfitte,  Massicot,  vielfach  als  Farbe  ye^ 
wendet^  das  Bleisnperoxyd  (PbOi)^  welches  in  den  letzten  Jahren 
in  der  Technik  besonders  ftr  die  HeiBtelhing  von  Akkumulatoren  in 
großen  Mengen  Verwendung  findet  und  somit  Anlaß  zn  Veigiftnngen 
gibt,  die  als  lote  Malerfarbe  bekannte  Memuge  oder  Pariser  Kot  (Pbt04)y 
das  Bleiksrbonat  (PbCOs),  welches  als  basische  Verbindung  unter 
dem  Xamen  Cerussa,  Blei  weiß,  eine  ausgedehnte  Verwendung  als 
weiße  Farbe  hat.  Kreraserweiß,  Perlweiß,  Hamburger-,  Venetianerweiß 
sind  sämtlich  bleiweißhalti^«  Farben.  Endlich  wären  noch  Blei- 
zucker, d.  i.  essigsaures  Bleioxyd,  und  Bleiessig,  ein  basisches 
Bleiacetat,  zn  nennen. 

Akut  tödlich  verlaufende  Bleivergiftungen  sind  recht  große  Selten- 
heiten wohl  schon  deswegen,  weil  im  Vergleich  zu  andern  Giften 
große  Mengen  dazu  g«'hören,  um  einen  Menschen  oder  ein  Haustier 
zu  töten.  Es  werden  in  der  Literatur  20  g  Bleiessig,  über  25  g 
Bleiweiß  und  über  50  g  Bleizucker  als  tötliche  Gaben  für  den 
Menschen  angegeben,  wobei  wohl  henierkt  werden  muß,  daß  viel 
größere  Mengen  schon  genommen  wurden,  ohne  den  Tod  zu 
erzeugen. 

Ii  Kratter,  Über  die  Venvendbarkelt  verzinkter  Eisen-  und  veiziimter 
BleirOhreu  fQr  Wasserleitungen.  Der  österr.  Sanitfitsbeamte.  1SS9.  ür.  6. 


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156 


IIL  Kr^ttkb 


Es  ontatebt  bei  der  Kinvcrleibuiif:  größerer  Gaben  zunächst  eine 
in  der  Ke^el  nicht  tödlich  verlaufende  akute  Bleiintoxikation, 
deren  vorwiegende  Symptome  in  Metallg:e8cbniack,  SjUMchelfiiiß, 
lirennen,  Würgen,  Erbreclien,  Magenkrämpfen,  Kolik  und  blutigem 
Durchfall,  raancbnial  auch  Verstopfung,  dann  Schwindel,  Kopfschmerz, 
Mattigkeit,  Uneinpfmdlichkeit,  schlielilicb  BewulUlosigkeit  und 
Krämpfen  bestehen.  Tritt  nicht  akut  innerhalb  von  1 — 2  Tagen  der 
Tod  ein,  so  entwickelt  sich  nach  einiger  Zeit  das  typische  Bild  der 
chronischen  Bleivergiftung. 

Diese  Erscheinung,  nämlich  Ausgang  der  akatm  Vergiftong  in 
chronische,  auch  dann,  wenn  nur  eine  einmalige  EnireridbiiiMC  statt- 
hatte, teilt  du  Blei  mit  dem  Anen,  dem  es  fiberiumpt  tozikologisdi 
naheiteht  Wie  naeh  einem  mißlungenen  SdbstmoidTerench  dnioh 
Anen,  und  zwar  ent  wochenlang  naeh  aeheinbaier  Genesung  das 
Bohwere  KiankheitBbild  des  chronischen  Arsenidsrnns,  das  man  auch 
als  Tabes  anenicalis  beieichnet  ha^  sich  entwickdn  kann,  nm  dann 
monatetanges,  wenn  nicht  immerwährendes  Sieohtnm  an  enengen<), 
so  endet  eine  nicht  tödliche  ahnte  Bldyergiftnng  wohl  ansnahmdoe 
nach  einem  kurzen  Intenrall  scheinbarer  Geneanng  mit  der  ohnmisolien 
Vergiftung,  die  sdbst  wieder  dne  Lebenagefishr  bedeutet  Man  wird 
meiner  Hdnung  nach  mitunter  nach  einem  halben  Jabre  noch  nicht 
doher  bestimmen  können,  ob  ein  solcher  Mensch  nicht  etwa  doeh 
noch  an  den  Folgen  der  Vergiftung  zugrunde  ireht. 

Von  den  typischen  Störungen,  die  im  Verlaufe  der  chronischen 
Bldvergiftong  auftreten,  hebe  ich  nur  den  Bleisaum,  die  Gdbsnobt 
(Icterus  satuminus),  die  Anämie  und  den  recht  oft  progressiveD 
Marasmus  als  Störungen  des  allgemeinen  Befindens  hervor.  Charak- 
terisch sind  gewisse  Empfindun^sstörungen,  die  als  Bleikolik,  Glieder- 
schmer/,  Amblyopie  und  Amaurose  (Unempfindliehkeit  der  Netzhaut) 
in  die  Erscheinung  treten,  sowie  die  bekannten  Bleilähmungen.  Es 
kann  endlich  sogar  zur  Entwicklung  von  Geistesstörungen  kommen; 
ein  nicht  seltener  Ausgang  ist  Schrumpfniere. 

Fast  alles  das  konnten  wir  in  einem  Straffalle  aus  neuerer  Zeit 
beobachten. 

Der  Anstreicher  Johann  L.  in  Wildon  bei  Graz  suchte  sich  seiner 


1)  Einen  Fall  dieser  Art  habe  ich  vor  ndir  als  20  Jahren  beobaditet  Ein 
Baner  vmi  der  Spnushgreiiie  hatte  aidaidü  causa  ein  Stfiok  gelben  Ancnik  ge* 

nommen.  Er  Qbersrantl  die  akute  Vcr^^ftung  und  fing  wieder  zu  arbeiten  an. 
Nach  einif^en  Wochen  stellten  sich  I<,rihniunjron  aller  Extremitäten  ein  und  3  Monate 
später  bot  er  uocli  daa  kiaasiäche  Bild  der  typischen  Arsonlähuiungen.  £r  genas 
später  vollständig. 


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Eifahmiigai  über  didge  widitige  Gifte  und  deren  Kachwtie. 


167 


alternden  Ehegattin  am  so  mehr  zu  entledigen,  als  er  in  leidenschaft- 
licher Liebe  zu  einer  jungen  Frauensperson  entbrannt  war,  die  für 
ihn  nur  durch  die  Ehe  errciclibar  schien.  Er  niisclite  daher  wieder- 
holt Bleiweil^,  in  dessen  Besitze  er  sich  natürlich  befand,  den  Speisen 
bei,  welche  seine  Frau  :;enoß.  Es  ließen  sich  mehrere  solche  Attacken 
durch  plötzlich  auftretende  akutf  \'er^ftungserscheinungen  nachweisen. 
Endlich  zeigte  sich  das  unverkennbare  Bild  der  chronischen  Blei- 
vergiftung. Die  Kranke  wurde  nun  nach  Graz  auf  die  KHnik  ge- 
bracht, wo  sie  monatelang  Gegenstand  ärztlicher  Beol)achtung  und 
wiederholter  gerichtsärztlicher  Untensuciiung  war.  Fast  ein  halljes 
Jahr  nach  dem  Auftreten  der  ersten  Vergiftungserscheinungen  konnten 
wir  erst  ein  Gutachten  erstatten,  welches,  obschon  auch  jetzt  die 
Möglichkeit  eines  tödlichen  Ausganges  nicht  sicher  auszuschließen  war, 
doch  als  Grandlage  für  die  Anklage  auf  versuchten  Meuchelmoid 
dienen  konnte. 

Eb  gipfelte  in  den  im  Texte  eingebend  begründeten  SdünfiBStKen: 

1.  Marie  L.  ist  an  cbromscher  Bleivergiftung  schwer  erkrankt 

2.  Diese  Veigiftnng  ist  yeranlafit  dnreh  bltobstwahrsoheinliob 
wiederholte  Einyeileibnng  einer  BlelTerbindmig  in  der  Zeit  wenige 
Wochen  Tor  dem  81.  Angnst  bis  zum  13.  September  (1900). 

3.  Das  im  MUchtopf  (ans  dem  M.  L.  trank)  nnd  im  Besitse  des 
Job.  Lb  gefundene  Bleiweiß  ist  bierfflr  vollkommen  geeignet  nnd 
konnte  auch  den  Tod  der  Marie  L.  herbeiführen. 

4.  Die  dadurch  bewirkte  Erkrankung  der  M.  L.  ist  einer  an 
sieb  schweren  und  lebensgefährlichen  Verletsong  mit  Folgen  Yon  weit 
mehr  als  30  Tagen  gleichzustellen. 

5.  Die  Erkrankung  wird,  wenn  sie  nicht  noch  tddlicb  ende^ 
jedenfalls  immerwährendes  Siechtum  zur  Folge  haben. 

Über  den  chemischen  Nachweis  des  Bleies  eine  Bemerkung  zu 
machen,  sehe  ich  mich  nicht  veranlaßt.  Es  ist  in  Organen  und  Aus- 
wurfstoffen nach  Zerstörung  der  organischen  Substanzen  auf  dem 
Wege  des  sehulgemäHen  Ganges  der  znsammengeBetzteu  Analyse 
jederzeit  sicher  aufzufinden. 

1?  Kupfer. 

Auch  die  Gifte  unterliegen  im  Wechsel  der  Zeiten  der  Mode. 
Sie  tauchen  auf,  verbreiten  sich,  erfreuen  sich  einige  Zeit  einer 
großen  Beliebtheit,  um  dann  der  Vergessenheit  anheimzufallen  und 
anderen  Volksgiften  Platz  zu  machen.  Nur  Heroen  unter  denselben, 
wie  das  wegen  seiner  Eignung  für  kriminelle  Zwecke  noch  nicht 
übertroffene  Arsen,  überdauern  die  Jahrhunderte. 


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168 


IlL  KiunsR 


Plia8|)hor  ist  eine  Mode^nft  oder  weni^tens  auf  dem  besten 
We^e,  es  zu  werden,  seine  Beliebtheit  nimmt  noch  ininier  zu  — 
Kupfer  war  ein  solches,  wenif^^tens  in  einigen  Ländern,  heute  hat  es 
seine  Rolle  fast  ausgespielt,  wennj^leich  auch  in  neuerer  Zeit  hie  und 
da  einzelne  Kii))fervcrp:iftunf^en  vorgekommen  sind').  In  der  ersten 
llälfte  des  aijgelaufenen  Jahrhunderts  war  es  in  Frankreich  ein  viel- 
verwendetes Volksgift.  Nach  Tardieu  kamen  dort  unter  617  ver- 
brecherischen Vergiftungen  in  den  Jahren  1S57— 62  11  ü  Kupfer- 
yergiftnngen  vor  nnd  auch  Orfila  teilt  in  seinem  klassischen  Lehr- 
buch der  Toxikologie  (deiitMhTon  Krupp,  Braonaehweig  1854) 
Kiohe  KasuBtik  mit 

Beines  Kupfer  ist  ungiftig;  als  Gifte  wirken  nur  seine  Sabe, 
Yoian  der  bekannte  Kupfervitriol «  aehwefelsanies  Kupferozjd  und 
der  Grünspan -»essigsanres  Kupferoxjd.  Die  anderan  Kupfenalse, 
die  &st  nur  Laboratoriumsartikel  sind,  dürften  gar  kerne  piaktisehe 
Bedeutung  haben.  Der  unzweifelhafte  Bflckgang  der  Knpferrer- 
giftungen  ist  um  so  aufflOliger,  ab  heute  Kupfdnalae,  namentlich  der 
Vitriol,  ausgedehnte  Verbreitung  in  der  Landwirtschaft  finden.  Es 
koimte  uns  daher  gar  nicht  wundem,  wenn  sich  unter  den  uns  cur 
UntersnohuDg  übermittelten  yerdftchtigen  Gcgcoatinden,  welche  in 
Häusern  gefunden  wurden,  öfters  größere  Mengen  von  Kupfervitriol 
befanden.  Man  staunt  nur  darüber,  daß  trotzdem  das  Volk  nicht  zu 
diesem  Gifte  greift.  Die  giftigen  Eigenschaften  des  Körpers  sind  ihm 
Tollbewußt 

•  Ich  glaube  der  Verwendung  der  Kupfersalze  für  kriminelle 
Zwecke  und  auch  als  Selbstmordmittel  stehen  zwei  Dinge  im  Wege: 
Die  auffällijire  Farbe  Tsie  sind  sämtlich  dunkelblau  oder  grünblau), 
die  eine  heimliche  Beibrinjning  unmö^rlich  macht  und  die  g:eringe 
Giftif^keit  j;t'i^enüber  von  Phosphor  und  Arsen.  Phosphor  ist  fast 
lOOl)  mal,  Arsenik  etwa  100  mal  giftiger  wie  ein  Kupfersalz.  10 — 20  g 
Kupfervitriol  töten  einen  Menschen  viel  weniger  sicher  als  0,1 — 0,2  g 
arsenige  Säure  oder  O.of)  g  Phosphor. 

Ich  hätte  daher  wegen  der  geringen  praktisch-toxikologischen  Be- 
deutung des  Kupfers  in  der  Gegenwart  hier  gar  nicht  davon  ge- 
sprochen, wenn  ich  nicht  doch  einige  mir  nicht  ganz  belanglos 
erseliL'inende  Beobachtungen  mitzuteilen  hätte. 

Eine  ganze  Ileihe  besonders  schön  grüner  Farben,  die  ver- 
schiedene Bezeichnungen  tragen,  wie  Schweinfurtergrün,  Parisergrün, 

1)  rii<T  '!  Fälle  tödlicher  Kupferver;rirrnn^  in  neupr  Zeit  berichtet  Stefan 
V.  Horuszkiewicz uuü dem  Krakauer gerichtsürzUichca  luacituu  Viurteljahreschr. 
f.  ger.  Med.  S-FolgOi  25.  Bd.  1903.  l.HofL  S.  1. 


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ErfdiraBgeii  Qb«r  «inig»  nicfatife  Gifte  und  dfinn  Ntdiweia.  159 


Hitie^ün,  Kaiserin  u.  a.  sind  teils  reine  Knjifersalze  der  arsenigen 
Säure  (Kupferarsenit)  oder  Oemenj^e  von  Kuj)ferarsenit  mit  Orün- 
span  (Kupferacotat  I.  Dio^;o  sind  selir  liofti^  wirkende  Gifte  und  als 
Farben  leicht  erhältlich.  Ihre  Gifti^jkeit  ist  be  kannt.  Schweinfurler- 
grün  wird  daher  auch  als  Ratteni,Mft  verwendet.  Diese  giftigen 
Farben,  die  früher  auch  noch  häufi;[rer  wie  gegenwärtig  zum  Ziinnier- 
anstrich,  zur  Herstellung  von  Tapeten,  zur  F'ärbung  von  KKider- 
stoffen  u.  dgl.  verwendet  wurden,  haben  wiederholt  zu  ökunoniischen 
und  gewerblichen  Vergiftungen  geführt:  sie  wurden  und  werden  aber 
auch  zu  SelbstvergiftUDgen  und  sogar  zu  kriminellen  Vergiftungen 
verwendet. 

Sie  erzeugen  allerdings  keine  reine  Knpfervergiftung,  ihre  große 
Gefährlichkeit  liegt  vielmehr  im  Arsen.  Wir  haben  dann  eine  Abart 
der  ArseiiikTergiftiuig  vor  mtB^  wobei  dem  Kupfer  ebe  iinteigeordnete 
Bolle  zukommt  Die  grfine  Farbe  des  Erbrochenen  nnd  der  Stnhl- 
enfleernngen  l&ßt  die  Schweinforteigrfln-Vergiftang  leicht  erkennen.  Im 
letzten  Jahrzehnt  hatte  ich  zwei  Selbstmorde  dieser  Art  zu  beobachten 
Gelegenhttt  In  dem  einen  Falle,  der  am  dritten  Tage  tOdÜch  endetei 
fanden  sich  noch  als  diag^nostisch  entscheidende  Merkmale  dieser 
Yergiftnng  grttngefifarbte  Scbleimmaasen  im  Didtdarm  vor,  während 
der  Magen  und  die  dünnen  Gedärme  das  gewöhnliche  Bild  der  akuten 
Gastroenteritis  arsenicalis  darboten. 

Kupfer  ist  in  Leichenteilen  und  allen  sonstigen  Objekten  beim 
üblichen  Untersnchnngsgange  auf  Minenügifte  sicher  und  auch  noch 
in  Spuren  nachweisbar.  Gerade  den  Spuren  Yon  Kupfer  möchte 
ich  noch  ein  Wort  widmen.  Uns  ist  es  schon  seit  langer  Zeit  auf- 
gefallen, daß  man  solchen  bei  der  Untersuchung  von  Leichenteilen 
recht  häufig  begegnet.  Wir  fanden  sie  neben  anderen  Giften  und 
auch,  wenn  sonst  kein  (üfl  vorhanden  war.  Fast  regelmäßig  ist 
eine  Spur  von  Kujjfer  in  der  lieber  vorhanden.  Es  sind  zu- 
meist nur  unwägbare  Mengen.  In  spät  exhumierten  I^ichenteih-n 
(Ausgrabung  nach  .lahreni  haben  wir  schon  öfters  auch  eine  grrdiere 
Menge  vorgefunden.  Im  letzteren  Falle  liegt  eine  meist  leicht  nach- 
weisbare \'erunreinigung  vor.  Das  Kupfer  ist  beim  Zerfall  des 
Leichnams  von  aulien  in  die  Organe  gelangt.  Seine  Quelle  sind  die 
Messingkreuze,  Rosenkranzdrähte,  Knüpfe  u.  dgl.,  deren  Reste  wir 
wiederholt  in  dem  zur  rntersuchung  vorliegenden  Organbrei  auf- 
gefunden haben.  Dal»  dieser  Befund  einmal  eine  falsche  Deutung  im 
Sinne  einer  vorliegenden  Vergiftung  fände,  ist  zwar  nicht  leicht  an- 
zunehmen, gleichwohl  glaubte  ich  meine  bezüglichen  Erfabrungcn 
aor  Warnung  mitteilen  an  sollen. 


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160   IIL  Kbatteb,  Erfahmngen  Über  einige  wichtige  Gifte  und  deren  Nadiwda. 

Sclnveror  verständlich  erscheint  das  sonst  regelniäßip^e  Vorkommen 
von  Kupfrrsiiiiren  in  der  I^her  auch  von  frischen  Leichen.  Diese 
wird  allerdinf^s  niemand  als  Uewcis  einer  Verf^iftiing  ansprechen,  da 
doch  die  ersten  We^a'  davon  frei  sind.  Es  entsteht  aber  frleiclnvoiil 
die  Fraj^e,  woher  die  Spuren  stammen V  Die  Antwort  lie^t  auch 
ganz  nahe.  Erwiesenermaßen  führen  wir  uns  Spuren  von  Kupfer 
sozusagen  regelmäßig,  jedenfalls  aber  sehr  häufig  zu.  Kupferspuren 
enthalten  sehr  viele  Pflanzen,  darnnter  die  Gerealien,  deren  HaU- 
Produkte  wir  im  tSglicben  Brot  und  andenn  Spdaoi  genießen.  Die 
Pflanzen  beziehen  das  Enpfer  ans  dem  Boden,  in  dem  ee  weit  yer* 
breitet  vorkommt  Auch  Fleisch  und  Blut  mancher  Tiere  wurde 
knpferhaltig  gründen.  Die  Kupfenalze  finden  auagebreitete  Ver* 
Waldung  zur  kflnstlichen  Kupferung  von  Nahrungs-  und  GenoS* 
mittein  und  als  Bekämpfnngsmittel  pflanzlioher  Paiasiten,  namentlieli 
jener  der  Weinreben.  So  kommt  Kupfer  audi  in  den  Wein.  Au 
der  noch  immer  vorkommenden  Verwendung  kupferner  Eochgeschine 
entspringt  eine  wettere  Möglichkeit  der  Aufnahme  ron  Kupier  in 
unseren  KOrper*).  Die  Leber  ist  das  Organ,  wo  dem  Körper  fremde 
Substanzen  vornehmlich  deponiert  und  aufgespeichoi  werden,  bis  ne 
durch  die  Galle  wieder  allmählich  zur  Ausscheidung  gelangen. 

Angesichts  aller  dieser  Tatsachen  ist  es  nicht  zu  verwandern, 
wenn  wir  Kupferspuren  in  der  Leber  bei  unseren  forensischen  Unter 
Buchnngen  geradem  regelmäßig  begegnen.  Wir  bestätigen  damit  nnr 
eine  alte  Erfahrung  von  Gerichtschemikem  und  Toxikologen^,  die 
SonnoiT^chein^)  in  den  Satz  gefaßt  hat:  „Ich  habe  fast  bei  jeder 
Untersuch unfj  von  I>eichenteilen  Spuren  von  Kupfer  gefunden,'^  und 
wir  können  mit  Tschirch')  uns  nur  wundern,  daß  bei  dieser  Lsge 
der  i>acbe  unsere  Leber  nicht  mehr  Kupfer  enthält 

1)  K  ratter,  Über  die  Zoliasigkeit  kupferner  KoehkeeeeL  Der  fStttm. 
Sanitätsbeamte.  1689.  Nr.  7. 

2)  Sarzcan  war  dor  erste,  welcher  das  Vorhan<len>ioin  von  Kupfer  in 
gewissen  Vegetabilien  und  im  Blute  positiv  behauptete  (1>30).  Seither  ist  die^o 
TVUBaclie  zwar  wiederholt  bestritteu  (Flandin,  Danger  u.  a.)  aber  auch 
fanmer  wieder  vielieitig  bestitlgt  wordeo  (vgl.  Orf ila,  Ldubnch  der  Tojdkologiek 
1854  und  Taylor,  Die  Oifte.  Deutsch  von  Soydeier.  Köln  1862). 

8)  Sonnenschein,  Ihuuiburli  d.  ger.  Chemie.  ISfil).  S.  '^5. 

4)  Tschirch,  Das  Kupfer  vom  Standpunkte  <ler  ^'■ericlitlicheu  Chemie, 
Toxikologie  und  Hygiene.  Stuttgart  1893.  Dazu  meine  kritische  Besprechung 
in  fHener  kifai.  Wocbenaehr.  189S. 

(Fortsetzung  über  organische  Gifte  folgt.) 


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IV. 

Ein  Beitrag  zar  Kasuistik  der  ScblaftraakeDheit. 

Von 

Dr.    XaekowItB  in  Inmbnidc. 

In  (las  Kapitel  der  für  den  Kriminalisten  und  Psychiater  gleich 
wichtigen  transitorischen  Bewußtseinsstürangen  gehört  auch  der  Zu- 
stand der  Sclilaftrunkenheit  oder  Somnolenz.  Man  be^^reift  darunter 
den  eigentümlichen  Uber^nf;:  zwischen  Schlafen  und  Wachen,  ^welcher 
entsteht,  wenn,  statt  dali  wie  beim  normalen  Erwachen  das  Selbst- 
bewußtsein und  die  davon  abhün^nj^'e  Hesonnenheit  sofort  wiederkehren, 
durch  aus  dem  Traundeben  herübergenonunene  Traumvorstellun^^en 
und  Sinnestäuschungen  oder  durch  verfälschte  Apperzeptionen  aus  der, 
noch  nicht  zum  Bewußtsein  ^ekoniiiienen  realen  Welt  die  Wieder- 
gewinnung des  Selbstbewußtseins  und  der  Besonnenheit  verzögert 
wird*" 

Als  besonders  wicliti«;e  Merkiiuile  führt  K raf ft-EI)ing  in  der 
zitierten  Schrift  an,  dal»  dieser  Zustaiul  stets  nur  kurze  Zeit,  höchstens 
einige  Minuten  andauert,  daß  die  Erinnerung  an  die  Erlebnisse  während 
der  Schlaftrunkenheit  sehr  summarisch  zu  sein  pflegt  und  nur  den 
subjektiven  Inhalt  des  Traumbewußtseins,  nicht  aber  den  objektiven 
Sachyerhnlt  in  sich  begidft  Als  Yoibedingungen  gelten  in  erster 
Linie  abnormal  tiefer  Seblaf  (der  z.  B.  doreh  yomngegangene  Strapazen 
oder  lange  Entbebrong  des  Schlafes  yenusacht  sein  kann)  femer  rech- 
licher Alkohol-  oder  Speisengenuß,  fremde  Umgebung,  plötzliches 
Erwachen  zu  ungewohnter  Zeit;  eine  gewisse  indiyidnelle  ]>isp06ition 
sowohl  des  einzelnen  Individuums  als  auch  ganzer  Familien  dürfte 
nach  den  bisher  gemachten  Beobachtungen  durchaus  nicht  von  der 
Hand  zu  wdsen  sein«  Die  wichtigste  Bolle  spielen  aber  jedenfolls 
die  Traumvorstellungen,  welche  den  Scblüfer  zuletzt  umfangen 
hidteui  und  mit  denen  er,  halb  erwacht,  seine  Umgebung  yerknttpfl^ 

Ij  Kruf ft-Ebiu|;,  Eiu  Beitrag  zur  Licbre  vom  trauöituriäcUcu  irrcsdn. 
Erhuigcn  1868.  &  7. 

AieUr  fb  Kiteinalantiitofologi«.  XIII.  11 


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162 


IV.  V.  MACKOwnt 


ohne  dal)  irgendeine  korrigierende  Aktion  des  Denkens  i)latz^reifen 
könnte,  sei  es  nun,  dali  leldiafte  Traumbilder  das  spontane  Aufsehrecken 
erzeupMi,  sei  es,  daß  die  unvermittelte,  von  außen  bewirkte  Unter- 
brechung des  Schlafes  zufälHj;  in  eine  Keilie  vorüberziehender  Trauiii- 
vorstelluHfren  fällt,  oder  sei  es  endlieii,  daß,  wie  meistens,  der  Traum 
erst  durch  die  weckende  Tatsache  ausgelöst  wird. 

Diese  kritiklose  Verbindung  der  noch  nicht  völlig  entschwundeneo 
Traumbilder  und  der  pliStztieli  anftsnohoDden  äußeren  Sianeawahr- 
nehmimgeii  zeigt  rieh  nicht  selten  in  wbieii  Beden  oder  in  feßex- 
artigen  Handlangen,  die  im  Momente  des  Erwachens  gesetzt,  und  falls 
Überhaupt  eine  Erinnerung  an  rie  flbrig  bleibt,  sofort  als  mdersinnig 
empfunden  werden,  sobald  der  ransdiartige  DImmeiznstand  verklingt, 
die  Beminiszenz  an  die  Traumrorstellungen  sich  veifiachtigt  und  das 
Bewußtsein  der  Persönlichkeit  mit  ihren  Beziehungen  zur  Umgebung 
vollständig  erwacht  ist  Auf  solche  Art  erklärt  es  rieh,  wenn  ein 
plßtzlich  Erweckter  Personen,  die  neben  seinem  Lager  stehen,  ver- 
kennt,  in  scheinbar  wachem  Zustand  sinnloses  Zeug  schwatst,  mit  den 
Zeichen  heftigster  Erregung  einen  ihm  erreichbaren  Gegenstand  ao 
rieh  rrißt  oder  beiseite  wirft  und  ähnliche  ungefilhrliche  Handlungen 
unt^immt;  auf  dieselbe  Grundlage  ist  es  aber  auch  zurückzufuhren, 
wenn  der  Schlaftrunkene  einen  vermeintlichen  Angriff  mit  Notwehr- 
handlungen beantwortet  und  hierbei  einen  zufällig  in  seiner  Kähe  be- 
findUcben  Menschen  verletzt  oder  tötet. 

Wie  Hoc  he')  hervorhebt,  befaßt  sich  hauptsächlich  die  ältere 
Literatur  mit  der  Kasuistik  von  objektiv  strafl)aren  Handlungen, 
welche  im  Zn-^tand  der  Schlaftrunkenheit  bej^angen  wurden  und  es  ist 
d»'r  modernen  Forschung:  ircwiß  ohne  weiteres  einzuräumen,  dal»  gar 
niancher  von  diesen  Fällen  von  der  heutigen  Wissenschaft  in  das 
Gebiet  der  epileptisclitn  Krankheitsforiuen  gewiesen  würde;  kurze, 
sich  in  wirren  Reden  (»der  Ansätzen  zu  Handlungen  ersehöj)fende 
Schlaftrunkenheit  ist  aber  im  täglichen  I>el)cn  so  häufig  zu  beobachten, 
daß  man  mit  der  Möglichkeit  folgenschweren  aktiven  Vorgehens  um 
so  eher  wird  rechnen  müssen,  als  es  sich  hierbei  nur  um  graduelle 
Unterschiede,  um  anscheinend  kleine  Zeitiutervalle,  um  mehr  oder 


1)  Uuudbucli  der  geridltlichou  T«^  chiutriu.  iicrausgcgcbcu  vou  A.  Uoche. 
llinchwald,  Beriin  1901.  S.  474  fr. 

2)  IHese  ist  zusammengestellt  in  Krafit-Ebing  op.  dt  S.  5  und  in  desselben 

Verfassers  „Lehrbuch  der  gerichtlichen  Fsj-chopathologie".  Eiike,  J^tuttjrart  1900. 
tj.  v^l.  aus  »Ion  angeführten  Schriften,  insbesondere  K  rn  gel  st  ei  n  ,  Iber 
ilie  im  Zustand  der  Sclilaftrunkeuhcit  vcrübtcu  Gewalttätigkeiten,  llenkes  Zeit- 
schrift für  Staatsaraneikttnde.  ISäS.  65.  Bd.  S.  183  u.  4a4. 


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Ein  Beitrag  zur  KasniBtik  der  Schlaltninkenhelt. 


168 


minder  tiefen  Schlaf,  um  die  Beschaffenheit  der  Traumvorstellun^en  und 
um  die  stärker  oder  geringer  ausgesprochene  Neigung  einzelner  Per- 
sonen zur  impulsiven  Reaktion  auf  tätliche  oder  wörtliche  Angriffe 
handelt. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet,  verdient  die  SchUiftruiiken- 
heit  nocli  immer  das  Interesse  des  Kriminalisten  und  jeder  forensische 
Fall,  der  möglicherweise  darauf  zuriick/uführen  ist,  {genaueste  Unter- 
suchung durch  psychiatrische  Sacln  crständige. 

Die  Schwierigkeiten,  mit  denen  Kichter  und  ärztliche  Experten 
hier  zu  kämpfen  haben,  liegen  einersi  its  gerade  in  den  charakteristischen 
Merkmalen  des  Zustande»  —  Kürze  der  Zeit,  Aufhebung  der  Er- 
innerung. Mangel  an  objektiven  Symptomen  —  andererseits  iui  berech- 
tigten Mißtrauen,  mit  dem  man  einer  darauf  abzielenden  Verantwurtunu: 
entgegentritt.  Krafft-Ebing  weist  die  ärztlichen  Sachverständigen 
hauptsächlich  auf  die  nachfolgenden  Punkte,  um  die  sich  die  Unter- 
audiung  zu  drehen  bat: 

a)  beEflglicfa  der  IndividnalüBt:  ob  ähnfiebe  ZustSnde  oder  ab- 
normale Kenrenenebeinungen  beim  Exploranden  oder  in  dessen 
Familie  beobachtet  wurden  und  ob  die  Vorbedingungen  fQr  die  Scbhif- 
trnnkenheit  vorliegen; 

b)  bezüglich  der  Zeit:  wie  lange  der  scblaftmnkene  Zustand 
dauerte  und  ob  die  Tat  in  die  Zeit  des  gewShnliohen  Schlafes  fiel; 

c)  ob  die  Tat  den  Obaiakter  einer  unbewußten,  zufälligen  an 
sich  trägt; 

d)  ob  sie  unmittelbar  in  den  Moment  des  Erwachens  oder  Erweckt- 
werdens fällt,  oder  ob  zwischen  Erwachen  und  Tat  Umstände  kon- 
stantierbar  sind,  die  das  Wiederkehren  des  Selbstbewußtseins,  —  damit 
aber  auch  das  Nichtvorhandensein  der  Schlaftrunkenheit  beweisen,  — 
endlich  ^velchen  Zeitraum  und  welche  Punkte  die  Erinnerung  umfaßt. 

Die  Beantwortung  der  Frage,  wie  sich  dieser  Zustand  entwickelt, 
die  Analyse  seiner  einzelnen  Phasen,  seines  Zusammenhängens  mit 
dem  gesamten  Geistesleben  eines  Individuums,  muß  dem  Psychiater 
und  dem  Psychologen  überlassen  bleiben;  zweifellos  steht  fest,  daß 
während  des  Andauerns  der  Schlaftrunkenheit  der  hievon  Befallene  in 
seinen  Beziehungen  zur  Aur)enwelt  i^estürt  und  seines  Sell)stl)ewußt.seins 
beraubt  ist,  daß  auf  die  Tat  weder  trt.'ibcnde  nocli  hemmende  Momente 
einwirken  können,  welche  unter  normalen  Verhältnissen  die  Hand- 
lunj^'en  bestimmen.  Hiermit  ist  aber  für  den  praktischen  Juristen  be- 
reits die  Bedeutung  dieses  Zustandes  gekennzeichnet:  lautet  nämhch 
das  ärztliche  Gutachten  dahin,  daß  eine  inkriminierte  Handlung  in 
Schlaftrunkenheit  begangen  wurde  und  vermag  der  erkennende  liichter 


164 


IV.  T.  UACKOWm 


dieser  Ansicht  beizupflicliten,  so  ergibt  sieb  für  ihn  die  Konsequenz, 
diese  Tat  deshalh  für  straflos  zu  erklären,  weil  sie  „in  einer  Sinnes- 
verwirrung, in  welcher  der  Täter  sich  seiner  Ilandlung  nicht  bewuüt 
war,  begangen  worden  ist''  (§  2c  österr.  St.-G.),  bezw.  „weil  sieb  der 
Täter  zur  Zeit  der  Begehung  der  Handlung  in  einem  Zustand  von 
Bewußtlosigkeit  befand  (§  51  deutsch.  St.-G.-B.).  In  analoger  Weise, 
nämlich  aus  dem  Gesicbtspunkt  der  Bewußtlosigkeit,  muß  die  Som- 
nolenz  auch  nach  anderen  europäischen  Strafgesetzen  als  Strafans- 
aobließnngsgrund  aagesdiflii  weidfln  (Art  71.  belg.  St-0.  Art  41 
bnlgar.  St-6.  §  38  dimBcb.  St-G.  Art.  64  tens.  St-G.  f  4€f  itaL 
St-G.  §  44  norweg.  Eotwuft  Art  43  port  St-G.  $  5  aehwed. 
St-G.  Art  11  des  sehweis.  Eotwnrf  1896.  §  78  imgar.  St-G.)*) 

Der  Fall»  welcher  nach  diesem  knizen  Überblick  über  die  Grund- 
zfige  der  Lehre  Ton  der  Schlaftrunkenheit  nnd  ihre  Bedentong  für  die 
StruQnBliB  enShU  werden  soll,  spielte  sich  im  Gebiete  eines  Mndlichen 
tiroler  Besirksgerichtes  ab  nnd  dfirfte  fttr  die  Kasuistik  der  Sonmolens 
yon  Wert  ma^  weoni^eich  das  YeMm  des  Bescfauldigton  viel  zu 
wenig  erhoben  und  die  lYage  der  Schlaftrunkenheit  Überhaupt  nicht 
gestreift  wurde. 

Am  Sonntag  1 7.  November  1901  TOrmitlags  begab  sich  der  41  Jahre 
alte,  ledige  Tischler  Johann  T.  von  seinem  Wohnorte  N.  nach  dem 
etliche  Stunden  entfernten  T^,  woselbst  er  Geschäfte  zu  besorgen  hatte; 
teils  bei  Bekannten,  teils  in  Gasthäusern  trank  er  bis  gegen  7  Uhr 
abends  zirka  2  oder  2  72  Liter  Wein  und  war  infolgedessen  ziemlich 
angeheitert.  Im  Gasthaus,  in  welchem  er  sich  zuletzt  befand,  geriet 
er  mit  ihm  unbekannten  Bauemburschen  in  Streit,  erhielt  von  ihnen 
Schläge  und  wurde  endlich  zur  Tür  der  Wirtsstube  hinausgeworfen, 
bei  welchem  Anlaß  er  einige  leichte  Verletzungen  im  Gesicht  davon- 
trug. Der  Wirt  l)esori:tp  eine  Wiederholung  der  Rauferei  und  führte 
deshalb  den  T.,  der  ohnedies  im  Gasthaus  zu  übernachten  gedachte, 
in  ein  Zimmer  des  oberen  Stockwerkes,  iu  welchem  zwei  Betten 
standen.  I  ber  die  erlittenen  Mißhandlungen  aufgebracht,  fügte  er 
sich  nur  widerwillig  dieser  Maliregel,  beruhigte  sich  aber  auf  Zureden 
des  Wirtes,  zog  einen  Teil  der  Kleider  ab  und  legte  sich  zu  Bett. 
Als  der  Wirt  etwa  eine  Viertelstunde  später  nachschaute,  hatte  T.  das 
Licht  bereits  gelöscht  und  war  eingeschlafen. 

Zwei  Stunden  nachher,  etwa  um  9  oder  '  jlO  Uhr  wies  mao 
einen  italienischen  Arbeiter,  der  sich  schon  seit  langen  Jahren  im 
Orte  aufhielt,  dem  T.  aber  ganz  unbekannt  war,  in  dasselbe  Zimmer 


1)  ZusammenstelluBg  der  bezQglicben  Gesetzestexte  siebe  Hocbe  op.cit  ShTSff. 


I 

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Ein  Beitng  znr  Kuubtik  der  Soblaftmnkeoheit 


165 


zum  Schlafen,  doch  wurde  er  nur  bis  zur  Tür  begleitet,  weshalb 
nicht  feststeht,  ob  T.  sein  Kommen  wahrnahm.  Gewiß  ist,  daß  der 
Italiener  sich  nicht  in  der  Wirtsstube  befand,  als  der  Streit  mit  T.  vor 
sich  ging.  Einige  Minuten  später  führte  dann  die  Wirtin  einen  anderen 
Gast  zu  Bett  und  ging  bei  dieser  Gelegenheit  an  der  Kammer  des  T. 
vorüber;  hierbei  will  sie  gehört  haben,  daß  drinnen  gesprochen  wurde, 
vermag  aber  sicheres  nicht  zu  behaupten,  weil  sie  darauf  nicht  achtete 
und  weil  gerade  damals  in  der  Nachbarschaft  gelärmt  und  gesungen 
wurde.  Kaum  hatte  sie  sich  wieder  ins  Erdgeschoß  verfügt,  als  T, 
vom  Gange  des  ersten  Stockwerkes  um  Hilfe  schrie  und  den  hinauf- 
eilenden Leuten  ganz  verwirrt  zurief,  er  müsse  ein  Unglück  ange- 
richtet haben  und  kenne  sich  nicht  mehr  aus.  Im  Zimmer  und  zwar 
auf  dem  nicht  benutzten  Bett  lag  rücklings,  halb  angekleidet,  der 
Italiener;  er  war  tot  und  die  Leiche  wies  an  der  linken  Briistseite 
eine  Stichwunde  auf.  Spuren  eines  Kampfes  fanden  sich  nicht,  nur 
lag  das  Nachtgeschirr,  das  unter  dem  Bette  T.'s  gestanden  war,  um- 
gestürzt auf  dem  Boden  und  sein  Inhalt  hatte  sicli  über  die  Dielen 
ergossen.  T.  selbst  zeigte  sich  ganz  vernichtet ;  er  beteuerte,  er  wisse 
nicht,  was  vorgefallen  sei,  wie  sich  das  Unglück  habe  zutragen 
können;  er  schlug  immer  wieder  die  Hände  vor  den  Kopf,  begann 
za  wemea,  kmefe  an  der  Leidid  niedw  und  ließ  sieh  dum  willig 
abführen. 

Die  gerichtliche  Obduktion  der  Leiche  ergab,  daß  gegen  den  Ge- 
töteten Yon  Yom  ein  Stich  mit  großer  Kraft  geführt  wurde,  der  das 
Herz  durchbohrte  und  den  Tod  beinahe  sofort  zur  Folge  gehabt  haben 
mußte.  BerdtB  am  Tage  nach  der  Tat  Uad  das  erste  gerichtliche  Verhdr 
T.^  statt  Er  erzählte  die  Vorgeschichte  ganz  analog  mit  der  gegebenen) 
durch  Zeugen  erwiesenen  Darstellung  und  fügte  bei,  er  habe,  nach- 
dem er  ins  Schla&immer  gekommen,  das  Kaohtgesohirr  bentttz^  sich 
dann  halb  entkleidet  ins  Bett  gel^  und  sei  sofort  eingeschlafen. 
Plötzlich,  80  lautete  seine  weitere  Erzählung,  schreckte  er  auf;  ein  ihm 
Unbekannter  stand  Tor  seinem  Bett,  sprach  etwas  vom  Nachtgeschirr, 
das  er  ihm  aufsetzen  wolle  und  von  einem  Stuhl,  mit  dem  er  ihn 
«nBChlagen  werde.  Zugleich  hörte  er  vor  dem  Zimmer  lärmen  und 
schreien  und  glaubte,  die  Burschen,  die  ihn  früher  in  der  Wirtsstube 
mißhandelten,  wollten  eindringen,  um  ihm  ein  Leid  anzutun ;  im  selben 
Augenblick  griff  der  Unbekannte  nach  einem  Stuhl  und  nun  sprang 
T.,  in  der  Meinung  es  gelte  einen  Angriff  abzuwehren,  aus  dem  Bett, 
riß  sein  Tascbenmosser  aus  dem  llosensack  und  stach  es  dem  Fremden 
mit  aller  Wucht  in  den  Leib.  Dieser  taumelte  ächzend  zum  zweiten 
Bett,  sank  rücklings  hinein  und  blieb,  nachdem  er  sich  selbst  das 


DiyiliZüa  by  GoOgle 


166 


IV.  If Acxowns 


Messer  aus  der  Wunde  pezopen,  liefen.  Jetzt  kam  T.  —  nach  seiner 
Erzülilung  —  erst  zu  sich;  er  sah  ein,  daß  die  ^befürchteten  Burschen 
g&.r  iiiclit  in  der  Nähe  waren,  dal^  er  sich  we^^en  ihres  Lämiens  ge- 
täuscht hatte,  er  hemcrkte  aber  aucli  mit  Entsetzen,  daß  der  ihm  völlig 
unbekannte  vermeintHcbe  An^rreifer  bereits  tot  im  Bette  lag.  Er  eilte 
sofort  auf  den  Oanj;,  rief  Leute  lierbei  und  benahm  sich,  wie  der  an 
dieser  Stelle  wieder  einsetzende  Zeugenbeweis  dartut,  gleich  eineoi^ 
der  sich  plötzlich  vor  etwas  ganz  Unfaßbares  gestellt  sieht. 

Sei  es  nun,  dal)  dem  Krliebungsrichter  und  den  Uindärzten,  die 
als  Sachverständige  bei  der  Obduktion  intervenierten,  die  Schlaf- 
tniukenheit  als  ein  die  Strafbarkeit  ausschließender  Umstand  weniger 
geläufig  war,  sei  es,  daß  sie  die  Notwendigkeit  niebt  für  gegeben  er- 
achteten, den  Fall  von  dieaem  GemehtBpnnkt  ans  sa  betiBohten,  Tat- 
sache iai^  daß  das  ganze  Untennchnngsmaterial  die  Frage  gar  nicht 
bertthrt  T.  blieb  bei  seiner  Verantwortung,  die  darin  gii)felt,  er  k(bmo 
sich  fttr  seme  Tat  sdhat  keine  Bechenschalt  geben,  mdiTieite  aber 
die  behauptete  üncnrechnnngslfthigkeit  anr  Zeit  der  Handlung  mit 
der  Beiansehnng  infolge  Genusses  von  alkoholischen  GetrSnkeo,  Ton 
der  er  sich  erst  aas  Schrecken  Aber  den  Erfolg  seines  Voigeheas  er- 
nüchtert habe;  parallel  hiermit  läuft  der  Gang  der  gerichtlichen  Er- 
hebungen; es  wurde  die  Menge  der  genossenen  Getränke  festgestellt, 
die  Zeugen  über  den  Eindruck  yemommen,  den  ihnen  T.  vor  und 
nach  dem  Unglfick  bezüglich  seiner  Trunkenheit  machte  und  das  Er- 
gebnis schloß  im  Satz,  der  Beschuldigte  sei  am  kritischen  Abend  und 
zwar  zur  Zeit,  als  er  ins  Schlafzimmer  geführt  wurde^  ziemlich  stark 
angeheitert,  aber  durchaus  nicht  vollberauscht  gewesen,  habe  sich 
jedoch  nach  der  Tat  derart  ernüchtert  gezeigt,  daß  man  an  semer 
Znrechnungsfähigkeit  nicht  zweifeln  könne. 

Auf  Grund  dieser  Beweise  erhob  die  Staatsanwaltschaft  Anklage 
wegen  Verbrechens  des  Totschlages  (§  140  österr.  St.  G.\  indem  sie 
von  der  Annahme  ausging,  zwischen  dem  Beschuldigten  und  dem  Ge- 
töteten sei  ein  Streit  entstanden,  in  dessen  Verlauf  T.  zum  Messer 
griff.  Ein  Hauptargument  in  der  staatsanwaltlichen  Begründung  lieferte 
die  Zeugenaussage  der  Wirtin,  welche,  wie  schon  erwähnt,  sich  zu 
erinnern  glaubte,  im  Zimmer  des  T.  unmittelbar  vor  Bekanntwerden 
des  Unglücks  sprechen  gehtirt  zu  haben.  Die  über  diese  Anklage 
anberaumte  Verhandlung  vor  dem  Schwurgericht  lieferte  keine  neuen 
wichtigen  Momente;  die  Geschworenen  waren  in  ihrem  dunklen  Drange 
sich  zwar  nicht  des  recliteii  Wegs  bcwulU,  aber  doch  davon  über- 
zeugt, dali  etwas  zugunstin  des  Angeklagten  geschehen  müsse.  So 
tällteu  sie  eiu  Verdikt,  demzufolge  T.  wegen  Überschreitung  der  Not- 


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Ein  Beitrag  snr  KasuiBtik  der  SchlaftraDkenheit 


167 


wehr  zu  einer  kurzen  Aneatstrafe  verurteilt  wurde  (|  2  Schlußsatz 
bezw.  §  335  ö.  StG.) 

Versuchen  wir  es  nun,  den  darfrelegten  F«ill  für  die  Kasuistik 
der  Schlaftrunkenheit  in  Ansprucli  zu  nehmen,  so  hegegnen  wir  vor 
allem  doni  üindernis,  dal)  das  Vorleben  des  Rescliuldigten  zu  wenig 
klarirt'leiit  wurde.  Es  erscheint  nur  konstatiert,  daFi  er  in  früheren 
Jahren  einmal  wegen  ^^'a(•hebeleidigung  und  einmal  wegen  Bettel  ab- 
gestraft worden  war;  sein  Leumund  ist  sonst  ungetrübt,  insbesondere 
wird  er  als  gutmütig  und  zu  Gewaltakten  nicht  hinneigend  geschildert; 
in  früheren  Zeiten  scheint  er  dem  Alkohol  gehuldigt  zu  haben  und 
stand  vor  einigen  Jahren  wegen  eines  Anfalles  von  Delirium  tremens 
in  Spitalsbehandlung,  er  hat  sich  aber  nach  seiner  Behauptung  seit 
der  Zeit  das  übemiül>ige  Trinken  abgewöhnt.  Über  allfällige  erbliche 
Belastung  sowie  über  seine  Familie  stehen  leider  keine  Daten  znr 
Verfügung,  doch  gab  er  selbst  an,  nie  krank  gewesen  zn  sein;  auf 
Grund  dessen  wird  man  bezflgliefar  der  Epilepsie  als  erwiesen  hin- 
nehmen können,  daß  er  offenbare  klassische  AnfSlle  nicht  mitgemacht 
hat,  weil  solche  Znstinde  in  der  Ulndlichen  Beyölkemng  wegen  ihres 
plötzlichen  Auftretens  und  wegen  des  tiefen  Eindmokes,  den  sie 
aof  die  Umgebung  des  Kranken  zurücklassen,  sehr  bekannt  und  ge- 
ffirohtet  sind. 

Sieht  man  aber  yon  diesem  Mangel  snbjektiTer  Feststellnngen 
ab,  so  zeigt  sich  eine  ganze  Reihe  Ton  Umstindea,  die  ein  gewich- 
tiges Wort  ffir  die  Annahme  sprechen,  daß  T.  im  Znslande  der  Som- 
nolenz  gehandelt  habe.  Zweifellos  liegt  alles  das  vor,  was  als  Be- 
dingung für  das  Auftreten  der  Schlaftninkenheit  bereits  angefahrt 
wurde.  Der  Schlaf  T:s  dürfte  etwa  l'/i — 2  Stunden  gedauert  haben, 
hatte  also  bezüglich  seiner  Tiefe  den  Kulminationspunkt  erreicht  und 
war  außerdem  durch  den  vorangegangenen  Alkoholgenub  gefestigt. 
Da  es  sehr  unwahrscheinlich  ist,  daß  der  Italiener  den  T.  absichtlich 
geweckt  habe,  kann  man  wohl  annehmen,  er  sei  infolge  des  Ge- 
räusches, das  der  Eintretende  und  sich  Entkleidende  verursachte,  plötz- 
lich erwacht:  er  sah  sich  in  fremder  Umgebung,  bemerkte,  daß  ein 
ihm  völlig  Unbekannter  vor  ihm  stand  —  alles  dies  Momente,  die 
einem,  aus  tiefstem  Schlaf  Auftauchenden,  vom  Wein  noch  Ualb- 
berauschten,  die  Orientierung  ungemein  erschweren. 

In  hohem  Grade  über  die  Mißhandlungen  erregt,  die  ihm  in  der 
Gaststube  zugefügt  wurden,  hatte  sich  T.  über  Zureden  des  Wirtes 
zu  Bett  gelegt.  Nun,  plötzlich'*  erwachend  und  für  den  Augenblick 
aulter  Stande,  die  Beziehungen  zur  Außenwelt  nach  Zeit  und  Kaum 
zu  finden,  hört  er  das  Lärmen  und  Lachen  in  der  Nachbarschaft  (das 


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168 


IV.  y.  MioKOwnz 


durch  die  Angabe  der  Wirtin  erwiesen  ist»  und  lokalisiert  es  fälsch- 
lich auf  den  Ilaus^ng  vor  seine  Zinimertür.  Das  können  —  so 
knüpft  sein  Denken  an  die  letzte  Erinnerung  vor  dem  Einschlafen  an 
—  nur  die  Burschen  sein,  die  ihn  früher  gesehlagen,  die  ihm  jetzt 
neuerdings  ein  Leid  antun  wollen  und  der  vor  ihm  stehende  Unbe- 
kannte ist  einer  von  ihnen;  es  gilt  also,  sich  gegen  einen  ernsten  An- 
griff zu  verteidigen,  sich  zu  retten,  ehe  es  zu  spät  wird:  so  geschiebt 
das  Unglück. 

Während  aber  der  tödlich  Getroffene  aufs  Bett  sinkt  und  stirbt, 
hat  sich  der  Täter  zurecht  gefunden;  die  Bahnen  des  Überlegens,  des 
richtigen  Yerarbeitens  äußerer  Eindrücke  sind  jetzt  wieder  eingeschaltet 
und  entsetzt  steht  er  vor  „dem  ünCsßbaieii*',  wdl  ihm  nicht  zam  Be- 
wußtsein kommt,  daß  er  im  DSmmenostand  der  Schlaitnmkenheit 
Islseb  apperzipiät,  aber  anf  Gmnd  falscher  Appeneption  folgerichtig 
gehandelt  bat  —  Es  erfibrigt  noch|  den  Hanptänwand  sn  entkiifiien, 
der  dieser  Deduktion  entgegensteht  und  den  die  Staatsanwaltschaft  als 
Hanptargnment  für  die  Anklage  ins  Feld  führt:  den  angeblichen  Streit 
swischen  T.  nnd  dem  Italiener.  Der  letztere  hielt  sieh,  wie  oben  be- 
merkt, schon  Tide  Jahre  hmg  in  der  Gegend  an^  hatte  infolgedessen 
seine  Muttersprache  beinahe  ganz  yergessen,  vermochte  sich  aber  auch 
im  Deutschen  kaum  auszudrucken;  er  hatte  aufierdem  einen  starken 
Sprachfehler,  welcher  es  auch  den  Leuten,  die  tagtfiglich  mit  ihm  ver- 
kehrten, nur  schwer  mOglich  machte,  ihn  zu  verstehen.  Ist  es  schon 
aus  diesem  Grande  kaum  anzunehmen,  daß  sich  zwischen  den  beiden 
in  der  kurzen  Zeit  ihres  Beieinanderseins  ein  Streit  entwickelt  hätte, 
so  wird  dies  um  so  unwahrscheinlicher,  wenn  man  bedenkt,  daß  der 
Italiener  ein  gutmütiger  Mensch  war,  der  von  allen  wohl  gelitten,  mit 
seiner  ganzen  Umgebung  in  Frieden  gelebt  hat.  Möglich  ist,  daß  er 
sich  zum  Bette  T/s  begab  und  sich  um  das  darunterstehende  Xaeht- 
gesehirf  bückte,  viclleieht  hat  er  hierbei  dem  Erwachenden  etwas  zuge- 
rufen, —  fast  sicher  aber  konnte  dieser  die  lallenden  I^ute  des  ihm 
ganz  Unbekannten  nicht  verstehen,  sondern  glaubte  nur  das  heraus- 
zuhören, was  er,  wie  früher  erzählt,  vernommen  haben  will.  Fehlt  also 
die  Voraussetzung  zu  einem  ernsten  Streit,  weil  T.  mit  dem  Italiener 
gar  nicht  sprechen  konnte,  so  vermilU  man  vollkommen  das  Motiv 
zur  Tat.  Der  Besehuldigte  ist  ein  robuster  starker  Mann,  der  seines 
waffenlosen  schwächlichen  Gegners  leicht  auf  andere  Weise  Herr 
geworden  wäre,  als  durch  einen  blind  gcfiiiirten  Stieb,  selbst  wenn 
man  annehmen  wollte,  dali  er  wirklich  mit  einem  Stuhl  bedroht 
worden  sei.  Was  die  Wirtin  beim  Vorübergehen  an  der  Zimmertür 
hörte,  läßt  sich  nicht  aufklären ;  vielleicht  sprach  der  Italiener,  Wel- 


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Ein  Beitrag  rar  KaMistlk  der  ScUaftnmkenbeit 


169 


leicht  redeto  T.  im  Erwaclien,  vielleicht  beruhte  ihre  WaUmehmuog 
überhaupt  nur  auf  Täusch unir. 

Die  zwei  wichtigsten  Tunkte  aber  für  die  Annahme  einer  nicht 
zuzurechnenden  Handlung  sind  (»sychologischer  Natur  und  liegen  iu 
der  Verantwortung  des  Beschuldigten. 

Wäre  die  Behauptung  des  Staatsanwaltes  begründet,  hätte  es  sich 
wirklich  um  einen  Streit  zwischen  T.  und  dem  Italiener  gehandelt, 
warum  beruft  sich  der  Beschuldigte  nicht  darauf  ?  Es  ist  doch  jeder- 
mann, auch  dem  weltal)geschiedensten  Bauern  geläufig,  daß  die  Not- 
wehr erlaubt,  daß  Notwehrüberschreitungen  unter  Uniständen  straflos 
bleiben,  die  ganze  Bevölkerung  der  Gegend,  in  der  sich  das  Faktum 
abspielte,  weiß,  daß  die  Geschworenen  fast  jeden  von  Schuld  und 
Strafe  loszählen,  der  in  etwas  angeheitertem  Zustand  seinem  angrei- 
fenden Gegner  eine  besonden  sehweie  Veddttxsng  beibringt,  oder  ihn 
im  Banlbandel  tötet!  Und  T.  war  ja  mit  dem  Fremden  allein;  er 
bitte  keinen  Zeogen  za  fOrcbten  bianchen,  der  TOrtritt  nnd  seine  Be- 
hauptung widerlegt,  kein  objektiTes  Indiz  wire  zu  finden  gewesen, 
das  die  Erzählung  von  Streit,  Kampf  nnd  Notwehr  absohwieht  oder 
entkrSfiet!  Die  Art  nnd  Wdse,  in  der  sich  T.  Terteidigte^  ist  aber 
ganz  anders.  Während  er  den  Leuten,  die  ihn  gleich  nach  dem  ün- 
glflck  zn  sehen  bekamen,  mit  keinem  Worte  von  einem  aggressiTcn 
Vorgehen  oder  Yon  Drohungen  des  Italieners  enfthlte^  sondern  sieh 
daraitf  beschränkte,  immer  aufs  nene  zn  verBichem,  er  verstehe  den 
VorflBll  nicht,  schleicht  sich  in  die  gerichtlichen  Verhöre  die  Andeu- 
tung von  Drohungen,  von  Anstalten  zu  einem  Überfall  ein;  sie  ist 
aber  so  wenig  präzis,  beschränkt  siel)  so  sehr  auf  die  Angabe:  «mir 
kam  vor"  oder  „ich  glaubte'^  und  dergl.,  daß  man  sie,  abgesehen  von 
ihrer  objektiven  Unwahrscheinlichkeit,  ja  Unmöglichkeit,  wohl  zn 
gleichen  Teilen  als  das  Ergebnis  der  unbewußt  suggerierenden  Ver- 
börstechnik  und  der  lückenhaften,  stückweise  aufd&mmem'den  Er- 
innerung an  die  Traumvorstellungen  deuten  muß,  die  zur  kritischen 
Zeit  die  Handlungen  des  Beschuldigten  bestimmten.  Gerade  der  Um- 
stand, dal^  T.  das  Hilfsmittel,  einen  ernsten  Streit  für  sich  zu  ver- 
werten, unlicniitzt  läßt,  zeigt  zur  Evidenz,  daß  er,  wie  er  stets  beteuerte, 
nur  die  Wahrheit  sagen  wollte,  dal\  also  ein  Streit  überhaupt  gar 
nicht  stattfand,  daher  auch  jeder  Grund  für  die  Tat  fehlte. 

Es  versteht  sieh  von  selbst,  dal)  ein  Mann  vom  Bildungsniveau 
des  Beschuldigten  nicht  in  der  Lage  ist,  den  Zustand,  in  den»  er  die 
inkriminierte  Handlung  beging,  als  Schlaftrunkenheit  zu  bezeichnen 
und  (laß  er  infolgedessen  auch  unmöglich  einzelne  Details  hiefür 
namhaft  machen  oder  dagegen  sprechende  entkräften  kann,  wie  dies 


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170 


IV.  V.  MAcxowm 


ja  aa  liäufif?  von  Pfrsonen  versucht  wird,  die  volle  Berauschung'  als 
StrafmiSRclilienf^rund  für  sich  in  Anspruch  nehmen  wollen.  Man  kann 
also  unhesorgt  an  die  Würdi};ung  der  subjektiven  Indizien  heran- 
treten, ohne  Gefahr  zu  laufen,  einer  (geschickten  biniulatiou  zum  Opfer 
zu  fallen. 

Treffender  aber,  als  es  T.  getan,  ist  der  Zustand  der  Schlaftrunken- 
heit von  einem  ungebildeten  Laien  gar  nicht  mehr  zu  scbildem.  Unter 
dem  enten  tiefen  EHndraek,  den  der  Erfolg  seiner  Handlnngsweite 
anf  ihn  machte^  Inßert  er  sich  nur,  er  habe  ein  ünglttck  angerichtet, 
er  kenne  sich  nicht  mehr  ans:  kein  Wort  von  einem  Streit,  keine 
Silhe  der  ErklSnmg,  was  ihn  snr  nnseligen  Tat  bewogen  —  er  kann 
sie  eben  nicht  erklSren;  beim  gmcfatKchen  VerhSr  gibt  er  an,  er  sei 
erst  zn  sich  gekommen,  als  der  Italiener  gerade  gestorben  war:  mm 
suchen  Bichter  und  Beschnldigter  nach  dem  Gnind,  der  den  hiemit 
behaupteten  Zustand  der  UnrorecbnnngsGUiigkeit  venusacht  haben 
könnte  nnd  einigen  sich,  dem  Alkoholeuefi  die  Schuld  tu  geben. 
Der  angetretene  Beweis  der  Voiltrunkenheit,  —  die  T.  emstlich  nie- 
mals behauptet  hat,  —  mißlingt,  wie  vorauszusehen  war,  der  Richter 
hat  das  seinige  getan,  die  Folgen  muß  der  Beschuldigte  trag^  Und 
er  nimmt  sie  auf  sich,  resigniert  und  wohl  in  der  dumpfen  Überzeugung, 
einer  so  schweren  Tat  mttsse  die  gerichtliche  Sühne  folgen;  ror 
semem  Gewissen  aber  ist  er  schuldlos  nnd  diesem  Gefühl  verleiht  er 
ehrlichen  aber  unbeholfenen  Ausdruck:  seine  sich  im  Grunde  stets 
gleichbleibende  Verteidigung  will,  ins  Hochdeutsche  übersetzt,  nur 
besagen,  er  habe  die  Selbstbestinimunf^  erst  im  Augenblick  wieder- 
<  riaiigt,  als  das  Unglück  bereits  geschehen  war,  die  Tat  selbst  also 
im  bewußtlosen  Zustand  begangen. 

Ich  verkenne  durchaus  nicht,  daß  mein  Versuch,  den  Fall  T. 
für  die  spärliche  Kasuistik  der  Somnolenz  zu  retten,  gar  manche 
Lücke  aufweist,  deren  empfindlichste  in  der  unzulänglichen  Erhebung 
der  persönlichen  und  Familienverhältnisse  des  Beüchuhligten  besteht; 
es  ist  daher  nur  auf  das  lebhafteste  zu  bedauern,  daß  nicht  auf  der 
Höhe  der  modernen  Wissenschaft  stehende  Sachverständige  in  die 
Lage  kamen,  die  gerichtlichen  Erhebungen  ergänzen  zu  hissen  und 
ihr  Gutachten  darüber  abzugeben,  ob  die  behauptete  Bewulklosigkcit 
überhaupt  anzunehmen  und  bejahendenfalls  ob  sie  als  Symptom  irgend 
eines  krankhaften  Zustandes  zu  deuten  sei. 

Eine  vollkommen  sdiliefiende  Beweiskette  wird  sieh  aber  in  keinem 
derartigen  Fall  finden  lassen,  da  es  die  Natur  der  Sache  mit  sich 
bringt^  daß  Zeugen  beinahe  nie  TOthanden  sind  und  in  viel  ausge- 
sprochenerem Maße  als  sonst  die  rein  snbjektiTen  Empfindungen  des 


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Ein  Bdtng  cur  Kuuittik  der  Sohlaftnmkeiiheit  171 


Täters  und  seine  darauf  geg:ründeten  Aussagen  für  das  jrerielitsärzt- 
liche  Parese  und  für  das  richterliche  Urteil  verwendet  werden  müssen. 
Jedocli  auch  dieses  Material  wird  stets  ein  schwankendes  sein,  da 
die  Erinneruni;  an  die  im  halbwachen  Zustand  ausirelüsten  Vorstel- 
lungen, welche  zum  Teil  in  die  Traumwelt  zurückreichen,  zum  Teil 
durch  falsch  aufgefaßte,  zeitlich  und  rilundich  nicht  lokalisierte  äußere 
Eindrücke  bedingt  sind,  jedenfalls  nur  dämmerhaft  und  verschleiert, 
häufig  aber  ganz  verblaJit  und  rudimentär  erhalten  bleibt.  Mit  mehr 
oder  minder  empfindlichen  Lücken  muii  daher  jedes  Gutachten  über 
Schlaftrunkenheit  rechnen  und  es  bedarf  nur  eines  Blickes  in  die 
zitierte  Literatur,  um  die  i  berzt'Ugung  wachzurufen,  daß  auch  die 
in  den  stets  erwähnten  Fällen  „Schmidnuuzig  '  und  „Gutsbesitzer 
B.*^  I)  abgegebenen,  in  wichtigen  Stücken  auf  Vermutungen  aufge- 
baut sind.  Dem  Gerichtsarzt,  der  einen  aolchen  Sinifbll  zn  benitalen 
hat,  Hegt  ja  aneh  nicht  die  Finge  mush  einer  «sakten  klinischen 
Diagnose  vor,  sondern  et  ist  mehr  als  sonst  nnr  Eeiater  des  Bichters^ 
weil  die  Somnolenz  in  ihrer  praktisoh-forensisehen  Bedentnng  in  das 
Gelnet  fiUl^  das  zur  Hälfte  wobl  dem  Pqrchiater,  znr  HSlfte  aber 
dem  psychologisch  gebildeten  Juristen  gehOrt. 

Die  moderne  Wissenschaft  ist  bis  heute  nicht  imstande  gewesen^ 
die  Gehdmnisse  des  Schlafes  und  Traumes  zu  durchdringen,  alle 
Faktoren,  die  hierba  im  Spiele  sind,  klar  herauszuschfilen.  Solange 
aber  diese  Sohleier  nicht  vollstündig  gelüftet  sind  —  und  bis  dorthin 
hat  es  noch  gute  Wege  —  solange  also  für  alle,  die  an  der  Straf- 
justiz mitwirken,  auch  auf  diesem  Gebiet  der  Satz  Geltung  hat,  dal» 
im  Zweifel  das  Mildere  anzunehmen  sei,  wird  sich  kein  Sachversttn* 
diger  und  kein  Bichter  besinnen,  im  einzelnen  so  seltenen  Fall  über 
Beweislücken  hinwegzugehen,  wenn  große  Wahrscheinlichkeit  für  die 
Straflosigkeit  unter  der  Voraussetzung  vorhanden  ist,  daß  man  den 
durch  nichts  widerlegten  Angaben  des  Beschuldigten  Glauben  schenkt; 
ein  Parere,  das  im  Fall  T.  Schlaftrunkenheit  konstatiert  hätte,  wäre 
vor  dem  Richterstuhl  strenger  Wissenschaft  nicht  schwerer  zu  verant- 
worten gewesen,  als  die  Gutachten,  die  in  den  bisher  Iteobachteten 
Fällen  abp^ej^eben  wurden  und  von  diesem  Gesieiitspunkt  aus  darf 
ich  wohl  auch  die  dargestellte  Strafsache  für  die  forensische  Kasuistik 
der  Somnolenz  ansprechen,  da  als  Folire  eines  Fehlschlusses  für  uns 
höchstens  die  Möglichkeit  in  Betracht  kommen  könnte,  daü  ein  Schul- 
diger der  sühnenden  Gerechtigkeit  entgangen  wäre. 

1)  Krafft-Ebing,  Gciichtlicfae  Psychopathologie.  Beobachtung  IST  o.  1S8. 


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V. 


Der  Nachweis  der  Gewerbs-  oder  Gewohnheitßmäfsigkeit 
als  TatbeBtandsmerkmal  und  zur  ÜberffUming  insbesoii- 
dere  des  gewerbsmlfBigeii  Spiders. 

Landrichter  BanlteMv  iu  Zwickau. 

Wer  ah  Staatsanwalt  Anklage  zu  erheben  nnd  au  yertreten  hat^ 
weis,  wie  sehwer  oft  der  Beweis  der  Gewerbe-  od«  Gewohnheba- 
mftlUgkeit  in  allen  den  nUlen  zn  fahren  ist,  in  denen  sie  als  Tat- 
beBtandemerkmal  erfordert  wird. 

Ganz  besondere  Schwierigkeiten  aber  bietet  die  Dnrehfahnmg 
einer  wegen  gewerbs-  oder  gewohnheitsmäßigen  Hehlerei  erhobenen 
Anklage,  weil  hier  die  Gerichte,  da  mildernde  UmstSade  ana- 
gesobloflsen  sind,  die  unvermeidliche  Zuchthausstrafe  nur  dann  ver^ 
hängen,  wenn  der  Nachweis  der  Gewerbs-  oder  Gewolinheitsmäßig- 
keit  in  dem  Maße  erbracht  ist»  daß  die  Anwendung  dee  §  260  StGB, 
ttberhaupt  nicht  zu  umgehen  ist. 

Für  den  zum  Nachweise  der  Gewerbs-  oder  Gewohnheitsmaßig- 
keit  der  Hehlerei  erforderlichen  Beweis,  daß  der  Beschuldigte  eine 
auf  einen  in  Verm<>.2-onsvorteiIen  bestehenden  fortgesetzten  Erwerb 
gerichtete  Tätigkeit  entwickelt  hat,  ist  aber  wertvoll,  wenn  möglichst 
eine  Mehrzahl  von  Fällen  erwiesen  wird,  iu  denen  der  Verdacht  der 
Hehlerei  hervorgetreten  ist. 

Dieser  Nachweis  ist  recht  oft  schwer  zu  führen. 

Gewöhnlich  liegt  nämlich  der  Fall  so,  daß  in  Verbindung  mit 
der  die  Ilaupttat  meldenden  Anzeige  auch  die  Beschuldigung  der 
Hehlerei  erhoben  worden  ist,  daß  aber  die  eingeleiteten  Ermitte- 
lungen zwar  Verdacht,  aber  keinen  zur  Überführung  ausreichenden 
Beweis  für  die  Hehlerei  erbracht  haben. 

In  solchen  Fällen  wird  dann  wegen  der  Hehleret  eingestellt  oder 
freigesprochen« 


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Der  Nachweis  d.  Gewert»»-  od.  GewohnheitarnUigkeit  als  TatbeBtandBmerknuü.  173 

Das  kanu  sich  öfters  wiederholen,  ohne  daß  Uberhaupt,  obschon 
eine  Mehrzahl  von  Anzeijs^en  einfacher  Hehlerei  vorgelegen  haben, 
der  Verdacht  gewerbs-  oder  gewohnheitsmäßiger  Hehlerei  zum  Aus- 
drucke gebracht  wird. 

Die  einziehenden  Anzeigen  werden  nämlich  in  der  Regel  bei  den 
Staatöimwaltschaften  unter  die  einzelnen  Staatsanwälte  nach  Art  der 
Beschuldigung  oder  nach  Buchstaben,  und  zwar  dem  Anfangsbuch- 
staben des  Namens  des  an  erster  Stelle  Beadiuldigten ,  das  ist  aber 
gewfliinfieli  der  der  Hanpttat  Besudiligte  nnd  nicht  der  Hehler,  ver- 
teilt und  es  ist  deshalb  echon  Znfiül,  wenn  mehrere  Anzeigen  mit 
gegen  denselben  Heblw  erhobenen  Beschuldigungen  an  denselben 
Staatsanwalt  gelangen,  so  daB  nun  auf  diesem  Wege  bei  der  Staats- 
anwaltschaft sich  die  Übenengnng  bildet^  der  mitbeschuldigte  Hehler 
sei  yerdüehtigy  die  Hehlerei  auch  gewerbs-  oder  gewohnheitBm&ßig 
zu  betraben. 

Es  dürfte  sich  deshalb  wohl  empfehlen,  die  Staatsanwaltschaften 
aazuwdBen,  in  allen  den  EUlen,  wo  der  Verdacht  der  Hehlerei  oder 
überhaupt  eines  Verbieohens,  bei  dem  Gewerbs-  oder  Gewohnheits- 
mäßigkeit Tatbestandsmerkmal  ist,  gegeben  erscheint,  wenn  es  Han- 
gels hinreichenden  Beweises  zur  Einstellung  des  Verfahrens  oder  zur 
Freisprechung  gekommen  ist  und  im  übrigen  der  Fall  auch  dazu 
ajigetan  crsdieint,  für  die  Bildung  der  Überzeugung  von  der  Ge- 
werbe- oder  Gewohnheitsmäßigkeit  in  der  Zukunft  von  Nutzen  zu 
sein,  unter  Bezugnahme  auf  die  Tatsache  der  Einstellung  oder  Frei- 
sprechung und  unter  Mitteilung  des  Aktenzeichens  einer  Zentralstelle, 
vielleicht  der  Slrafregisterbehürde  oder  dem  von  mir  an  anderer 
Stelle  vorgej<ebla<^enen  Fahndungsanitc  Xacbriclit  zu  geben,  so  daß, 
(lafern  das  später  erforderlich  werden  sollte,  von  dieser  Zentralstelle 
aus  ohne  weiteres  m  Erfahrung  zu  bringen  ist,  ob,  weslialb  und  wo 
der  Beschuldigte  bereits  im  Verdachte  der  Verübung  des  Erbrechens 
gestanden  hat,  wegen  dessen  seine  abermalige  Verfolgung  eingeleitet 
worden  ist. 

Die  Notwendip:keit  der  Schaffung  einer  solchen  Zentralstelle  zur 
Sammlung  solcher  Tatsachen  ist  mir  klar  zum  Bewulttsein  gekommen 
gelegentlich  der  Erörterungen,  die  ich  als  Staatsanwalt  gegen  ge- 
werbsmäßige Spieler  zu  führen  hatte  und  die  mir  wegen  des  Mangels 
dner  solchen  Zentrale  ganz  unendliche  Mühe  und  aulierordentliche 
Zeit  gekostet  haben. 

In  der  Anzeige  war  GewerbsmftÜigkeit  des  Spiels  zwar  nicht  be- 
hauptet 

Die  Vergleichnng  der  Per85nlichkdten  der  beim  Spiele  Betroffenen 


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174 


legte  aber  nahe,  daß  allem  Aiuoheuie  naoh  keine  anderen  Besieliitiigeii 
wie  die  des  Spiels  sie  susammengebracht  hatten.  Das  leobtfertigle 
eine  genauere  Prfifong  deijenigen  Peisönliehkeiten,  die  nioht  als 

völlig  einwandsfrei  ohne  weiteres  zu  erkennen  waren. 

Die  nach  Ermittelnng  ihres  Geburtstags  und  Geburtsorts  herbei* 
gezogene  Strafliste  ergab  bei  einigen  bereits  Vorsizalen  wegen  ge- 
werb8niäl>i<ren  Gltteksspiels. 

Die  hierüber  ergangenen,  aus  der  Straf  liste  erkennbaren  Vor- 
akten schafften  weiteres  Belastungsmaterial,  insofern  aus  ihnen  zu 
ersehen  war,  von  welchen  Polizeibehörden  die  Ahp^abe  der  Anzei<^ 
an  die  Staatsanwaltschaft  seinerzeit  erfolgt  war  und  wer  früher  die 
Mitspieler  f^ewescn  waren. 

Mit  IlerlH'izit'liung  der  Anzeigen,  die  das  frühere  Verfahren  ver- 
anlaßt hatten,  gewann  man  aber  auch  Einblick  in  die  Polizeiakten, 
die  eine  reiche  Fundirnilx'  für  weiteres  Behistungsniaterial  boten. 

Zahlreiche  Anfra^^tii  aiidtrer  Polizei-  und  Strafverfolgungs- 
behörden lielten  erki-nnen,  daÜ  auch  in  ihrem  Bezirke  der  Beschul- 
digte sich  aufgehalten  hatte  oder  in  Untersuchung  gewesen  war. 

Die  nach  den  auf  den  Ersuchen  zu  lesenden  Aktenzeichen  darauf 
herbeigezogenen  Akten  jener  Behörden  ergaben  regelmäliig,  daü  die 
Beschuldigten  auch  anderwärts  gespielt  hatten  und  deshalb  in  Unter- 
suchung gewesen  waren. 

Aus  den  herbeigezogenen  Akten  der  Strafvcrfolgungsbehördea 
war  dabei  in  ganz  anfEsUend  zahlreichen  Fällen  zu  ersehen,  daß  die 
emgeleiteie  Untersnehung  —  die  sieh  allerdings  nur  auf  die  ErSrtenmg 
der  in  der  Anzeige  mitgeteilten  Tatsachen  besohiSnkt  hatte  —  offen- 
bar eben  nur  deshalb  erfolglos  gewesen  nnd  die  Oberf&hrung  des 
Spiels  nieht  gelungen  war. 

Ganz  anffiUlig  war  aneb  die  ans  der  Vefg^eiehnng  von  Aktes 
sieh  ergebende  Tsisaehe,  daß  Peisonen,  die  des  gewerbsmiftigen 
Spiels  Yerdäehtig,  frtther  mit  anderen  Spielern  in  Untersoehong  siek 
befunden  und  nach ,  deren  Abschluß  die  Stfitte  ihrer  bisherigen 
Wirksamkeit  verlassen  hatten,  dann  an  ihrem  nenen  Wohnsitze  die 
Schlepper  für  ihre  dort  als  Spieler  unbekannten  früheren  Genossen 
geniaebt  hatten,  sofern  sie  sie  in  Kreise,  zu  denen  sie  selber  Be- 
ziehungen erlangt  hatten  und  in  denen  g^gen  sie  kein  Mißtrauen  ge- 
hegt wurde,  einführten  und  zum  Spiele  zuzogen,  wobei  dann  die  von 
auswärts  (lekommenen,  deren  Eigenschaft  als  gewerbsmäßige  Spieler 
nicht  bekannt  war,  Gelegenheit  bekamen,  unter  der  Maske  harm- 
loser, nur  zum  ^VT^mügen  spielender  Leute  wieder  vertrauensselige 
Opfer  zu  plündern,  um  sich  selbst  so  den  Lebensunterhalt  zu  schaffen. 


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Der  NacbweiBfil  OewerbB-  od.  GewohnheitsndUtigfcelt  akTatbettandMiierkmal.  176 

Unschätzbaren  Stoff  zur  l'berfüliruni,'  ])oten  die  so  mühsam  her- 
beif^ezogenen  Akten  femer  auch  dadurcli,  dal\  sich  aus  ihnen  regel- 
mäßig ein  klares  Bild  der  Entwicklung  des  Spielers  zu  solchem  und 
seiner  Vermögens-  und  Erwerbsverhältnisse  gewinnen  ließ. 

Ganz  offenbar  nur  zur  Versehieierung  ihrer  im  Spielgewinne  be- 
stehenden Erwerbsciuelle  hatten  Spieler,  die  wegen  gewerbsmäßigen 
Spiels  schon  früher  in  Untersuchung  gewesen  waren  und  dabei  als- 
tiald  erkannt  hatten,  wieviel  Gewicht  in  ihr  darauf  gelegt  wurde, 
ihneii  den  Mangel  einer  ehrbaren  Erweibsquelle  oder  einer  geschäft- 
lichen Tätigkeit  nachzaweisen,  ffir  die  Zukunft  einem  fibten  Ausgange 
einer  UntenniohuDg  dadurch  yorznbeugen  gesucht,  daß  sie  irgendein 
Gewerbe,  einen  Handel  mit  Zigarren,  Futter,  Juweton,  Pferden  oder 
dergleichen  sich  zulegten,  der  gar  nicht  dm  bestimmt  war,  ihnen 
die  liittel  fSr  ihren  oder  ihrer  Familie  Unterhalt  zu  schaffen,  sondern 
lediglich  dazu  dienen  sollte^  den  aus  dem  Sjnele  gezogenen  Gewinn 
erforderliohenlalls  als  Gewinn  aus  einem  soldien  Handel  hinzustellen. 

Die  sehr  mtthsame  Untersuchung,  daß  die  Einnahmen  der  Be- 
schuldigten im  wesentlichen  im  Spielgewinne  bestanden  hatten  und 
die  Beschuldigten  durchaus  nicht,  wie  sie  Glauben  machen  wollten, 
nur  zum  Vergnügen  gespielt  hatten,  war,  wie  die  Akten  ergaben, 
gegen  diesdben  Hcsrhuldigten  an  den  verschiedensten  Stellm  und 
fast  durchweg  erfolglos  geführt  worden  un<l  doch  hätte,  wenn  der 
einen  Untersuchung  führenden  Steile  die  Ergebnisse  der  Untersuchung 
der  anderen  bekannt  gewesen  wlie,  recht  wohl  der  Nachweis  er- 
bracht werden  können,  daü  das  angeblich  vom  Beschuldigten  be- 
triebene Gewerbe  nicht  seine  wahre  Erwerbs^juelle  sein  könne. 

So  war  an  verschiedenen  Stellen  derselbe  Beweis  mit  großem 
Aufwände  von  Mühe  und  Kosten  und  noch  dazu  erfolglos  versucht 
worden,  weil  an  der  einen  Stelle  zwar  gelungen  war.  das  Vorbringen 
des  Besciiuldigten  über  seine  Erwerbsverhältnisse  zu  widerlegen,  aber 
der  einzelne,  zur  Kenntnis  der  die  Untersuchung  führenden  Behörde 
gelangte  Fall  des  Spiels  im  Mangel  weiterer  belastender  Tatsachen 
doch  nicht  zum  Nachweise  der  Gewerbsmäßigkeit  ausreichend  er- 
schien, während  der  anderen  Stelle  zwar  eine  Mehrzahl  von  Fällen 
bekannt  war,  in  denen  der  Beschuldigte  gespielt  hatte,  aber  von  ihr 
nicht  hatte  widerlegt  werden  können,  daß  der  Beschuldigte  nur  zum 
Vergnügen  gespielt  habe,  auch  gewerbsmäßiges  Spiel  nicht  brauche, 
weil  er  dnen  ihn  ausreichend  nährenden  Handel  habe. 

Würde  in  den  Fällen,  wo  zwar  der  Verdacht  einer  Tat,  die  als 
gewerbs-  oder  gewohnheitsmäßige  unter  besonderer  Strafe  steht,  ge- 
geben ist^  aber  zur  Überführung  des  Beschuldigten  nicht  gelangt  wer- 


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176    V.  Hacssiieb,  Der  ^'acbwett  <L  Qewerbt-  od.  Gewohnheitamä^igkeit  usw. 


den  konnte,  von  der  erfol^^ten  Einstellung  des  Verfahrens  oder  der 
Freisprechung  unter  Mitteilung  des  Aktenzeichens  einer  Zentralstelle 
Naobricht  gegeben,  so  könnte  die  Strafverfolgungsbehörde  dorcb  ein 
emmaliges,  etwa  in  Fonn  der  StrafHsto  ra  erledigendes  Erenchen  alle 
die  Akten  kennen  lernen,  ans  denen  de  Tateaehen  und  Zengen  er- 
mitteln könnte^  die  für  den  BeweiB  der  GewerbBmifiigkeit  Ton  Bedeu- 
tung sind. 

Damit  würde  mit  weniger  Mühe  nnd  Zeit  eine  adir  wirksame 
Waffe  gewonnen  werden  gegen  alle  geweibe-  nnd  gewofanbeitemäßigen 
Verbreoher,  nnd  inabesondere  g^gen  die  Spieler,  die  in  sahlreiehea 
Untenmohnngen  nicht  nnr  nidit  ansreiehend  Überführt  werden,  sondern 
anch  noch  in  ihnen  lemeni  wie  sie  der  geseizliefaen  Strafe  entgdien 
können. 

Anch  wttrde^  wenn  wirklich  lioti  allem  der  Scbuldbeweia  in  der 
einen  Untersuchung  nicht  erbracht  werden  könnte,  das  in  ihr  gesam- 
melte  Material  doch  nicht  yergeblioh  snsammen getragen  sein,  sondern 
in  der  Zukunft  noch  nutzbar  gemacht  werden  können. 

Dazu  aber  wird  es  regelmfißig  kommen,  denn  kaum  ein  Verbrecher 
wird  80  leicht  rückfällig,  wie  der  gewerbsmäßige  Spieler. 

Das  kann  nicht  Wunder  nehmen,  denn  das  Spiel  schafft  ihm  rei- 
chen,  mühelosen  Gewinn  und  angenehmes  I-.eben,  selten  aber  Strafe^ 
da  seine  I  berführung  gewöhnlich  selir  sdiwer  ist. 

Nicht  unerwähnt  mag  schlielHieh  l)k'ihen,  daß  die  Mehrzahl  der 
gewerbsniäbigen  Spieler  auch  Falschspieler  ist  oder  doch  sonst  unter 
anständigen  Spielern  verpönter  Nachhilfen  sich  bedient,  um  sieb  den 
Erfolg  zu  sichern. 

Diese  Mittel  niuli  alier  eine  gründliche  Untersuchung  in  Erfahrung 
zu  bringen  suchen,  denn  gelingt  ihr  Nachweis,  dann  kann  der  als 
Falschspieler  erkannte  gewerbsmäßige  Spieler  auch  wegen  Hetrugs  und 
gegebenenfalls  auch  wegen  Kückfallsbetrugs  mit  erheblich  härteren 
Strafen  belegt  werden,  als  sie  §  284  St.-G.H.  zuläßt. 

Solche  Spielerkniffe  und  betrügerischen  Handlungen  sind  oft  schon 
Gegenstand  der  Erörterung  gewesen,  und  hat  man  sie  aus  den  über 
den  Beschuldigten  ergangenen  Vorakten  in  Erfahrung  gebracht,  so 
kann  man  bei  der  Untersuchung  sie  stets  mit  im  Auge  behalten. 

Dadurch  gewinnt  man  vielleicht  auch  die  AufklXrung  über  die 
ahnungslosen  Mitspielern  unerklSrüch  gebliebene  Tatsache,  daß  gerade 
der  Beschuldigte  beim  Spiele  so  vom  Glück  begünstigt  war. 


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Kleinere  MitteUongen. 


1. 

Alkohol  und  Zeugenaussagen.  Von  Medizinalrat  Dr.  P.  Nücke 
in  Hubertusburir  In  den  -Ih-osdiier  Nachrichten"  vom  1.  Juli  d.  .1.  sind 
in  einem  interesaaiitcu  Leitartikel  („ünwaiiriiaftigkcit  gegen  dieJustiz'j  die 
vendiiedeBen  Momente  hUbech  zusunmengestellt,  die  ungünstig  auf  die  Zeogan- 
ansBageo  wirken  kOmen.  Eb  wM  dann  anfgefahrt»  wie  die  Zeugen  bis  mm 
Endbemen  oft  freie  Zeit,  eine  Extraeinnahme  haben,  fflr  die  man  sich  etwas 
zu  gute  tun  kann.  In  der  Nälie  d«?  Gerichtes  gibt  es  mancherlei  Hestau- 
rationen  und  Schänken,  wo  man  sich  den  üenul)  aucii  im  voraus  verscliaffen 
kann.  ,Da  sitzt  dann  der  klassische  Zeage  und  trfibt  sicti  durch  Aikohol- 
gemiB  seinen  Geist,  den  er  alle  Unaehe,  rieh  klar  an  erlialten,  hfttte  . .  .* 
Dieser  Punkt  ist,  glaube  ich,  nodi  wenig  hervorgehoben  worden  und  ich 
gestelie,  dali  er  mir  völlig  neu  war.  I)a(}  auch  nur  durch  ein  (-hxs  Hier  die 
Klarheit  des  Kopfes  sclion  leiden  kann  —  uicht  muÜ  —  ist  klar,  zumal 
dazu  nocli  fördernde  Momente  zutreten.  Der  Zeuge  hat  nicht  selten  eine 
weitere  Reise,  wohl  andi  an  FViß  gemaeht,  ist  also  «nigerroaßen  abgespannt 
Sehr  viele  werden  auch  seelisch  affizimt,  durch  die  unge\v(")linte  Alteration, 
in  der  sie  sich  befinden.  Dann  kommt  im  Gerichtssaale  noch  Tlitze,  ein- 
geschlossene Luft,  der  Eindnick  der  fremden  Szenen  liinzu  und  das  alles 
kann  sehr  wohl  die  Zeugenaussagen  schädigen.  ^lan  wird  dem  freilich 
kanm  steuern  kOnnen  nnd  der  Rat,  vor  der  Zeugen-Ablegung  lieber  Kaffee 
usw.  statt  Alkohols  zu  sich  zu  ndUBen,  ^^i^d  stets  ein  frommer  Wunsch 
bleiben.  In  einer  kleinen  Stadt,  wo  nur  eine  Eisenbahnlinie  verläuft,  lieHc 
sich  durch  Ansetzen  des  Termins  gleich  nach  Eintreffen  des  Zuges  viel  er- 
reichen. In  einer  grollen  ötudt  mit  mehreien  Eisenbahnen  ist  dies  unmög- 
licii.  Nieht  zu  vergessen  ist  anefa,  daß  der  Reisende  das  Bedürfnis  haben 
kann  sich  an  stärken  und  dabei  gieht  ea  <^e  Getränk  nieht  gnt  ab,  wofür 
aber  leider  gewölmlich  Alkohnl  genommen  wird.  Der  gute  Rat  endlich, 
sich  diesen  Genuli  für  später  aufzubewahren ,  wurd  in  den  Wind  ge- 
sprochen sein. 


2. 

Internationale  Kongresse.   Von  Medizinalrat  I>r.  P.  Nfteke  in 

IIul)crtiis1)urg.   Ein  willkommenes  Zeugnis  fllr  das,  was  ich  wiederholt  über 

das  (' ti  erf  I  üssigc  internationaler  Kongresse  sagte,   findet  sich  im 
Korrespondenzbiatte  der  iirztliehen  Kreis-  nnd  liezirkss  ereine  im  K*>nigreich 
Sacliäen  vom  1.  Juli  1UU3.    Es  hciiit  dort  nämlich  folgeudermaiieu : 
AiehlT  nr  XHodaalulbropologie.  XUI.  12 


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178 


Kldnere  Hitteilnngeii. 


I>io  iiitciiKitionalen  meJizinisrlion  K  mi  ^rresse.  Rs  wSre 
nun  l)aUl  an  der  Zeit,  die  Ära  der  internationalen  Kongi-esse  zu 
sciiiielien,  schreibt  daa  „Korrespondenz-Blatt  für  Schweizer  Ärzte'*,  1  1, 
1903.  Seit  Jahren  steUen  dieselbeii  nur  noch  eine  ISdierliehe  Parodie 
der  Wissenschaft  dar.  FUr  die  mediiinische  Wissensehaft  sind  sie  ohne 
jeden  Wert.  Während  die  KonjJH'eöse  von  (Jenf,  London  und  Kopen- 
hajjen  Marksteine  in  den  Annaien  der  Medizin  darstellen,  sind  seit 
15  Jahren  die  intcrnatiunalen  raedizinisclien  Kongresse  für  die  Wissen- 
Schaft  völlig  belangloe  gewesen.  DafQr  sind  sie  immer  mehr  m  großen 
Belostignngsreisen  degeneriert;  die  Stidte  nnd  Re^mingen,  welchen  die 
Ehre  zufiel,  den  Konj^reO  zu  empfangen,  überboten  sich  in  jiraelitvollen 
Festlichkeiten  und  (lewälirunfr  \<tn  aller  Art  Rei8eerleiclit<'niiii,'en,  sodan 
sdiliclUich  die  Ucisc  die  Hauptsache,  der  Kongrcii  eine  zu  \  cruadilässigende 
Nebensaehe  wurde. 

Was  hier  von  den  internationalen  medlainisclien  Kongressen  gesagt 

wird»  hat  auch  von  vielen  andern  zu  gelten.  Der  Nutzen  ist  ein  sehr 
minimaler  und  das  Wertvolle  der  ^'ol•tl•:■iLce  wird  meist  auch  oline  Kon- 
gresse veröffentlicht.  Nur  internatitmak'  l\<»n^ne.s.se  zur  Besprechung  resp. 
Entsclieidung  von  ganz  speziellen  Frugeu,  wie  z.  Ii.  über  gemeinsame  Malie, 
Mfinzoi,  Kalender  nsw.  haben  einen  Zweek  ond  hier  sind  wuküch  die  maß- 
gebenden Autoritäten  auf  den  bebt^enden  Speualgebieton  mdst  alle  odvr 
in  der  Mehrzahl  gegenwärtig,  w<is  von  den  andern  Kongressen  ^'ewidinliili 
nicht  gilt.  Auch  spielt  die  Schwierigkeit  der  Sprachen  dann  eine  ;:erinj^ere 
lioUe,  weil  gewöhnlich  Promemoria  in  den  verscliiedenen  Sprachen  sdiou 
vorher  gedmdct  den  Kongreßmitgliedem  vorliegen. 


3. 

Die  Gepflogenheit  als  SehnldaaBsehliefinngsgrund.  Von 
Ernst  Lohsing.    Unter  dem  Titel  „Einfluß  irriger  Rechtsanschauungen 

bei  der  Begehung  von  Verbrechen"  hatMothes  im  12.  Bd.  dieses  Archivs, 
S.  229  ff.  eine  interessante  Abhandlung  veröffentlicht,  in  der  er  versdiiedene 
Erscheinungen  des  tägliclien  Lebens  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Reehts- 
irrtnms  bdiandelt 

Da  wir  nicht  in  der  Lage  tSoA,  den  AnsfÜhioiigen  von  Hothes  in 
jeder  Hinsicht  zuzustimmen,  seien  uns  einige  Bemerkungen  zu  seinen  Aus- 
führungen gestattet.  Motht  s  bringt  eiin'  Keiiif  von  Beispielen  norniwitl- 
riger  Handlungen  und  falit  sie  alle  als  Folgen  irriger  Reclitsansdiauuugeu 
anf.  Bei  einigen  dieser  FlHe  tri^  dfo  Ansicht  von  Mothes  zu,  so  n.  B. 
hinsiclitli<-h  der  Abtreibung,  die  im  Volke  vielfach  für  nichts  Unsittlidies  gehalten 
wird,  Oller  liinsiclitlirli  der  weitvfM'broiteten  Ansicht,  es  könne  eine  Aulierung 
innerliall»  der  cigriini  \  ier  Mauern  niemals  ein  Verl»aldelikt  (z.  B.  Majestäts- 
beleidigung) begründen.  Aber  ganz  anders  liegen  doch  die  Dinge  bei  den 
von  Mothes  erwähnten  Stein-  nnd  Pflaazensammlem,  so  wie  bei  den 
Leuten,  die  in  fremden  Willdern  ohne  Zustimmung  der  Eügentfimer  Pilze 
«n<l  Beeren  sammeln.  Mothes  sucht  d;is  damit  zu  begrün<hMi,  da(>  in 
n  i  ch  t  j  u  rist  i  sc  Ii  en  Kn  iscii  dir  Mciniiiijr  weit  v  erbreitet  sei.  die  Weg- 
nalime  einer  wertlosen  Sache  sei  kein  Diebstahl.    Zunächst  sei  die  Beuier- 


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Kleinere  Mittdlnngen. 


179 


kung  geiiiaelit,  d;il>  es  auch  Kriminalisten  giljt.  ilic  dieser  Ansicht  sind, 
vergl.  z.  B.  Merkel  in  Iloltzeudorf fs  ildb.  d.  Str.-il.,  3.  Bd.,  S.  634 
(.  .  .  ,aneh  naeh  dem  R-St-G.  Bchleehtfain  wertlose  Qegenstftnde  hier  ans- 
geseUoflsen'^)  und  Lammasch,  Grdr.  d.  St-R.,  S.  S3  („Diebstahl  ist 
widerrechtliche,  gewinnsüchtige  Entziehung  einer  fremden  bewognchen 
nicht  völlig  wertlosen  Sache  aus  dem  Gewahi-sam  eines  andei en"j. 
Aber  selieu  wir  hiervuu  ganz  ab^  so  liegen  doch  hier  llaudluugeu 
▼or,  die  auch  Angehörige  „juristischer  Kreise'  vornehmen,  nnd 
zwar  ganz  frank  und  frei,  weil  sie  nichts  Strafbares  darin  erblicken,  da  es 
einmal  Sitte  ist,  Pilze  und  Beoron  zu  sammeln.  Dieser  Gewohnlieit  muf{ 
eine  schuldaussehlieficnde  Kraft  zugeschrieben  werden.  Würde  hier  die  Ge- 
pflugeuhcit  nicht  schuldauäschlielieud  wirken,  so  gäbe  es  fast  nur  Diebe 
anf  der  Wdt  Es  gtbe  im  Amt  nnr  Amtsvenmtreoer;  welcher  Beamte  bat 
noeli  nicht  einen  Privatbrief  geschrieben  und  dazu  Amtstinte  verwendet? 

Zur  nekriiftigung  dieser  Ansicht  sei  auf  eine  mit  dieser  Frage  sich 
befassende  Entscheidung  des  österreit  Iiisehen  Kassationshofes  (F.  17403 
vom  16.  Dezember  1902,  veröffeutlidit  im  laufenden  Jahrgänge  der  ,,6e- 
rioht8haIle<<,  S.  326  in  Nr.  32)  verwiesen,  deren  aritnde  hier  wOrtßeh  Fiats 
finden  mögen: 

Mit  dem  Erkenntnisse  des  Bezirksgerichtes  Spalato  vom  12.  September 
1902  wurde  Ante  M.  und  Genossen  der  Übertretung  des  Diebstahls  nach 

171,  460  St-G.  schuldig  erkatmt,  begangen  dadurch,  daU  sie  am 
23.  Juni  1902  aus  dem  Weingarten  des  Kari  D.  ohne  dessen  EhiwOligung 
und  nm  ihres  Vorteils  vdüea  eine  QuantiOt  Rebenreiser  im  Werte  unter 
10  K.  entwendeten,  und  wurde  über  dieselben  hierfür  Arrest  und  Kosten- 
ersatz verhängt.  Die  wider  den  Ausspruch  über  Schuld  und  Strafe  einge- 
brachte Berufung  blieb  erfolglos.  Das  Kreis-  als  Berufungsgericht  Spalato 
bestätigte  mit  Entscheidung  vom  18.  OIctober  1902  das  erstrichterUche 
Urteil  ans  dessen  Grflnden.  Die  znerinnnte  Strafe  wurde  von  sSmtlichen 
Verurteilten  bereits  abgebttßt.  Die  erwähnten  Strafarteile  können  indes  schon 
^vegen  der  Reclitsfolgen  nicht  ohne  weiteres  aufrecht  belassen  werden.  Aus 
iler  kargen  Begründung  des  Urteils  erster  Instanz  ergil)t  sich,  da(5  die  An- 
geklagten die  Wegnahme  der  Rebenholzabfälle  zugaben,  zugleich  jedoch 
erklSrten,  diesdben  nicht  nm  des  eigenen  Vorteiles  willen  entwaldet  sn 
haben,  SMidem  nnr,  um  ein  Brennmaterbd  für  das  landesQbliche  Johannis- 
feuer zu  beschaffen.  Diese  \'erteidigung  überging  das  Bezirksgericht 
Spalato  ebenso  mit  Stillsciiweigea  wie  die  weitere  im  Vorverfahren,  und 
nach  den  dürftigen  Aufzeichnungen  des  Verhuudlungsprotokolls  auch  in  der 
Hanptrerfaandinng  vom  12.  September  1902  yorgebrachte  Rechtfertigung 
der  Angeklagten,  es  sei  Orts  brauch,  daß  man  für  das  Johannisfeuer 
Rebenreiser  nehme,  wo  man  solche  finde.  Niemandem  falle  &s  ein,  deshalb 
zu  klagen,  da  doch  die  Feuer  zu  Ehren  (rottes  und  des  heiligen  Johann 
angezündet  werden;  vor  der  Entziehung  der  Kebenreiaer  seien  Übrigens  die 
Angelchigten  tlb^ingekommen,  dem  Karl  D.  die  R«ser  sn  bezahlen,  wenn 
«r  Einsatz  verlangen  sollte.  Diese  Verantwortung  liint  immerhin  die  Deutung 
zu.  da()  die  Angekläfften  die  Zustimmung  des  D.  zur  Wegnahme  der  Reiser 
voraussetzten  und  somit  unter  dem  Einflüsse  eines  Irrtums  handelten,  welcher, 
<la  er  ein  Tatbcätaudsclemeut  des  Diebstahls  betrifft,  die  Zurechnung  nach 
$  26  St^G.  auszuschließen  geeignet  ist   Daß  D.  hinterher  seine  l^wÜligung 

12* 


Diyilizuü  by  GoOgle 


180 


we<ler  zur  onentgeltlichen  nooli  zur  entgeltlichen  Wpfmahnif  der  Rel>enreiser 
erteilte,  kommt  selbstNertitändlich  für  die  Frage  dcö  Dolus  im  Zeitpunkte  der 
Tfet  BMit  in  Betradit.  Es  seigt  M  Bomit,  bcMe  nterinitenElidnii 
Brk«DBtiii88e  nach  den  §§  2SL  Z.  5,  nnd  468,  Z.  2,  <Jer  St-P.-O.  nichtitr 
sind,  weil  sie  aidi  ftber  die  Verantwortiuig  der  AngeUagten  etiliBdiweigenil 
hinwegsetztoi. 


4. 

Kriminelle  ImitAtion.  IGtgeteQt  von  E.  Lohsing.  Daß  der 
Kachahmiiogatrieb  im  meoBcblidieii  Läien  «ine  gro0e  BoUe  spielt,  ist  eine 

iSngst  bekannte  Tataadhe.  In  se'mer  „Kriminalpsychologie"  (S.  566  ff.)  luit 
Groß  darauf  hinfrewiesen,  daß  auch  die  Strafrechtspflege  der  .Imitatioii 
der  Fälle"  nicht  entliehre  und  der  Ansicht  Ausdnick  f^efjeben,  daI5  manches 
Verbreclien  oder  die  Art  seiner  Begehung  nur  unter  Würdigung  des  Nach- 
ahmiugilnebee  eiUlrk  werdeo  kOnne.  In  IVag  haben  dcli  in  der  letarteo 
Zeit  zwei  FSIle  ereignet^  von  denen  der  meite  in  gewissem  ffinne  ab  eine 
Nachahmunp-  des  ersten  gelten  kann.  Am  11.  Mai  l'io;^  wartete  der 
22  .lalire  alte  Sehüler  der  5.  Klasse  einer  Prapr  ( tscliecliischen)  Real- 
schule, Alois  V.,  auf  eine  1 S  Jahre  alte  Näherin.  Als  diese  —  um  9  Uhr 
abenda  —  eradhien,  spradi  er  sie  an.  Sie  erwiderte  niclite;  da  zog  Alois  V. 
einen  Revolver  und  feuerte  aus  diesem  dreimal  gegen  das  Miidcben,  verietzte 
es  jedoch  nur  leicht  am  Halse.  Sodann  richtete  er  die  Waffe  gegen  sidi, 
ohne  sicli  jcdocli  schwer  zu  verletzen.  Da.s  geschah,  wie  erwälint  am 
14.  Mai  lyua.  Am  16.  Hai  1903,  abo  kaum  zwei  Tage  später,  stach  der 
ISjlhrige  BedaohlUer  fVans  K.  (7.  Klaase)  die  ihm  bekannte  14 1/2  Jahre 
alte  Rüsabeth  H.  mit  einem  ZüM  in  den  Rtloken,  nadidem  sie  aof  da» 
liebeeerkttning  des  K.  erwidert  hatte,  zu  solchen  Dingen  noch  zn  jung 
zu  sein.  K.  nahm  nach  dem  Angriffe  auf  die  II.  eine  Antinionlösung  in 
selbstmörderischer  Absicht  zu  sich.  —  Die  Ähnüchkeit  dieser  Fälle  tritt 
klar  zutage,  die  Annahme,  Franz  K.  habe  den  Alois  V.  zu  imitieren  ge- 
strebt, konnte  eine  Stütze  in  der  Tatsaclie  finden,  daß  K.  nnd  V.  die> 
selbe  Kealsdmie  (wenn  auch  verschiedene  Klassen)  beendto.  Sonst  frei- 
lich sind  K.  und  V.  verschiedene  Naturen.  Während  K.  von  seinen  Lehroni 
als  ruhiger  und  ])ra\  er  Schüler  geschildert  wird,  ist  V.  alles  andere  eher 
als  dieses.  Doch  mag  diese  Erwägung  nicht  in  dem  Sinne  aufgefai3t 
werden,  daß  sie  den  Naehahmongsbieb  ansgeschloesen  erscheinen  ließe. 
Dieaer  dfiifte  vidmehr  vorfiegen. 


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Besprechaogen. 


a)  Büülierbespreohangen  von  Ernst  Lubsing. 

1. 

Das  Strafgesetzbuch  für  das  Deutsche  Keich  nebst  dem  Ein- 
fülirunf,^};e8etz.  Herauspjef^cben  und  erläutert  von  Dr.  lU'inliard 
Frank,  Trufeasor  der  Rechtü  in  Tübingeo.  3.  und  4.  neubeaibei- 
tete  Auflage.   Leipzig,  Verlag  ron  C.  iL  Hinehfeld.  1903. 

Eine  Beq»rediung  des  Frankaehen  8tiii^;eietikommeiitan  kt  ^geat* 

lieh  eine  überflfiasige  Sache.  Er  hat  die  Theorie  gefördert,  in  der  Praxis 
sieh  bewährt  und  der  Umstand,  daß  jetzt  eine  D  o  p  p  e  1  aufläge  erscheint, 
spricht  für  die  Beliebtheit  diesem  ganz  vonttgliohaa  Werkes  weit  deutUohery 
als  es  die  wobiwoUeudste  Kritik  vermag. 

la  der  Tut  kl  der  Fraakidie  Komnentar  eins  Barla  dar  kanmen- 
tierendea  literatar  und  kaan,  selbst  wenn  wir  davon  abeehen,  daß  er  Ter* 
möge  der  eingehenden  Berüeksiclitigung  der  Rechtsprechung  und  sorgfältiger 
Auswahl  in  der  Literatur  auf  der  Höhe  der  Zeit  stellt,  entschieden  al8  die 
beste  Ausgabe  des  Deutschen  Strafgesetzbuches  gelten.  Eine  Ausgabe  des 
Strafgesetzbuchs !  Das  ist  vorliegendes  Buch.  KriminaUustorik  wie  Krimi- 
nelpolitik  and  ginzlicli  gemiedea,  aar  äm  gelteade  Becht  hat  Berfldt- 
sichtigung  gefunden^  aber  dafür  \<)I1  und  ganz.  lasbesondere  ist  es  dem 
Verfa.s8er  als  ein  Verdienst  inn  die  Strafrechtspflege  anzurechnen,  dalJ  die 
monographische  Literatur  nicht  nur  mit  der  gröliten  Vorsicht  dargestellt, 
sondern  stets  die  Stelle  der  von  Fall  zu  Fall  herangezogeneu  Schrift  dentlidi 
beseicfaBet  wordea  ist,  wodnreh  tatsBehüeh  den  Bedarfaissea  der  Praxis  voUanf 
lioclinung  getragen  erscheint.  Damit  sei  aber  nicht  gesagt,  daß  das  Frank- 
sche  Werk  als  Lehrbuch  nicht  in  Rotrnoht  käme.  Auch  mit  der  Doktrin 
hat  sicli  Fr  an  k  ein^'ohend  hofalU  uiul  irisliesoiidero  die  vei-scliiedciien  Theorien 
über  Kausalität,  \' ersuch  usw.  klar  zur  Darstellung  gebracht.  Insbesondere 
der  Beaohtnng  wert  eneheiat  aas  die  a.  E.  riditige  Ansieht,  die  Frank 
Ober  den  sogenannten  untauglichea  Venneh  entwickelt,  womit  er  die,sem 
vielbestrittcni'n  Kapitel  neue  Bahnen  weist;  nach  seiner  Ansicht  ist  der  Ver- 
such am  uiitauu:li('licn  (Mijekt  straflos,  der  mit  untauglichen  Mitteln  strafliar 
und  nur  in  dem  Falle  straflos,  „wenn  die  Anwendung  eines  bestimmten 
Mittete  snm  Tatbestände  gehört*' 

Aus  dem  Streben,  der  Praxis  in  jeder  Beziehung  dienlich  zu  sdn,  er> 
klärt  sich  die  eingehende  Behandlung  auch  solcher  Materien,  die  sonst  ver 
hAltnismäßig  dttrftig  behandelt  werden,  wie  z.  B.  das  internationale  Straf- 


DiyiliZüa  by  GoOgle 


182 


Bespredmiigcii. 


recht  nnd  flio  Lelirp  vfnii  Strafvollziifr.  DaH  srino  Aiisioliton  durclnvofr  oin- 
^vaIulf^«•i  sind,  soll  jreiado  in  bezn^  auf  die  Lehre  vom  Strafvollzug  nicht 
behauptet  werden.  Dali  —  de  lege  lata  —  ausländische  Ämter,  Würden, 
Utel,  Orden  und  Ehrenseidien  nicht  entsogen  werden  kOnncOi  nM  wohl 
nicht  jedem  selbstveratändlicli  vorkommen.  Audi  schdnt  QBB  die  Ansicht, 
daß  der  Auslrtmler  auf  lirM-li st cn s  5  Jahre  MiBgewiesen  werden  könne, 
im  Widerspruch  zu  strhen  mit  l'ranks  ei;;cnen  Worten:  ^DaH  der  Aus- 
länder ohne  weiteres  ausgewiesen  werden  kann,  ist  schon  völkerrechtlicher 
GnindBatz*'. 

Was  die  Abgrenzung  von  Notweiir  und  Notstand  betrifft,  steht  Frank 
auf  dem  Standpunkt,  es  gehöre  (bei  der  Notwehr)  zur  Natur  des  Angriffs, 
da(5  er  von  einem  belebten  Wesen  ausgehe,  während  eine  Uefälirdung 
durch  ein  unbelebtes  Wesen  >«otstand  begründe.  Dieser  Standpunkt  hat 
insofern  sehr  yiel  fOr  nthf  als  er  der  objektiven  Notwdirtheorie  Reeimang 
trigt,  welche  bekanntlich  nicht  danach  fragt,  ob  dem  Angieifer  in  subjek- 
tiver Hinsicht  Verechulden  zugerechnet  werden  kann,  wie  dies  die  subjektive 
Theorie  behauptet,  derzufolge  im  i'alle  eines  Angiiffs  von  seiten  eines  Zu- 
reclinuugsunfähigen  oder  eines  Tieres  niclit  Notwehr,  sondern  Notstand  vor- 
li^.  Wenn  abo  ein  zuredinungsflUiiger  Mensch  jemandm  angrdft,  darf 
jeder  sn  dessen  Rettung  Notwehr  üben ;  wenn  aber  ein  Irrsiniger  jemanden 
überfällt,  müßte  derjenige,  der  dem  .Angegriffenen  beizustehen  beal)sichtigt, 
erst  §  52  Abs.  2  R.St.d.  sich  vergegenwäi-tigen  und,  falls  er  zu  dem  Er- 
gebnisse käme,  daß  der  Angegriffeue  kein  , Angehöriger'^  ist,  ihn  seinem 
Schicksal  aberlaasen.  Wenn  Frank  za  dieser  AnaiGlit  sich  nidit  bekennen 
will,  tondeni  objektive  Reehtswidrigkelt  annimmt,  so  hat  er  vollkommen 
Recht.  In  dieser  Hinaidit  mOcfate  ihm  doch  endlich  einmal  Theorie  und 
Praxis  zustimmen. 

Franks  Buch  ist  entschieden  das  Werk  eines  Mannes  von  Erfahrung, 
der  den  verschiedensten  Situationen,  vor  die  sich  der  Kriminalist  gestellt 
sehen  kann,  In  prigmmter  Weise  Beebnnng  trSgt  nnd  wohl  nnr  wenige 
(z.  B.  Hypnotismns)  nicht  berOdoichtigt  bat 


2. 

Beiträge  zur  Psychologie  der  Aussage.  Mit  fies  >ndcrer  Berück- 
sichtigung von  IVoblemen  der  Rechtspflege.  Tädagugik.  Psycliialrie 
und  Geschichtsforscliung.  Unter  Mitwirkung  von  E.  liernheim, 
Oreifewald,  6.  Heimans,  Groning«i,  A. Meinen g,  Graz,  W.Rein, 
Jena,  Chr.  Ufer,  Altenburg;  H.  Groß,  Prag;  C.  v.  Lilienthal, 
Heidelberg;  F.  v.  Liszt,  Berlin;  A.  Cr  am  er,  Oöttingen ;  A.Del- 
brück, Bremen;  K.  Somniei-,  (lieüen  u.a.  Herausgegeben  von 
L.  William  Stern.  1.  Heft.  Leipzig  1903.  Verlag  von  Johann 
Ambroehu  Barth. 

Dem  in  seiner  Wichtigkeit  für  die  Strafreditspflege,  insbesondere  von 

der  Kriminaiistik  erkannten  Tliema  der  Würdigimg  der  Aussage  hat  vor 
Jahresfrist  der  bekannte  Breslauer  Psycholog  L.William  Stern  eine  inter- 
essante Abhandlunjr  gewidmet,  deren  Inhalt  allerdings  den  psychologisch 
gebildeten  Krimijiaiisten  nicht  weiter  überraschte,  dennoch  aber  in  der  leider 


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Beeprechungen. 


183 


nodi  zum  geringiBteii  Teile  psychologiscii  erfahrcueu  Juristen  weit  das  (^rüüte 
AnfB^en  und  Interesse  erregte,  wie  die  vtdea  AbhaDdlnogen  und  Yorfarige 
in  juristisclicn  Vereinen  des  In-  und  Attslands  fibor  die  Sternsehe  Schrift 
,Zor  r'sychologie  der  Aussage"  genugsam  dartun. 

Wer  sich  jedoch  mit  Kriminalistik  und  nicht  in  letzter  llinsiclit  mit 
Kriuiinalpsychologie  —  von  Groß  im  , liaiitätenbetrog^'  treffend  „psychische 
KrimmaUBtilc''  genannt  —  befaßt  hat,  hat  allerdings  in  der  erwähnten  Ab- 
handlung nicht  ein  nen  ratdecktes  Gebiet  gefunden;  sondern  lediglidi  ein 
noch  nicht  zur  Genüge  erforschtes,  trotldem  an  dessen  Erfoi-schung  schon 
seit  langen  Jahren  gearbeitet  wird.  Aber  diejenigen,  die  zur  Erf(»rschung 
der  Materie  am  meisten  beitragen  könnten,  haben  sich  bis  vor  kurzem  ziem- 
lich passir  verhatten,  mit  anderen  Worten,  die  Männer  der  Rechtspflege 
haben  die  Bedentong  des  in  Rede  stehenden  Kapitels  der  I^yehologie  fOr 
ihre  ureigenste  Domäne  unterschätzt,  wenn  nicht  geradezu  ignoriert.  An 
sie  hat  sieh  nun  Stern  sunächst  gewendet,  sie  bat  er  zur  Mitarbeit  ein- 
geladen. 

Nun  ist  Stern  selbst  einen  bedeutsamen  Schritt  weitergegangen  durch 
Gründung  der  „BeitrSge  sur  Psychologie  der  Aussage^,  eines  zwanglos  er- 

schemenden  Ardiivs,  das  laut  Titdblatt  und  Prospekt  den  Problemen  ver^ 
schiedener  AVissensgebiete  Rechnung  su  trairen  vei-spnclit,  unter  denen  — 
wohl  nicht  zufällig  ■ —  an  erster  Stelle  die  Kcihfspflci^e  genannt  ist.  In 
diesen  „Beiträgen"  gelangen  zur  Veröffentlicliuug  einschlägige  Abhandlungen 
und  Gutachten,  Eigenberichte  von  Autoren,  die  in  anderen  ZeitBchrifteii  ein- 
schlägigen Themeii  Abhandlungen  gewidmet  haben,  und  Berichte  und  Mi^ 
teilungen. 

Das  ei-ste  lieft,  das  eine  Stärke  vcm  129  Seiten  hat,  enthält  zuniiclist 
unter  dem  'i'itel  „Zur  Einführung"  eine  kurze  Darlegung  der  Zwecke  und 
Ziele  der  „Beitrftge'^  Daran  reiben  sich  zwei  Abhandlungen  aus  der  Feder 
ihres  Herausgebei-s.  nämlich  „Angewandte  l'sv«  In  logie",  in  welcher  Stern 
seinen  Standpunkt,  drsscii  wissenscliaftlielier  Witrctun«;  seine  „lieiträ^re" 
dienen  sollen,  näher  auseinandereetzt  und  insbesiMulerc  auf  die  Wichtigkeit 
der  E.xpcrimentalpsychologie  hinweist,  und  „Aussagestudium",  worin  in  der 
HauptMche  die  Ideen  seiner  Schrift  „Zur  Ps}  chologie  der  Aussage**  wieder 
aufgenommen  werden. 

Einen  gerade  für  den  Kriminalisftii  interessanfen,  im  Wege  dn-  Ex- 
perimcntalpsychologie  gewonnenen  ik'iliag  zur  Wünli^^nin^''  der  Aussage 
bietet  Jaffa  mit  seiner  Abhandlung  „Ein  psychologisches  Experiment  im 
kriminalistisdien  Seminar  der  üniversitilt  Berlin",  einen  abgekarteten  krimi- 
nellen Vorfall  behandelnd,  der  von  den  verschiedenen  Zeugen  in  verschie< 
dener  Weise  dargestellt  wird,  die  Jaffa  zum  Gegenstand  kriminalpsyeho- 
logiseher  Untersuchung  macht.  Die  Lektüre  gerade  dieses  Schulfalles  (in 
mehrfaclier  Hinsicht  des  Wortes)  und  die  litlierzigung  seiner  hochinteree* 
sauten  ^gebnisse  kann  nidit  warm  genug  empfohlen  werden.  Aus  dem 
sonstigen  Inhalte  des  ersten  Heftes  sd  nodi  hervorgehoben  äet  Bericht  von 
Groß  über  seine  im  Kohlerschen  Archiv  erschienene  Abhandlung  „Das 
Wahrnelmiungsproblem  und  der  Zeuge  im  Strafprozeß'*,  deren  Wichtigkeit 
auch  für  den  Zivil))rozel)  Kohl  er  in  der  Neoausgabe  der  v.  Uoltzen- 
dorffschen  Enzyklopädie  hervorhebt 

Ein  mit  dem  Kapitel  der  Flsydiologie  der  Aussage  eng  verwandtes, 


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184 


Besprechungen. 


bis  jetst  amdidi  ignoriertM  TlieiBS  fet  die  Psychologie  der  Vendiweignng 

adtens  Zeugen  und  Angeklagter ;  wor  halbwegs  die  VerliftItniBse  kennt,  wird 
wissen,  da(?  manohos.  was  für  die  rechtliche  Beurteilung  des  Falles  von  Be- 
lang iät,  verschwiegen  wird,  und  gerade  der  Angeklagte  Bchweigt  oft,  wo 
flun  das  Reden  niditi  schaden,  ja  sogar  nfltsen  ktaote.  "Wie  oft  mag  es 
vorkomnMii,  daß  ein  AngeUagtor  äeh  idilnit»  Mme  VoBlniikeDheit  idiii» 
geben;  Duellanten  schießen  manchmal  absiditlich  in  die  Luft,  setzen  also 
einen  Vorgang,  der  überhaupt  als  Zweikampf  nicht  strafbar  ist,  mangels 
der  gesetzlich  erforderlichen  Absicht;  werden  aber  die  beiden  in  öffentlicher 
Verhandlung  spontan  oder  auf  diesbezOgliche  Fragen  hin  dies  zugeben? 
Solche  und  ähnliche  FWle  mOgen  9fter  Toricommeii,  sind  aber  Ms  heute 
nioht  nach  OenOge  gewürdigt  worden.  Vielleidit  ftUt  diese  Anregung  auf 
fruchtbaren  Bi><l(>n.  und  dio  „Beitrüge'^  sobeinen  uns  in  enter  Linie  bcmfettf 
ancb  dieser  Erscheinung  ihr  Augenmerk  zuzuwenden. 


3. 

Res  iudicata  und  Justizirrtum.  Von  Trof.  Dr.  Kosenblatt  iu 
Krakan.  Zeitschrifl  fttr  die  gesamte  Strafreofatewisseosehaft  Drei- 
nndswanzigBter  Band.  1902. 

Ein  in  llieorie  und  Praxis  des  Strafprozesses  erfahrener  Mann,  wie 
I'rnfessor  Rosen blatt,  vertritt  in  dieser  kleinen,  paj'chologisch  fein  lUirch 
gefiilirtcn  Arbeit  den  (Jodankon,  os  solle  zur  Entscheidung  der  Fra;;u  der 
Wiederaufnahme  eines  Strafverfahrens  ein  anderes  Gericlit  als  dasjenige, 
dessen  Urteil  angefochten  wfad,  znstlndig  s^  und  der  Entscheidung  dieser 
FVage  solle  ebe  mllndliehe  Veriiandlnng  vorangehen.  Zur  ßegrOndiuig 
dieser  Postulate  verweist  Rosenblatt  auf  etliche  Fälle  von  .histizirrtümem. 
in  denen  die  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  auf  Schwierigkeiten  seitens 
des  tieriülites,  das  das  angefochtene  Urteil  gefällt  und  im  Siune  der  be- 
stehenden Oesetxgebnng  über  den  Wiedera«fiiahiiieantrag  zu  entscheiden 
hatte^  stieß.  Die  von  Rosenblatt  mitgeteilten  Fdilnrteile,  insbesondere 
aus  neuerer  Zeit,  sind  geradezu  klassische  Dokumente  für  die  Bedeutung 
der  Kriminalistik;  denn  bei  Vertrautheit  mit  den  Lehren  der  Kriminalistik 
wäre  vielleicht  mancher  Fall  gleich  das  erstemal  anders  entschieden  woixlcu. 

Wie  goreohtfertigt  Rosenblatts  Postulate  smd,  möge  an  einem  nach 
Erscheinen  der  in  Rede  stehendoi  Abhandlung  in  Wiener  Bltttem  mitge- 
teilten Falle  ersehen  wcnlen,  den  Referent  jetzt  aus  dem  Gedächtnis  wieder- 
gibt, weshalb  auf  Einzelheiten  verziclitet  weiden  muß.  Ein  junges  Mädchen 
ist  zu  einer  Kerkerstrafe  verurteilt  worden  und  liat  sie  bereits  abgebüüt 
Da  stellt  sie  einen  Wiederaufnahmeantrag  durch  einen  Wiener  Verteidige; 
der  Wiederaufnahmeantrag  wird  abgelehnt.  Dagegen  er|p!eift  der  Vertei- 
diger Beschwerde  und  bewirkt,  daß  das  Wiener  Oberlandeegericht  das  an- 
gefochtene Urteil  aufbel»t  nn<l  d;is  \f;i<l<heii  freispricht.  Ein  Bedenken  straf- 
prozessualer Natur  kann  ich  allenlings  hierl)ei  nicht  unterdrücken.  Wenn 
auch  §  360  der  österr.  St.P.O.  dem  (Jerichte,  das  einen  Wiederaufnahme- 
antrag zugunsten  des  Beschuldigten  stattgibt,  das  Recht  emrftumt^  bei  Zu- 
stimmung des  Ankiftgers  sofort  mit  Freispruch  oder  Anwendung  eines  mü- 
■deren  Strafgesetzes  vorzugehen,  so  glaube  idi,  konnte  dabei  nur  an  das 


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186 


Gericht  erster  Instanz  gedacht  sein.  Kiemais  kann  u.  E.  ein  Geriehtsliof 
swaiter  Imtuw  ein  ürteil  in  Stniisadim  ftllen.  Oans  abgwehen  dayon, 
daß,  wie  Mitterbacher  ad  §  360  StP.O.  richtig  hervorhebt,  sieh  dies 
..aus  dem  nach  dpin  System  des  Strafprozesses  dem  Oeriohf.sliof  zweiter  In- 
stanz aiifrowiesenen  Wiikimjrskreise  erp:iht*',  scheint  ein  derartiger  Vorgang 
aucli  im  Widerspruch  zu  dem  Schiulisatz  des  §  231  ötP.O.  zu  stellen,  der 
die  nntaialiinsloee  Norm  anfiteUt:  „Die  Verkandnng  dee  ürteHes  [aber] 
muß  jederzeit  öffentlich  godielien."  Daß  ein  Gericiit  öffentlich  sein  Urteil 
verkündet,  ist  jedoch  nur  dann  mr»glich,  wenn  Itei  einem  (Tcrichte  öffent- 
liche Verhandlungen  stattfinden,  mag  auch  in  concreto  die  Öffentlichkeit  aus- 
geschlossen sein.  Eine  öffentliclie  Verhandlung  bei  einem  Gerichtshof  zweiter 
laetans  in  StraÜBaehen  gibt  es  jedoeli  nioht  Aas  dioeB  Grande  sdheint 
der  Voigang  nicht  im  Sinne  des  Gesetzes  zn  sein.  Scfaweriieh  dOrfte  diese 
Auslegung  auch  der  Absicht  des  Oesetzgeliers  entsprechen.  Denn  den  Fall, 
daH  die  1.  Instanz  einen  Wietleraufnahmeantrag  a  limine  abweist,  wahrend 
die  2.  Instanz  ihn  so  gerechtfertigt  findet,  daß  sie  ihm  nicht  nur  stattgibt, 
sondern  aneh  in  merito  mit  FVeispmefa  erledigt,  dürfte  iroU  schweilioli  4er 
Qcsetegeber  tot  Angen  geliabt  haben.  Aber  gerade  das  ist  es,  was  dem 
erwälmten  Fall  angesiclits  der  Abhandlung  von  Rosen  Matt  ein  besonderes 
Interesse  verleiht  und  audereraeits  auch  seine  Abhandlung  aktuell  erscheinen 
läßt,  trotzdem,  wie  bereits  erwähnt,  der  Fall  erst  nach  Erscheinen  der 
Rosenblattschen  Arbeit  sieh  zugetragen  hat. 


4. 

Über  Annahmen.    Von  A.  Meinong.   Leipng  1902.    Verlag  von 
Joliann  Ambrodas  Bartiu 

Eine  neue  Schrift  des  berühmten  Grazer  Philosophen  bedeutet  unter 
allen  Umat.lnden  eine  Bereicherung  einer  Wissenschaft,  die"  der  im  ^ Archiv^ 
vertretenen  Kichtung  mehrfach  nahesteht,  weshalb  eine  Erwäliuung  des 
Werkes  vollauf  berechtigt  ist,  wenngleicli  eine  eingehendere  Besprechung 
isunertiin  Sadie  der  Fachpresse  bleibt 

Annahmen  nennt  Meinong  alle  Tstsaeheo,  die  dem  ZwiBohengebiete 
zwischen  UrteOen  und  Voi-stellen  angehören,  d.  i..  wenn  wir  uns  d<^ 
Sprachgebrauchs  des  tagiielien  I^hens  bedienen,  alle  Tatsachen,  die  sich 
sprachUch  formuUereu  lassen  in  Sätze,  denen  sich  ein  „Angenommen,  daß. .  .'^ 
oder  ^Gesetzt  den  FUl,  es  wire  .  .  vorsnstellen  lißt.  KatSrfich  soll 
damit  nicht  gesagt  sein,  daß  man  bei  aUen  Tatsachen,  die  Meinong  zn 
den  Annahmen  rechnet,  dies  tun  wird.  Spri('!it  ja  Meinong  selbst  von 
Annahmen,  „die  iliren  ("harakter  gleichsiun  an  der  Stinie  tiagen";  ernennt 
Me  explizite  iVnnaluueu  und  ihr  Gebiet  ist  die  Matliematik.  Jedoch  auch 
in  Spiel  und  Knnst,  im  Lügen,  in  Fragen  vnd  Begehrnngen  sowie  in  der 
Suggestion  sind  Annalmien  auf  Schritt  und  Tritt  anzutreffen. 

Dieser  interessanten  Erscheinung  widmet  Meinong  eingehende  Er- 
örterungen, die  nicht  nur  in  das  (lebiet  der  Logik,  sondern  auch  da.s  der 
Psychologie  einscldagen  und  insofern  auch  das  Interesse  des  Kriminaüsten 
fai  Aaspraeh  an  nehmen  verdienen. 


186 


Bwpicdiaiigwi. 


5. 

Die  Straf  rechtsr  rfo  I  UI  in  Deutschland  und  der  Seliweiz.  Ge- 
danken und  Krfalininfren  von  Dr.  PlazidMoyor  von  Schauen- 
ßee,  01>erritlit(M-  in  Luzern,  gewesenes  Mit;_'lieil  der  E\]>erten- 
kommission  fUr  ein  bchweizerisclieä  Strafgesetz.  Berlin  19u3.  i'utt- 
kammer  &  MttMbreebt,  BncfahandliiDg  fflr  Stute-  und  ReohtBwissen- 
eohaften. 

Der  Inhalt  der  Schrift  entq>richt  in  mehrfacher  Hinriclit  ihrem  Titel 
niclit.  Ganz  abgesehen  davon .  da(>  dentsciie  Verhältniaae  fast  gar  nicht 
beßproclieii  sind,  tritt  aueh  der  (ledaDke  der  Strafreclitsreforni  sehr  stark  in 
den  liinter^Tuud  gegenüber  dem  Bestreben,  einer  i'ulemik  sicii  zu  befleiUigeu, 
die  viel  sn  Beiir  den  CSiarakter  des  PenOnlidien  an  sieh  trägt  Die 
GninditUe  den  Schweizerisclten  Strafgesetientwurfes  haben  vorwiegend 
Billigung  gefunden,  ohne  dal?  freilich  Gegner  nielit  ausgeblieben  sind. 

Dr.  Meyer  v o n  S e Ii a u e n s e e  jiolemisiert  in  ungemein  heftiger  Weise 
gegen  Stooß,  Forel,  Zürcher  u.a.,  hauptsächlich,  weil  er  in  der  Frage 
der  ZorechnonggfShigkeit  anderer  Anstellt  ist  als  die  Genannten*  Er  ver- 
fällt dabei  in  einen  Tun ,  den  man  für  doi  Ausdruck  der  Leidensdiafl 
halten  niAHte,  wenn  der  Verf:tö«er  nicht  /.um  Schluß  selber  sagen  wUrde, 
daß  er  ohne  Leidenschaft  geschrieben  habe. 


b)  Bü  eherbesurechungen 
von  Keclitspraktikant  Hans  Schueickert. 

6. 

Dr.  Hans  Fischer.    Homosexnalitiit  eine  physiologische  Erseheioiing? 

J.  Gnadenfeld      Co.    Berlin  11)03,  15  Seiten,  50  Bf. 

Die  Broschüre  ist,  wie  so  viel  andere,  dem  Beweise  der  Berechtigung 
des  liomosexualismus  und  dem  Kampfe  gegen  den  wohlbekannten  §  175 
IL»8ftr^0.-B.  gewidmet  Ei  sieht  ja  aneh  der  streng  auf  dem  Stut^onlEt 
des  Strafgebttdies  Stehmde,  dafi  in  diesem  $  175  nicht  alles  in  Ordnung 
ist|  daß  er  insbesondere  zur  Wahrung  und  Förderung  der  Sittlidikeit  nichts 
taugt,  da  88  so  und  so  viele  andere  Unsittlichkeiten,  die  nichts  weniger  als 
„natürUch^  sind,  nicht  umfalit.  Eigentlich  verdienen  Beweise  der  Beredi- 
tlgung  des  Homosexualismus,  die  sich  mehr  oder  weniger  derselben  Belege 
bedienen,  jetzt  nidit  mehr  so  sehr  die  Beaehtnng,  die  sie  selbet  erfaeisehen, 
da  ja  niemand  mit  Gegen  beweisen  auftritt.  Der  einidge  Hanptgegner  ist 
der  §  175  selbst,  und  diejenigen  ab  dessen  Vertreter  nennen  zu  wollen, 
die  pfliclitiuäbig  zu  seiner  Anwendung  berufen  sind,  wäre  widei"sinnig. 
Solange  der  §  175  durcli  eine  Reform  des  Strafgesetzes  noch  nicht  en^ 
fernt  oder  abgeändert  ist,  kann  man  dem  Kditer  doch  keinen  Vorwoff 
machen,  wie  es  Verfasser  auf  >^«  ite  5  tut,  indem  er  den  im  Volke  nur  zu 
sehr  eingebürgerten  und  liei  jedem  rnbequeiidichkeitsgefühle  gegen  Itestrhende 
(iesotzesnornien  ausge^procbenen  Satz  erwähnt.  dal5  „der  ge.'iuiuh'  Mciiscben- 
\ei-8tauil  leider  nur  zu  oft  im  grellsten  Widerepruch  zu  den  Anschauungen 
der  Juristen"  stehe.   Sobald  ein  Wort,  das  eigentlich  der  Reform  einer  mit 


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BeBpredinngon. 


187 


dem  VolksbowiiHtsein  niclit  mehr  flbereinstimnienden  rSosptzrsTKtnii  gewidmet 
jsein  sollte,  p'frfn  die  nnireMicli  widersinnijre  Anschauung  der  (his  fJesetz 
pf lichtmäliig  anwendenden  Juristen  gewidmet  ist,  ist  es  am  unrichtigen 
Platse  imd  kann  eine  BeaebhiDg  nieht  beanaprachen. 

Daa  Nena,  waa  Veffaaser  in  seiner  Schrift  bringt,  ist  der  Versuch,  doD 
Homosexnnlismns  als  Nntumotwendi^keit  hinzustellen,  als  ein  Korrektions- 
mittcl  der  Natur  i:(»;ren  Übervölkerunfr.  „Mir  scheint,"  sa^  Verf. 
auf  Seite  12,  „die  Ilumosexualität  eine  Selbsthilfe  der  Natur  gegen  die  Über- 
TÖlkenug  in  solchen  Oagenden,  in  denen  die'IMciitigkeit  der  Ifensdien  «ine 
solche  befürchten  l&ßt/'  Er  nennt  diesen  Aussprooh  aelbst  eine  Hypotheae 
und  muß  bei  der  mangelhaften  Statistik  über  die  Häufigkeit  des  Homo- 
sexualisnius  auf  einen  exakten  HeM  cis  verzichten.  Daraus,  das  der  TTomo- 
sexualismus  in  staik  bevölkerten  Gegenden  —  namentlich  in  CiroUstädten  — 
hlofiger  Toikommt  ala  in  weniger  berMkerim  QegoideD,  s.  B.  anf  dem 
platten  Lande,  wird  man  aber  doch  noch  nieht  aeUieliten  dflrfen,  daß  flm 
die  Natur  dort  als  Gegengewicht  gegen  die  Übervölkerung  schuf.  Dieser 
Auffassung  widersjirecben  schon  die  unbestrittenen  Tat.saclien.  daß  ein  homo- 
sexuell veranlagter  Mensch  auch  in  einsamen  Gegenden  seinen  Trieben 
nachgehen,  und  dali  in  stark  bevölkerten  Gegenden  der  Homoeexualismus 
\idladi  aiieh  dareh  die  Gelegenheit  nnd  nicht  inm  nundeaten  durch  ebe 
libido  variandi  bedingt  sein  wird.  Es  wäre  wohl  beaew  geweaen,  wenn  Ver* 
fa.«iser  seine  versuchte  He^Tnndun;r  des  Homosexualismus  nur  als  neues 
Beweismittel  für  die  notwendige  Straflosigkeit  derselben  erklärt  und  seine 
Hjrpothesen  vielleicht  in  den  nicht  schwer  zu  begründenden  Satz  gekleidet 
hfttte:  Der  Homoaexnalinnna  ist  geeignet,  <»ne  sdildUch  wirkende  Über- 
v51kenin<;  v.w  verfahidem;  darum  soll  er  nicht  mit  Strafe  bedroht  sein  <)• 

In  der  Tat  erscheinen  mir  die  Ausführungen  des  Verfassers,  die  er  auf 
Seite  13  und  14  zum  lieweise  der  stetig  zunehmenden  und  soziale 
Schäden  hervorrufenden  Übervölkeiung  in  Mitteleuropa  -)  gibt,  bemerkeus- 
wort,  nnd  daß  Betraebtnngen  Uber  die  Bekimpfung  dieses  wachsenden 
nationalen  Übels  recht  zeitgemäß  sind.  Daß  der  Reform  des  Strafrechta 
auch  in  mancher  Heziehunp^  die  Auf^'^abe  der  Bekftmpfong  dieses  Übels  an- 
kommt, dürfte  nicht  bezweifelt  werden. 

Mit  Einwendungen,  daß  schon  durch  zeitweilige,  aber  sclireckiiche,  die 
Mensdihdt  deomierende  Regniierungsmittel,  wie  Krieg,  Seuchen,  Hnngera- 
not,  einer  lästigen  Übervölkerung  vorgebeugt  werde,  kann  man  sich  heute 
emstlich  nicht  mehr  zufrie<len  geben.  Man  muß,  wenn  es  in  des  Menschen 
Gewalt  liejrt.  auch  hier  von  zwei  Übeln  das  kleinere  wählen.  Es  sei  hier 
z.  B.  erinnert  an  den  mit  dem  Volksbewußtsein  nicht  mehr  Ubeinstiunneodeu 


1)  Der  eigentliebe  Grund  der  Straflosigkeit  kann  aber  ^eichwohl  nicht 
hier  gesoeht  werden,  da  wir  mit  M.  Hirschfeld  annehmen  mflssen,  daß  die 

Homosexualität  stets  angeboren  ist. 

2)  Es  sei  bei  dieser  (ielcgcuheit  auf  die  Bevölkerungszunalmiu  in  Deutsch- 
land während  eines  Menschenalters  hingewiesen: 

1816  24,8  Millionen  Emwohner. 

IS.'iS  38,1        •  • 

1^71    .   »  41,1         »  - 

19UU  56,4        »  * 


DiyiliZüa  by  GoOgle 


188 


Bfliprodingw» 


übertriebenen  Scbutz  des  k  eim enden  Lebens  dnrch  den  Staat. 
Die  Verbrechen  und  Verj^ehon  ^egen  das  keimende  Leben  wurden  in  früherer 
Zeit  viel  härter  bestiaft  als  heutzutage.  Unsca*  Keickstrafsgesetzbucli  von 
1871  hat  im  Vergleich  za  dm  frftherai  StnfgeMteen  der  SSnsebtaatai  fir 
derartige  Dehkte  mildere  Strafen  eingeführt').  Bei  einer  Revision  UBsereB 
li.-St.  (t.-B.  wird  eine  weitere  Mihlenni{;  der  heute  als  zu  hart  erkannteo 
Strafen  für  solche  Fälle  von  vei-schiedenen  (lesichtspunkten  aus  bej^ründet 
erscheinen.  Die  an  vielen,  namentlich  stark  bevölkei-teo  Orten  auftretende 
grofie  KinderBterhliehk^it,  die  erfahren gsgemtfi  nidit  immer 
durch  die  Mutter  Natnr  all  Nolhelferm  verursacht  wird,  lehrt  nur  zu  gut. 
wie  das  Volk  es  versteht,  ct»rri2:er  la  fortune!  Um  wie  viel  sclieuß- 
licher  ist  dieser  das  Sti-afjjjesetz  uni^?ehende  Notbehelf  gegenüber  einer  Al>- 
treibung!  Wie  empdrt  wird  aber  auch  auderei^ts  das  Volksbewußtsein, 
weon  man  mit  HOfe  des  f  51  R.-8t.-a.-B.  fflr  gewisse  Fille  tümm 
Notweg  schafft,  om  die  HSrte  dee  Gesetzes  ansn^^leieheii!  sei  s.  B. 
an  jenen  Fall  erinnert,  in  dem  kürzlich'  eine  Baronesse  in  Deutschland  von 
einem  Verbrechen  der  KindeetÖtung  auf  Grund  des  §  51  R.-St.-G.-B.  frei- 
gesprochen wurde.  Wird  man  bei  der  künftigen  Heform  des  Strafgeeetz- 
biiflhes  nlolit  den  Gnmdsata  von  dem  Idemeren  Übel  hier  befolgen,  wohin 
sollen  dann  sokhe  Znstinde  fühtea? 


7. 

Derselbe.    Beitrag  zum  Kapitel  der  Erkennung  der  vw^chieilene  Berufs- 
arten in  furo:  Der  Musiker.    Separatal id rock  SOS  FViedreicbs  BUUtoni 

für  gerichtlielie  Medizin  1U02,  12  JSeiten. 

Die  durch  den  Beruf,  insbesondere  das  Handwerk,  entstehenden  physi- 
schen Veränderungen  am  meuschiichen  Körper  und  dessen  einzelnen  Teilen 
hat  man  in  der  KriminaUslik  schon  lange  sJs  wichtige  Identifikationsbeheile 
erkannt.  Ich  verweise  hier  auf  Groß'  Handbuch  für  Untersuchungsrichter 
Seite  279.  Der  Verfjisser  hat  in  n!)ij;('r  Abhandlung  eingehend  die  Ver- 
änderungen namentlich  an  den  Fingern  von  Musikern  (Sch^^•^elen-  und 
liiaäcubüdungj  besprochen  unter  Berücksiclitigung  der  einzelnen  Musik- 
instromente und  damit  einen  anerkennenswerten  Beitrag  zur  foransischeo 
Identifisiemn^alehre  geliefert 


8. 

Albert  Behr.   Ärztlich  operativer  Eingriff  und  Strafrecht  Wflrshnrger 

Dissertation  11)02,  78  Seiten. 

Bd  der  schon  vielfach  unternommenen  Yentüienmg  dieser  Frage  ist 

1)  Vergleiche  s.  B.  folgende  Stnfbestimmungen:  Strafgosetzboch  für  das 

Königreich  Bayern  von  IS  13:  Geringste  Strafe  für  die  Abtreibung  dnrch  die 
Mutter  selbst:  4  Jahre  Arbeitshaus  (Art.  172).  Strafgesetzbuch  für  das  König- 
reich Bayern  von  ISGl:  Geringste  Strafe  für  die  Abtreibung  durch  die  Mutter 
selbst:  8  Jahre  Geffingnis  (Art  248,  Abs.  1).  StrafgcsetEbncfa  fttr  das  Deatscfae 
Beich  von  1871:  Geringste  SCnfe  für  die  Abtreihnng  durch  die  Mutter  selbst: 
1  Jahr  Zuchthaus,  bei  mildernden  Umstanden,  wie  soldie  heutsutsge  hier  regel- 
mäßig angenonunen  werden,  '/>  Jahr  Gefängnis. 


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B6ipveQliuDgw« 


189 


es  eip^entlicli  schwer,  ihr  nodi  neue  Seiten  abzugewinnen.  So  mußte  sich 
der  Verfasser  auf  eine  Besprechung  und  Kritik  der  über  diese  Frage  von 
McdiwncBi  und  Jnristflii  gBlnftHtai  AiüMitctt  bcsdirliikeii.  Objektiv  be- 
tnefatot  wird  der  instlIeii-o|MnliTe  Enigriff  als  KOrparerieteang  beurteilt 
Ak  Strafausschließungsgründe  werden  in  der  Wissenschaft  hm- 
gestellt:  1.  das  ärztliche  Borufsrecht,  2.  das  Gewohnheitsrecht,  3.  die  Ein- 
\NilUgung  des  Patienten,  4.  der  sittliche  Zweck  des  Einj^ffes.  Verfasser 
glaubt  als  Strafauasdiließungsgnind  die  ^Urztliche  Nonn''  annehmen  zu 
mflisen,  unter  der  n  TMstelieB  sei,  die  Summe  aller  deijenigeii  Begeh,  wdehe 
auf  Grund  medizinisch-wissenschaftlicher  Überzeugung  und  Übung  gewissen- 
hafter und  gebildeter  Ai-zte  die  Itichtschnur  für  ein  (»Itjektiv  richti^^'c« 
Handeln  jedes  Arztes  bilden  sollen/'  Ob  diese  „ärztliclie  2s<>rm''  im  einzelnen 
Falle  beobachtet  wurde,  wird  allerdings  eine  von  den  gerichtlichen  Sachver- 
stibidigeii  jeweils  sa  beantworteade  Hiaptfnige  Irildeo;  ob  sie  aber  in  so 
amsoldaggebender  Weise  als  ,,der  Sinifonssehließun^<nnind  bei  „Srztlidi- 
operaüren  Eingniffen",  wie  Verfasser  meint,  in  Betracht  kommt,  ist  zu  be- 
zweifeln. Der  Strafansschließunfrsfrnind  ist  ein  T^nistand .  der,  ohne  den 
Deüktscharakter  der  Handlung  zu  berühren,  der  Straf  barkeit  derjenigen 
Peisoa  entgegensteht,  bei  welker  er  gegeben  ist  ■).  (Dem  Wesen  der  Stotf- 
snSiBllließunffljgrüade  hat  Verfiwscr  sonderbarerweise  keine  weitere  Beach- 
tung geschenkt.)  Ist  die  „ärztliche  Norm**  ein  solcher  l'mstand?  Auf  Seite  68 
zitiert  Verfasser  einige  Aussprüche  uial'gebender  Autoren ,  die  Ilm  zu  der 
liegriffsbiidung  der  ^^äiztiidien  Norm"  bewogen  haben.  So  spriclit  z.  B. 
Oppenheim^  (8.  23)  von  ,,medi2inisob-wiBBettsehaMicli6r  Übeneugung*', 
(S.  25)  von  „wissenschaftlicher  Überiegnng'^  (S.  26)  \  on  „sweokentsprochen- 
den  Mitteln'*;  Stool^^)  von  „kunstgemlißem  Eingriff",  von  einer  „Behand- 
lung, die  dem  Zustand  des  Patienten  angemessen  ist''.  ..die  sein  Zustand 
erfordert",  ,)die  sachlich  geboten  ist".  Der  zutreffendste  und  alle  anderen 
genannten  AnsdrQeke  nmfsswnde  Begriff  ist  „wissen sebaftliehe  Ol»er- 
zeagung^^  Auch  nur  dieser  Begriff  kann  der  „ärztlichen  Nonn''  m- 
grunde  gelegt  werden,  ja,  dieser  neu  gebilditf .  alicr  nirlit  eng  genu^  be- 
grenzte Begriff  kann  durch  den  Begriff  der  „wiss^inscliaftliclirii  l'berzeugung" 
vollständig  ersetzt  werden.  Übrigens  ist  dieser  Begriff  uns  schon  längst 
geiinfig,  und  wir  yewtehen  darunter  etwas  gans  Beetininrtas,  ein  Beirais 
dafir,  daß  er  gut  nnd  nicht  ersatzbedarftig  ist.  Bei  Abgabe  eines  Sacii- 
verständigengutachtens  spielt  die  wissenschaftliche  Überzeugung  bekanntlich 
auch  eine  grosse  liolle.  Es  kommt  nicht  selten  vor.  d.a(}  ein  Sachver- 
ständiger unter  Eid  eine  objektive  Unwahrheit ^)  sagt;  bei  widerspreclienden 
Gntaehten  nm0  ndndeslena  daa  efaie  ob|ekfir  Mseh  eein.  Eine  Bestrafung 


1)  So  z.  B.  Frank,  Kommentar  zum  R-St-G.-B.,  Vorbemerkung  zu  §  5t. 

2)  Das  äntlicbe  Becht  zu  köipsriichen  Ellgriffen  an  Kranken  und  Gesunden. 

Basel  1892. 

S)  Operativer  Eingriff  und  Körporvo^etzuug.  Berlin  1693. 

4)  SelbetmstindHefa  ist  Uer  die  objektive  Unwabriieit  nkfat  als  eine 

offenkundige  Unwahrheit  aufzufassen,  da  wir  aus  dem  Widerspruche  zweier 

Urteile  ja  nur  pdilifln-n  können,  dalJ  das  oini-  Avabr  und  das  an<b're  falt^ch  f^cin 
niuLi,  nicht  aIxT,  weicht.-!«  falsch  ist,  und  zwar  wegen  unseres  in  manchen  Dingen 
uuzureiclionden  ErkcnnungtivermOgeus. 


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190 


Beeprechungea. 


wegen  Eidesverletzung  erfulgt  aber  nicht,  sobald  der  Sachverständige  nach 
seiner  wissenschaftlichen  Überzeugung  begutachtet  hat 

Hier  ist  also  im  Hinbliek  auf  die  unter  1^  aoegengte  objektire  Un- 
wahrheit die  »Wissens f  Ii a  f  1 1 i (  Ii  e  Überzeugung"  der  Strafaus- 
ßclili(  i;iin<,'8grund;  iiiclit  miuder  auch  bei  ärztlichen  Eingriffen.  Wo 
aber  eine  eigene  wisaeubcliaftliche  Überzeugung  bezüglich  der  Behandlung 
eines  bestimmten  Kranlüieitsfalles  naclizuweiseu  ist  oder  wenigstens  deren 
Vorhaadenaein  g^bbaft  erBchein^  iat  die  wiaaeoBehafHidie  Überaengung  und 
Übung  anderer  Fachmänner  guix  gleiehgttltig,  denn  niemand  lumn  ange- 
halten werden,  von  seiner  Überzengting  abzuweiclion  nnd  sich  einer  anderen 
anzuschließen.  Daher  kann  die  „Übung  gewissen liafter  und  gebildeter  Ärzte** 
wohl  als  ,,Uich tschn  ur  für  ein  objektiv  richtiges  Uandehi"  eines  Arztes 
Bedeutung  haben,  nie  aber  kann  sie  ab  eine  aUgiraiidn  anbnsteliende  und 
bmdende  .,ärztliclie  Nonn''  den  alleinigen  Strafausschließungsgrund 
bei  ärztlichen  Eingriffen  bilden.  Daher  ist  der  Begriff  der  „ärztlichen  Norm" 
zu  reduzieren  auf  die  „wissenschaftliche  Überzeugung"  des  Handelnden. 
Und  diese  mur>  in  der  Tat  als  ein  Strafausschlie^^ungsgrund  auch  bei 
iratfichen  Eingriffen  anerkannt  werden,  niebt  aber  als  der  einzige;  denn 
der  StrafausschließungBgmnd  der  „wissenschaftlieben  Überzeugung''  ist  nur 
ein  Notbelu'lf,  er  kann  nnr  dann  in  Betracht  gezogen  werden,  wenn  andere 
konkrete  Strafausschließungsgründe  fehlen.  Als  solche  sind  hervorzuheben: 
einmal  die  Einwilligung  des  Patienten,  sodann  die  Amts-  und  BerufspfUcht 
des  eingreifenden  Antea.  Können  diese  Umstiade  als  StrafaossflhließungS' 
grOnde  niebt  in  Belradbt  kommen,  z.  B.  bd  Unmöglichkeit  der  Ein- 
holung einer  Einwilligung,  dann  bedingt  einzig  und  allein  der 
Nachweis  der  die  ärztliche  Handlungsweise  begründenden  ,,wissenschaftlichen 
Überzeugung^^  die  Straflosigkeit  des  Arztes.  Verfasser  zählt  auf  S.  26 
drei  bieAer  gehörige  fUle  auf:  1)  den  Fall  der  Bewuflflosigkeit,  verbundeo 
mit  der  Notwendigkeit  sofortigen  ftrztüehen  E^grofens;  2)  den  Fall  der 
Minderjährigkeit  oder  mangdnden  Geistesffthigkeit,  verbunden  mit  dem 
Fehion  eines  Vertreters  des  Patienten;  3)  den  Fall  schwerer  Erkrankung 
und  damit  verbundener  Unmöglichkeit  der  Mitteilung  möglicher  schwerer 
Folgen  eines  ärztlichen  Eingriffes,  wegen  der  dem  Patienten  dadurch  ver^ 
unaditen  sehidliehen  Aufregung.  Mit  dem  Oewohnheitsredit  und  drai 
sittlichen  Zweck  als  Strafausschlief^ungsgrUnde  wird  die  Praxis  wohl  kaum 
zu  rechnen  haben.  Welcher  der  (hei  konkreten  Strafausschließungsgründe 
jeweils  die  Straflosigkeit  des  eingreifenden  Arztea  bedingen,  die  EinwilU- 
gung  des  Patienten,  die  Amts-  und  Bemfspflicht  oder  die  wiaeenscliaftlidie 
Uberaeogong  des  Arstes,  muß  der  jeweitige  Tatbestand  ergeben;  irrig  aber 
wäre  es,  einen  einzigen  denselben  von  Toinberein  als  den  allein  mafigebenden 
hinstellen  zu  wollen. 

'IVotz  der  Bezeichnung  der  „ärztlichen  Xorra"  als  Grund  der  Straf- 
losigkeit (S.  69)  glaubte  doch  Verfasser  im  Schlußsatz  seiner  Beobachtungen 
(S.  75),  auch  die  Einwilligung  des  Patienten  als  sehr  maBgebenden  Faktor 
bei  der  Beurteilung  der  Straflosigkeit  Ärztlicher  Eingriffe  nicht  aussef  adit 
liLssen  zu  dürfen,  indem  er  sie  der  „ärztlichen  Nonn*'  gewissermaßen  ko- 
ordinierte mit  den  Worten:  .Jeder  nach  Maßgabe  der  ärztlichen  Norm 
nicht  gegen  den  ausdrücklichen  Willen  des  Patienten  vorge- 
nommene Arztiiche  ESngriff  ist  straflos.*' 


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BoricbtigQng. 


191 


Eine  stieug  logiech  durchgeführte  KuDütiuktion  der  ,,urztlicl)eu  Nunii" 
ab  Stntfansscfaließangsgnind  Snttich-operativen  Eingriffen  ist  dem  Ver- 
faaaer  al^o  niolit  ^a^lungen.  Abgesehen  von  mehreren  bei  der  Untersuchuog 
wissenschaftlicher  Fragen  sehr  cnthehriiehen  PbiMen  verdteot  die  Dieeer« 
tttiou  als  FleiÜarbeit  Anerkennung. 


Beriehttgnng. 

KttfsBdi  habe  ieh  die  Memoiren  einer  Sftngecin  besproohen.  Am  Ende 
habe  ich  üi  Fteenthese  büizugefügt,  daß  dies  Werk  angeblieh  von  der 
berühmten  Oorona  8cfar5ter  heirOhrt  Ich  werde  nun  von  anawlrto  daranf 
anfmerinaiB  gemacfal^  daß  hier  ein  frtaler  lapBos  caUuni  voiiiegt  Und  dem 
ist  in  der  Tat  so.  Ei  handelt  aieb  nm  eine  andere  berOhmte  Singerin: 
Wilhelmine  Sehröder ^  die  ipiter  ab  die  Bittenreine  nnd  von  all  ihren 
Zeü^enoflsen  wegen  ihrer  trelEBehen  menachHehen  EigenBchaflen  hochgeach- 
teten CSorona  SofarOter^  der  Freondin  von  Goethe  nnd  Schiller,  lebt«.  Schon 
daß  die  YeifasBerin  jener  Memohien  Wagnern  Opern  kennt,  spricht  gegen 
die  Corona  SehfOter. 

Dr.  P.  NIeke. 


DiyiliZüa  by  GoOgle 


VERLAG  VON  F.  C.  W.  VOGEL  IN  LEIPZIG 


DIE  ERSTE  HILFE  IN  NOTFÄLLEN 

FÜR  ÄRZTE  BEARBEITET 
VON 

PROF.  DR.  G.  SULTAN 

UND 

PRIVATDOZENT  DR.  E.  SCHREIBER 

IN  OÖTTINQEN 

Mit  78  Textfiguren.   Preis  in  elegantem  Leinwandband  8  Mk. 

r)as  vorliegende  Buch  verdankt  seine  Entstehung  lediglich  dem  Um- 
stände,  dass  ein  solches  für  Aerzte  bisher  nicht  existierte  und 
weil  tatsachlich  ein  Bedürfnis  dafür  vorhanden  war.    Die  Herren 

Herausgeber  haben  sich  nicht  auf  das  Gebiet 
der  Chirurgie  und  inneren  Medizin  beschränkt, 
sondern  durch  Heranziehung  von  Mitarbeitern 
möglichste  Vollständigkeit  auf  allen  Gebieten 
der  Medizin  erstrebt,  wie  aus  nachfolgender 
Inhaltsangabe  her\'orgeht:  —  G.  Sultan,  Die 
erste  cliirurgische  Hilfe.  —  Hermann  Palm,  Die 
Hilfeleistung  bei  plötzlich  auftretenden  Erkran- 
kungen undKompiikatlonen  auf  geburtshilflich- 
gynäkologischem  Gebiet  —  Franz  Schieck, 
Die  erste  riilfe  bei  akuten  Erkrankungen  und 
Verletzungen  des  Auges.  —  G.  Heermann, 
Die  erste  Hilfe  bei  Verletzungen 
und    plötzlichen  Erkrankungen 
des  Ohres.  —  E.  SCHREIBER,  Erste 
Hilfe  bei  plötzlichen  inneren  Er- 
krankungen. —  L.  W. 
WEBER.Die  erste  Hilfe- 
leistung bei  plötzlich 
auftretendenOehimer- 
krankungen,  nament- 
lich bei  Geistesstörun- 
gen und  Krampfanfäl- 
len.  —  E.  Schreiber, 
Die  erste  Hilfe  bei 
akuten  Vergiftungen. 


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VI. 


Zar  Psycbologie  der  ZeugenansBagen* 

Betrag  zur  psychologiBchen  Analyse  der  Stirn  mang,  insbeBonclere 
der  Suggestion  in  ihrer  forensischen  Bedentong. 

Bmob  9tihnäklkmrt,  BeehtspraktilEiiit  fai  Mflnehen. 

„Stimmung^  deren  Bedeutung  in  foro  wir  hier  näher  zn  unter- 
suchen  uns  Yorgenommeii  haben,  ist  ein  durcli  besondere  Umstände 
hervorgerufener  momentaner  psychischer  Zustand  eines  Menschen  oder 
einer  ^lenschengruppe,  dessen  Erkennbarkeit  unserer  Aufmerksamkeit 
unterliegt.  Es  scheiden  mit  dieser  Begrenzung  von  vornherein  alle 
jene  Fälle  der  Stimmung  aus,  die  der  Möglichkeit  unserer  Beobach- 
tung und  Heurteiiung  entrückt  sind,  z.  B.  die  psycliisehe  Erregung 
beim  I>esen  eines  si>annenden  Romans  (insbesondere  vor  dein  Nacht- 
schlaf), dieSeelf  iKiualm  eines  unrettbar  dem  Tode  geweihten  Mensehen; 
in  engerer  Beziehung  ai)er  auch  alle  jene  Fälle  der  Stimmung,  die 
der  Erkennung  und  Beurteilung  in  foro  entzogen  sind. 

Bei  der  Stimmung  haben  wir  zunächst  zwei  ihrem  Entsteliungs- 
grund  entsprechende  Seiten  zu  unterscheiden:  eine  aktive  und  eine 
passive  Seite.  Jene  bedeutet  das  „Stimmung  machen",  diese 
das  „Gestimmt werden*^.  Die  Stimmung  untersteht  als  Seelenzu- 
stand  dem  Gefühl svermögen;  je  nach  der  Beschaffenheit  eines 
Objektes  oder  einer  gegenstSndlichen  TStigkeit  werden  angenehme 
oder  unangenehme  Gefflhle  in  der  menschlichen  Seele  geweckt 
LetzterenfUls  spricht  man  von  ^Verstimmung'*.  Beide  Arten  der  Ge> 
fühle  kennen  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  einander  nähern,  ohne 
sich  aber  zu  berfihren  und  einen  Gegensatz  hierdurch  erkennbar  zu 
machen;  das  inzwischen  liegende,  die  beiden  Gegensätze  scheidende 
Gebiet  ist  der  indifferente  Gefühlszustand,  der  sich  andererseits 
wieder  unterscheidet  von  dem  Zustand  eines  sogenannten  gemischten 
Gefühls.  Dieser  ist  aber  nicht  als  selbständiger,  eigentlicher  Seelen- 
zustand  aufzufassen,  da  er  nur  durch  den  unbewußten  raschen 
Wec  hsel  von  angenehmen  und  unangenehmen  Gefühlen  ^eugt  wird. 

Arcbir  fOr  KriininalftnÜuopol<«ie.  XUI.  13 


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104 


VL  SüHJH  EIÜRJEBT 


I.  Die  passiTo  Seite  der  Stimmnngr. 

Die  Stiinmunp:,  dio  durch  die  bewußte  oder  unbewulite  Tiitig- 
keit  eines  anderen  verursacht  wird,  soll  hei  der  Untersuchung  der 
aktiven  Seite  der  Stininiun^^  ihre  Beachtung  finden.  Iiier  dagegen 
soll  ein  Wort  der  Stinamung  als  einer  unmittclbarea  Folge  des 
Selbstdaseins  gewidmet  werden.  Die  Gefühle  sind  dem  Grade 
sowohl  wie  der  Art  naflh  yenehieden;  je  naeli  den  mehr  oder  weniger 
lebhaften  Geftthlszuatänden  nnteracheidet  man  hier  wieder  Anwand- 
lungen und  Affekte.  Während  die  Anwandlungen  kaom  noch 
ins  Bewußtsein  treten,  sind  die  Affekte^  wie  Frende^  Schmerz,  I\irobt, 
Angsti  Schrecken,  Äiger,  Zorn  auch  der  Außenwdt  erkennbar.  Diese 
sind  es  daher  anch,  die  uns  mehr  interessieren.  Unser  Forschen  hat 
sich  weniger  anf  das  Dasein  als  anC  den  Ursprung,  die  Ursache 
der  Affekte  zu  richten,  um  den  Grad  und  die  Wirkungen  derselben 
zu  erkennen  und  richtig  beurteilen  zu  können.  Während  die  Grade 
d  e s  G  ef  ü  b  1  s ,  insbesondere  die  Affekte,  eine  unzweifelhafte  Stimmung 
im  Menschen  hervorznmfen  TermSgen,  ist  dies  keineswegs  immer  der 
Fall  bei  der  Empfindung,  einer  Art  des  Gefühls.  Die  Empfin- 
dung, das  Innewerden  der  mannigfaltigen,  den  leiblichen  Lehenszustand 
begründenden  Ix-henstätigkeiten,  ist  in  gesundem  Zustande  an  die 
Tätigkeit  des  Nervensystems  gelmnden.  He  wüßt  wird  aber  die 
Empfindung  nur  dann,  wenn  die  Ix'henstaligkeiten,  die  Funktionen 
der  Lei)ens()rgane  gestiirt  werden,  in  krankhaftem  Zustande  sind 
oder  überhaupt  von  der  Kegel  ahweielien.  So  kommt  es,  dab 
nur  die  hewultten  Emjif indungen  geeignet  sind,  eine  gewisse 
Stimmung  der  Seele  hervorzurufen.  So  beispielsweise  Kopfweh,  Zahn- 
weh, Unregelmäbigkeiten  in  der  Herztätigkeit,  Menstruation,  Klimak- 
terium, Schwangerschaft  Nicht  minder  als  die  Empfindung  ist  auch 
noch  eine  andere  Art  der  Gefllble,  das  sittliche  Gefühl,  das  Ge- 
wissen mit  seinen  Abarten  des  Ehr-,  Rechts- nnd  Pf  lichtgef  Ahls 
stimmnngserzengend,  zumal  wenn  seiner  normalen  Funktion  Hinder- 
nisse entgegentreten.  Man  denke  z.  B.  an  eine  kriminelle  VerdSoh- 
tigung,  den  Vorwurf  der  Lfige,  der  Ungerechtigkeit^  der  Fflichtver> 
letzung.  Wohnt  dem  Menschen  ein  sittliches  Gefflhl  inne,  so  wird 
nicht  bloß  bei  offenkundigem  Abweichen  von  der  Wahrheit,  d.  h.  der 
Übereinstimmung  der  Gedanken  mit  der  Wirklichkeit,  die  Stimmung 
des  ertappten  LOgners  ge&ndert,  sondern  auch  die  Stimmung  des 
nie  h  t  ertappten  Lügners.  Wir  erkennen  diese  Änderung  der  Stimmung 
in  erster  Linie  durch  ein  zögerndes  Anwortgeben,  verbunden  mit 
lisycbologisch  zu  erklärenden  Beflexbewegungen  und  -Wirkungen 


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Zor  Fqrohologie  der  Zeagetuniasageii. 


196 


(Angenniederschlagen,  scheuer  Blick,  Erröten  usw.l  Ein  solcher 
Mensch  muß,  um  Widersprüche  zu  vermeiden,  jede  Antwort  zuerst 
iib  er  legen,  sie  prüfen,  ob  sie  den  eingeschlagenen  Weg  dtT  Lüge 
nicht  kreuzt;  daher  die  auffallende,  pitjtzlich  eintretende  Vorsicht 
und  Schüchternheit  beim  weiteren  Verlauf  des  Verhörs. 

Erwähnt  mag  hier  noch  werden,  daß  auch  die  Artung  des 
Temperaments  einen  unbewußten  Wechsel  der  Stimmung  bringen 
kann,  wie  auch  Witterung,  schlechter  Schlaf,  Träume,  Musik  usw. 
eine  gewisse,  aber  für  uns  mehr  bedeutungslose  Stimmung  im  Menschen 
herrufen  können  i)> 

WSbrend  die  Erfonohung  dieier  stimmimgenEeagendeD  ümBOiide 
aohon  lange  als  Aufgabe  der  KrimmalaiithrGpologie  angesehen  werden 
kann  nnd  auch  ndion  zu  bestimmten  Besaltaten  gefflhit  bat,  kann  ee 
nicht  Aufgabe  dieser  Abbandlnng  sein,  im  einzelnen  näher  auf  sie 
einzugehen.  leb  wende  mich  daher  zu  der  zweiten  Gruppe  der 
stimmungerregenden  Umstünde,  deren  Erforschung  in  mancher  Be- 
ziehung recht  iflckenhaft  ist 

IL  Die  aktive  Seite  der  Stimmung. 

Eine  nicht  geringere  Bedeutung  als  jene  hauptsSchlich  durch  die 

innere  Beschaffenheit  des  Menschen  bedingte  Art  der  Stimmung  hat 
die  durch  äußere  Umstände  verursachte  Stimmung.  Welches 
sind  nur  diese  äußeren  Umstände? 

1.  Die  Suggestion.  Suggestion  ist  die  bewußte  oder  unbe- 
wußte Beeinflussung  des  Denkens  oder  Tuns  eines  Menschen  seitens 
dritter  Personen.  Da  das  Tun  selbst  eine  stimmungerzeugende  Kraft 
in  sieb  tragt^n  kann,  wie  alle  die  auf  die  Befriedigung  eines  sinnlichen 
oder  geistigen  Ocnnssr-s  gerichtete  Betätigungen,  z.  B.  Essen,  Trinken, 
Kauelien,  Baden,  »Singen.  Pfeifen,  Lesen,  Musizieren  usw.,  ist  auch 
die  Suggerienmg  einer  solche  Betätigungen  begleitenden  Stimmung, 
sowie  die  Suggenerung  einer  solchen  Betätigung  selbst  leicht  denk- 


1)  V<;I.  (I  ni  ,  Kriiiiiii.'ilpsv  cliolui^io,  S.  .")li)f.;  fornor  Niickf.  Archiv  XII, 
S.  269  Weun  zwischen  der  Wahnielituun^;  und  der  Vernehmung  de»  Zeugen  ein 
Zeitraum  von  mehreren  Tfegon  oder  gar  Wochen  liegt,  dürfte  eine  Erforachnng 
der  Stimorang  am  Tage  der  Wahmehmimg  durch  Befragen  des  Zeugen,  ob  er 
in  I  i  vorausgegangenen  Nacht  gut  oder  schlecht  geschlafen  habe,  vrieNKcke 
a.  :i.  < >.  \ orschlägt,  keineswegs  an/.umten  sein,  ila  man  nur  zu  leicht  eine  netie 
Fehlerquelle  so  schaffen  konnte.  Wenn  wir  nicht  üelb&t  in  der  Lage  sind,  die 
Unache  nnd  Wirktrag  dnea  Stimmung  erzeugenden  Fakton  nnmittelbar  an  er> 
foiachen  besw.aa  bedbaditen,  so  hat  das  Urteil  ehiea  Laien  hiecfiber  Ittr  uns 
gar  keinen  Wert,  im  GegeDteii,  es  Itann  fOr  nna  selbst  eine  Fehlerquelle  werden. 

13* 


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196 


/      VL  ScraiBIGKEBT 


bar.  Doch  niclir  als  diese  Art  der  Heeinflussunp:  niiili  uns  in  krimi- 
neller Hinsicht  die  Beeinflussung  des  Denkens  eines  Menschen 
interessieren,  besonders  wenn  wir  die  psychologische  Zergliederung 
der  Zeugenaussagen  im  Auge  behalten  sollen').  Von  der  sugge- 
stiven Beeinflussung  der  Rieliter  und  Geschworenen  durch  Staatsanwalt 
und  Verteidiger,  von  den  an  Zeugen  und  Angeklagte  gerichteten 
Suggestivfragen  haben  wir  schon  viel  gehört  und  brauchen  uns 
hier  auch  nicht  mehr  nfther  darauf  ebzulassen,  da  dieser  Art  der  — 
größtent^b  bewußten  und  gar  aggreesiT«!  —  Suggestion  eine  andere 
Bedeutung  zukommt  als  der  Suggestion  einer  Stimmung,  mit  der 
wir  nns  hier  ToniebmUeh  beeehlftigen  wollen. 

Zun  ersten  Haie  bat  die  iVage  der  Suggestion  in  foro  eine  grofie 
fiolle  gespielt  in  dem  bekannten  Osynski-Piosesse^)  im  Jahre  1894, 
noch  me  viel  bedeutendere  Bolle  aber  in  dem  zw«  Jahre  darauf  in 
Mttnchen  durchgeführten  B erch toi d -Prozesse').  Ohne  die  in  den 
erwähnten  beiden  Arbeiten  besprochenen  Einzelheiten  dieser  Prozesse 
zu  berüliren,  Avollen  wir  uns  die  Frage  vorlegen:  was  hat  uns  der 
Befchtold-Prozel^  in  Beziehung  auf  die  Suggestion  gelehrt?  Die  zu- 
sammenfassende Antwort  lautet:  Je  sensationeller  die  Verbrechertat 
und  deren  Folgen  sind,  desto  vorsichtiger  muli  die  Vorunter- 
such ung^)  geführt  worden,  um  die  Beweise  zu  sicliern,  inbesondere 
die  heillose  Wirkung  der  Suggestion  und  Erinnerungsfälsehung  mög- 
lichst zu  verhindern.  Tatsächlich  sind  in  diesem  Prozesse  viele  Be- 
weise —  und  zwar  die  wichtigsten  —  durch  die  unvorsiclitig  geführte 
Voruntersuchung  wenigstens  verdunkelt  worden'').  Als  Gründe 
dieser  Verdunkelung  der  Beweise  und  zwar  durch  Suggestion  wurden 

1)  Trotzdem  f^twAie  ich  auf  die  kriminelle  Bedentung  der  Saggeriernng 
einer  Tätigkeit  hinweisen  zu  mQ^i^eu,  indem  ich  an  die  volkstümlich  aus- 
gedrückt —  „ansteckenden  Beispiele"  berülmit  «tcwomUih  i  Vt  ihrcclior  erinnere: 
Jack,  der  Aufschlitzer;  Verrohung  der  Jugend  durcli  die  Lektüre  der  Indianer- 
geschichten,  die  unsere  jugendlichen  Raobmörder  vorbildete;  KnciN,  der  aweite 
bayerische  Ilicsl,  u.  a. 

2)  Vf;l.  die  diesen  l'rozeP  hchandelnde  Schrift  TOn  W.Preyer,  Ein  meric- 
wflrdif?cr  Fall  von  l-'aszination.    Stiittirait  IVi'». 

ü)  Vgl.  diu  diesen  I'rozui>  kriiibch  behandelnde  Arbeit  von  Dr.  v.  Sehrenck- 
Notzing,  Über  8it^ge»tion  and  EMnneningaflUacfaang  fan  Bercfatold-Pltwef. 
Leipdg  1S97. 

4^  Wie  Iclinvicli  ist  der  Rrrclitold-ProzcP  für  die  Gegner  der  VoiWlIer- 
Buchung!  (1  her  letztere  FrajLH'  vjrl.  (irol^,  Archiv  Xll.  S.  Ktlff.l 

5)  Der  Verteidiger,  Rechten  »alt  Dr.  v.  l'annwiiz,  erhob  in  einer  Kede 
—  a.  a.  0.  B.  78  n.  W  —  den  Vorwurf,  daß  die  Yorantersnchung  gevadeKn 
öffentlich  geführt  wortlen  sei  und  zwar  unter  den  Aiiq>iden  nnd  inaognriect 
durch  die  kdnigl.  Poliaeidirektion  München. 


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Zur  Psychologie  der  Zeugenaussagen. 


197 


von  Seiten  des  Verteidigers  wie  des  psychiatrischen  Sachverständigen 
V.  Schrenck-Kotzing  hervorgehoben: 

a)  Die  Beeinflimanng  der  Zeagen  durch  die  Preese  nnd  Polizei- 
berichte  9« 

b)  Die  Anshändignng  zweier  PortrSts  des  be8chiildi|;;teii  Hörden 
durch  die  Polizeibehörde  an  die  Presse  und  die  Ansatelluig  derselben 
sowie  Verbreitiing  von  schlechten  Beprodnktionen  durch  Tages- 

zeitongen^). 

c)  Die  Äußerung  des  Ministers  des  Innern  gelegentlich  einer 
Interpellation  in  der  Kammer  der  Abgeordneten  *). 

d)  Die  zu  spät  erfolgte  Aussetzung  einer  Prämie  von  1000  Mark 

für  die  Überführung  des  Mörders*). 

c)  Die  Art  der  Konfrontation  der  auf  die  Auff<»r(lenin^en  in  dw 
Presse  hin  sich  meidenden  Zeugen  mit  dem  Beschuldigten -'j. 

Zu  all  diesen  Suggestivfaktoren  kam  dann  noch  die  Sensation 
des  lalles,  die  aulierordentliclie  Erregung  und  Beängstigung  des 
Publikums,  die  durch  die  Tatsache,  daß  von  den  in  der  letzten  Zeit 
in  Bayern  vorgekommenen  Mordtaten  nur  die  wenigsten  —  der  Ver- 
teidiger sprach  sogar  von  100  Prozent!  —  aufgedeckt  worden  sind, 
recht  erklärlich  ist'). 

Zur  Kritik  dieser  als  Suggestivfaktoren  erkannten  Umstände  noch 
einige  Worte.  Daß  die  soeben  aufgezShlten  Faktoren  geeignet  sind, 
dem  Publikum,  insbesondere  den  als  Zeugen  etwa  in  Betracht  kom- 


1)  Vp^.  die  AofflUmmgai  von  Schrenck-Notzing  a.a.  0.  &  14£f.»  61, 
105,  107  und  die  Rede  des  Verteidigers  ebcndort.     S5  u.  86. 

2)  a.  a.  0.  P.  21.  "I,  '^i,  S6,  97  ff.  Auch  der  Staatsanwalt  niiiJH»  rage- 
stehen,  dal'  die  Photographie  ^emiDent  suggostiv*  sei  (a.  a.  0.  S.  89). 

b)  A.  a.  0.  S.  67,  86,  89,  90. 

4)  A.  1. 0.  S.  19, 89, 86, 89, 96.  Der  dielbche  Mord  wurde  am  14.  Febratr 
1896  aasgeführt,  die  amtüche  AiUHcfareibimg  der  Plinde  erfolgte  am  28.  Febmar 
1896  in  der  Presse. 

5)  A.  a.  0.  S.  74,  SO,  84,  86,  77.  Nicht  mit  Unrecht  tadelten  Verteidiger  und 
Sachverständiger v.Schrenck-Notzing den  bei derVonintersachung  begangenen 
Fehler,  dal  mtm  den  obwaltenden  ümetindeo  den  Zeagen  nicht  mehrere 
Mannapenimen  vorgeführt,  nicht  mehrere  Photographien  vendriedencr  Manns- 
personen und  nicht  mehrere  Kleidungsstucke  zur  Itekognosziernng  vorgelegt 
wurden,  da  doch  ein  ganz  wichtiger  Teil  des  Schuldbeweiscs  auf  dem  psycho- 
logischen Problem  des  Wie dererken neos  berabte. 

6)  A.  a.  0. 8.  93, 62, 68,  TS,  84, 85,  lOT.  Es  lassen  aich ,  wie  v.  Schrenck- 
N  otzing  a.  a.  0.  S  107  meint,  auch  Zustände  von  Angst,  Schrecken,  sensationeller 
Aufrefriinir.  poIkiIiI  sie  dai»  Puldikum  oder  auch  nur  einen  Teil  desselben  ergreifen, 
recht  wohl  als  psychische  Epidemien  auffassen.  Vgl.  auch  die  hier  ein- 
schlägigen Auslassungen  des  Verteidigers  a.  a.  0. 8. 85. 


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198 


VL  ÖcjiNxaclUBT 


menden  Penonen  eine  yerhängnisvoUe  Stimmung  zu  saggeneven, 
braucht  biet  nicht  erst  bewiesen  zu  weiden,  der  Berehtoldprozeß  hat 
dies  ja  schon  getan.  Soll  nun,  fragt  t.  Schrenck-Notsing  &  a.  0. 
S.  106,  „angeeichte  der  brutalen  Logik  solcher  Tatsachen  die  Beohta- 
pflege  ihre  alten  Wege  weiter  wandeba,  ohne  sudi  um  die  ürrnngen- 
Schäften  der  neueren  Psychologie  zu  kümmern?  Wenn  irgendetwaa 
die  RecbtBBicberheit  gefährdet  hat  oder  gefährden  kann,  dann  ist  es 
das  konservative  Beharren  an  veralteten  Einrichtungen  und  der  Wider- 
stand  gegen  die  fortschreitende  Erkenntnis,  dagegen  ganz  gewiß  nicht 
eine  praktische  Nutzbarmachung  der  Suggestionslehre !" 

Nun  darf  man  aber  ja  nicht  denken,  daß  der  Berchtold-Prozeli 
oder  der  ihm  vorausgehende  Czynski-l'rozcl'»  vom  Jahre  1894  die  Ge- 
burtsstätte der  „Suggestion"^  uns  enthüllte.  Man  sollte  es  aber  geradezu 
meinen,  wenn  man  einige  Aulterungen  von  Medizinern  und  Juristen! 
aus  jener  Zeit  sich  vergegenwärtigt  So  sagt  z.  B.  Prof.  Dr.  Moritz '), 
daß  mit  dem  Schlagworte  „Suggestion"  ein  unnötiger  Terminus  in 
den  Gerichtssaal  gebracht  werde,  der  den  Geschworenen  —  (warum 
denn  nur  diesen?!)  —  nicht  geläufig  sei,  hinter  dem  sie  etwas  Un- 
bekannteSi  in  seiner  Wirkung  nicht  Abschätzbares  vermuten,  wodurch 
die  Klarheit  ihres  Urteils  beeintrfichtigt  werden  könne.  Fast  unglaub- 
lich ist  die  dnreh  folgende  Ävßemng  eines  Jnnsteii  über  die  Sug- 
gestion bezeugte  Unwissenheit  in  diesem  Punkte. 

„  .  .  .  Die  neue  Bescich&Qng  mit  dem  Yomehm  klingenden  Fremd- 
wort ,Sagge8tion*  Ist  aber  geOhrlieh;  de  erweckt  die  VorBteUang  von 
etwas  Pathologischem  (!)  an  der  Person,  die  der  8ii^;<i8tion  unterlegen  sdn 
soll;  nun  mag  es  ja  sein,  daß  in  50  oder  100  Jahren  der  Psychiater  mit 
Hilfe  von  Böntgenstrableo  (!)  oder  anderen  Mitteln  unserm  Auge  den  Vor> 
gang  der  Beeinfimsung  durdi  andere  dehtbar  (!)  macht  Zur  Zeit  aber  ist 
die  FlByehiatiie  noch  nicht  bo  weit''2)  (!) 

Es  scheint  feal^  als  wollte  t.  Sehrenck-KotEing  selbst  die  Sug- 
gestion als  ein  Produkt  der  Keuzdt  anttsssen,  wenn  er  a.  a.  0.  S.  104 
sagt:  „  . .  .  Mit  der  Einbürgerung  des  Ausdrucks  («Sug^ 
gestion**)  selbst  folgt,  wenn  auch  langsamer,  doch  schliefilieh  auch 
der  richtige  Begriff,  das  richtige  Verstindnis  des  damit  beseichneten 
Vorganges'^. 

Glaubt  man  etwa,  daß  unser  Strafprozeßrecht  vor  100  Jahren 
nichts  von  Suggestion  gewußt  hat?  Oder  sind  es  nicht  vielmehr  die 
nen  auftauchenden,  aber  verkannten  Suggestionsfaktoren 
unseres  modernen  Verkebrslebens,  welche  Leute  das  Wesen  der  Sug- 


t)  Die  SiifTfirestion  im  ProzeC  Bcrchtold.  Münchner  med.  Woch.  1896.  Nr,  43. 
2)  .Mitgeteilt  von  Schrenck-Notzing,  a.  a.  0.  S.  103.  Note  1. 


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Zur  Psychologie  der  Zcugenauasageu. 


199 


gestion  so  vielen  unverständlich  macht?  Die  Suggestivkraft  der  Presse 
konnte  unseren  Vorfahren  freilich  nicht  bekannt  sein,  da  jene  in  alten 
Zdten  gewiß  nieht  den  Änspmdi  auf  ^Mithilfe*  bei  der  Yoninter- 
Baohung  erhoben  haben  wird.  Die  Photographie  iBt  auch  erst  dureb 
die  Erfindung  Daguerres  im  Jahre  1839  praktisch  verwertbar  ge- 
worden. Kurz,  die  ganze  Art  nnsereB  fr&beren  StrafproseBses  war  der 
aus  der  Öffentlichkeit  herrührenden  Beeinflnssnng  Ton 
Zeugen  dnrch  Suggestion  hinderlich.  Aber  gleichwohl  wußte  man 
schon  damals,  was  Suggestion  ist,  und  daß  sie  eine  Tcrderbliche  Wir- 
kung bei  den  Zeugenaussagen  haben  muß;  daher  war  sie  auch  den 
richlerlichen  und  Untersuchungsheamten  verboten.  Als  Beweis  für 
mdne  Behauptungen  brauche  ich  nur  dnige  Vorschriften  des  Straf- 
gesetzbuches für  das  Königreich  Bayern  aus  dem  Jahre  1813,  das  ja 
in  der  Entwicklung  unseres  heutigen  Strafreclites  bekanntlich  eine 
nicht  unbedeutende  Bolle  gespielt  hat,  hier  wörtlich  zu  zitieren. 

Zweiter  Teil.   Von  dem  Prozeß  in  Strafsaehcs. 
I.  Bneh,  2.  Titel,  2.  Kapitel:  Artikel  213. 
Die  einem  Zeugen  vorzulegenden  beBondcren  Fragen  niiisson: 

1.  rticksichtlicli  aller  näher  zu  erörternden  Umstände  erschöpfend, 

2.  bestinunt  und  deutlich  abgefaßt, 

3.  nar  auf  einen  elnzigmi  Tstnmstend  geriditi  t,  ftborhanpt 

4.  unverfänglich  sein,  und 

5.  keine  bestimmte  Vorhaltung  des  fraglichen  Unistandes  selbst 
(Suggestiun),  zumal  keines  Hauptumstandes  der  Ta^  in  sich 
enthalten. 

Was  die  Vernehmung  des  Angeschuldigten  anlangt, 
kouuiien  fuigende  sehr  bezeichnende  Artikel  in  Betracht. 

Zweiter  TeiL   Unerlaubte  Mittel  zur  Erlangung  eines 

Geständnisses. 

I.  Bach,  Ii.  ütel,  I .  Kapitel,  Ziff.  V. 

1.  Betrügliche  Versprechungen  Art.  181. 

Der  Unteraucliungsrichter,  welcher  durch  daa  Verspreclien  der  Unge- 
Btrafthdt,  oder  anderen  Betrog,  eb  Bekenntnis  der  Scfanld  za  erlangen  mSki, 
ist  von  dem  Obergericht  m  Strsfe  zn  ziehen.  Aneh  ist  ein  dadurch 
veranlaßtes  Bekenntnis  unwirksam. 

2.  Verfängliche  Fragen:  Art.  1S2. 

Desgleichen  soll  sich  der  Untersudiungsrichter  aller  verfänglichen 
Fragen  enthalten. 

Dahin  gehören  alle  nnheethnmten,  vieldeutigen,  verBehiedene  Umstinde 

zuL'^leich  umfassenden  Artikel,  wie  andb  solche  FVagSD,  wobei  voransgesetzt 

wird,  :ils  liabe  der  Inijuisit  bereits  etwas  anderes  gestanden,  w.is  von  ihm 
entweder  geleugnet  o<ler  weniirstens  noch  nicht  eingestanden  worden  isL 

3.  Unerlaubte  Suggestionen:  Art.  183. 


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200 


VL  SciLNLICKEUT 


Abs.  I.  Fragen,  weldie  dem  Inqnisiten  den  besonderen  Umibuid,  deo 
man  von  ihm  (ungeetanden  haben  will,  zur  bloßen  Bejahung  oder  Vemei- 
nong  bestimmt  v<»i"safrpn,  sind  in  der  K<^gel  verboten. 

Aus  dem  Nachlasse  dieses  bayerischen  Strafgesetzbuches  wwdra 
leider  derartige  ßestimmunpren  nicht  anerkannt  and  übernommen,  so 
daß  es  scheint,  daß  der  Begriff  der  Su^^gestion  im  Laufe  der  Zeit 
ganz  in  Vergessenheit  g:eraten  ist,  bis  ihm  die  beiden  Sensationspro- 
zesse der  90 er  Jahre  als  unverständliches,  „gefährliciies"  Neu^ebilde 
wieder  zum  Vorschein  Itrachtt-.  Unsere  StrafprozelJordnung  j::laubte 
das  rii'iiti^a'  Mali  anzuwendender  List  und  psychischen  Zwaup  s  dem 
Taktgefühl  der  mit  der  Vernehmung  von  Zeugen  und  Heschuldigten 
betrauten  Personen  überlassen  zu  kiJnnen.  Ein  sonderbarer  Fortscliritt! 
Ob  man  bei  der  Reform  unseres  Strafprozelireelits  auf  die  überaus 
seliädlielien  Wirkungen  der  Suggestion  wird  Rücksicht  nehmen,  ist  nach 
unseren  heutigen  Erfahrungen  gewiß  keine  überflüssige  Frage  mehr! 

Wir  wollen  uns  hier  nicht  weiter  in  den  Untiefen  unserer  heii> 
tigen  SiP.O.  yerlieren,  sondern  wieder  zurückkehren  zur  Kritik  der 
modernen  SuggestionsmitteL 

Die  VoninterBiiehung  ist  nach  unserer  StP.O.  geheim  zu  führen. 
Selbstycrständlich  kann  dies  nicht  geschehen,  ohne  daß  die  Außen- 
welt etwas  dayon  erfährt;  denn  die  Polizeiorgane  haben  als  Gehilfen 
der  Staatsanwaltschaft  Recherchen  zn  pflegen,  es  werden  einzelne 
Personen  aus  dem  Publikum  zeugenschaftlich  vernommen,  und  so 
kommt  es,  daß  die  Verbrechenstat  mit  ihren  Einzelheiten  zum  Tisch- 
gesprSch,  zum  täglichen  Unterhaltungsstoff  dient  DagegM  Ifißt  sich 
auch  nichts  Bedenkliches  einwenden;  denn  wenn  man  von  verderb- 
licher Suggestion  redet,  müssen  immer  einflußreiche  Faktoren  die 
^Stimme  führen^.  Der  Gescheitere  beeinflußt  den  weniger  Gescheiten, 
der  Kräftigere  den  Schwächeren,  sagte  mit  Recht  der  Sachverständige 
l*rof.  Dr.  Grashey').  Es  wurde  in  erster  Linie  die  Presse  als 
mächtiger  Suggestivfaktor  bezoiclinet.  Dali  sie  Einzelheiten  einer  Ver- 
brechenstat berichtet,  soweit  sie  von  jedermann  zu  erfahren  sind,  ist 
ein  unbestreitbares  Rt.clit  der  Presse.  In  dieser  Richtung  dient  sie 
der  Allgemeinheit,  dem  öffcntlieben  Verlangen.  Scharf  zu  tadeln  ist 
es  dagegen,  wenn  sie  in  einer  ihr  durchaus  nicht  zukommenden  Weise 
in  den  Gang  der  Voruntersuchung  eingreift  und  sich  eine  Mithilfe 
hierbei  anmaßt,  von  der  sie  anch  noch  glaubt,  „daß  sie  von  maß- 
gebender Seite  gern  anerkannt"  werdet,  die  aber,  wie  die  Erfahrong 
heute  schon  lehrt,  von  einer  recht  verderblichen  Wirkung  ist.  Es  ist 

1)  Vgl.  ächrenck-Nut7.ings  mchi-fach  zitierte  Abhaudluug.  $.61. 
2^  Ebenda,  S.  IS. 


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Zur  PBydiologie  der  Zeugenannagen. 


201 


ein  höclist  merkwürdiges  Gebaren  einer  Presse,  wenn  sie,  wie  es  in 
neuerer  Zeit  zur  Mode  geworden  ist,  Reporter  aussendet,  die  zu 
„recherchieren",  insbesondere  die  Hauptzeugen  einer  Verbrechenstat  zu 
„verhören"  haben,  nm  so  täglich  ihren  liCsern  interessante  Mitteilungen 
erzählen  zu  können.  Und  erst  die  Konkurrenz  der  zahlreichen  Tages- 
blfttter,  von  denen  jedes  eub  erkttilidiein  Interene  auf  dk  FrioritSt 
deB  BericbteB  bedacht  iatl  Wenn  man  im  allgemdnen  wie  auch  im 
besonderen  die  mit  der  Yoronteraachnng  beauftragten  Beamten 
jeweiJs  zur  Vorsicht  zn  mahnen  Gelegenheit  nimmt*)»  damit  sie 
ja  nicht  bei  den  Vernehmungen  und  den  sonstigen  das  Haöptyerfiahren 
Torbereitenden  Handlungen  die  Beweise  verdunkebiy  zu  was  milOte 
man  dann  erst  die  bezüglich  ihrer  kriminalistischen  Kenntnisse  und 
ZuTerlSssigkeit  durchaue  unkontrollierbaren  Reporter  ermahnoi?  Hier 
kann  nur  ein  unnachsichtiges  hands  off!  da^^  richtige  Mabnwort  sein! 
Bedenkt  man  aber,  daß  eine  solche  Mithilfe"  der  Presse  vor  der 
Vomntersnchnng  von  maßgebender  Seite  keinen  oieigiscben  Protest 
erfährt,  vielmehr  stillschweigend  mit  angesehen  wird,  so  kann  man 
sich  die  Schlußfolgerung  der  Presse  auf  die  „Anerkennung  ihrer  Mit- 
hilfe'' durch  die  „maßgebenden''  Personen  eigentlich  leicht  erklären. 

Der  Tagespresse  wurde  bezüglich  ihrer  irt^'nauesten  Informierung 
des  Publikums  ül)er  Verbrecliertaten  von  kriniinalistischer  Seite  noch 
nichts  Gutes  nachgerühmt,  dagegen  nannte  man  sie  schon  mit  Recht 
den  ^.Katechismus  des  Verbrechertinns  '  ').  Welclien  Nutzen  soll  es 
andererseits  für  die  \'oruntersuchung  bringen,  Leute,  die  irgendwelche 
Anhaltspunkte  zu  der  Verbrechenstat  geben  können,  aus  eigener 
Initiative  aufzufordern,  der  Redaktion  einer  Tageszeitung 
hienron  Hittdiung  zu  machen  bei  Zusicherung  strengster  Dis- 
kretion?! Dazu  kommt  dann  noch  die  jedes  Haß  fibeisteigende 
Kritik  und  Beurteilung  der  erhobenen  Tatsachen  und  Zeugenaus- 
sagen! Was  muß  es  auf  die  Zeugen  ffir  einen  Einfluß  ausüben,  wenn 
sich  eine  Tageszeitung,  die  16  Tage  lang  seit  der  Verbrechertat  ohne 
jede  Beanstandung  seitens  der  üntersuchungsbehdrde  täg- 
lich das  Ergebnis  ihrer  Nachforschungen  den  Lesern  berichtet,  auf 
einmal  die  „Kette  der  Indizienbeweise'*  für  geschlossen  erklärt  und 
geradezu  apodiktisch  behauptet:  „Es  dürfte  nunmehr  jeder  Zweifel 
ausgeschlossen  sein ,  daß  Bercbtold  der  Mörder  isf"  *),  Die  in  Be- 
tracht kommenden  Hauptzeugen  konnten  nun  nichts  Besseres  tun,  als, 

1)  Vgl.  Hans  OroB,  Handbndi  f .  Untenochnngsrichter.  3.  Aufl.  S.  281ff. 

2)  T.  Schrenck'NotsingB  ziti«ite  AbhaBdlimg.  &  T6,  105,  106. 

.'!)  Ebenda,  S.  IS,  19. 
4)  Ebenda,  S.  20. 


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202 


VL  SCHXEICILEBT 


sich  auf  die  Haoptvetbandlnog  vor  dem  impoflanten  Schwnigerieht 
vorbereitend,  ihre  so  oft  wiederholten,  aber  bisher  noch  durch  manche 
Zweifd  getrabten  Aussagen  zu  «»prSzisieren**,  am  nidit  dnrch  un- 
bestimmte und  widenpruchsTone  Depositionen  den  Qang  der  Verhand- 
lung zu  stören,  und  um  andererseitB  dem  positiven  Ergebnisse  der 
Vomntersuchung,  das  ja  nach  der  Ansicht  der  allwissenden  Presse 
zweifellos  war,  gerecht  zu  werden.  — 

Am  t4.  April,  also  etwa  am  58.  Tage  der  Voruntersuchung,  hat 
die  Polizei  endlich  selbst  diesem  Treiben  der  Presse  Einhalt  getan, 
indem  sie  ein  Schreiben  an  die  Tagesblätter  richtete,  sie  möchten  Ein- 
halt tun ').  Daß  dies  jetzt  schon  zu  spät  war,  ist  selbstverständlich, 
wie  CS  auch  nicht  von  Belang  ist,  daß  einige  kleinere  Tagesblätter 
schon  vor  diesem  Termine  Gegenansichten  brachten;  denn  ^der  Ge- 
scheitere bceinflunt  den  weniger  Gescheiten,  der  Kräftigere  den 
Schw^ächeren",  daher  wird  sich  der  suggestible  Mensch  auch  gewili 
nicht  mehr  von  einer  weniger  verbreitt  ten,  „weniger  gut  unterrichteten** 
Tagespresse  nachträglich  beeinflussen  lassen.  Je  verbreiteter,  je  besser 
unterrichtet,  je  intensiver  die  ^  Mithilfe*^  einer  Tagespresse  ist,  um  so 
mehr  behält  sie  als  Soggestivpresse  die  Oberband. 

Wie  wXre  hier  Abhilfe  zu  schaffeii?  Der  Verteidiger  Xnßerte  die 
Meinung*),  daß  der  Gesetzgeber  nach  diesem  Prozesse  die  Pflicht 
habe,  hier  anzugreifen,  und  begründete  dies  damit:  Wenn  es  yer- 
boten  sei,  vor  der  Hanptrerhandlung  aus  der  Anklageschrift  Notizen 
in  die  (yffentlichkeit  zu  bringen >),  dann  kSnne  man  auch  TerbieleD, 
daß  Aber  die  Voruntersuchung  etwas  yerSffendicht  werde.  Es  ver- 
bietet  der  |  17  B.-P.-G.  allerdings  nur  die  voiseitige  VeiOffenttichung 
von  amtlichen  Schriftstücken  eines  Strafprozesses.  Die  Presse  um- 
geht nun  aber  dieses  Verbot,  indem  sie  sich  den  Inhalt  dieser 
Schriftstücke  auf  privatem  Wege  aneignet,  nämlich  durch 
die  Vernehmung  der  Zeugen  mit  Hilfe  der  Reporter,  bezw. 
durch  die  Aufforderung  der  Zeugen,  über  ihre  Wahrneh- 
mungen ih r  Mittei  hing  zu  machen.  Dagegen  mub  freilich  energisch 
Stellung  genommen  werden,  wenn  niclit  jener  §  17  iranz  illusorisch 
gemacht  werden  soll^).  So  lange  aber  auf  dem  Wege  des  Gesetzes 


1)  A.  a.  U.  S.  Sü. 

2)  Ebenda,  S.  85. 

8)  Vgl.  hiecm  §  17  de«  ReiehtpreKgeBetses. 

i)  Awh  V.  Schrcnck-Notzing  ffihJt,  daP  hier  etwas  geschehen  müsse, 
indem  er  sagt  Ca.  a.  0.  lO.'i):  .  .  Eine  sorirfHltiiro  Wünlifriing  der  Sacho  niüPte 
ächliel>lieb  die  gc»ctzgcbemlen  Faktoren  und  Sicherheitsorgene  \  erajilasscn,  den 
allerdings  in  seiner  gefährlichen  Wirkung  noch  immer  weit  unterschätzten  £in- 


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Zur  Psychologe  der  Zeagensouagen. 


203 


eine  Abhilfe  nicht  fjeschaffen  wird,  muß  es  den  mit  der  Vorunter- 
suchung betrautun  Heliörden  überlassen  bleiben,  einer  eigenmächtigen 
Mithilfe  der  Presse  rechtzeitig  Einhalt  zu  gebieten. 

Die  Presse  war  es  auch,  welche  die  amtliche  Aussetzung  einer 
hohen  Belohnmig  fQr  die  ÜberfQhnmg  des  Mdiden  in  Anarieiit 
stellte  0*  Drei  Tage  später  wiude  dne  solehe  in  der  Tat  aneh  amt- 
lieh bekannt  gegeben;  ob  aneh  hier  eine  Suggestion  dnroh  die  Presse 
stattgefunden  hat^  kam  im  Prozesse  zwar  nieht  znm  Ansdniek,  wohl 
aber  mnfite  aneh  diese  erfolgreiohe  ,Mitiiilfe^  der  Presse  anf  das 
Pnbliknm  einen  gewissen  Einfluß  ausflben. 

Was  die  amtliehe  Anssetznng  einer  Primie  für  die  Ergreifung 
oder  Überf&brung  eines  Deliqnentea  anlangt,  so  dürften  noch  folgende 
Betrachtungen  hierüber  am  Platze  sein.  Jedenfalls  ist  dieses  Institut 
schon  sehr  alt,  auch  das  bayerische  Stiafigesetzbuch  (von  1813  II.  Teil 
Art.  87)  kennt  es  bereits.  Man  kann  aber  auch  überzeugt  sein,  daß 
es  heute  ein  veraltetes  Institut  ist  Wer  für  die  Eruierung  eines 
Deliquenten  eine  CJcldbelohnung  aussetzt,  bekennt  gleichzeitifr,  dalS 
er  nicht  selbst  in  der  I^e  oder  allein  zu  schwach  ist,  die  Spuren 
einer  Untjü  bis  zur  Erfxreifunfj  ihres  Verursachers  zu  verful{?en.  Es 
ist  ein  bei  Privatpersonen  sehr  beliebtes  Mittel,  auch  andere  I>eute 
für  ihr  Miligeschick  zu  interessieren  und  sie  zur  Ausfindigmachung 
des  Missetäters  zu  ermuntern.  In  sehr  vielen  Fällen  aber  ist  die  Aus- 
setzung einer  Prämie  der  einzige  Schritt,  den  eine  Privatperson  zur 
Eruierung  eines  Deliquenten  unternimmt.  Je  nach  der  Höhe  der  aus- 
gesetzten Prämie  werden  sich  stets  mehr  oder  weniger  Personen  zur 
Erlangung  derselben  reizen  lassen.  Doch  werden  die  „Konkurrenten'' 
nie  außerhalb  eines  gewissen  Millens  zu  finden  sein.  Es  wird  daher 
nieht  schwer  sein,  die  Ehrliehkeit  und  Gewissenhafligkeit  dieser  Speku- 
lanten richtig  £n  beurteUen.  Der  Staat,  der  es  in  der  Hand  hat,  seine 
Eriminalorgane  tüchtig  zu  schulen,  wie  es  die  fortschreitende  Zeit 
erheischt^  sollte'  sich  also  dieses  Hilfemittels  von  recht  zweifelbaftem 
Werte  nicht  bedioien.  Auob  der  Berchtold-ProaeB  hat  uns  wieder  ge- 
zeigt, daß  die  Aussetzung  einer  Prämie  viel  mehr  schlimme  als  gute 
Wirkungen  im  Gefolge  bat  v.  Schrenck-Notzing  hat  es  nicht 
unterlassen,  darauf  hinzuweisen,  indem  er,  a  a.  0.  S.  19,  bei  seiner 
trefflichen  Registrierung  der  so  unerwartete  Wirkunpren  ausübenden 
Zeitungsberichte^  sagt:  „Von  diesem  Moment  (sciL  der  Piämienaus- 

flnff  d«r  PrasM  auf  ^  Kriminalität  dnzuBchrlnkai,  wie  das  auch  bereits  auf 
dm  letsten  interaatloDaleii  EongieB  fOr  Krimiiialaothropologie  rorgt&MMfem 

und  bofflrwortct  ist* 
1)  A.  a.  0.  S.  17. 


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204 


VL  SCHKUCKSitT 


Betzongj  an  fließen  die  Nachrieb ten  (seil,  an  die  Presee)  roicblicher'^, 
wie  dies  anoh  die  Prewe  eeibet  bestfitigte.  Eb  ist  Mer  aneh  il  a.  auf 
eioige  sehr  bezeichneDde  Änßernngen  der  Zeugen  hinzaweisea  (a.  a.  O. 
S.  59)  83),  die  auf  den  Oewinn  der  1000  Mark  epeknlierten,  wenn 
sie  nur  «was  Gewisses**  sagen  kSnnten!  Kann  es  dann  ausbleiben, 
daD  in  einem  Prozesse  Zengen  auftreten,  die  trotz  aller  ünwahrsehdn- 
liehkeit  ihrer  Wahrnehmung  „etwas  Gewisses**  aussagen?  Welchen 
Aufwand  an  Zeugen  kostet  es  dann  wieder,  das  pro  et  oontra  dieser 
Unwahrscheinlicbkeit  an  nnteisnchen!  Es  ist  andererseits  aber  aneb 
noch  in  Betracht  zu  ziehen,  wie  wenig:  eine  Prämienaussetznng  Fon 
positiver  Wirkung  ist^  indem  vielfach  gerade  diejenigen,  die  etwa^ 
Gewisses  aussagen  könnten,  sich  zum  Schweigen  verpflichtet 
f i^hlen !  Teils  scheuen  sie  sich,  als  Zeugen  vor  Gericht  zu  erscheinen, 
weil  sie  leicht  in  den  Verdacht  der  Mittäterschaft  oder  Begünstigung: 
kommen  könnten,  teils  werden  sie  durch  psychischen  Zwang  (Be- 
stechung, Bedroliung)  direkt  abgehalten,  Zeugnis  zu  geben;  man  ver- 
gegenwärtige sich  nur  einmal  die  Kneililaffäre  in  Bayern  (1901)!  In 
solchen  Fällen  hat  die  Aussetzung  einer  noch  so  hoben  Belohnung 
gar  keine  positive  Wirkung. 

Unter  solchen  Verhältnissen  bleiben  nur  ganz  wenige  Fälle  übrig, 
in  denen  die  Präniienaussctzung  durcli  den  Staat  eine  günstige  AVir- 
kung  haben  kann,  die  aber  keineswegs  zu  einer  Verteidigung  dieses 
veralteten  Instituts  hinreichen. 

Steht  es  mit  der  Ausstellung  des  Deliqnentenporträts 
viel  besser?  Wenn  das  bei  grOßeran  Polizeibehörden  zu  führende 
Verbrecheralbum  VoizQge  hat,  wollen  wur  sie  nicht  verkennen. 
Es  ist  ja  vielfach  nicht  zu  umgehen,  einen  Zeugen  mit  dem  Deli- 
quenten  zu  konfrontieren,  bezw.  jenem  ein  Portiit  des  veidiefatigten 
Deliquenien  zum  Zwecke  des  Wiedeierkennens  vorzulegen.  Bs  ist 
abi»  in  zweifdbaften  Fällen  ein  großer  Fehler,  dem  Zeugen  nur  eine 
Person  gegenüberzustellen,  nur  eine  Photographie  vorzulegen^  was 
oben  S.  197,  Note  5  schon  erwähnt  wurde»  Wer  kann  emsthaft  be- 
haupten bezw.  glaubhaft  machen,  daß  er  eine  Person,  die  er  vor 
Tagen,  Wochen  oder  gar  Monaten  einmal  flüchtig  gesehen  hat, 
durch  \  orzeigen  in  persona  oder  en  portrait  wieder  erkennt' y  Doch 
höchstens  derjenige,  der  ein  gutes  Physiognomiegedäcbtnis 
hat.  Nun  findet  sich  dieser  Vorzug  dt  s  Gedächtnisses  weit  seltener, 
als  man  gemeinhin  beliaujtten  hört,  da  doch  unbestreitbar  nur  der- 
jenige längere  Zeit  ein  Mensehenhildnis  im  Geiste  festhalten  kann, 
der  es  aufmerksam  beobachtet  hat.  Wie  lückenhaft  aber  die 
Bcobachtuug  selbst  gebildeter  Leute  ist,  wissen  wir  erst  sicher 


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Zar  P^diologie  der  ZeagciumsBagen. 


206 


dorob  an L'-pstellte  Experimente  nach  dieser  Richtung  >).  Aus  den  hier- 
bei erlangten  Erfahrungen  läßt  sieh  feststellen,  daß  neben  einer  ge- 
wissen Beobachtung^sgabe  eine  fleißige  Übung  zu  einer  niög- 
Hclist  richtigen  \N'ahmehmung  erforderlich  ist.  Was  Ki)eziell  das 
Pbysiognoniiegedäehtnis  anbetrifft,  so  bin  ich  der  Meinuiiir,  dal)  es 
am  sielitrslen  und  vorzüglichsten  bei  denjenigen  zu  finden  ist,  die 
den  Menschen  als  ein  Problem  der  Natur  ansehen,  das  sind  in 
erster  Linie  die  Psychologen,  deren  Hauptaufgabe  es  ja  ist,  sich 
eine  unifassende  M enschenkenntnis  anzueignen.  Diesen  ist  jeder 
Mensch  von  Interesse;  wenn  sie  ihn  betrachten,  tun  sie  es  stets  aufmerk- 
sam, sie  wissen  Nebensächliches  vom  Wichtigen  zu  unterscheiden  und 
werden  nie  mit  Bestimmtheit  behaupten,  einen  If^uehen  wiederzu- 
erkennen, wenn  rie  nicht  dessen  Oesiehtszttge  ans  der  Nähe 
gesehen  haben.  Was  tiant  man  nnn  alles  dem  gewöhnlichen  Men- 
schen ans  dem  Pnbliknm  zn,  wenn  er  bezeugen  soll,  ob  er  eine 
Person  «wiedererkeline'',  die  er  nnr  ganz  flflohtig,  yon  hinten 
oder  von  oben,  gesehen  haben  will,  wie  dies  im  Berchtold^Prozesse 
wiederholt  vorkam. 

Wenn  man  an  eine  zuverlässige  Beobachtung  dnes  Menschen  sei- 
tens einer  Person  ans  dem  Volke  glauben  kann,  so  muß  mindestens 
eine  gewisse  Vorbedingung  gegeben  sein,  nämlich  das  Interesse  an 
jenem  Mensche,  das  durch  mancherlei  Umstände  geweckt  werden 
kann,  z.  B.  durch  auffallende  Häßlichkeit  oder  Schönheit,  durch  sicht- 
f)are  Mißbildungen  des  Körpers,  durcli  auffnllondes  Benehmen  (Auf- 
dringlichkeit, Schimpfen  usw.i,  kurz,  durch  äußerliche,  leicht  erkenn- 
bare Umstände,  die  eine  gewisse,  die  Beobachtung  tördcrnde 
Stimmung  erzeugen.  Tm  übrigen  dürfen  wir  aber  den  eine  Wieder- 
erkennung bezeugenden  Aussagen  kein  zu  großes  Vertrauen  schenken. 
Es  ist  daher  g:anz  unzweckmäßig,  einem  schleclit  beobachtenden  Zeugen 
Photographien  und  Kleidungsstücke  des  verdächtigten  Deliquen- 
ten  zum  Zwecke  der  Rekognoszierung  vorzulegen,  ganz  abgesehen 
von  der  Gefahr  der  Suggestion.  Will  man  aber  prüfen,  ob  der 
Zeuge  genau  beobachtet  hat,  so  kann  man  dies  dodi  höchstens  da^ 
aus  schließen,  daß  er  unter  verschiedenen  Portrüts  und  verschie- 
denen Kleidungsst&cken  die  richtigen  mit  Bestimmtheit  her- 
ausfindet Dies  wäre  aber  auch  dann  wieder  unzuveilSssig,  wenn 
das  Portrftt  des  verdächtigten  Deliqnenten  öffentlich  ausgestellt  oder 
in  der  Presse  verbreitet  und  die  Kleidungsstficke  desselben  in  der 


1)  Nahen»  hierüber  bei  QtoÜ,  Krimintipsychologie.  S.  286ff.  n.  Handbuch 
fflr  L'ntcrsndiiiiigBrichtor.  8.  Aufl.  8. 225. 


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806 


Presse  genau  beschrieben  wurden.  Daher  sind  solche  Hilfsmittel  zur 
Unterstützung  des  Rekogno8zierung:8 Vermögens  nicht  nur  zweck- 
widrig, sondern  wegen  ihrer  großen  Suggestionsfähigkeit 
durchaus  verwerflich,  und  nie  sollte  sich  eine  Untersuchnngs- 
behörde  solclier  verfänglicher  Hilfsmittel  bedienen  oder  deren  Ge- 
brauch dureh  andere,  ganz  Unberufene,  z.B.  die  Presse,  gestatten,  bezw. 
unbeanstandet  lassen. 

Zn  aUedem  tiitt  noch  die  Gefahr  der  Suggestion  bei  mehrfach 
wiederholten  Vernehmungen  eines  Zengen  hinzn.  Seiles  da 
etwa  anders  san  als  im  tSgfiehen  Leben,  wo  viele  KQche  den  Brei 
▼erdeihen?  EinZenge,  der  bei  der  ersten  Vemehmnng  doch  noch  am 
ehesten  ein  aemlich  nnverfiUsehtes  Bild  seiner  Wahrnehmung  repro- 
duzieren kdnnte^  wird  durch  die  hiafigen  Wiederholungen  seiner  Ver- 
nehmung, bei  denen  die  Suggestion  eine  nicht  leicht  kontrollierbare 
aber  traurige  Rolle  spielt,  so  trainiert,  daß  er  oft  Vorgesagtes  und 
Nachgesagtes  bald  selbst  glaubt  und  am  Schlosse,  wenn  er,  der 
schon  durch  die  Presse  —  als  Hauptzenge  —  ganz  populär  geworden 
ist,  im  Verhandlungstermin  vor  dem  mit  eigenartigem  Nimbus  um- 
gebenen Schwurgerichtshof  öffentlich  auftritt  und  seine  „Rede"  zu 
halten  hat,  bei  der  Hauptprobe  seine  ^Rolle  genau  kennt**,  wie  sich 
V.  Schrenck-Notzing  so  treffend  ausdrückt').  Und  er  wird  sie 
auch  genau  kennen,  da  er  ja  oft  genug  „vor  seiner  Tochter  und  den 
Richtern''  die  Geschichte  hat  wiederholen  müssen;  hier  hat  v.  Schrenck- 
Notzing  leider  die  Reporter  noch  zu  nennen  vergessen!'*). 

Für  eine  sensationsbegierige  Person  ist  es  außerordentlich  ver- 
lockend, in  einem  größeren  Prozeß  als  Zeuge  zu  fungieren.  „Der  Trieb 
zum  Lügen  äußert  sich  bei  ihnen  bald  mehr  in  Form  harmloser  Re- 
nommisterd,  bald  kommt  er  gerade  in  der  eigentlichen  BemfstStigkeit 
derselben  zum  Ausdruck.  Sie  erregen  Aufsehen;  es  gelingt  ihnen,  eine 
Menge  Menschen  zn  täuschen,  weil  sie  nicht  nur  andere^  sondern  sich 
auch  selbst  betrOgea.  Es  handelt  sich  dabd  nicht  um  wohlflberiegten 
Betrug  oder  Heuchelei,  sondern  um  den  wirklichen  Olauben  an  jene 
Schemwahrh^ten.  Oder  auch  man  ertappt  solche  Personen  auf  einem 
Gemisch  von  Lflge,  Selbstftberhebung  und  Irrtum.  Audi  im  Affekte, 
bei  besonderer  Erregung,  lügen  manche  Personen'). 

Welchen  Wwt  eine  richtig  geleitete  und  durchgeführte 
Voruntersuchung  fttr  einen  I^ozeß  hat,  wurde  erst  neuerdings  wie- 

1)  A. «.  0.  S.  101 

2)  A.  a.  0.  S.  102. 

S)  Dolbrack,  Die  pathologiaobe  Lflge.  S.  I22.  Zit.  nach  v.  Schrenck- 
Notzing,  vgl  auch  deason  fibereinstiininende  Ansicht  auf  S.  7S  lu  a.  0. 


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Zar  Psychologie  der  ZengeoMMBagen. 


207 


der  von  Prof.  Groß '/  in  überzeuirender  Weise  dargeleg:t.  Insbesondere 
verweise  ich  hier  auf  seine  Ausführungen  über  die  Art  und  den  Wert 
der  Zeugenvernehmungen  durch  den  Untersuchungsrichter  in  der  Amts- 
stube und  durch  den  Vorsitzenden  im  Gerichtssaal' (a.  a.  0.  S.  10.')  l)is 
lOS).  Aus  diesen  und  den  obigen  Erwiigungen  erfjfibt  sicli.  «lali  der 
von  der  Tolizei  „eruierte"'  Zeuge  sü!)ahl  als  mr»glich  vom  Untersucliungs- 
richter  zu  vernelimen  ist.  Allerdings  hängt  der  Wert  und  die  Treue 
einer  Zengenaussiige  nicht  in  letzter  Linie  von  der  Tüchtigkeit  und 
Geschicklichkeit  des  Untersuchungsrichters  selbst  ab.  Groü  hat  auch 
hier  wieder  die  Gelegenheit  ergriffen,  ein  maßloses  Selbstvertrauen  des 
UnterBachungsrichters  auf  seine  als  Minimniii  verlangten  Kenntnisse 
ohne  Beachtung  der  mit  der  Zeit  fortschreitenden  Wissenschafl  scharf 
zu  yerarteilen^).  Ehe  nicht  die  otfensichttichsten  Fehler  bei  demVor^ 
untersnchungsTerfahren  vermieden  werden,  kann  man  die  Befolgung 
von  VorsichtBmafiregdn  subtilerer  Art  kaum  erwarten. 

Im  Jahre  1896,  das  ans  einen  Blick  in  das  ganae  Triebwerk  eines 
modenien  Kriminalproseeses  werfen  ließ»  sahen  wir»  dafi  manches  gefilhi^ 
liehe  Schwungrad  aufsichtslos  arbeitete.  Ob  beute  dieAufsicht  eine  zuver- 
lässigere ist?  Ich  möchte  es  bezweifeln.  Und  was  die  Suggestion 
in  foro  anlangt,  SO  glaube  ich,  das,  was  v.  Sohrenck-Notzing  im 
Jalir*'  l'^9('>  hierüber  gesagt  hat,  auch  heute  noch  als  zeitgemäß 
wiederholen  zu  können:  ^Leider  hat  gerade  dieser  Prozeß  bewiesen, 
wie  wenig  Verständnis  bis  jetzt  die  Richter  und  die  Polizei  für  das 
Wesen  d«'r  Suggestion,  für  die  Gefahr  der  absichtlosen  ."^ii.irirerierung 
besitzen  I-  (a.  a.  0.  »S.  KM)  Nur  unrichfiL^es;  Verständnis  und  einsei- 
tige Deutung  des  Wesens  der  Suggestion  könnte  in  praxi  Nachteile  zur 
Folge  haben.  Dagegen  kann  nach  der  Meinung  aller  kompetenten 
Beurteiler  die  Keclitssicherheit  nur  gewinnen  durch  richtige  Er- 
kenntnis der  strafrechtlichen  Bedeutung  der  Suggestion.  Die  Zahl  der 
Justizirrtümer  würde  sich  vermindern,  wenn  der  Richter  in  der  Lage 
ist^  das  Produkt  der  Suggestionswirkung  in  einer  Zeugenaussage^)  von 
dm  wirklichen  Talsachenkem  an  unterscheiden,  er  wflide  nicht  Ge- 
fahr laufen,  die  suggerierte  ErinnerungsfiUscbung  und  Phantasidfig- 
nerei  mit  dem  Meineid  in  einen  Topf  an  werfen,  er  würde  sich  in 
dem  VerhQr  von  Zeugen  größere  Zurückhaltung  auferlegen,  um  keine 

1)  Archiv  XII.  S.  191  ff. 

2)  A.  a.  O.  .S.        u.  211. 

3)  Aber  uuch  bei  i5ach ver^tändigcngutachteu  kauii  dies  vurkutnuien 
(vgl.  auch  Dr.  Berzes  Aniidit  im  Archiv  XII,  S.  Uitt.}.  Dtber  ist  darauf  zu 
aditcn,  daß  die  SadtvorBtindigen  nicht  geuelnsehaf tlieh  ihre  üntenacfaniigen 
anitelleii,  londem  nnabbingig  voneinandw  ihr  GutachtMi  vorbereiten. 


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208 


VL  ScamcKBBT 


Details  liineinziiexaminieren,  und  viel  eher  die  Wahrheit  von  einem 
Phantaäie|)rodukt  unterscheiden  können"  (a,  a.  0.  S.  105)...  ..Die  Kennt- 
nis der  durchschnittlichen  Leistungsfähigkeit  unseres  Gedächtnisses, 
Mine  im  täglichen  Leben  sich  äußernden  Fehlerquellen,  sowie  die 
Psychologie  der  Suggestion  sollten  aUeidings  zn  dem  geistigen  Inetru- 
mentarinm  des  Biehte»  gehören!'^  (a.  a.  0.  S.  107) 

2.  Nachdem  wir  nns  mit  der  SoggCBtion  ab  hSnfigsten  und  ge- 
filhrlichsten  Stimmungeerreger  eingehend  be&tfit  haben,  sei  dn  weiterer 
stimmnngeneugender  Faktor  Gegenstand  nnaerer  Bettachtong.  Ich 
meine  die  Pflicht  znr  Zengenanssage.  DarUber  sind  wir  nns^ 
ja  klar,  daß  die  Mehrheit  des  Volkes  „nichts  mit  dem  Gerichte  zn  tan 
haben  mag**.  Niemand  macht  gern  einen  Zeugen,  weil  er  oft  p^enug 
schon  gehört  nnd  gesehen  hat,  ^wie  man  bei  Gericht  behandelt  wird"^. 
Wie  oft  kommt  es  vor,  daß  der  Bicbter  vom  Sachverständigen  eine 
Begutachtung  des  Geisteszustandes  eines  Zeugen  verlangt,  oder  daß 
er  eine  Reihe  Zeugen  über  die  Glaubwürdigkeit  bezw.  Unf::laub- 
würdigkeit  jenes  Zeuiren  vernimmt.  Daß  diese  Tatsachen  von  keinem 
guten  Einfluli  auf  die  Zeugnispflicht  sein  können,  ist  wohl  sehr  er- 
klärlich ;  und  welchen  Eindnick  werden  sie  auf  den  betreffenden 
Ziiigt-n  selbst  machen?  Wenn  er  einigerinar>en  ein  Bewußtsein  von 
>eineni  Dasein  hat  —  Stolz  oder  Erregbarkeit  brauchen  gar  nicht 
einmal  in  Hetracht  zu  kommen  — ,  so  wird  er  zum  wenigsten  inner- 
lich aufgebracht  sein  über  den  vom  Gericht  deutlich  genug  ausge- 
drückten Zweifel  über  die  Zuverlässigkeit  seiner  Aussagen.  Er 
kommt  in  eine  sehr  schlechte  Stimmung,  wird  trotzig  und  verstockt, 
seine  weheren  Aussagen  weiden  kaum  mehr  der  sachlichen  Anf- 
klirung  dienen;  er  wird  sdne  Aussagen  erheblich  einschriinken,  zn- 
rückhaltend  sein  nnd  stereotyp  aatwortoi:  «Ich  weiß  mcht" ;  —  »ich 
kann  mich  nicht  mehr  darauf  erinnern'^.  Um  hat  auch  im  Befchtold» 
Prozeß  erkannt,  daß  die  Begutachtung  des  Geisteszustandes  eines 
Zeugen  sicher  eine  „unbequeme  Belästigung**  involTiere^  daß  sie  ins- 
besondere ^die  Zeugnispflicht  erschwere*^  Wodurch  könnte  man 
die  erhebliche  Wirkung  eines  solchen  Vertabrens  hemmen?  Wenn 
sich  die  Richter  den  Besitz  der  notwendigen  psycholo- 
gischen Kriterien  aneigneten,  sa^^t  mit  Recht  v.  Schrenck- 
Xotzing"*).  Oder  glaubt  man,  daß  der  psychologische  Sachverstän- 
dige, der  auch  nur  wählend  der  regelmäßig  kurzen  Vernehmung  den 
Zeugen  beobachten  kann,  in  einer  besseren  Lage  sei  als  der  Richter, 
sich  ein  Urteil  über  die  Glaubwürdigkeit  des  Zeugen  zu  bilden?  Ein 

1)  A.  a.  Ü.     lUb.         2)  Ebenda,  iS.  109. 


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Zur  Psychologie  der  ZettgeoauMagen. 


209 


Richter  aber,  der  bei  zweifelhafter  Glaubwürdigkeit  von  Zeugen  erst 
vom  Sachverständigen  zu  erfahren  wünscht,  ob  man  ihnen  glauben 
könne,  bekennt  seine  Unwissenheit  oder  zum  wenip-sten  seine  Un- 
selbständigkeit im  psychologischen  Urteilen.  Die  persönliche  Erfahrung 
kann  die  hier  noch  bestehenden  Lücken  nicht  ausfüllen;  denn  auch 
die  Ps3'chologie  bat  ihr  System,  das  nicht  a  priori  erkannt  und  erfaßt 
werden  kann! 

Kommen  wir  wieder  zurück  auf  die  Zeugnispflicht.  Um  die 
jeweilige  Stimmung  eines  zu  vernehmenden  Zeugen  zu  erkennen,  ist 
€8  erforderlich,  zu  erforschen,  welche  Holle  er  bei  der  Sache  spielt, 
ob  er  Aber  indiffeieiite  oder  ftber  hdkk^  für  ihn  selbst  unangenehme 
Punkte  zn  vernebmen  ist,  ob  er  Freunden  oder  Femden  gegenüber- 
steht, femer  ob  er  sich  freiwillig  als  Zeuge  gemeldet  hat'),  ob  er 
zum  ersten  Male  als  Zeuge  vor  Gericht  steht^  ob  der  Eid  fttr  ihn  one 
beilige  oder  bloß  eine  formale,  leere  Sache  ist,  ob  sdion  Zwang  g^gen 
ihn  als  Zeugen  angewendet  werden  mnfite^,  n.  a.  m.  Unsere  Straf- 
prozeßordnung hat  zum  Teil  auf  solche  Umstände  Bftoksicht  ge- 
nommen; ich  verweise  besonders  auf  die  §$  51  und  52  (Zeugnisver- 
weigemngsrecht),  auf  §  54  (Auskunftsverweigerungsrecht),  auf  §§  56,  57 
(Unzulässigkeit  der  Beeidigung),  auf  §  64  (Gebrauch  gewisser,  durch 
die  Verschiedenheit  der  Konfessionen  bedingter  Beteueruogsformeln 
an  Stelle  des  Eides;  der  Zeuge  der  darauf  Oewidit  legt,  wird  die 
Beeidigung  nicht  für  gleichgültig  halten!),  ferner  auf  ij  07  fRcziehungen 
des  Zeugen  zu  dem  Beschuldigten  oder  \'erletztenj,  endlich  auf  §  6s, 
Abs.  2  (Erforschung  des  Grundes,  auf  welchem  die  Wissenschaft  des 
Zeugen  beruht;.  Rein  j)sychologi.sclie  Bedeutung  hat  der  letztgenannte 
Paragraph  sowie  §  26  1,  der  die  zeitweise  Entfernung  des  Angeklagten 
anrät,  wenn  zu  befürchten  ist,  dal)  ein  Mitangeklagter  oder  ein  Zeuge 
bei  seiner  Vernehmung  in  Gegenwart  des  Angeklagten  die  Wahrheit 
nicht  sagen  werde.  Es  sollte  sich  der  Kichter  nicht  bloß  die  Beach- 
tung der  streng  formellen  Gesetzesvorschriften  Qber  das  Verfahren  bei 
der  Zeogenvemehmnng  zur  Pflidit  machen,  sondern  auch  in  gleichem 
Maße  die  Beachtung  der  flbrigen  mehr  eine  psychologisch-richtige 
Behandlung  der.  Zeugen  bezweckenden  Gesetzesvorschriften. 

1)  Die  Sen^iatioMbefifferdo  spielt  nicht  selten  hier  mit,  wie  oben  edion  er' 
Wihnt,  nicht  minder  al)or  auch  <lic  Spekulation  auf  Zeiifreng^ebnhron. 

2i  Man  denkt-  z.  B.  auch  an  jenen  l  all,  iu  dem  ein  Zeuge  ein  eigenes  £ut- 
sthuldiguiigssclireibeii  vor  dem  Üericlitsgebäudo  emem  Dienstmanno  flboiigab,  da- 
mit dieser  es  dem  Vorsitssenden  bei  der  Geriehtsveriiaiidlaiig  anshXndig«,  wonuif 
aber  der  Zeuge  sofort  sistieit  wiinlo.  In  welcher  Gemui!*8timmuu;?  wird  er 
ankommen?  Wie  wird  die  Zuredestoliung  durch  den  Vorsitzeaden  wirkent 
Arahlr  lOr  JCilniiiuilaiithiopologi«.  Xill.  14 


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210 


VL  SCHKSICKEn 


Es  kann  aber  auch  vorkonmien,  daß  die  Go<::en\v{irt  eines  bereits 
vernoninienen  Zeugen  einen  andern  erst  zu  vornelnnenden  Zeug:en 
befanjsen  niaclit,  oder  dal»  dieser  durcli  jenen  in  irgendwelclier  Weise 
direkt  sug:geriert  wird  (z.  B.  durcii  Blicke,  Winke,  Dazwischen- 
reden usw.).  liier  ist  also  eine  besondere  X'orsicht  geboten.  Auch 
gibt  der  §  247  St.-P.-O.  dem  Richter  Gelegenheit,  den  etira  in  I^age 
kommenden  verdächtigen  Zeugen  w&brend  der  Vemehninng  des 
anderan  ans  dem  Geriobtasaal  abtraten  zu  lassen,  nm  jede  Beein-  * 
flnssnng  von  selten  des  verdächtigen  Zeugen  hintanzuhalten.  Die 
vorübergehende  Entfernung  eines  Zeugen,  über  dessen  Geisteszustand 
oder  Glaubwttidigkeit  Sachverständige  oder  Zeugen  zu  vernehmen 
sind,  wird  nur  vorteilhaft  sein  können  im  Hinblick  auf  unsere 
firfiher  schon  erwähnten  Bedenken  über  die  Iksehwerung  der  Zeugnis- 
pflicht 

Dali  die  Art  des  richterlichen  \' erhörs  sehr  stimmun^- 
erzeugend  sein  kann,  hat  ein  Fall  im  Berchtold>Prozeß  geh  hrt.  Ein 
Zeuge  wurde  auf  seinen  Eid  gefragt,  ob  er  nicht  etwa  durch  die 
Zeitung  beeinflußt  sei  in  seinen  Aussagen,  worauf  er  in  g:r die  Ver- 
legenheit j?eriet,  so  dab  der  Sachverständijre  v.  Sehrenek- 
Xotzin^r  den  Eindruck  gewann,  der  Mann  würde  anders  aus^'esatjt 
und  die  Widers))rüche  in  seinen  Angaben  auf^ekhirt  hal)en,  wenn  ihn 
nicht  die  Furclit  vor  dem  Meineid  abgehalten  hätte,  seine  unter  Eid 
abge^'^ebenen  Angaben  noch  einmal  zu  modifizieren.  Es  war  dies 
einer  jener  Momente  im  Prozesse,  wie  der  genannte  Saeh verständigte 
sagt'),  in  welehem  die  suggestive  Gewalt,  des  richterlichen 
Verhörs  zur  Geltung  kam. 

Der  §  252,  Abs.  2  St.-P.  O.  bietet  dem  Richter  die  Gelegenheit, 
Widersprüche  in  den  Aussagen  der  Zeugen  festzustellen.  Wenn  dies 
geschieht,  dann  darf  die  dadurch  erzeugte  Wirkung  (Stimmung)  nidit 
Übersehen  werden;  es  mu0  in  zurückhaltender  Weise  die  Ursache  des 
Widerspmdies  erforscht  werden,  wenn  derselbe  gehoben  werden  soll 
Denn  leicht  kann  es  vorkommen,  daß  dem  Zeugen  das  Gespenst 
einea  Meineidsverfahrens  vor  Augen  tritt,  ohne  daß  ihm  dies  —  und  zwar 
meistens  unnötigerweise  —  auch  noch  in  schwarzen  IMen  ausgemalt 
wurd.  Der  Zeuge  wird  dadurch  seine  ruhige  Gemütsstimmung  ver- 
lieren, was  dem  weiteren  Verliür,  insbesondere  der  Aufklärung  des 
Widerspruches,  gewiß  nicht  föiderlicb  ist.  Man  ertappt  ihn  vielleicht 
auf  einer  unbewußten  Erinnerungsfälschung  und  macht  ihm 
dann  ungerechte  Vorwürfe,  die  in  dem  Zeugen  eine  heillose  Ver- 


1)  A.  a.  0.  S.  100. 


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Zar  Pftydiologie  der  Zeugenannagen. 


211 


wirrung  anrichten.  Daher  ist  hier,  wenn  überhaupt  nur  eine  psycho- 
logische Erforschung  des  Widerspruches  ratsam. 

3,  Schließlich  können  auch  noch  andere,  mehr  unvorher^a'sehone 
Umstände  nachteilig  auf  die  Stimmung  eines  Zeugen  einwirken,  z.  B. 
ein  ordnungswidriges  Verhalten  eines  Zuhörers,  eines  Zeugen,  des  An- 
*  geklagten  ,  Angriffe  desselben  auf  die  Richter,  Fesselung  des  Ange- 
klagten, aufregende  Auseinandersetzungen  zwischen  Verteidiger  und 
Staatsanwalt  und  zwischen  anderen  l>eteil igten,  sofortige  Verhaftung 
eines  Zeugen  wegen  Eidesverletzung  u.  a.  m.  Solche  aufregende 
Szenen  im  Gericbtssaal  dürfen  bei  der  nachträglichen  Vernehmung 
▼OB  hierbei  anwesend  gewesenen  Zeugen  nicht  unbeachtet  bleiben. 

Die  bewußte  nnd  unbewußte  Beeinflussung  Ton  Zeugen  im  und 
außerhalb  des  Gerichtflsaalea  ist,  man  kann  fsat  sagen  ebenso  mSchtig 
als  Terkannt  Es  sind  kerne  theoretischen  BatschJäge,  die  hier  zu 
geben  versucht  wurden;  es  ist  alles  vorhanden,  nur  sieht  man  es 
nicht,  es  ist  anf  vieles  schon  aufmerksam  gemacht  worden,  nur  be- 
achtet man  es  nicfat^  wenn  es  nOtig  würe^  nur  schwer  will  man  sich 
belehren  lassen.  Wenn  auch  filtere  Jurisfeen  anf  ihrem  ans  Erfahrungen 
gebildeten  ^System"  der  Zeugenvernehmung  beharren  zu  mfissen 
glauben,  so  soll  das  keineswegs  die  jüngeren  Juristen  abhalten,  durch 
das  Studium  der  Kriminalpaychologie  rechtzeitig  dafür  Sorge  zu 
tragen,  daß  sie  wenigstens  von  den  ihnen  drohenden  schlimmejn 
Erfahrungen  möglichst  verschont  bleiben.  Der  Vorwurf  der  Ver- 
nachlässigung psychologischer  Studien  geschieht  in  wohlmeinender 
Absicht. 


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VII. 

Internationale  kriminaliBtische  Vereinignng. 

Berieht  Aber  die  9.  LandesTersammlung  der  Landes- 

grnppe  Dentsehes  Beioh. 

StutMUlwalt  Dr.  WolAm  In  Dresden. 

Die  Landesgrappe  Deutsches  Reiob  der  Intemationaleii  krimina- 
lisHschen  Vereinigung  bat  in  den  Tagen  vom  4.  bis  6.  Juni  1903  sa 
Dresden  ihre  neunte  Landesversammlnng  abgebalten.  In  dem  groO^ 
Saale  des  städtischen  Ausstellungspalastes,  in  dessen  Käunien  gleich- 
zeitig die  große  deutsche  Städteausstellung  stattfand,  erfolgte  am 
5.  Juni  unter  dem  Vorsitze  des  Unterstaatssekretärs  z.  D.  Professor 
Dr.  von  Mayr- München  die  offizielle  Eröffnung.  Zur  Versamm- 
iungsleitunjj:  wurden  auf  Antrag  Dr.  von  Liszts  gewählt  die  Herren 
ünterstaatssckritär  Professor  Dr.  von  Mayr  als  Vorsitzender,  Ge- 
heimer Eat  (leneralstaatsanwalt  Ge Ii  1er- Dresden  als  stellvertretender 
Vorsitzender,  Oberjustizrat  Oberlandesgerichtsrat  Bau mbach- Dresden 
als  Beisitzer,  Professor  Dr.  Ileim berger- Bonn,  Landgerichts- 
direktor Dr.  Beoker-Diesden  und  Steatoanwalt  Dr.  Dilrb ig- Dres- 
den alB  Scbriftftthrer.  Als  offizielle  Vertreter  hatten  am  VorBtanda- 
tische  Platz  genommen  die  Herren  Staatsminister  Dr.  Otto,  £ue|leas 
(königlich  aSohBisohes  Jnetizministieiinm),  Geheimer  Oberregiemngsnt 
Dr.  von  Tischen dorf  (Beiehegnstizamt),  AdminditStsrat  Professor 
Dr.  Edbner  nnd  Oberrichter  Ziegler  (Answfirtiges  Amt,  Kolonialab- 
teilnng),  Wirklicher  AdmiralitStsrat  Dr.  Feilsch  (Reich smarineamtji, 
Ministerialrat  Zindel  (wttrttemb^rgisches  Justizministerium) ,  Be- 
gieningsrat  Dr.  von  Engelberg  (badisches  Justizministerium), 
Ministerialrat  Stadler  (Landesverwaltung  von  Elsaß -Lothringen)» 
Senator  Hertz  (Hamburg)  und  Bürgermeister  Hetschel  (Dresden). 

Nach  einleitenden  Begrüßungsworten  seitens  des  Vorsitzenden, 
welche  insbesondere  auch  den  ausländischen,  den  österreichischen  und 
russischen  Freunden  galten,  hielt  der  sächsische  Justizminister  Dr.  Otto 


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Intenuttloiiale  loiiiinaliBtiBdie  Verdnigniig. 


218 


eine  warm  empfundene,  allseitig  mit  freudigem  Dank  aufgenommene 
Ansprache.  Der  Minister  hieß  die  Versammelten  im  Namen  der 
königlich  sächsisclion  Regierung  von  Herzen  willkoniraen,  hob  her\  or 
daß  Se.  Majestät  König  Georg  von  Sachsen  die  Verhandlungen  mit 
lebhaftem  Interesse  verfolge  und  es  sich  nicht  versagen  werde,  einige 
Herren  des  Vorstandes  in  Person  zu  empfangen,  und  gab  dt^ni  Wunsclie 
Ausdruck,  daß  die  diesmalige  Tagung  eine  reiche  und  innige  Ver- 
bindung und  Verschmelzung  auch  mit  den  kriminalistischen  Praktikern 
Sachsens  zur  Folge  haben  möchte.  „Klar  vor  aller  Augen  —  fuhr 
der  Minister  fort  —  li^;^  Ihre  Bestrebungen.  Sie  sind  eminent 
praktischer  Ait|  sU  sind  die  edelttoiii  die  besten,  die  es 
geben  kann.  Sie  woUea  nieht  nur  die  Yeibreeheriaelie  Tat  sOhnen 
nnd  das  Vobreehen  und  den  Verbreeber  bek&mpfen,  Sie  wdleo  den 
Verbieeber  in  seiner  nieig«iiatai  PeisOnliehkeit  Terstaadea  nnd  dem* 
naeh  bebandelt  wissen,  Sie  wollen  ibn  sngleieh  wmhhsltigeg  nnd 
siebeier  als  bisher  bessern  nnd  snreebt  lenken  nnd  Sie  wollen  mit 
verstSikten  Mitteln  TOiben^d  wirken  znr  Bekimpfang  des  Ver- 
breohenSk'^  Und  die  SchluBworte  des  Ministers  lauteten:  ^Ihren 
Tagungen  bleibt  es  vorbehalten,  immer  mehr  die  festen  Konturen  und 
die  allgemein  gefälligen  Linien  heraassuaibeiteny  die  wir  bnoohen, 
um  die  Herzen  Ittr  Ihre  Bestrebnngoi  zu  gewinneUi  denn  es  ist  in 
Wahrheit  eine  Herzenssache,  für  die  Sie  arbeiten.  Auch 
Hire  Tagung  in  Dresden  —  davon  bin  ich  überzeugt  —  wird  einen 
bedeutsamen  Schritt  darstellen  auf  der  Bahn,  die  Sie  sich  gesteckt 
haben,  und  ich  wiinsohe  Ihnen  im  voraus  dazu  Glück.  Möge  die 
Tagung  von  dem  Insten  (it-lingen  begleitet  sein  zum  Segen  für  die 
gute  Sache,  für  die  Sie  kämpfen,  zugleich  zum  Heile  für  unser  ge- 
feiertes deutsches  Vaterland."  Der  Geheime  Oberregierungsrat  Dr.  von 
Tisch endorf  überbrachte  die  (iriilk^  und  Wünsche  des  Reichsjustiz- 
amtes, welches  den  Bestrebungen  der  Kriminalistischen  Vereinigung, 
vor  allen  den  aktuellen  Fragen  des  Strafrechts,  des  Strafprozesses 
nnd  Strafvollzugs,  das  größte  Interesse  entgegenbringe.  Er  kOnne  mit- 
teDen,  daß  dank  der  freiwilligen  Mitarbeit  der  Wissensohaft,  nament- 
lieh  anf  den  Kongressen  der  Kriminalistiseben  Veieinigang,  es  mOg- 
Heb  .gewesen  sei,  die  TorwSitssehreitenden  Vorarbeiten  für  eine 
Eeform  des  Stialgesetses  anf  dne  mOgliehst  breite  Basis  zn  stellen. 
Deshalb  wünsche  er  andi  den  diesmaligen  Verbandhmgen  des  Kon- 
gresses den  gltteklichsten  Yeriaaf  t 

Nachdem  aaeh  die  übrigm  offiziellen  Vertreter  sich  ihrer  Anf- 
trSge  nnd  Wünsche  entledigt  hatten,  warde  in  die  Verhandlungen  ein- 
getreten. Zn  dem  eisten  Thema  „Die  Beform  der  Vornnter- 


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2U 


Vn,  WCLFPBir 


suchung"'  erfrriff  zunächst  Hof  rat  Trofcssor  Dr.  Zucker  aus 
Prap  das  Wort  und  führte  im  wt-suntliclien  folgendes  aus: 

Das  Straf \  erfahren  bedarf  einer  dem  Stadium  des  Erkenntnisver- 
fahrens vorangehenden,  vorliereitenden  Prozelitätigkeit,  welche  sich 
ihrem  Wesen  nacli  j^tets  anders  zu  gestaUen  haben  wird  als  das  der 
Urteilsfällung  unmittelbar  zugrunde  liegende  Verfahren.  In  letzterem 
wird  das  kontentiöse  Moment  hervortreten,  in  ersterem  dagegen  der 
einseitigeii  Pürtdtätigkeit  ein  giOßerar  Spielraiim  zu  gewähren  sein. 
Dieser  genügt  die  WahnefaeiDlichkett  des  kllDftigeii  Erfolges,  sie  be- 
darf einee  lascheii  eneigiBcheD  VorgeheDB,  ihr  dfirfen  nicht  jene 
HinderaiBse  in  den  Weg  gelegt  werden,  wie  sie  in  der  kontentiOsen 
Gestaltung  des  Verfahrens  von  Nainr  ans  liegen  mfissoi.  Wir 
kennen  daher  nur  jenes  Proseßsystem  billigen,  das  die 
vorbereitende  Sammlung  des  ProzeOmaterials  Yollstftndig 
in  die  Hände  des  öffentlichen  Anklägers  legt 

Die  Notwendigkeit  der  gericbtlichen  Voruntersuchung  wird  in  der 
Hanptsacbe  aus  folgenden  Gründen  verteidigt.  Dem  Gerichte  soll  die 
Sammlung  des  Prozeßstoffes  Uberantwortet  bleiben,  nm  eine  zuYer- 
ISssige  Grundlage  für  die  Ilauptverhandlung  zu  gewinnen.  Aber  je 
gründlicher  und  ausführlicher  das  Vorverfahren  durch irefiihrt  wird, 
desto  natürlicher  ist  es,  daß  sich  der  die  Hauptverhandlung  leitende 
Richter  über  den  Straffall  informiert  und  sich  schon  vor  der  Haupt- 
verhandlung seine  Meinung  über  die  Entscheidung  aus  den  Akten 
bildet.  Die  Findung  eines  gerechten  Urteils  wird  unter  der  Leitung 
eines  solchergestalt  beeinflußten  N'orsitzenden  erfahrungsgemäl)  nicht 
verbürgt.  Auch  dadurch  w^rd  die  Objektivität  des  erkennenden  Ge- 
richtes gefährdet,  daß  es  eine  ^richterliche"  Untersuchung  ist,  über 
deren  Ergebnisse  es  zu  befinden  hat  Sobald  die  üntersuchung  von 
der  AnklagebebSrde  durchgeführt  würde,  wird  das  Gericht  seine  volle 
Freiheit  der  Beurteilung  sn  wahren  wissen. 

Weiter  behauptet  man,  daß  die  durch  den  Bichter  geführte  Unte^ 
sudiung  die  Berüeksichtignng  der  den  Beschuldigten  entlastraden 
Momente  rerbfirge,  während  eine  solche  Bedaehtnahme  ?on  der 
parteimäßigen,  untersuchenden  Tätigkeit  des  Staatsanwaltes  nicht  zu 
erwarten  aeL  Hierbei  veigilH  man  aber,  daß  der  Untersuchungsrichter 
nur  den  Namen  des  Richters  trägt,  vielleicht  die  hierarchische  Stellung 
eines  solchen  bat,  aber  seiner  Wirksamkeit  nach  kein  Bichter  ist,  weil 
das  Suchen  und  Sammeln  des  Prozeßstoffes  in  einem  natürlichen  und 
offenen  Gegensatze  zur  Entscheidung  über  eine  Strafsache  steht.  Der 
Untersuchungsrichter  als  solcher  ist  ein  Organ  der  staatlichen  Ver- 
folgung. Er  wird  oft  sogar  minder  geneigt  sein,  den  entlastenden 


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Int^nationale  krlminalistiaehe  Vereinigniig. 


215 


Momenten  nachzufrehen,  als  der  Staatsanwalt,  weil  zwar  diesen),  nicht 
aber  jt  nem  das  schließliche  Schicksal  der  Anklajre  am  Herzen  liep^n 
null».  Zu  dem  Irrtum,  dal»  im  vorbereitenden  \'erfahren  nur  die  i;e- 
richtliche  Voruntersucliuiiir  das  Gleich*:;ewielit  zwischen  Verfolj^un;;- 
und  Verteidifrunir  her/.ustellen  vermajs:,  hat  (»ffenliar  eine  verfehlte  An- 
schauung' des  en^'lischen  Rechtes  nicht  unwesentlich  bei^elraj^en. 

Das  Hauptgewicht  legen  die  Verteidiger  der  gerichtlichen  ,Vor- 
untersucliung  auf  den  durch  dieselbe  dem  liesehuldigten  zu  gewähren- 
den Schutz  vor  Zwangsmaßregeln,  wie  der  Verhaftiing,  der  Personal- 
md  Hausdofchmichiing,  der  Beschlagnahme  vsw.  Aber  ans  der  Not. 
wendigkeit  eines  angemessenen  Schutzes  des  Beschuldigten  gegen  den 
Mißbrauch  der  erwähnten  Zwangsmaßregeln  folgt  nicht,  daß  die 
Unterauchung  selbst  in  die  Hand  des  Bichters  gelegt  werden  mttsse. 
Der  üntereuchungsrichter  ist  ja  selbst  Organ  der  staatlichen  Yer- 
f olgongy  er  erlXßt  den  Haftbefehl  und  ordnet  Zwangsmaßregeln  in  dieser 
Eigenschafti  also  als  Partei,  an.  Im  Uotereuchungsrichter  geht  der 
„Richter"^  allzumeist  im  nÜntersuchenden*^  auf.  Die  verfehlte  An- 
schauung, daß  zur  Verhängung  einer  längeren  Untersuchungshaft  der 
Regel  nach  nur  der  Untersuchungsrichter  berufen  sein  könnCi  hat 
einen  Zusanjmenhang  zwischen  gerichtlicher  Untersuchungf  und  unge- 
bührlicher Ausdehnung  der  Untersuchungshaft  gesch.affen.  Eine 
richterliche  Untersuchung  begründet  übrigens  nach  der  Volksmeinung 
im  Gegensatze  zu  dem  Parteivorgehen  des  Staatsanwaltos  allzuleicht 
einen  bleibenden  Makel  für  dm  Beschuldigten,  der  oft  auch  durch 
eine  spätere  Freisprechung  nicht  v<"»llig  getilgt  zu  werden  vermag. 
Man  ist  geneigt,  eine  derartige  richterliche  Untersuchung  als  einen 
bereits  erbrachten  ScIuiUilteweis  anzusehen. 

Endlich  wird  zugunsten  der  gerichtlichen  Voruntersuchung 
geltend  gemacht,  dal)  man  derselben  bei  verwickelten  Straffällen  be- 
nötigt, um  das  Geschehene  hinreichend  und  geordnet  au&uklfiren. 
Es  seheint  uns  aber,  als  ob  bloße  Rttcksichten  auf  die  Bequemlichkeit, 
auf  den  Hangel  geeigneter  HiUskiSfte  usw.  den  Staatsanwalt  in  solchen 
FSllen  zu  bestimmen  pflegen,  Vomntefsncbung  zu  beantrsgen.  Aus 
derartigen  OpportnnitSlsrQcksichten  kann  aber  du  Qmnd  für  die  Anf- 
rechterhaltnng  der  gerichtlichen  Voruntersuchung  nicht  hergeleitet 
werden. 

Wir  treten  also  für  vollständige  Beseitigung  der  gerichtlichen  Vor- 
untersuchung ein,  weil  sie  im  Widerspruch  zu  der  bereits  sonst  so 
vielfach  sanktionierten  Anklagefonn  des  Strafverfahrens  steht,  fUr  die 
Zwecke  desselben  vollkommen  entbehrlich  und  der  weiteren  rationdien 
Entwicklung  des  modernen  Strafprozesses  hinderlich  ist.  In  diesem 


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216 


VIL  Wuimn 


Sinne  entwickilt  sich  auch,  besondere  in  Österrcicli  und  in  Deutscii- 
land,  die  l'raxis.  Die  Zahl  der  {gerichtlichen  Vorumersuchun<j;en  geht 
nach  der  Statistik  rasch  und  entschieden  zurück.  Diese  Tendenz 
wild  auch  im  Königreiche  Sttobaen  von  der  JuBtizverwaltang  gefördert, 
welche  in  der  Geeehälksordnnng  fOr  ihze  Behöiden  ansfilhrt,  der 
Staatsanwalt  habe  grundsätzlich  davon  ausKugehen,  dafi  eine  Vo^ 
untenuchnng  sn  vermeideni  vielmehr  der  Beweuiatol{  von  ihm  selbst 
zu  sammeln  sei.  Mit  der  allmählichen  Verdrängung  der  gerichtlichen 
VoronterBttchnng  in  der  Prazia  kann  man  sich  aber  nicht  lofkieden 
geben.  Es  bedarf  einer  neuen  Regelung  des  vorbereitenden  VerfabrenSi 
das  sich  nach  Ansicht  des  fieferenten  folgendennaßen  zn  gestalten 
hätte. 

Zunächst  haben  die  Polizei-  und  Sicherheitsbehörden  in  Tätigkeit 
zu  treten.  Die  strafprozessualen  Befugnisse  dieser  Or^ne  müssen 
zum  Schutze  des  Beschuldi'rten  und  zur  Wahnmg  der  Interessen  der 
.Strafverfolgung^  im  Prozeligesetze  selbst  ausgestaltet  und  normiert 
werden.  Bei  der  Sammlung  der  Beweis«'  ist  die  Sicherheitspolizei 
iiaturgemäi)  bei  Jedwedem  N  orfalle  allen  übrigen  Organen  voran  zu- 
nüelist  zur  Hand.  Unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  des  Geschehenen 
ist  der  Verdächtige  am  ehesten  geneigt,  freiwillige  (Jeständnisse  abzu- 
legen. Solange  der  Zeuge  vou  der  Wahrnehmung  anderer  nicht 
unterrichtet  ist,  wird  er  seine  Aussagen  unbefangen  erstatten.  Auch 
die  Einnahme  des  Augenscheins,  die  nicht  zeitig  genug  erfolgen  kann, 
sollte  den  Polizeibebörden  gestattet  werden.  Die  Verpflichtung,  der 
nachforschenden  Sicherheitil)eh8rde  wahrheitsgemäße  Anakflnfle  zu 
erteilen,  muß  strafrechtliche  Hegelung  erfohren.  Die  AuMchnungen 
der  Polizei  sollen  aber  nicht  als  beweiswirkcod  gdten,  sondern  nur 
den  Zweck  haben,  den  Staatsanwalt  zu  informieren. 

In  kleineren  und  sich  einfach  gestaltenden  StraffiUlen  wird  man 
«ch  hinsichtlich  der  Entscheidung,  ob  die  Einstellnng  des  Verfahrens 
oder  die  Erbebung  der  Anklage  zn  erfolgen  habe,  mit  den  von  der 
Sicherbeitsbehöide  gesammelten  Beweisen  beschdden  können.  In 
schwereren  und  verwickeiteren  BUlen  wird  der  Staatsanwalt  eintreten, 
•der  natürlich  jede  üntersachung  sofort  an  sich  ziehen  kann.  Audi 
seinen  Aufzeiclinungen  kann  keine  Beweiskraft  beigemessen  werden. 
Will  er  sich  einen  Beweis  für  das  Haupt  verfahren  sichern,  so  wird  er 
um  dessen  Erhebung  den  örtlich  zuständigen  Richter  ersuchen  Der 
^ersuchte"  Kicliter  ist  ohjcktiver  als  der  „untersuchende"  Richter,  weil 
ar  nicht,  wie  dieser,  Partei  ist.  Ob  die  Verfolgung  einzustellen  oder 
Anklage  zu  erbeben  st  i,  s(»ll  der  Staatsanwalt  nur  auf  (Irund  von  ihm 
.selbst  gewonueuer  Anschauung  und  Überzeugung  vou  der  Sacblage, 


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Internationale  krinrinaUstisclie  Vereiniganff. 


217 


nicht  aber,  wie  gerade  bei  schwereren  Delikten  in  dem  gegenwärtigen 
Verfahren,  nach  den  von  anderen  Organen  vorgenommenen  Aufzeich- 
nungen entscheiden.  Deshalb  legen  wir  'auch  die  Anwendung  der 
prozessuaKn  Znani^sinittel,  wie  der  Durchsuchung,  Beschlagnahme 
und  der  Verhaftung,  unliedenklich  in  die  Hand  des  Staatsanwalts. 
Wir  wünschen  aber,  daß  jede  solche  Zwangsmulkegel  einer  unbe- 
fangenen richterlichen  Prüfung,  die  auf  Verlangen  des  Betroffenen 
sofort  zu  erfolgen  liat,  unterworfen  werde.  Endlich  wird  die  gesetz- 
lich festzulegende  stautliche  Entschädigungspflicht  bei  Mißgriffen  dem 
Staatsanwait  ziffemmäijig  nahelegen,  nicht  über  das  Ziel  zu  schießen, 
ohne  daß  die  Besoignis  anfimtanobea  braucht»  die  Steatokaaae  werde 
auf  dieaem  Wege  zu  sehr  in  Anspruch  genommen  werden. 

Oegenttber  dieser  freieren  Stellung  des  Staatsanwalts  mflssen  aber 
auch  die  Rechte  des  VerleidigenB  im  Vorrerfahien  neu  normiert 
werden.  Für  ein  staatliches  Verteidigungsamt  und  eine  Kooperation 
des  Verteidigers  in  kontradiktorischer  Vomntersuchang  können  wir 
nicht  l  intreten.  Aber  dem  Beschuldigten  muß  freistehen,  sofort  einen 
Verteidiger  anzunehmen,  der  zu  seiner  Information  den  Besohnldigten, 
Zeugen  und  Sachventftndige  hören  und  einen  Augenschein  einnehmeD, 
auch  die  Erhebung  von  Beweisen  für  die  Ilauptverhandlung  bean- 
tragen darf.  Hierbei  müssen  sich  allerdings  die  Verteidiger  ihres 
wahren  Berufes  bewußt  sein  und  unlauterer  Machenschaften  streng 
enthalten.  Endlich  gebührt  dem  Staatsanwalt  auch  das  Dispositions- 
recht über  die  eingeleitete  Verfolgung  und  die  Befugnis  zur  Erhebung 
der  Anklage.  Das  heutige  Verfahren  ist  in  sich  widerspruchsvoll 
und  nicht  zweckniiilug.  Weiß  der  Staatsanwalt,  daß  seine  Anklage 
noch  vor  der  IIauj)tverhuiullung  eine  ricliterliche  Bestätigung  zu  finden 
hat,  so  wird  er  dieselbe  unbedenklich  erheben,  und  andererseits  nimmt 
wieder  erfahrungsgemäl)  auch  das  Gericht  raeist  keinen  Anstand, 
einem  solchen  Antrag  des  Staatsanwalts  Folge  zu  geben.  Bei  einer 
solchen  wechselseitigen  Zusdhiebnng  der  Verantwortung  ist  l&r  das 
Interesse  des  Beschuldigten  nicht  gut  gesorgt.  Gegen  die  Anklage 
des  Staatsanwaltes  könnte  ja  auch  ein  Bechtsmiltel  für  zulfissig  er- 
klärt werden. 

Professor  W.  Hittermaier-Giefien,  welcher  fOr  den  ur- 
sprunglich in  Aussicht  genommenen  Plofessor  Rosenfeld-Mfinster 
als  zweiter  Referent  eintrat,  wttnscht  die  gerichtliche  Voruntersuchung 
in  der  Hauptsache  aus  den  nämlichen  Gründen  wie  sein  Vorredner 

beseitigt  zu  sehen.  Er  ergänzt  in  dieser  Beziehung  die  Ausführungen 
desselben  in  einzelnen  Punkten.  Auch  hinsichtlich  der  übrigen  Postu- 
late,  Disposition  des  Staatsanwalts  Uber  die  AnkhigCi  freie  Stellung 


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218 


VU.  WULFFEK 


der  Verteidiger,  Mitwirkung  der  Polizeibehörde  im  vorbereitenden  Ver- 
fahren, stimmen  beide  Referenten  überein.  Bei  der  praktischen  Aus« 
gestaltung  des  künftigen  Verfahrens  befOrwortet  Mittermaiery  daß 
möglichst  bald  das  Yerfabien  vor  dem  urteileaden  Gerichte  erOfbiet 
werde.  Eb  nicht  nötig,  daß  wir  stets  eine  ununterbrochene  Haupt- 
Verhandlung  haben.  Er  halte  eine  unterbrochene  Hauptrerhandluog 
mit  frischem  Beweismaterial  vor  dem  erkennenden  Gerichte  für  wert- 
Yoller  als  eine  schdn  sugerOstete,  nach  langer  Dauer  mit  wohl  yor- 
bereiteteni  Zeugennmterial  ununterbrochen  abgehaltene.  Stelle  sich 
vor  Gericht  herauSi  daß  langwierige  Untersuchungen  nötig  seien,  sowie 
immer  dann,  wenn  der  Bosohuldigte  damit  einverstaiiden  sei,  könne 
ein  Voruntersucbungsrichter  eingesetzt  werden,  vor  dem  eine  kontra« 
diktorische  Verhandlung  stattfinde,  aber  nicht  im  Sinne  des 
heutigen  französischen  Hechts,  sondern  derart,  dah  die  Parteien  die  Be- 
weismittel beibringen  und  nur  vor  dem  Untersuchungsrichter,  ähnlich 
wie  bei  ih  m  vorbereitenden  Verfahrrn  im  Zivilprozesse,  zusammen- 
tragen. Unsere  Ilauptverhandlung  müsse  <|tMi  iiiodt-nu/ii  (irundsätzen 
der  Mündlichkeit,  Unmittelbarkeit  und  rarteienmitvvirkuni,'  melir,  als 
dies  bisher  der  Fall  sei,  angepaßt  werden,  dann  könne  das  Vorver- 
fahren ohne  Schwierigkeit  seine  natürliche  Gestaltung  erhalten.  Nicht 
ganz  eiufaeh  sei  die  Sache,  soweit  in  der  liauptverhandlung  Nicht- 
Berufsrichtcr  mitwirken.  Führe  man  überall  Schöffengerichte  ein,  so 
werde  es  wohl  möglich  sein,  dieselben  Schöffen  auch  ffir  eine  zweite 
und  dritte  Sitzung  zu  gewinnen.  Hinsichtlich  cter  TOr  die  Geschwo- 
renen zu  bringenden  StraffUle  schlage  er  selbst  eine  eingehende  Vor- 
bereitung unter  Gerichtsmitwirkung  vor. 

Professor  Mittermaier  stellt  zum  Schluß  folgende  Thesen  auf: 

1.  Die  Sammlung  des  Prozeßmaterials  und  die  Erhebung  der  An- 
klage sind  dem  Ankläger  selbständig  zu  überlassen;  die  Mitwirkung 
des  Bichters  hat  sich  im  Laufe  des  Vorverfahrens  auf  die  Feststellung 
jener  Beweise,  die  in  der  Hauptverhandluiiii;  nicht  wiederholt  werden 
können,  auf  die  Bestätigung  der  Zwangsmaliregeln,  sowie  nach  Antrag 
des  Beschuldigten  auf  die  Prüfung  der  etwa  erhobenen  Anklage  zu 
beschränken. 

2.  Eine  gerichtliche  Vonintersuchung  kann  in  Fällen  ndt  be- 
sonders ausgedehnten  Feststellungen  vom  Staatsanwalt  oder  dem  Be- 
schuldigten beantragt  werden.  Hier  ist  der  Verteidigung  volles  Mit- 
wirkungsrecht zu  sichern. 

3.  Die  Mündlichkeit  der  Sorge  für  die  Verteidigung  muli  in  erster 
Linie  dem  Beschuldigten  selbst  zugesichert  und  bei  seiner  Verhaftung 
voll  gewährleistet  werden. 


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Internationale  krimlnalfotiacfae  Verdnlgung.  219 


4.  Der  Verteidi^^un^^  ist  im  Vorverfahren  zur  BeweiBsammlun^ 
polizeiliche  und  ricliterliche  Hilfe  zur  Verfügung  zu  stellen.  Die  Fälle 
der  notwendigen  Verteidigung  sind  bedeutend  auszudehnen;  ihr  Ein- 
tritt ist  sclion  für  das  Vorverfuhren  zu  sichern. 

Der  Korreferent  LandgerichtsratKulemann-Rr annschweig 
stellte  sich  zu  den  Referenten  folgendermaßen.  Die  Keforin  der  Vor- 
untersuchung, führte  er  aus,  ist  schon  im  vorigen  Jahr  in  Barmen 
(iegenstand  unserer  Beratungen  gewesen;  wir  hahen  uns  aber  über- 
zeugt, daß  der  Stoff  in  mehrere  Teile  zerlegt  werden  müsse.  Deshalb 
ist  das  Thema  nochmals  auf  die  Tiigesordnung  gesetzt  worden. 
Zucker  will  die  zu  beseitigende  Voruntersuchung  mit  dem  Yorbe- 
reitenden  Verfiahren  Tersehmelzen,  Hitter maier  schlfigt  vot,  ihre 
Aufgaben  anf  das  Hauptverfabren  zu  übemehmeD.  Idi  billige  die 
Tendenz  anf  Abkflrznng  des  YerfabrenB.  halte  aber  an  der  Kontinuität 
der  Hauptverhandlnng  fest  Bd  der  Uberlastnng  des  Staatsanwalts 
mit  zum  Teil  minderwertigen  GesebSften  ist  es  richtiger,  die  Unter- 
suehnngen,  die  wegen  ihrer  Schwierigkeit  die  konzentrierte  Arbeit  eines 
nur  für  sie  yerantwortUchen  Mannes  fordern,  einem  besonderen  ünter- 
suchungsbearoten  zu  überweisen.  Die  Hauptfrage,  ob  die  Vorunter- 
suchung beizubehalten  oder  aufzuheben  sei,  kann  meiner  Meinung 
nach  nicht  eher  beantwortet  werden,  als  bis  man  sich  über  die  Ge- 
stalty  die  man  ihr  eventuell  geben  will,  geeinigt  hat  Die  gerichtliche 
Voruntersuchung,  dies  macht  man  ihr  zum  Vorwurf,  sei  von  den  drei 
großen  Grundsätzen  des  modernen  Verfahrens:  Öffentlichkeit,  Münd- 
lichkeit und  Anklageform  unberührt  geblieben.  Die  Frage,  ob  man 
diese  Prinzipien  auch  auf  die  Voruntersuchung  übertragen  solle,  scheint 
mir  deshalb  zunächst  gelöst  werden  zu  müssen,  und  deshalb  schlage 
ich  vor,  sich  heute  auf  sie  zu  beschränken.  I  ber  Öffentlichkeit, 
Mündlichkeit  und  Anklageprinzip  in  Anwendung  auf  die  Vorunter- 
suchung beziehe  ich  mich  auf  meinen  Banner  Vortrag.  Heute  be- 
schränke ich  mich  darauf,  den  Hauptinhalt  meiner  Ausführungen  in 
einigen  Leitsätzen  niederzulegen. 

L  Öffentlichkeit 

1.  Von  der  Mitwirkung  der  Berölkerung  an  der  Entdeckung  einer 
Straftat  ist  im  allgemenien  eme  Förderung  des  Untersuchungszweckes 
zu  erwarten.  Deshalb  ist  die  Beschritnkung  anf  die  bloße  Partei- 
Qffentlichkeit  zu  verwerfen. 

2.  Das  onzige  gegen  die  Öffentlichkeit  zu  erhebende  Bedenken 
besteht  in  der  Kenntnisnahme  des  Untersnchungsmaterials  durch  den 
Angeklagten  und  die  ihm  nahestehenden  Personen.  Dieses  Bedenken 


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290  VU.  Womic 

i.st  über  nicht  ausreichend,  um  die  Vorteile  der  Ölfentlichkeit  aufza- 

wiegen. 

3.  Die  Rücksicht  auf  die  \'erteidi^;un{^  des  Anjrekla^'ten  erfordert, 
dali  das  gesamte  Belastungsuiaterial  vor  der  Haujitverliandlung  zn 
seiner  Keimtnis  gebracht  wird.  Dies  geschieht  am  beetea  durch  die 
Öffentlichkeit  der  X'oruntersuchung. 

4.  Uicroach  iät  die  Üffeutlichkeit  der  Voruatersuchung  als  Regel 
2«  fordem. 

II.  Mündliclik.'ir. 

1.  Di  r  Orundsatz  der  Unmittelbarkeit,  der  das  Ilauptverfahren 
beherrsclit,  ist  auch  für  die  Voruntersuchung  als  inaHgeljend  anzuer- 
kennen, indem  alle  Tcrsonen,  die  auf  sie  als  Erkenntnisquelle  ange- 
wiesen sind,  an  ihr  unmitlL'Jbar  beteiligt  werden. 

2.  Protokolle  sind  nur  da  zu  führen,  wo  die  Beweiserhebung  in 
der  Ilauptverhandlung  nicht  vorgenommen  wrnien  kann.  Im  übrigen 
ist  das  Reweisergebnis  in  kurzen  Xotizin  niederzulegen,  deren  Haupt- 
zweck darin  besteht,  einerseits  dem  Vorsitzenden  für  «he  Leitung  der 
Hauptverhandlung  einen  Anhaltspunkt  zu  bieten  und  andererseits  eine 
Unterlage  für  die  Beurteilung  darfiber  zu  gewähren,  ob  der  Zeuge  zu 
der  Hanptrerbandlnng  zn  laden  ist 

3.  Der  ErtSffnnngsbeseblnß  ist  zn  beseitigen.  Die  Entscheidung 
über  die  Eröffnung  des  Hauptverfohrens  ist  dem  Untersnchnngsiichter 
zu  UbertrageD. 

III.  Anklageverfahren. 

Für  die  Voruntersuchung  ist  ebenso,  wie  es  für  die  Ilauptverhandlung 
gilt,  das  Anklageprinzip  zu  verwerfen,  aber  die  Anklageform  einzuführen. 

In  der  Debatte  trat  Justizrat  Amtsgerichtsrat  Dr.  Wein- 
gart-Dresden  für  Beibehaltung  der  Voruntersuchung  ein.  Wer 
Änderung  gesetzlicher  Einrichtungen  verlange,  müsse  den  Beweis  or- 
bringen,  nicht  nnr  daß  Müngel  vorliegeni  sonden  aneh,  daß  diese  im 
Gesetze  und  nioht  bloß  in  seiner  unzweekmäßigen  Handhabung  ihren 
Omnd  haben.  Man  werfe  dem  Institut  der  Untersuohungsriohter  vor, 
daß  es  das  Tezfobren  verlangsame.  Aber  auch  der  Untersuchungs- 
riefater  könne,  wenn  er  das  nOtige  Gesehiek  habe,  die  EKMerongen 
schnell  zum  Abschluß  bringen,  wenn  er  gleich  bei  Beginn  aeiaer 
Titigkeift  sich  einen  Plan  maohe^  was  aUee  zu  tun  sei,  und  sofort  m 
allen  Bichtungen  gleichzeitig  vorgehe,  wenn  er  wdter  möglichst  am 
Tatorte  selbst  seine  Erhebungen  vornehme  und  seine  Protokolle  kurz 
fasse.  Man  erhebe  weiter  den  Vorwurf,  dali  die  Voruntersuchung  das 
Interesse  des  Angeschuldigten  nicht  hinreichend  wahre,  daß  d»  Unter- 


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fotemationale  kriminaUttudio  Venmignng. 


821 


suchungsrichter  auch  sctilier»lich  nur  ein  Gep^ner  den  Angeschuldigten 
sei.  Aber  der  Untersuchungsricliter,  welcher  kein  Interesse  am  Sach- 
ausgange habe,  werde  die  Untersuchung  am  unbefangenston  führen. 
So  werde  auch  seine  Stellung  im  Volke  allgemein  aufgefalU  In 
schwierigen  und  verwickelten  Fällen  biete  die  Voruntersuchung  das 
beste  und  oft  einzige  Mittel,  den  Verbrecher  zu  überführen.  Der  Tag, 
an  dem  das  Institut  der  Voruntersuchung  abgeschafft  werde,  würde 
ein  Freudentag  für  raffinierte  Verbrecher  sein. 

Kammergerichtsrat  Kronecker-Berlin  bittet  von  etner 
BesehlvßfeflBiiog  füm  den  BfiatmigsgegeiiBtind  abzmeheDi  da  er  nicbt 
genügend  geklAit  sei.  Dem  BchÜefit  sich  Professor  Dr.  tob  Lilien* 
thal-Heidelberg  mit  dem  Antrage  an,  eine  Kommission  zn  e^ 
nennen,  die  einen  Oesetientwirf  Aber  die  Umgestahnng  des  yor7e^ 
Cahrens  innerbalb  des  Bahmens  der  Stralpreseßordnnng  fttr  die  nicbsle 
VeEsammhmg  voriegen  solK  Diesen  Antrsge  gemi0  beschloß  die 
Versanimhmg  die  Einsetsang  einer  Kommission,  in  welche  folgende 
Herren  gewählt  wurden:  Professor  Dr.  von  Lilientbal,  Justizrat 
Dr.  Weingart,  Landgerichtsrat  Kulemann,  Staatsanwalt  Res en- 
berg>StraI5burg;  Kechtsanwalt  Heine  mann- Berlin.  Hiermit  schloß 
der  erste  Verhandlungstag. 

Am  r>.  Juni  referierte  zunächst  Oberlandesgerichtsrat  Pro- 
fessor Dr.  Harburger-München  über  das  Thema:  „Behand- 
lung der  Teilnahme  am  Verbrechen'^,  und  führte  im  wesent- 
lichen ans: 

Auszugehen  sei  davon,  dal»  der  Und'ang  des  Begriffes  ..Teilnahme", 
wie  er  dem  deutschen  Reichsstrafgesetzbuehe  zugrunde  liege,  nändich 
einerseits  neben  Anstiftung  und  Beihilfe  auch  die  Mittäterschaft  um- 
fassend, und  andererseits  auf  vorsätzliche  Mitwirkung  beschränkt,  bei- 
zubehalten sei.  Es  sei  aber  trotz  vieler  Versnehe  seit  Jahrhunderten 
noch  niemandem  auf  dem  Gebiete  der  Oesetzgebnng  oder  der  Wissen- 
schaft gelnngen,  die  Grenzlinie  swisehen  Mittätersobaft  nnd  Beihilfe 
in  einer  Weise  festzusetzen,  die  sich  des  B^fUls  weiterer  Kreise  za 
eifreoen  gehabt  bStte.  In  der  neueren  Zeit  ließen  sich  drei  Haupt- 
richtnngen  untersoheiden.  Nach  der  sogenannten  objektiven  An- 
schanungsweise  setse  der  Gehilfe  nnr  eine  Bedmgnng,  der  Titer  die 
oder  eine  Ursache  dee  rechtswidrigen  Erfolges;  der  Gehilfe  beteilige 
sich  in  minderwertiger,  der  Mittäter  in  gleichwertiger  Weise  an  der 
Tat  Diese  Anschauung  leide  daran,  daii  sich  eine  feste  Grenze  zwi- 
schen Gehilfentätigkeit  und  Urhehertätigkeit  sowohl  allgemein  als 
namentlich  in  den  einzelnen  praktischen  Fällen  nicht  finden  lasse,  und 
daß  ihre  Anwendung  ouüberwindlidien  Schwierigkeiten  beg^poiei  wenn 


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222 


VIL  WvUfTBS 


die  beabsichtigte  Slrultat  im  Vcrsucbsstadium  ßtccken  geblieben  sei 
oder  wenn  zwei  Personen  mit  einem  bestimmten  Plane  Uber  die  Aus* 
ftthrung  sich  zur  Verttbung  eines  Verbreebens  au^emaebt,  es  aber  den 
VerhSltnissen  des  Oites  und  des  AngeiibliekeB  der  Tat  flberiaaseii 
baben,  die  Bollen  nnter  siob  an  TeitotteD.  Naeb  der  zweiten,  der  so- 
genannten subjektiven  Ansebannngsweise,  die  in  den  Motiven  zum 
Beiebsstrafgeselibncbe  mm  Ansdnicke  komme,  wolle  der  Oebille 
lediglicb  die  fremde  Absiebl  des  Täten  fSrdem,  dieser  aber  seme  eigene 
Absiebt  verwiiklioben.  Die  DnrchfUhrung  dieser  Anschauung  sei  ins- 
besondere dann  erschwert,  wenn  einer  der  Beteiligten  in  der  Absicht, 
nnr  fördernd  einzugreifen,  in  Wirklichkeit  dne  Ausführungshandlung 
betäti^'e,  so  dal)  dein  jenigen,  der  als  Täter  auftreten  woll^  niohts  mehr 
zu  tun  fibrig  bleibe.  Und  wer  mit  Urheberabsicht  nur  unwesentliche 
Handlungen  vornehme,  also  weniger  zum  Zustandekommen  des  Ver- 
brecliens  leiste  als  derjenige,  der  mit  Gehilfenabsicht  Ausführungs- 
handlungen vornelune,  wer<le  gleichwohl  härter  bestraft  als  der  letz- 
tere. Nach  den  dritten,  vermittelnden  Ansichten  beteilige  sich  der  Oe- 
hilfe  an  der  VerÜbung  der  Tat  lediglich  in  einem  nach  subjektiver 
und  objektiver  Kielitung  geringerem  Malie,  und  lasse  so  wiederum  die 
Grenze  zwiselien  Mittäterschaft  und  Beihilfe  unbestimmt.  Da  so  die 
Vielgestalti^'kcit  des  realen  I^'bens  es  einfach  als  unmöglich  erscheinen 
lasse,  Mittäterseli;ift  und  Beihilfe  in  klarer  Weise  auseinanderzuhalten, 
da  beide  eben  nicht  absolut  feststehende,  sondern  nnr  relative  Begriffe 
seien  nnd  ibrai  Inbalt  und  ibre  Bedeutung  jeweils  erst  aus  den  Um- 
ständen des  einzdnen  Falles  erbidten,  da  endlieb  aueb  die  Grenze 
zwiscboi  Anstiftung  nnd  inteUektneller  Beibilfe  flüssig  sei,  so  erflbrige 
niebts  als  die  Ldne  von  der  Teilnahme  durob  eine  mSgliebst  allge- 
mein gehaltene  Formel  zu  regeln,  die  es  offen  balte,  im  einzelnen 
Falle  die  Beteiligten  je  nach  dem  Mafie  ibrer  Schuld  mit  Strafe  zu 
belegen. 

Hierauf  teilte  Referent  seine  noch  zu  erwähnenden  Thesen  mit 

und  erläuterte  dieselben  kurz. 

Der  Korreferent  Professor  Dr.  Heimberger-Bonn  gab  nach- 
stehende Ausführungen. 

Für  die  Stellungnahme  in  der  Teilnahmelehre  ist  unmittelbare 
Voraussetzung  die  Auffassung  in  der  Frage  des  Ursachenbegriffs.  Im 
wesentlichen  scheiden  sich  zwei  Kausalitätstlieorien.  Die  eine  hebt 
ans  den  \ crscliiedenen  Bedingungen  des  Erfolires  eine  heraus  und 
bezeichnet  sie  als  die  Ursache  des  Erfolges.  Welches  di(^se  eine  Be- 
dingung sei.  darüber  ist  man  nicht  einig.  Die  andere  Theorie  macht 
unter  den  verschiedenen  Bedingungen  des  Erfolges  keinen  Unterschied, 


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Inteniatioiiale  krimioaliatiache  Veiebigang. 


828 


stellt  sie  vielmehr  eiiian<l('r  i:\v\ch  und  fol<rert:  Jede  Handlung?  ist  ür- 
saclie  des  Erfol^^e.s,  wenn  der  Krfoli:  oline  die  Ilandliiiifr  niclit  einge- 
treten wäre.   Jeder  also,  der  eine  liedingun»;  de.s  Erfolges  gesetzt  liat, 
verursacht  den  Erfolg,  wenn  ohne  die  von  ihm  gesetzte  Bedingung  der 
Erfolg  ausgeblieben  wäre.   Bedingung  ist  also  gleich  Ursache.  Wer 
nun  Ursache  und  Bedingung  für  etwas  Veracbiedenes  andebt,  wer 
unter       Terschiedenen  Bedingungen  des  Erfolges  eine,  zum  Beispiel 
mit  Birkmeyer  die  wirksamste,  heransgreift  und  als  Ursache  bezeidi* 
net,  die  anderen  nur  als  Bedingungen  gelten  läßt,  der  hat  damit  eine 
ofajektiYe  Grundlage  fOr  die  Untersobddnng  von  MittiteiBchaft  und 
Beihilfe.  Wer  die  Ursache  setzt,  bezw.  mitselzt,  ist  ihm  Tftter  bezw. 
Mittitter;  wer  bloß  Bedingungen  setzt,  ist  Gehilfe.  Wer  dagegen  einen 
Unterschied  zwischen  Ursache  und  Bedingung  nicht  anerkennt,  wer 
also  in  der  wirklichen  Bedingung  des  Erfolges  auch  eine  Ursache  des- 
selben sieht,  der  kann  den  Unterschied  zwischen  Mittäter  und  Gehilfen 
nicht  in  der  stärkeren  oder  schwächeren  Beteiligung  an  der  Vollbrin- 
gung der  Tat  finden  und  sieht  sich,  weil  der  Gesetzgeber  einmal  durch 
die  verschiedene  Strafandrohung  ge^en  Mittäter  und  Gehilfen  zu  deren 
Unterscheidung  zwingt,  unniiltelbar  dazu  gedrängt,  sie  in  dem  Willen, 
in  dem  subjektiven  Interesse  der  Beteiligten  zu  suchen.    Meines  Er- 
achtens muli  von  der  letzteren  Kausalitätstheorie  ausgegangen  werden. 
Ein  Erfolg  kann  nicht  eintreten,  wenn  nicht  alle  Bedingungen  des- 
selben vorliegen.    Der  Täter,  der  Mittäter,  der  Gehilfe  und  der  An- 
.stifter,  sie  alle  setzen  Bedingungen,  sie  alle  sind  demgemüli  Ursachen 
des  Erfolges.  Deshalb  soll  mir  der  Gesetzgeber  das  Recht  einräumen, 
auf  sie  alle  als  Beteiligte  an  der  gleichen  Tat  die  gleiche  Straf- 
androhung anzuwenden,  und  mich  nicht  zwmgen  zn  unterscheiden, 
wo  mir  das  UnterscheidnngsyermOgen  fehlt.  Weil  aber  nicht  alle  Be> 
dingungen  gleichwertig  sind,  mnfi  ich  die  yersehiedenen  an  der  Tat 
Beteiligten  innerhalb  des  gleichen  Strafrahmens  Terschieden  bebanp 
dein,  ja  sogar  unter  den  gewöhnlichen  Stralkahmen  bis  zn  einem  ge- 
wöhnlichen Mindestmaße  heruntergehen  können.  Ich  empfehle  die 
Annahme  der  drei  Thesen. 

Nach  einer  lebhaften  Debatte,  in  welcher  die  Herren  Professor 
Dr.  Finger-Halle,  Landgerichtsrat  Kulemann,  Professor 
Dr.  V.  Liszt-Berlin  und  Privatdozent  Dr.  Mayer-Straßburg 
hervortraten,  wurden  die  Thesen  des  Referenten  in  nachstehender 
Fassung  mit  großer  Mehrheit  angenommen:  1.  Wenn  zur  VerÜbung 
einer  strafbaren  Handlung  mehrere  Personen  vorsätzlich  zusammen- 
wirken, so  trifft  die  auf  die  Handlung  angedrohte  Straft-  jeden  Teil- 
nehmer (Täter,  Mittäter,  iVnstifter,  Gehilfen).  2.  Die  Gerichte  sind  je- 


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884 


VII.  Yfwmi 


doch  zu  erniäcIitijLren,  die  Strafe  derjenijj^en  Teilnehnior,  deren  Schuld 
sich  als  eine  geringere  herausstellt,  in  einem  fresetzlich  zu  hestininicn- 
den  Malte  herabzusetzen.  3.  Mißlinf::t  die  An.stiftunir  oder  kommt  es 
«dine  Zutun  desjenijren,  der  die  Anstiftung:  unternonimen  hat,  nicht 
zur  Ausführung  der  Tat,  zu  der  angestiftet  wurde,  so  tritt  Strafe  nur 
in  den  gesetzlich  vorgesehenen  Fällen  ein;  es  ist  jedoch  zu  wünschen, 
daB  eine  Bolehe  Bestimmung  in  Aiuebang  aller  schweren  Verbrechen 
getroffen  wefde. 

Den  nlohsten  Beratangagegemland  bildete  das  Kolonialstraf- 
recht  Als  erster  Referent  sprach  Admiralitttsrat  Professor 
Dr.  KSbn er* Berlin* 

Er  ging  Ton  dem  Gmndgedanken  der  Internationalen  krimina- 
listischen Yerebiigung  ans,  dafi  die  Ktiminafitit  eines  Volkes  im  Zu- 
sammenhang mit  seiner  Rulturentwicklung  beurteilt  werden  müsse. 
Dieser  Znsammenhang  seige  sich  nirgends  so  charakteristisch  als  in 
den  modernen  Kolonien,  wo  die  europaische  Zivilisation  mit  den  ginz. 
lieh  verschiedenen  Recbtskulturen  der  einheimischen  Rassen  zusammen- 
stoße, und  gerade  auf  strafrechtlichem  Gebiete  die  Rechtsgewohniieiten 
der  Eingeborenen  vielfach  mit  uralten  religiösen  und  verwandten  An- 
schauuniren  veniuickt  seien.  Dem  Kolonialstia£recbte  sei  also  der 
Entwicklunp:Rirang  vorpreselirieben. 

Für  die  deutsche  und  die  sonstige  weiße  Bevölkerung  in  den  Ko- 
lonien richte  sich  die  Strafrechtspflege  im  wesentlichen  nacli  den 
Normen  des  Gesetzes  über  die  Konsulargerichtsluirkeit.  Die  koloniale 
Gerichtsbarkeit  habe  aber  im  K-uife  der  letzten  Jahre  in  zahlreichen 
wicliti.i^en  Einzelheiten  reichere  und  ausgebildetere  Formen  gefunden, 
als  die  konsulare.  Diese  Entwicklungstendenz  sei  weiter  zu  verfolgen, 
weil  es  für  die  Rechtsordnung  der  Schutzgebiete  darauf  ankommOi  die 
AbhSngigkeit  von  dem  Konsnlargerichtsbarkeitsgesetze  mehr  und  mehr 
abzustreifen  und  ein  selbstindiges,  in  sich  geschlossenes  deutsches  Ko- 
loniahrecht ffir  die  Euiopäerbeydlkemng  daselbst  sn  schaffen. 

Bei  Besprechung  des  in  den  Kolonien  geltenden  materiellen  Bechtes 
hebt  Referent  henror»  daß  der  Gouverneur  der  Sehutsgebiete  dasSteaf- 
yerordnnngsrecht  besitzci  während  es  mit  Redit,  um  die  richterliche 
Funktion  von  der  gesetzgebenden  zu  trennen,  seit  1901  dem  Richter 
genommen  sei.  Als  Korrelat  sei  aber  zu  forderui  daß  der  Gouverneur 
seinerseits  aus  der  Keehtsprechnng  gänzlich  ausscheide.  In  den  mei- 
sten Kolonien  sei  dies  bereits  durchgeführt.  Eigene  richterliche  Be- 
amte als  Oberrichter  besitzen  Ostafrika,  Südwestafrika,  Kamerun  und 
Togo  gemeinsam.  In  Neuguinea  einschließlich  der  Karolinen,  in 
Samoa  und  auf  den  Marschallinseln  nebmeu  noch  die  Gouverneure 


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Intmwtioiialo  kriminiHiktiMdie  Verdnlgiiog.  235 

die  Geschäfte  der  Oberricliter  wahr.    Nur  für  das  KiautsoUougebiet 
bestehe  noch  kein  besonderes  Ober^ericht. 

Referent  ging  zum  SchluH  auf  die  Rechtsordnung  für  die  einhei- 
mische Bevölkerung  in  Kiautscliou  besonders  ein.  In  China  sei  die 
Rechtskultur  gerade  auf  dem  Gebiete  des  Strafrechts  erstaunlich  ent- 
wickelt. Kriminalistische  Fragen,  mit  denen  sich  die  modernste  euro- 
päische Stra&echtswissenschaft  beschäftige,  zum  Beispiel  Aber  Versuch, 
Taifaiabme  am  Teflmebi»i|  Behandliug  jugendlicher  Verbreeher  und 
anderes  mehr,  aeien  im  ehineeiaoheii  Sbalkeohte  bereita  mit  größter 
kaanialiBober  Znapitsmig  behandelt  Dieaer  hohen  theoretiBchen  Ana* 
bildnng  entapreehe  fralich  die  arg  ?errottete  Frazia  der  emheimiaohen 
chineaiiehen  Geriehte  aehr  wenig. 

Bedner  beepiaeh  dann  die  dgemutige  Geriehlaorganiaation  fOr  die 
eittheimiaehe  BeTOlkerang  im  KiantBohongehieley  nnd  aefaloß  aeine 
ÄQsfUhniDgen  mit  dem  Hinweis  auf  die  mannigfachen  Aufgaben,  die  • 
für  die  FortbÜdnng  des  jungen  dentaehen  KokmiaJreefata  noeh  zu  lOaen 
bleiben. 

Der  zweite  Referent,  Kaiserlicher  Oberrichter  von  Deutsch- 
Ostafrika  Dr.  Ziegler,  sprach  über  die  Eingeborenenrechtspflege  in 
den  afrikanischen  und  Südscesclmtzgebieten.  Er  gab  einen  kurzen 
l'berblick  über  die  für  die  verscliiedenen  Kolonien  bestehenden  Be- 
stimmungen der  Eingeborenen-Strafreclitspflege  und  entwarf  dann  ein 
Bild  von  dem  Rechtszustande  in  Ostiifrika.  Die  Kolonial  Verwaltung 
habe  durch  die  Reichakanzlerverfügun-r  vom  22.  April  deren  In- 

halt Referent  kurz  anführte,  zunächst  nur  dem  ersten  praktischen  Be- 
dürfnis abhelfen  und  in  Rücksicht  auf  die  unentwickelten  und  unge- 
klärten Verhältnisse  einer  freien  Entfaltung  der  Praxis  vollen  Spiel- 
raum lassen  wollen.  Diesea  Verfahren  entspreche  dem  Bedtlrfnis  am 
besten.  Von  Zeit  za  Zeit  würden  generelle  Anwebnngen  eriaaaen,  in 
denen  die  gemachten  Ertabmngen  verwertet  werden.  Daa  Gonveme- 
ment  sammle  ala  AnfsiehtsbehOrde  daa  Material  (Or  eine  spfttere  Kodi- 
fikation. Vor  einer  Übereilten  Kodifikation  könne  er  aber  nieht  genug 
warnen;  daan  mttsae  eist  genOgend  Material  geliefert  werden  und  erat 
▼Ollige  Kburhmt  über  die  den  Kolonien  au  gehende  Gestaltung  nnd  die 
den  Eingeborenen  zu  gewährende  Bechtsstellung  bestehen.  Als  Richt- 
sehnur  für  die  Beurteilung  der  Straffälle  dienen  die  Begriffsbestim- 
mungen des  Beioh8trafgesetz})uch8,  die  landesüblichen  Gewohnheiten 
und  Überlieferungen  sowie  Anweiaungen  des  Gouverneurs.  Der  hei- 
mische Grundsatz:  nnlla  poena  sine  lege  und  das  Legalitätsprinzip 
hätten  keine  zwingende  Geltung.  Rücksiciiten  der  Btrafpolitik  und  der 
allgemeinen  Politik  seien  für  das  Einschreiten  von  Bedeutung.  Die 

AichiT  lOi  Kriinin«Uotluopolo||^9.  XIII.  15 


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226  VIL  Wüurm 

Strafrechtspflej^e  müsse  zur  Zeit  noch  von  dem  obersten  Gesichts- 
punkte beherrscht  werden,  dal^  die  Einp:eborenen,  welche  nach  Abstam- 
mung:, Sitten  und  Religion  voneinander  sehr  verschieden  seien,  erst  zu 
einer  höheren  Kultur  erzogen  werden  müIHen. 

Über  den  letzten  Beratungsgegenstand ,  „Die  verminderte 
Ziireobnungafähigkeit^  spxsch  znenait  Dr.  Delbrttok,  Direktor 
der  Irrenanstalt  in  Bremen.  Er  hat  bereits  anf  der  voijShrigea  Yer 
sammlnng  der  Internationalen  kriminaUstisohen  Vereinigung  in  Bremen 
einen  Vortrag  Aber  „Die  vermindert  ZnreehnnngBfähigen  nnd  deren 
Verpflegnng  in  besonderen  Anstalten*  gehalten.  Daranfbin  ist  das 
Thema  anf  der  die^iSbrigen  Versammlnng  znr  Diskussion  gestellt  wor- 
den. Delbrfilek  stellt  drei  prinzipielle  Forderongen  anf.  Erstens  ver- 
langt er  eine  Abänderung  des  Paragraphen  5t  des  Strafgesetzbuchs 
in  dem  Sinne,  daß  neben  der  völligen  Unzurechnungsfähigkeit  auch 
eine  verminderte  Zureohnungsfäbigkeit  im  Gesetze  Berttcksicbtignog 
finde  für  alle  diejenigen  Individuen,  die  auf  der  Grenze  zwischen 
^eistijrer  Krankheit  und  Gesundheit  stehen.  Delbrück  fordert  weiter 
^^^esetzliche  Bestimmungen  darüber,  was  mit  den  vermindert  Zurecli- 
nungsfiilji^rn  zu  geschehen  habe.  Sie  sollen  in  der  Hauptsache  anders 
behandelt  werden,  als  die  zurechnungsfähigen  Verbrecher.  Die  Mög- 
lichkeit einer  Umwandlung  der  Strafe  in  andere  Maßnahmen,  der  Ge- 
fängnisstrafe in  Zwan^jserziehung,  in  Lnterbringuns^  in  ein  Trinker- 
asyl oder  in  eine  andere  ])assende  Anstalt,  ja  sogar  die  Füglichkeit. 
Gemeingefährliche  über  die  ihnen  zuerkannte  Freiheitsstrafe  hinaus  in 
den  betreffenden  Anstalten  festzuhalten,  mäßten  dem  Richter  durch  das 
(besetz  gegeben  werden.  Drittens  fordert  Referent,  daß  die  Bestim- 
mungen Aber  die  vermindert  Znrecbnnngsfftbigen  mSgliobst  allgemein 
gehalten  werden,  nnd  betont  deren  groOe  Verschiedenartigkdt  Viele 
seien  milder  zu  bestrafeni  andere  in  Trinkerbeilanstalten  sn  kurieren» 
dritte  in  Anstalten  für  Epileptisehe  oder  in  Irrenanstalten  zu  versorgen. 
.  für  einen  großen,  kriminell  wichtigen  Best  aber,  die  moralisch  De- 
fekten, seien  besondere  Anstalten  zn  fordern,  weil  sie  wegen  ihrer  spe- 
zifisch verbrecherischen  Neigungen  nicht  in  die  gewöhnlichen  Irren- 
anstalten und  wegen  ihrer  spezifisch  pathologischen  fiigenschaften  nicht 
in  die  Zuchtliäuser  und  Gefängnisse  paßten. 

Professor  Dr.  v.  Liszt  als  zweiter  Eeferent  erklärte  sich  mit 
den  Leitsätzen  Delbrücks  im  wesentlichen  einverstanden  und  stellte 
seinerseits  nachstehende  Thesen  auf,  die  sich  an  die  von  der  Dresdner 
forensisch -psychiatrischen  Vereinigung  im  Jahre  1898  gefaßten  Be- 
schlüsse anschließen. 

1.  Es  gibt  zahlreiche  Fälle,  in  denen  die  Verantwortlichkeit  für 


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Interoatioiiale  IcrlminaHgtfache  Vereinigung.  S27 


begangene  strafbare  Handlungen  zwar  nicht  ausgesolilosson,  aber  doch 
wesentlich  vermindert  ist.  Es  ist  wünscliensvvert,  dali  diese  Fälle  so- 
wie die  in  diesem  Zustande  am  häufigsten  begangenen  Verbreclien 
möglichst  vollständig  gesammelt  und  systematisch  dargestellt  werden. 
Die  ErluiluDg  dieser  Aufgabe  muU  der  Jurist  dem  Mediziner  über- 
lassen. 

2.  Der  vermindert  Zurechnungsfähige  ist  mit  einer  nnlderen  Strafe 
zu  belegen;  die  Vollstreckung  der  Freiheitsstrafe  erfolgt  in  besonderen 
Anstalten  oder  Räumen  und  unter  Berücksichtigung  der  medizinischen 
Grundsätze. 

3.  Eraoliemt  der  Tannindert  ZarechnimgBfiUiige  nach  dem  Gnt- 
ftobtai  der  SaehverBtändigen  als  gemeingefiUiriieh,  so  hat  der  Straf- 
richter auf  Verwabrang  des  Verorleilteii  in  einer  Heil-  oder  Pflege- 
anstalt zu  erkennen.  Die  Dnrebfilhmng  dieser  Anordnung  ist  An^;abe 
der  zustiindigen  Verwaltungsbehörde. 

4.  Ist  der  Veroiteilte  straf  tthig»  so  tritt  die  Verwahmng  nach  Yet- 
bfißnng  der  Strafe  ein.  Andemfalls  gilt  der  Aufenthalt  in  der  Ver- 
wahrungsanstalt als  Strafverbfißung. 

5.  Die  Verwahrung  bat  so  lange  zu  dauern,  als  der  Zustand  der 
Gemdngefährlichkeit  es  erfordert  Die  Entlassung  aus  der  Vwwah- 
mng  wird  auf  Grund  des  Qutacbtens  der  Sachverständigen  von  dem 
Strafrichter  ausgesproclien. 

An  der  Debatte  beteiligten  sich  die  Herren  Landgerichtsdircktor 
Becker,  der  über  das  Zustandekommen  der  Dresdner  Beschlüsse  be- 
richtete, von  iimi  seit  ',\  Jahren  über  gemindert  Zureehnungsfähige  ge- 
sammtUvs  statistisebes  Material  mitteilte  und  auf  Saunnlung  amtlichen 
Materials  hinzuwirken  beantragte,  <1  eheimer  Rat  Dr.  Weber  il'irna- 
Sonnenstein),  Justizrut  Dr.  Weingart,  der  die  Entschlieliung  über 
Unterbringung  der  gemindert  Zurechnungsfähigen  und  die  Dauer  der 
Unterbringung  nicht  dem  Strafrichter,  sondern  dem  Vormundschafts- 
riehter  zu  ttbertragen  empfahl,  Hedizinalrat  Dr.  Leppmann 
(Berlin),  Professor  Asehaffenburg  (Halle)  und  Beehtsanwait 
Freund  (Berlin). 

Die  Thesen  von  Delbrfiok  und     Liszt  wurden  angenommen. 

Im  unmittelbaren  Anscbiusee  hieran  ergriff  Qe  heim  er  Justis- 
rat  Professor  Dr.  v.  Liszt  das  Wort  zu  seinem  Thema,  Die  Be- 
form des  Strafgesetzbuchs.  In  einem  einstündigen  fesselnden 
Vortrag  führte  er  aus: 

Das  Ziel,  naeh  dem  die  Internationale  kriminalistische  Vereinigung 
und  speziell  unsere  deutsche  Landesgruppe  Jahre  hindurch  gerungen 
hat}  ist  in  absehbare  Nähe  gerückt,  und  der  Schulstreit  zwischen  den 

15» 


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828 


VIL  WuLrrsN 


Kriminalisten  der  verschiedenen  Richtungen  haben  einem  Friedens- 
schlusse  Platz  j?eniacht.  Männer,  welche  der  klassischen  und  welche 
der  modernen  Schule  an^jcehören,  haben  sich  zusammenfj^efunden ,  um 
in  gemeinsamer  Arheit  die  rechtsvergleichende  Grundlage  zu  legen,  auf 
der  seineraeit  der  Entwurf  des  neuen  deutschen  Stnifgesetzbuchs  wird 
aufgebaut  werden  können.  Da  liegt  die  Frage  nahe,  ob  denn  unsere 
Vereinigung,  speziell  die  deutsche  Landesgruppe  mit  Erreichung  dieses 
Zieles  ihre  Eiialensbereehtigang  verioren  hüte?  Aber  dem  ist  nidit  so. 

Nachdem  Ton  den  Dietdener  Freonden  ttber  die  gesamten  Beslre* 
bungen  der  fariminalistiaehenVereiiug^g  und  mdne  eigeaen  Ziele  ein 
eingehender  Aoftatz  (von  Staatsanwalt  Dr.  Wulffen- Dresden)  an 
die  Teihiehmer  nnserer  Venammlnng  im  Druck  Tertedt  worden  ist^ 
auf  welchen  ich  im  allgemeinen  Besug  nehmen  kann,  mOchte  ich  ein- 
zelne wichtige  Daten  ans  nnsererer  EntMrieklnng  und  einige  der  wieh- 
tigsten  unserer  Forderungen  hervorheben. 

In  den  70er  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  war  auf  einen  langen 
Ruhezustand  ein  Stadium  leidenschaftlichen  Kampfes  um  das  Straf* 
recht  gefolgt  £s  erschien  Lombrosos  Buch  über  den  Verbrecher 
mit  der  Lehre  vom  delinquento  nato,  dem  „geborenen**  Verbrecher; 
es  erschien  die  Streitschrift  des  Reich sircrichtsrats  Mittelstadt  wider 
die  Freiheitsstrafe,  und  dann  die  Schrift  Kräpelins,  der  die  Abschaf- 
fun<r  des  Strafmaßes  forderte.  In  den  SO  er  Jahren  entlirannti'  der 
Kampf  auf  der  «ranzen  Linie.  In  diesem  Streite  eine  Saiimilnn«^ 
Gleichdenkender  zu  bilden,  entstand  im  Januar  1889  die  Internationale 
kriminalistische  Vereinigung.  Es  waren  nicht  bloß  radikale  Reformer, 
die  sich  da  zusammenfanden;  unter  unseren  ersten  Mitirliedern  waren 
Männer  wie  Tessendorf,  Olshausen,  Vierhaus,  lioltzendorff. 
In  unserem  Programm  wurde  ausgesprochen,  daß  die  Vereinigung 
ausgehe  von  der  Oberzeugung,  daß  Verbrechen  nnd  Strafe  ebensosehr 
vom  sosiologisehen  wie  vom  juristischen  Standpunkte  ans  ins  Ange 
gefafit  werden  müßten;  die  Vereinigung  stellte  sich  znrAnfgabey  diese 
Ansicht  in  Wissenschaft  nnd  Gesetzgebung  zur  Anerkennung  zu  brin- 
gen. Wir  leugnen  selbstverstündlich  nicht  die  Notwendigkeit  juristi- 
scber  Dogroatik;  wir  behaupten  aber,  daß  daneben  das  Vearbrechen 
als  soziale  Eischänung,  die  Strafe  als  soziale  Reaktion  ins  Auge  ge- 
faßt werden  müsse.  Wir  stellen  uns  die  Aufgabe,  eine  Ätiologie  des 
Verbrechens  zu  schaffen  als  einzig  mögliche  wissenschaftliche  Grund* 
läge  fOr  eine  zweckentsprechende  Kriminalpolitik. 

Im  ersten  Anfang  sind  es  zwei  Grundfragen  gewesen,  von  denen 
wir  ausgegangen  sind:  die  Kriminalität  der  Jugendlichen  und  die  der 
Bückfälligen.  Die  Tatsache,  daß  die  Kriminalstatistik  hinsichtlich  beider 


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Intenuitl<male  krimimlirttoche  Verdnignng. 


339 


die  bedenklichsten  Züg^e  aufweist,  führte  uns  zur  Kritik  des  herrschen- 
den Straf rnsystenis.  Hier  kamen  wir  vor  allem  zu  dem  Resultat:  es 
unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  unsere  kurz/XMtige  Freiheitsstrafe  nicht 
abschreckt,  nicht  bessert,  die  Gesellschaft  in  keiner  Weise  sichert  und 
keine  Sühne  ist  für  das  Verbrechen.  Im  weiteren  Verlaufe  dieser  Ge- 
danken gelangten  wir  zur  Frage  der  Behandlung  der  Jugendlichen, 
und  es  gehört  zu  unseran  stoheaten  ErinneruDgen,  dal^  wir  auf  diesem 
Gebiete  neaea  Gedanken  die  Bahn  gebrochen  haben.  Ich  nenne  die 
Worte:  bedingte  Verurteilnng! 

Was  haben  wir  nnn  wdter  ni  tan?  Vor  allem  ist  nnsere  ente 
Aufgabe,  die  Untersnehnng  der  Unachen  des  Verbrechens^  noch  nicht 
gelöst,  wenn  wir  ancb  ein  gutes  Stück  Yorwiits  gekommen  smd.  Mit 
einem  Standpunkt  MUch,  der  die  absolnte  Herrschaft  der  Denkform 
der  Kausalität  leugnet  und  demgemflß  lehrt»  daß  das  Verbrechen  als 
ans  ireter  Willensentschließung  hervorwacbsend  niemals  in  seinen  Ur- 
sachen erkannt  werden  könne,  ist  keine  Aaseinandersetzung  möglich. 
Wenn  sich  das  Verbrechen  jeder  Berechnung  entzieht,  dann  ist  jede 
psychologische  Einwirkung;  einfach  unmöglich.  Wir  hoffen  aber  zuver- 
sichtlich, daß  auch  hinsichtlich  dieses  Punktes  überzeugte  Anhäng:er, 
insbesondere  aucli  aus  den  Kreisen  dvr  ))raktischeu  Kriminalisten,  immer 
mehr  in  unser  [jx^gt  herübertreten  werden. 

Weiter  müssen  wir  es  aber  klar  aussprechen,  daß  wir  von  dem 
künftifjen  Reichsf^esetzireber  verlan^ren,  unseren  Mindestforderunfren  zu 
entsprechen.  Wir  arbeiten  gern  mit  und  sind  auch  zu  Opfern  an  un- 
seren Überzeugungen  bereit,  aber  wir  stehen  nur  auf  ganz  bestimmter 
Grundlage  zur  Verfügung.  Wir  werden  mit  Entschiedenheit  gegen  den 
Entwurf  ankämpfen,  wenn  er  diesen  Grundlagen  nicht  entspricht 
Unseie  Mindestforderungen  sind  nnn  folgende.  In  ersler  Linie  ver- 
langen  wir  die  reichsiechtliehe  Einffthrang  der  bedingten  Yemiteihing 
im  Sinne  des  belgisch-feansOsiBebenBechts.  Zwar  darf  ich  gerade  hier 
in  Dresden  die  Gelegenheit  ergreifen,  vns  alle  daran  sn  erinnern,  daß 
die  Königlich  Sächsische  Justisrerwaltang  als  eiste  ror  allen  andern 
deotsohen,  auch  ror  der  preußischen,  es  gewesen  ist,  welche  nnser 
Hauptziel,  die  bedingte  Verurteilung,  als  berechtigt  anerkannt  und  in 
einer  modifizierten  Form  eingef&brt  hat.  Dafür  gebührt  der  säch> 
sischen  Justizverwaltung  unser  aufrichtigster  Dank.  Denn  die  bedingte 
Begnadigung  durch  Strafaufschub  ist  eine  Vorstufe  der  richterlichen 
bedingten  Verurteilung.  Aber  ebenso  aufrichtig  müssen  \y'\t  bekennen, 
daß  wir  auf  der  Vorstufe  nicht  stehen  bleiben  können,  sondern  weiter 
emporsteigen  wollen.  Nicht  bedingte  Gnade,  sondern  einen  bedingten 
Bichterspruch  erstreben  wir! 


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280 


VIL  Wcxmn 


Unsere  zweite  Ilauptfoidcrun^r  betrifft  die  Ileraufsetzunj;:  des 
Mindestalters  der  Zureclinun^^bfäiiigkeit  vom  12.  auf  das  14.  Lebens- 
jabr.  £8  niuU  endlich  auch  im  Gesetze  anerkannt  werden,  daß  Kinder 
nicht  auf  die  Anklagebank  gehören. 

Wir  verlangen,  daß  auf  jeden  Fall  diese  Forderongen  im  kflnftigen 
Straf geaetsbnche  berlldmhtigt  werden.  Wir  fordern,  da0  nnaere 
etbiflohen  AnBobannngen,  yon  denen  wir  behaupten,  dafi  sie  die  An- 
Bchannngen  des  dentsohen  Volkes  Ton  hente  sind,  hineinkommen  in 
nnser  nenes  dentsehesSlzafgesetsbneh;  nnd  darin  sind  wir  auch  einig 
mit  denVerMem  der  klassisehen  Sehnle.  Wir  leben  im  Zeitalter  der 
Sozialpolitik.  Die  zw^te  Hälfte  dee  19.  Jahrhunderts  ist  das  Zeitakert 
wo  die  Individualethik  ersetzt  worden  ist  durch  die  Sozialethik^  die 
dem  einzelnen  sagt:  Du  sollst  der  Gesamtheit  dienen,  nicht  dir.  Die 
Bedeutung  von  Friedrich  Nietzsche  ruht  gerade  darauf,  daß  er  uns 
die  Reaktion  darstellt  gegen  diese  Gedanken  und  das  Individuum  wieder 
sich  seihst  erretten  will.  Jedes  Zeitalter  mit  ausgesprochenen  ethischen 
Anschauun<ren  bat  auch  seine  besondere  Strafgesetzgebung. 

Unser  lieiebBstrufgesetzbuch  hängt  noch  zum  Teil  an  der  veralte- 
ten Anschauung;  die  moderne  Anschauung  hat  in  unsere  Paragraphen 
noch  nicht  eindringen  können.  Ihr  dazu  zu  verhelfen,  sind  wir  ge- 
rüstet. Der  ganze  Schulstreit  um  die  Gnindgedanken  des  Strafrechts 
interessiert  uns  wenig.  Wir  lehnen  die  Vergeltung  ab  als  einen  alt- 
testamenthcben  Gedanken,  der  sieb  mit  dem  Ohristentume  nicht  ver- 
trägt Wir  begreifen  den  Streit  über  Vergeltung  und  Gerechtigkeit  gar 
nicht  Wir  sagen:  aoiiale  Pfliobt  der  Geseilwdia^  soiiale  Fftioht  des 
einzelnen  ist  es,  seinem  Nebenmenichen  die  rottende  Hand  zn  reichen, 
so  lange  es  irgend  geht;  alle  Maßregeln  anssnarbeiten,  dmch  die  der 
£tnzelne,  der  anf  die  Bahn  des  Veibreohens  gekommen  ist,  wieder 
zum  nützlichen  GKede  der  Gesellscfaaft  wird;  und  soziale  Pflicht  ist 
es  andererseüs  dort,  wo  wir  Bettang  nicht  mehr  sehen,  sehflikend  nnd 
sichernd  einzugreifen.  Ich  glanbe,  es  wird  unser  künftiges  Straf- 
gesetzbuch nicht  ans  den  Theorien  der  Professoren  geboren  werden, 
sondern  es  wird  seinen  Inhalt  aus  den  Bedürfnissen  und  den  sittlichen 
Anschauungen  unseres  deutschen  Volkes  empfangen! 

Lebhafter  allseitiger  Beifall  lohnte  den  Ausführungen  des  glän- 
zenden Redners,  dessen  Worte  zugleich  einen  würdigen  Absobluli  der 
Beratungen  und  Vorträge  l>ildeten. 

Den  geschäftlichen  Bcsclihili  der  Tairung  bildeten  die  Wahlen. 
Auf  Antrag  des  Admiralitätsrates  l'rof.  Dr.  Kühner  wird  der  bisherige 
Vorstand  (Vorsitzender  Prof.  Dr.  v.  Mayr)  in  corpore  durch  Akkla- 
mation wiedergewäldt.   Als  neues  Mitglied  wird  auf  Vorschlag  des 


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Intenuitloiiale  kiiminallsdsdie  Vereinigiing. 


281 


Vorsitzenden  noch  Geheimer  Rat  Generalstaatsanwalt  Gel'tler  in  den 
\'orstand  aufirenonimen.  Mit  Worten  des  Dankes  an  alle,  die  zum 
(ielin^^en  der  Tagung;  beigetragen  haben,  schlieIH  darauf  der  Vor- 
sitzende, welchem  Geheimer  Kat  (JelHer  für  die  vorzügliche  Leitung 
des  Kongresses  den  Dank  tler  Versammlung  zum  Ausdruck  bringt 
die  diesjährige  Umdesversammlung. 

Wenn  an  dieser  Stelle  Booh  ein  Nachwort  an  der  hinter  ua» 
liegenden  Tagung  am  Platze  ist,  so  darf  folgendes  gesagt  werden. 
Man  mag  Uber  den  Wert  der  bei  wisaensobaftliohen  Kongressen  nn- 
mittelbar  an  Ort  nnd  Stelle-  gewonnenen  Ergebnisse  für  die  Wissen- 
Bcbalt  mteilen  wie  man  will.  Es  trifft  zu  nnd  liegt  wobl  in  der  Nator 
solcher  Sitzongea,  daß  es  sich  bei  ihnen  in  der  Hauptsache  um  all- 
sätigen  Woiiiäg  zu  Hause,  am  Studiertisoh  oder  in  der  Amtsstnbey 
gefundener  Ansichten  und  Sätze  und  um  gegenseitigen  Meinungsaus- 
tausch darüber  handeln  wird,  daß  dagegen  der  Abstimmung  Uber  die 
Thesen  und  ihrer  hierdurch  znm  Beschlüsse  erhobenen  Fassung  nicht 
zu  viel  Bedeutung  beigelegt  werden  kann.  Aber  eben  in  dem  unmittel- 
baren, mündlichen  Austausch  der  Gedanken,  der  im  Wege  der  Schrift 
keineswegs  ersetzt  werden  kann,  ergibt  sich  der  holie  Wert  der  wissen- 
schaftlichen Kongresse.  Ihm  gleich  steht  endlich  die  große  Anregung, 
welche  solche  jedes  Jahr  an  einem  anderen  Orte  tagende  Versamm- 
lungen den  riiumlich  getrennten  Kreisen  der  Herufsgenossen  geben. 
Und  gerade  von  dieser  fachlichen  Anregung  darf  hinsichtlich  der 
Dresdener  Tagung  das  günstigste  berichtet  werden.  Wie  der  Herr 
Justizminister  in  seiner  Begrübungsansprache  betonte,  gehörten  bislang 
zu  den  Mitgliedern  der  internationalen  kriminalistischen  Vereinigung 
ganz  wenige  sichsuMhe  Juristen.  Das  nSdiste  Mitgliederreizeiclims 
wird  nun  answeisen,  daß  sich  durch  die  Dresdener  Versammlung  eine 
recht  erfreuliche  Zahl  sächsischer  Kriminalisten  zum  Beitritte  hat 
W6rt>en  lassen.  Es  kann  nicht  gesagt  werden,  daß  bisher  die  Ge- 
danken der  Internationalen  Vereinigung,  die  Gedanken  der  Eriminal- 
pdittk,  der  Kriminalantfaropologie^  der  Kriminalstatistik  und  der  Beform 
des  Strafen^ystems  mit  ihren  Ersatzmittfifai  für  die  kurze  Freiheits- 
stmfe,  bei  den  sächsischen  Praktikern  auf  fruchtbaren  Boden  gefallen 
wären.  Wenn  wir  auch  als  die  ersten  den  bedingten  Strafanfsohnb 
hatten,  so  wurde  diesem  Institute  doch  zunächst  von  Alten  und  Jungen 
mit  Mißtrauen  begegnet,  welches  sich  auch  im  Laufe  der  Jahre  noch 
nicht  ganz  verloren  hat.  Wir  stecken  noch  tief  in  der  alleinselig- 
machenden juristischen  Dogmatik.  Wir  fühlen  uns  beglückt  im  Auf- 
bauen kühnster  Konstruktionen  von  Tatbeständen  und  beten  die  Judi- 
katur der  hüchäten  Gerichtshöfe  an.   Es  war  sozusagen  hohe  Zeit, 


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2S2        ViL  Wumsv,  iBtenutioMle  krimiiuUiatüohe  Veieinigoag. 

dal»  die  Internationale  kriminalistische  Vereinifrunp  unmittelbar  ihre 
Gedanken  in  das  Herz  unseres  Hundesstaates  trug  und  in  ihm  über- 
zeugte Anhänger  und  Freunde  suchte.  Und  es  darf  mit  Freuden  be- 
kannt weiden,  daß  sie  wiche  gefunden  hat!  Gerade  jetzt,  wo  einige 
Monate  Uber  die  VoiMge  nnd  Debatten  dahingegangen  sind  nnd 
eine  gewisse  BeCremdnng  gegenflber  den  gans  neuen  Gedanken  nnd 
Bestrebungen  einer  ruhigeren  ErwUgung  und  Kttrung  derselben  in 
dem  Einzelnen  Plati  gemacht  hat,  kOnnen  wir  yersiohen,  daß  aueh 
wir  unseni  Haan  stellen  werdai  in  dem  Bingen  um  die  ümgeetsltnng 
des  Btiafrechtes.  Wenn  man  uns  Sachsen  auch  auf  der  «neu  Seite 
eine  gewisse  Schwerfälligkeit  in  der  Entschließung  nachsagt,  so  werden 
doch  auf  der  andern  Seite  die  Gründlichkeit  und  Innerlichkeit  ane^ 
kannty  mit  der  wir  alles,  was  wir  billigen,  alsbald  erfassen  und  er 
füllen.  Und  da  es  sich,  wie  der  Herr  Justizminister  sa^te,  im  vor- 
liegenden Falle  fremde  um  eine  Herzenssache  handelt,  so  zweifeln  wir 
nicht,  (lall  wir  als  ebenbürtige  Mitkiiiiipfer  unter  den  übrigen  Befor- 
mem  erscheinen  werden*  Daa  möge  die  Zukunft  erweisen! 


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vm. 

Zar  Selbstmordfrage. 

Dr.  BoMlutt  in  Stettin. 

en  Sei  bstmord  in  den  Vereinigten  Staaten  Ameri- 
kas hat  William  B.  Bailey  in  der  Mainummer  der  Yale  Review 
interessante  Erhehnnfrfn  vorflffentliclit,  die  allerdings  nicht  ererado  der 
Exaktlieit  entapreclien.  aber  immcrliin  doch  imstande  sind,  ein  unge- 
fähres Bild  von  der  Verbreitung  desselben  und  den  Motiven  dazu  zu 
geben.  Eine  Erhebung  auf  Grund  offizieller  Angaben  anzustellen 
war  nicht  miiglich,  da  die  ainerikanische  Regierung  der  verschiedenen 
Staaten  keine  exakten  Aufzeichnungen  vornehmen  lälH,  Verf.  durch- 
zog daher  in  Ermangelung  einer  besseren  Quelle  30  größere  Tages- 
blätter des  Uindes  einer  eingehenden  Durchsicht  Von  10  000  Selbst- 
morden in  den  Jahren  1897—1901  betrafen  7781  Männer  und  2219 
Waber;  das  männliche  Geschlecht  stellte  also  ein  3 Vi  mal  größeres 
Kontingent  als  das  weibliche.  In  den  meisten  Staaten  begehen  ye^ 
heiiatete  häufiger  Suioid  als  Ledige;  andererseits  wieder  alleinstehende, 
geschieden  und  verwitwete  Weiber  häufiger  als  Minner  in  derselben 
Lebenslage.  Von  den  Methoden  wird  Tod  durch  Erschießen  be▼o^ 
zngty  demnächst  geschieht  die  Entleibung  mittelst  Giftes.  Erhängen 
und  Ertrinken  sind  nicht  so  sehr  Terlneitet  wie  in  andern  Ländern, 
z.  B.  in  Nordeuropa.  Herabspringen,  Vergiftung  und  Tod  durch 
Kohlenoxyd  ist  nur  auf  die  Städte  beschränkt  Für  das  männliche 
Geschlecht  ist  die  beliebteste  Art  sich  das  Loben  zu  nehmen  das  Er- 
schießen; Herabspringen  hingegen  wird  am  seltensten  geübt;  Frauen 
hingegen  bevorzugen  Gift  und  schneiden  sich  am  seltensten  die  Adern  auf. 

Was  die  Motive  zum  Selbstmord  betrifft,  so  steht  Verzweiflung 
an  der  Spitze:  20  Proz.  aller  Selbstmörder  haben  dieses  als  Gnind 
angegeben.  p]s  folgen  sodann  geschäftlielie  \  erluste,  körperliche  Krank- 
heit und  Geisteskrankheit  mit  ungefähr  13  Proz.  An  letzter  ►^it  He 
ziemlich  kommt  getäuschte  Liebe.   Alkoboliauius  spricht  bei  Männern 


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i 


284  YIIL  BüacuA»,  Zai  Seibstmordlnge. 

oft  mit.  Weiber  tüten  sich  seihst  häufiger  aus  Gram,  denn  Männer; 
auch  schlechte  Gesundheit  erfordert  bei  ihnen  mehr  Opfer.  Zwischen 
20  und  30  Jabrai  werden  die  meisten  Sellmtmorde  ans  Kummer,  Ärger 
und  getäuschter  liebe  begangen;  zwischen  20  nnd  30  iBUtanoh  das 
Maximum  infolge  TonAlkoholismiiByGeisteBlaankeit,yenEweiflnng,bins- 
lichem  liger  and  Forcht  vor  Schande.  Zwischen  30  und  40  Jahren 
werden  die  meisten  Selbstmorde  wegen  Gescbäflsrerinste  und  mangel- 
hafter Gesundheit  begangen.  Im  allgemeinen  begehen  lYanen  Suidd 
in  früheren  Leben^ahien,  als  Männer.  Auf  den  Montag  USkm  die 
meisten  Selbstmorde^  die  demnächstige  Zahl  auf  Sonntag.  Von  Montag 
gebt  der  Prozentsatz  herab  bis  Donnerstag  (inklus.);  Freitag  tritt  ein 
pUStzliches  Ansteigen  ein  und  Sonnabend  wiederum  ein  Rückgang  auf 
die  gleiche  Zahl  wie  am  Donnerstag,  Sonntag  nimmt  die  Zahl  der 
Selbstmorde  dann  wieder  l)edeutend  zu.  Die  Männer  ziehen  Montag, 
die  Frauen  Sonntag  im  allgemeinen  vor.  Die  meisten  Selbstmorde 
werden  in  den  ersten  zwölf  Stunden  des  Tages  begangen.  Beginnend 
bei  Mittemacht  steigt  die  Kurve  bis  ungefähr  6  Uhr  Morgens  be- 
ständig an.  Selbstmorde  wegen  Krankheit  körperlicher  Leiden  und  aus 
Geisteskrankheit  werden  in  den  frühen  Morgenstunden  begangen,  aus 
Alkoholismus  und  Kummer  später  am  Vormittag,  aus  Verzweiflung 
am  Nachuiittag  und  aus  unglücklicher  Liebe  und  Familienzwisügkeitea 
spät  am  Abend. 


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\ 


IX. 

•Des  Churfürsten  zu  Sadismen  etc.    Vnd  Landgrauen  zu  Hessen  etc. 

Offen  Ausschreiben, 

Der  Mordbrenner 0  ynd  Yorgiffter  halben: 

Die  vom  Anti  Christ,  dem  Babst  zu  Born  abgefertiget,  Deudsch  Land 
mit  MordÜ>randt  vnd  vorgifftting  znbeschedigen. 

Item 

HertJiog  Johans  Wilhelmen  au  Bachseen  etc.  Sonderlich  au»»chrL>il)eii,  mit 
cinoorleibtcr  ur^cbt  vnd  bekcutiüs,  eins,  der  obbcriutcu  bcsdicdigcr,  so  zu 
Wejrmar  gefooglidi  einbracht,  vnd  «rfaalteii  wirdet 

Von  Gotts  gnaden,  Wir  Johans  Fridrich,  Ilertzog  zu  Sachssen, 
des  Heiligen  Römischen  Reichs  Erzmarscbalh,  vnd  Churfürst,  Uand- 
fjraff  inn  Düringen,  Margjjrraff  zu  Meissen,  vnd  Burggraff  zu  Magde- 
burg, Vnd  von  dessolhon  genaden  Wir  Philipps,  Landgraff  zu  Hessen, 
Graff  zu  Calzen  Elnlio^^en,  zu  Dietz,  Ciegenhain,  vnd  Nidda.  Em- 
pieten  allen  vnd  jeden,  Clmrfürsten,  Fürsten,  Grauen,  Herrn,  Ritter- 
ßchafft,  vnd  Steten,  so  vnser  Aujrs]nir<2:ischen  Confession,  Auch  vnser 
Christlichen  einunge  verwandt  sein,  Desgleichen  allen  vnd  jeden  vnsem 


1)  Anmerkung  des  Herausgebers.  Icli  bringe  die  Abselirift  dieser 
hochiucrkwurdigen  Enunziatiun,  su  wie  sie  Herr  Juliauucs  Jübling  (Drcsdcn- 
Löbtav)  eingesendet  hat  Daß  diese  und  iOinllelie  Veriaatbarangen  exiatiertea, 
haben  wir  schon  lange  gewußt  (vgi.  mein  Handbuch  für  Untersuchungsrichter, 
H.  Aufl.,  S.  2C>\).  es  fehlten  aber  genauere  Angaben  hierüber  gänzlich,  so  daß  ich 
den  Fund  de»  lierm  Einsenders  als  sehr  wichtig  bezeichnen  nmchtc.  Die  Be- 
deutung dieser  Schrift  liegt  darin,  daß  sie  uns  Angaben  über  die  borüchtigsten 
Mordbranneixeiefaeo,  die  Vwtlnfer  der  eigentUeheD  Oannerrinken,  ma«dit,  daS  aie 
echte  Steckbriefe  enthält  und  uns  Aber  die  damalige  Auffassung  strafprozessualer 
Sicherheit  unterrichtet  Erwiesen  ist,  daß  ein  Mann  (wohl  auf  der  Folter)  zu- 
gegeben hat:  einer  seiner  Genossen  habe  irgendwo  etwas  in  einen  Brunneu 
geworfen,  was  Gift  sein  soll.  Gefolgert  wird  daraus,  daß  der  Papst  ganze 
Banden  von  Mordbrenneni  und  Bnmnenveigifteni  nach  Deotachland  sendet,  um 
«der  Aogapnigischen  Konfeealon''  BeediSdigiuigen  zaxafllgeii,  damit  sie  „ge- 
schwedit*  werdol  Hans  Groß. 


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236 


Der  Mordbrannor  vnd  Voigiffter  halben. 


VDterthanen  vnd  Vorwandten,  vnser  freundlich  dienst,  vnd  was  wir 
liebes  vnd  gutes  vermögen,  Auch  gras,  goad  vnd  alles  ^tes  znaorao, 
Ehrwiidigsten,  Ebrwirdigen  in  Gott^  Hoehgebome  FBnten,  Wolge- 
bonen,  Edle»  yeste,  Enameii  weifleii  Heben  besonden  Bethe  vnd  ge- 
trewen,  Kaeh  deme  EL  Im  vnd  Ir  wüsen,  welcher  geetalt  der  Anti 
Ohrist  zn  Rom  der  Babet,  on  sweinel  durch  dogebaiige  des  bSeen 
Geistes,  ah  seins  werckgecengesi  fnr  etlichen  Jaien,  inn  Dendsohe 
Land,  yerordennnge  ynd  yorBehnnge  gela%  Das  die  ObnrfiUsten, 
FBisten,  Stende  vnd  Stete,  sonderlich  aber  die  jhenigen,  so  gemelter 
ynser  Angspnrgiscben  Confeasion,  ynd  Christlichen  Beligion  vnd  ein- 
nnge  zugethan,  mit  fewer  vnd  mordtbrand,  soHen  angef^riffen,  be- 
schediget  vnd  damit  gcscinvecht  werden.  Wie  dann  auch  daraoff 
erfolget,  vnd  grosser  trefflicher  schade  hin  vnd  wider  bescheben. 
Wiewol  nu  auch  gedachter  Bähst,  nicht  die  geringste  vrsache  ist,  das 
sich  der  Kavscr  itzo  vntcrstehet,  Gettos  Wort  vnd  die  wäre  Cliristliche 
Religion,  mit  seiner  des  Babsts  stattliclien  vnd  trefflichen  hülff,  die 
vor  Miifren,  vnd  nicht  kan  verneinet  werden,  mit  dem  Schvverd  zu 
denipffen  vnd  auszureuten.  So  ist  er  doch  daran,  seiner  nnirderisehen 
vnd  blutdürstigen  art  nach,  nicht  gesettiget  noch  zufriden.  Sondern 
hat  daneben,  wie  wir  des  von  hohen  Fürstlichen  personen,  aus  son- 
dern trewbertzigen  voluieinenden  bedencken,  gegen  vns,  vnsere  Reli- 
gioosverwandte,  vnd  der  gantzen  Deudschen  Nation,  glaub vvirdigen 
beficht  empfangen,  ettlich  yiel,  ynd  geschwinde  gifft  inn  Dwidsohe 
Land  yetordnet,  welche  gifft  auch  an  ein  benanten  ort  ankommen 
sein  sol.  Der  meinnng  ynd  mit  diesem  befehl,  f&memlich  die  Bmnneii, 
Teiche^  ynd  andere  stehende  Wasser,  ynd  wie  es  sonsten  snwegen 
bnusht  werden  mag,  Inn  E.  L.  ynd  ewem  Landen,  Gra&cba^en 
ynd  Herrschafften,  Steten  ynd  Gebieten,  auch  inn  ynsem  Landen  ynd 
Fftrstensthnmen,  damit  znuorgifften.  Anch,  das  also  neben  des  Eaysen 
fnmemen,  des  Babsts  ynd  Teuffels  mord^  an  menschen  vnd  vihe, 
auch  rnJirlit  ins  werck,  gestelt  vnd  gefUrdert  werden.  Wie  sich  dann 
das  Welsch  Kriegsvolck,  so  der  ßabst  dem  Kayser  zugeschickt,  offoit» 
lieh  vornemen  lest,  das  er,  der  Babst,  vns,  vnd  alle  vnsere  Religions- 
Verwandten,  jnen  habe  zu  preis  geben.  Aus  welchen  handlungen, 
E.  L.  vnd  jr,  ancli  nieniglich  leichtlich  vnn  gnugsam  zuuorstehen, 
das  der  Kaiser  \n(i  Habst  einmal  entschlossen,  E.  L.  vns,  auch  der- 
selbigt  n  vnd  vnsero  vntertlianen  vnd  Vorwandten,  allein  vnib  Gottes 
Worts,  vnd  w.arer  Cbristliebrn  Religion  willen.  Naeb  dem  wir  alle 
one  das  mit  dem  Bai)st  ni<-lit  zulliun  haben,  gentzlich  zuuortilgen,  vnd 
wüü  der  Keyser  mit  dem  Sehwert  nicht  allenthalben  vermag,  das  wil 
der  Babst  mit  gifft  ausrichten.    Als  haben  wir  freundlicher  gnediger 


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Der  Mordbrenner  vnd  Vorgittter  halben. 


387 


trewer  wolmeinung,  auch  Christlicher  lieb  vnd  vorwandtmis  nach, 
nit  vnterlassen  wollen,  E.  L.  vnd  euch,  solches  durch  dieses  vnser 
offen  ausschreiben,  also  bald  kund  zuthuen,  vnd  des  zuuorwarnen. 
Auff  da.s  durch  flottes  verloihuni,',  meniglich  sich  dis  fals,  so  viel  mehr 
vor  zusehen,  vnd  zuhtiten  haben  niüe:e.  Und  zweiueln  nicht  E.  L. 
vnd  Ir,  werden  in  jren  landen,  Graffschafften,  Herrschafften,  Steten 
vnd  Gebieten,  liarauff  fürderliche  vnd  vnuorzügliche  Verschaffung;  vnd 
verfü<^ung  thun.  Damit  des  Babsts  verordent  vergifften,  der  Brunnen 
vnd  Wasser,  vnd  wie  er  es  sonsten  möchte  ins  werck  richten  wollen, 
durch  Göttficbe  gnedige  verleibunge,  vorhütet  vnd  vorkommen.  Vnd 
in  Bonderheit  danmff  aehtung  geben  lassen,  das  die  abgefertigten  per- 
sonen  mügen  begriffen,  eingezogen,  gefraget,  ynd  als  denn  jrem  ver- 
dienst nacb,  ynnaehlessig  gestiaffk  werden.  Do  auch  einer  oder  mehr 
betretten,  vnd  jr  bericht  gehSit^  So  werden  £.  L.  vnd  Ir,  denselben 
fOrdeTi  vns  vnd  den  andern,  anoh  wol  snerkennen  zugeben  wisseD. 
Damit  wir,  vnd  sie^  vns  darnach  auch  mttgen  haben  znricbteo,  rad 
diesem  Tnerbam  vorreterlichem  des  Bahstes  fümemen  dester  bas  be- 
gegnen. So  wöllen  wir  auch  den  nnsem  solches  hiemit  in  gleichnns 
ernstlich  auch  beuohlen  haben.  Das  weiten  wir  E.  L.  vnd  Euch, 
freundlicher  vnd  gnediger  meinung,  nit  vnorOffnet  lassen,  vnd  sind 
£.  L.  freundlich  zudienen,  auch  Euch  genade  vnd  alles  i^uts  zuer- 
zeigen geneigt,  vnd  erbötig,  vnd  die  vnsern  thun  daran  vnser  f^entz 
liehe  nieinunj;.  Zu  vrkund  mit  vnsern  hicrauffjredruckten  Secreten 
besigelt,  vnd  geben  in  vnserm  Feldleger  bey  Erichessem,  den  XXX. 
tag  Augusti.  M.  D.  X.  Lvj. 

Dieweil  anff  obberodte  ausschreiben  inn  Hochgedachter  Ohnr 

vnd  Fürsten,  FQrstentbumen  vnd  landen,  auffmercken  geschehen, 
auff  vordechtige  Wandersieute,  vnd  inn  einem  Gehültze,  nahend  vor 
der  Stadt  Weymar,  das  grosse  Wcbicht  genant,  einer  itetroffen,  der 
inn  Pilgrams  gestalt  geg^ungen,  auch  kein  deudscb  reden  können.  Ist 

derselbe  zu  jrefengnis  eingezogen,  seins  gewerbs,  wandels,  wesens, 
vnd  gescheffts  befraget.  Vnd  hat  seine  aussage  gethan,  wie  aus  fol- 
gendem, üertzog  Johans  Wilhelmen  zu  Sacbssen  etc.  schreiben,  zu- 
bef  inden : 

Von  Gotts  gnaden,  Johans  Wilhelm  üertzog  zu  Öachssen  etc. 

Lieben  getrewen,  Nach  dem  die  Hochgebomen  Fttrsten,  Herr 
Johans  Fridrich  Hertzog  zu  Sachssen,  Churfürst  etc.  vnd  Burggraff 
zu  Magdeburg,  Vnd  Herr  Philips,  Landgraff  zu  Hessen,  vnsere  gnediger 
lieber  Herr  vnd  Vater,  vnd  freundlicher  lieber  Vetter,  kurtz  vorschiener 


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238 


Der  Mordbrenner  vnd  VoiigiCfter  halben. 


zeit  aus  jlirer  j^naden,  vnd  liebden,  Feltlafjer.  Ein  öffentlich  Aus- 
schreiben vns  anhero  ^esand,  darinnen  angezeigt,  Welcher  gestalt  der 
Babtst  \  iid  Antichrist  zu  Rom,  vorgifftung  aus  zu  sprengen,  bestellung 
gethan,  die  dann  nuiuehr  publicirt  worden  seind. 

Als  wollen  wir  euob  femer,  gnediger  meinung  nicht  ynangezeigt 
lasBen,  du  duroh  Bondeiliche  gnedige  aohieknng  des  AUmechtigen, 
Am  negat  ▼orachienen  Frey  tag  zn  abend,  allhier  im  grofiea  Webiehi 
ein  Wabl|  so  in  eins  Pilgröms  gestalti  rnd  bOsen  kleidem  gegangen^ 
ergriffen,  eingezogen,  ynd  wie  Tolgti  ausgesagt 

Das  er  Jakob  JnUan  heisse,  sej  von  Leon  ans  lYanekidoh 
Bfirtig,  l>es  Babtte  Hanptman,  ein  langer  Edelman,  so  zn  Born  wonef, 
hab  jn  nebst  andern  viem  zn  Rom,  ror  zwmen  Monaten,  inn  sonem 
Hause,  inn  des  Babstes  Namen,  bestellet  md  abgefertigt,  vnd  jme 
fUnff  Kronen  <2:egeben  die  Strassen,  inn  diesen  Landen,  abzusehen  (ynd 
des  BabfltB  Volck  wttrde  bald  hernach  komen)  vnd  darinnen  zn 
brennen,  vnd  die  Brunnen  zuuorgifften,  mit  Verwendung,  sie  theten 
ein  gut  werck  daran,  vordieneten  vorgebung-,  aller  jrer  Sünden,  wann 
sie  nur  viel  Schadens  damit  ausrichteten,  Dann  die  Deudschen  weren 
gar  wider  den  Heiligen  Stul  zu  Rom,  Seine  Gesellen  betten  die  Gifft 
bei  jnen  gehabt,  inn  einer  hültzerne  Büchssen,  die  zehen  zwerjr  finjrer 
hoch,  vnd  eine  Me8sing:en,  darinnen  sie  andere  Speties  gehabt,  so 
auch  Gifft  gewesen,  welchs  er  ijesehen.  Solche  zwu  Büchssen, 
trügen  sie  alle  beide  inn  einem  Li  (lerne  Seckiein,  Er  habe  keine  Gifft 
gehabt,  könne  sie  auch  nicht  machen,  Die  Gifft  aber  were  weiss  vnd 
schwartz,  durch  ein  ander  gepüluert. 

Sein  erster  Geselle  heiße  Peter  Juliam,  Ein  Italianer  von  Rom, 
der  habe  xiiij  Kronen  empfangen,  Was  aber  den  andern  gegeben, 
weis  er  nieht,  Dieser  habe  einen  grawen  sohwaifzen  Bard,  sey  alt,  vnd 
ein  Schuster,  habe  an  Spanische  Gappen  Botter  färben,  Ein  Wambs 
von  Rotem  tnche,  Braune  Hosen,  ein  Rot  Bared,  welohs  nicht  gros. 

Der  ander  Geselle,  heisse  Johann  Latran,  sey  ein  Florentiner, 
vnd  schwartzer  stareker  Geselle,  vnd  ein  WOlIeweber,  habe  einen 
schwartzen  vmbneme  Rock,  mit  Ermein,  eui  schwartz  wttllen  Wambs, 
vnd  Hosen  so  nicht  gar  braun,  sondern  etwas  Leberfaibe  mit  smn, 
Ein  kleines  grawes  Bared. 

Der  dritte  heilie  Xicolaus,  auch  von  Florentz,  sey  ein  alter  Man,  sol 
ein  Seiler  sein,  sey  durchaus    kleidet,  wie  Johann  Latran,  Derselbige 
habe  sampt  andern  seinen  Gesellen,  vier  Laruen  geliabt,  die  weren  zu 
Rom  gemacht,  do  het  er  sie  gesehen,  weren  alle  auff  Bertigte  man- 
Htomit  i^t  schafft  zuirericht,  Seine  Gesellen  betten  die  Laruen  auch  vorgetban, 
8tadiw«u»  hei  einer  btad,  die  vfC  einem  Berge  ligt 


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Der  MordbnniMr  vnd  Voigiffter  halbeD.  289 

Der  Vierde  heisset  Lu(lwip:k,  auch  von  Florentz,  soy  ein  •^^^"t^^''^  j'^^j^'^''*"^^' 
starcker  Man,  ein  Schuster,  hal)e  ein  leherfarben  Mantel  vff  Neapolo-gonerndiei- 
tonisch,  ein  weis  parchond  Wamhs,  Braune  Hosen,  ein  eravv  liaredt,»®  o«««u*a 

,  Ton  eiiuuidsr 

Dieselbige  seine  fresellen  tnigen  Schefflin  und  Rapir,  könne  al)er  jhre  gegangen, 
Zunamen  nicht  wissen,  Vnter  denen  könnten  die  zween,  Xicolaus  vnd  ^«  Wgeod« 
Ludewick  Deudsch,  die  hetten  die  andern  herein  gefiirt,  weren  zuuor  meidet  wüd. 
auch  iuD  Deudsch  Land  gewesen,  vnd  wüsten  bescheid,  auch  Inn 
Behemeo. 

Zu  Halle  im  Innthal,  hetten  seine  Gesellen,  mit  Gifft»  die  einer 
welsehen  Kos  i^ros  gewesen,  einen  Brennen  vorgifftet,  Solehe  seine  vier 
Gesellen  weren  yngeferlicb  sieben  Meil  weges  Ton  binnen,  am  negst 
Toigangen  Dinstage  acht  tage,  bey  einer  Stad,  da  ein  Sohlos  rtt  dem 
Beige  ligt,  yon  jme  gegangen. 

Und  jnen  allen,  wy  za  Rom  dieser  hesehdd  gegeben,  das  sie  nach 
ansrichtnng  jhrer  gesoheffte^  widder  zum  Babst  oder  seinem  Kriegsvolck, 
wn  das  an  zutreffen  sein  würd^  beim  Gebirge  kernen  selten. 

Der  Gefangene,  habe  auch  7on  seinen  Gesellen  gehört,  das  der 
Babst  an  andere  orter,  jhrer  mehr,  zu  solcher  bescbedignng,  abgefertigt 
habe.  Seine  Grsellon  aber  hetten  eine  Stad,  dahin  er  widder  zu  ihnen 
koinen  solte,  S.  Andre,  zwelff  nieilen  von  hinnen,  benennet,  er  wQste  genen  b»-* 
sie  aber  nicht  zu  nennen,  noch  zu  finden.  »ioheooa 

TontuidM 

Vff  (las  nun  vnsers  ^rnedigen  liel)en  Herrn  vnd  Vaters,  I^ind  vnd  mögen  wer- 
Leute  schaden  vnd  vorterbe,  Mit  der  bestalten  P'i'wer  vnd  Gifft  einie^nin;:,  ^'"-g^^  ®' 
Durch  hiilffe  des  Allmechtigen  vorhiitet.  vnd  solche  abp:efertif!:te  Vor-  Amwbwg 
terbere,  eingebracht  vnd  gestrafft  werden  ni<>gen.  So  begern  an  stad 
vnsers  gnedigen  lieben  Herrn  und  Vaters,  wir,  jlir  wollet,  in  Ewerm  nicht  neht 
Kreise,  Grauen,  Herrn,  denen  von  der  Ritterschafft,  Haupt  vnd  Arap-  "JJJJJJJ* 
lenten,  Sebossem  nnd  Sehnitheisen,  den  Bethen  der  Stedte,  vnd  andern 
gemeinden,  solchs  auch  anzeigen  lassen,  domit  man  vff  die  Abg^ertig* 
ten  Mordbrenner  vnd  Vorgiffter,  gut  achtnng  gebe,  sie  gefenglicb  vnd 
zu  gebfirlicher  straff,  einbrenge^  vff  das  durch  Gottes  hlllff,  Solch  Vor- 
gifftang,  vnd  Ifordtbrandt  vorkommen,  vnd  Land  vnd  Lente,  vor 
solchem  schaden  vorhQtet  bleiben. 

Vnd  dieweil  dann  solche  besteilte  Wahlen,  Handweieks  Leute, 
Schuster,  Wiilleweber,  vnd  Seiler  seind,  Vnter  denen  zween,  Deudsch 
können  sollen,  So  wollet  sonderlich  inn  den  Steten,  durch  die  Hand- 
wergs Meister  vnd  Wirte^  vff  sie  gut  achtung,  geben  lassen,  vnd  so  einer 
odder  mehr  ergriffen,  von  denselben  als  balde,  was  bey  jme  befunden, 
noiin'ii,  vnd  do  er  Deudsch  kan,  mit  ernst  befragen,  wu,  vnd  an 
weK  lieni  ort,  er  die  Brunnen  oder  Wasser  vorgifftet,  oddcr  Fcwcr  an- 
gelegt habe,  vnd  wo  sein  Gesellen  anzutreffen  sein  möchteU|  da  er  aber 


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240 


Der  Mordbreoner  vnd  VorgUftcr  halben. 


nicht  Deudsch  können  möchte,  aolchs  bey  tag  vnd  nacht  anher  zuer- 
kennen geben,  wollen  wir,  zubefehlen  wissen,  das  er  auff  seine  Sprach 
durch  jemand  derseU)en  kündig?,  befragrt  werde,  vnd  sie  mitler  zeit^ 
wol  verwarlich  im  (iefengnus  enthalten,  thimit  sie  nicht  entwerden, 
odder  jhnen  selbst  schaden  tbun  möchten ,  Daran  geschieht  an  stad 
YBseiB  gnedigen  lieben  Herrn  ynd  Yatecs,  Vnsere  geffellige  meinung, 
Datom  Weymar  vnter  8.  G.  Badtnegd,  Hitwocba  nach  Matthej  Apostoli, 
Anno  M.DXLvj.'. 


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X. 

Zur  frage  des  BerulsgeiieiiiLnisses. 

Trotzdem  in  dieser,  allerdings  außerordentlieli  wichtigen  Frage 
eine  reiclilialtige  Literatur  'j  entstanden  ist,  sclieint  es  mir  doch,  als  ob 
zu  wenig  erwogen  worden  wäre,  ob  wir  nicht  mit  den  bestehenden 
Gesetzen  auslangen  und  befriedigende  I^sung  finden  könnten.  Aller- 
dings nicht  mit  der  Bestimmung  der  österr.  St.-G.,  welches,  altfränkisch 
nach  Form  und  Inhalt  im  498  erklärt:  ,,Ein  Heil-  oder  Wundarzt, 
Geburtshelfer  oder  eine  Wehmutter,  welche  die  Geheimnisse  der  ihrer 
Pflege  anvertrauten  Personen  jemand  anderem,  als  der  amtlich  an- 
fragenden BehSrde  entdecken,  sollen  . .  Das  iet  so  streng  und  deut- 
lich aDQgedrfickty  daß  ein  Zweifel  darüber,  gegen  wen  das  Geheimnis 
gewählt  werden  muß,  nicht  snfkommen  kann.  Nicht  so  Uar  gelöst  ist 
allerdings  die  Frage,  unter  welchen  Bedingungen  fOr  den  betrefitenden 
Arzt  nsw.  die  Verschwiegenheitspflicht  schon  beginnt;  wenn  jemand 
ein  einziges  Mal  bei  einem  Arzt  war,  nm  ihn  z.  B.  lediglich  etwas 
zn  folgen,  so  kann  man,  dem  Sprachgebranche  gemftß,  wohl  kaum 
sagen,  daß  er  sich  ^der  Pflege  des  Arztes  anvertrauf"  bat  Gerade 
in  dieser  Dichtung  können  aber  die  schwierigsten  hierha  gehöligen 
Fälle  zu  Erledigung  kommen:  ein  Mann  kommt  zum  Arzt  und  fragt, 
ob  er  wegen  Nervosität  oder  eines  längst  geheilten  Geschlechtsieidens 
heiraten  darf,  und  der  Arzt  erkennt,  daß  der  Mann  an  beginnender 
Paralysis  j)rogressiva  leidet,  daii  seine  Syphilis  noch  nicht  geheilt  ist. 
Wenn  sich  nun  der  Betreffende  nicht  überzeugen  läßt  und  es  fragt 
sich,  ob  der  Arzt  die  Eltern  der  liraut  warnen  darf,  so  krmnte  man 
allerdings  betonen,  daß  dieser  Mann  zwar  eine  Konsultation  ver- 

1)  S.  diese  nameDttich  bd  Fromm  e,  Die  rechtliche  StaUmig  des  Antee  and 

8^e  Pflicht  zur  Verschwiegcuhcit  im  Berufe.   Berliner  Klinik.  165.  Heft;  oder: 
B  i  b  0  r f  f  I  •! ,  Die  Schwcigepflic-ht  des  Afztee.  Zeitechr.  L  Med.<Beunte.  Nr.  18. 1902. 
Aiohir  für  KiimiaaluiUinpologi«.  XUI.  16 


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242  X.  Gbobs 

lan^'te,  aliir  »ich  nicht  „der  Pflege  eines  Heil-  oder  Wundarztes  an- 
vertraut" liat. 

Mit  solchen  Schwierigkeiten  hefalit  man  sich  jedoch  nicht  gerne, 
das  österr.  St.-G.  ist  im  Sterben  begriffen  und  es  lohnt  sich  nicht  der 
Mühe  zu  erforschen,  welchen  Sinn  diese  Worte  vor  100  Jahren  ") 
gehabt  haben. 

Anden  «lebt  es  mit  der  Frasang  der  eEtspreefaenden  Stelle  dee 
D.  B.^t-G^  welche  so  beecfaaffen  ist,  daß  man  gegen  ihre  Aufnahme 
in  dn  neues  Gesetz  nidits  einwenden  kann,  wenn  die  vom  Gesetzgeber 
gewShlten  Worte  richtig  ventanden  werden;  ich  halta  dieselben  für 
wohl  überlegt  und  dner  modernen  Auffassung  entsprechend.  300: 
„BechtsauwSlte,  Advokaten,  Notare,  Verteidiger  in  ^rafsachen,  lizte, 
Wundäizte^  Hebammen,  Apotheker,  sowie  die  Gehilfen  dieser  Personen, 
werden,  wenn  sie  unbefugt  Privatgeheiranisse  offenbaren,  die  ihnen 
kraft  ihres  Amtes,  Standes  ,  Gewerbes  anvertraut  sind ...  mit ...  be- 
straft** Fassen  wir  diesen  Text  mit  Rücksicht  auf  unsere  Frage  ins 
Auge,  so  müssen  wir  zuerst  feststellen,  daß  uns  im  Punkte  der  Aus- 
legung nur  zwei  Worte  Schwierigkeit  bereiten  können:  was  heißt 
„Frivatgeheimnis"  und  was  heißt  ,,unl)efugt"? 

Was  das  erste  Wort  anlangt,  so  möchte  es  vor  allem  ht'dünkt  n, 
daß  es  genügt  hätte,  wenn  es  hieße  „Oeheinmis^  —  welcher  Unterschied 
zwischen  lieidcn  Worten  (im  liirr  ireniointen  Sinne)  bestehen  sollte,  ist 
schwer  zu  sagen.  Von  Staatsgelieiuinissen,  Amtsgeheiinnisspn  kann 
doch  nicht  die  Rede  sein,  und  von  sogenannten  „öffentlichen  (Geheim- 
nissen'" pflegt  man  nur  formell  zu  sprechen;  was  jemand  im  Berufe 
geheim  erfährt,  ist  entweder  Geheimnis  schlechtweg,  oder  Amtsgeheim- 
nis —  für  letzteres  bestehen  besondere  Bestimmungen  und  ersteres 
kann  nur  Privatgebdmnis  sein,  es  hStte  also  nieht  bloß  genügt,  wenn 
der  Gesetzgeber  „Geheimnis'^  gesagt  hätte,  sondern  es  wäre  manche 
Schwierigkeit  vermieden  worden.  Daß  man  aber  das  ^Gebeimnis*^ 
in  den  Text  des  Gesetzes  aufgenommen  hat,  war  sehr  zweckmäßig, 
da  es  zu  Unzukömmlichkeiten  geführt  hätte,  wenn  das  WeitererzShlen 
von  allem  verboten  worden  wäre,  was  man  im  Berufe  wahrgenommen 
bat  Ein  vorsichtiger  Arzt  oder  Advokat  wird  allerdings  überhaupt 
nichts  wiedergeben,  was  er  als  solche  erfahren  hat,  aber  man  kann 
doch  nicht  etwa  einen  Arzt  strafen,  wenn  er  teilnehmenden  JB^eonden 
eines  Verletzten  z.  B.  erzählt,  daß  das  Bein  nicht  gebrochen  sondern 
bloß  arg  gequetscht  wurde.  Deshalb  bat  der  Gesetzgeber  nicht  ge- 

1)  Der  Text  des,  cUeeem  §  498  entapreehendttn  $  24S  det  8t-G.  von  1808  ist 

wortlich  gleiclilnutciul ,  imr  steht  statt  des  „Heil-  oder  Wimdant;"  vom  185S  im 
üesotz  von  IbOS  viel  moderner  bloü:  „Ein  Arzt". 


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Zar  Frage  des  Berafigebeimnisaes. 


248 


m^t:  y,wenn  sie  unhefui^t  das  im  Berufe  Erfahrene  offenbaren"*  — 
sondern  „Privatgeheimnisse",  d.  h.  das  Gesetz  hat  hier  iinbedincrt 
auf  den  Takt  des  Arztes  usw.  appelliert,  und  hat  es  ihm,  allerdinj^s 
auch  ^gegebenenfalls  dem  erkennenden  Richter,  zu  erwä^^en  überlassen, 
ob  das  in  Erfahrung  Gebrachte  als  Geheimnis  zu  betrachten  ist  oder 
nicht;  im  letzteren  Falle  darf  er  es  weiter  erzählen,  im  ersteren  nicht. 
SeibstverBtändlicb  braucht  der  Klient  oder  Patient  den  Advokaten  oder 
Ant  nidht  erat  aoBdraekUeh  um  Geheunhaltmig  zu  bitten,  dieser  ist 
hienn  durch  das  Geeels  gebunden,  nnd  hnt  nach  eigenem,  Teiaatwort* 
liebem  Ermessen  za  entsefaeideBi  ob  das  Wabigenommene  als  Piivat- 
gebeimnis  aaznseben  ist  oder  nicht  Allerdings  dttifle  der  Klient  oder 
Patient  ancfa  eine  gewisse  deUarsAiTe  Macht  besitsen  nnd  wenn  er  dem 
Advokaten  oder  Aizt  sagt:  „anch  diese  nnbedeniende  Kleinigkeit 
wünsche  ich  als  Geheimnis  betiaobtet  zn  sehen**!  ^  Privat- 
gebeimnis  in  Sinne  des  Gesetzes,  der  Aizt  usw.  hat  nicht  mehr  zu 
erwägen,  sondern  zn  schweigen,  er  darf  also,  nm  das  frUhere  Beispiel 
nochmals  heranzuziehen,  auch  den  teilnehmenden  Freunden  nicht  sagen 
ob  es  sich  um  einen  Beinbruch  oder  eine  Muskelquetschung  handelt.  — 
Wie  nun  der  Advokat  usw.  erwägt,  ob  es  sich  um  ein  Privatgeheim- 
nis im  Sinne  des  Gesetzes  handelt  oder  nicht,  das  ist  seine  Sache, 
jedenfalls  wird  er  aber  veri)fliclitet  sein,  diese  Frage  nieiit  bloß  sach- 
lich zu  erwägen  (aho  etwa  blol»  dann  zu  schweigen,  wenn  es  sich 
mn  Geschlechtskrankheiten,  Wahnsinn  und  Schwangerschaft  handelt), 
sondern  er  wird  alle  begleitenden  Umstünde  in  f]rwägung  ziehen  und 
nach  ihnen  entscheiden  müssen,  ob  ein  (ieheininis  vorliegt,  er  wird 
auch  im  Zweifel,  auch  im  eutferutcäteu  Zweifel,  eher  die  Frage  be- 
jahend erledigen. 

Jedenfalls  darf  aber  angenommen  werden,  und  das  ist  fQr  die 
weitere  Erörterung  von  Wichtigkeit,  daß  das  Gesetz  im  vorliegenden 
FsUe  wenigstens  bei  der  Auslegung  des  Wortes  „Privatgeheimnis''  auf 
die  versntwortliche  Überlegung  und  den  Takt  des  Arztes,  Advo- 
katen usw.  ^>pelliert  hat 

Schwieriger  und  weitaus  wichtiger  ist  die  Auslegung  des  Wortes 
„unbefugt**,  und  es  scheint  als  ob  hierauf  bisher  zu  wenig  Gewicht 
gelegt  wuide;  es  ist  vielleieht  anzunehmen,  daß  alle  Schwierigkeiten 
und  Konflikte,  die  diese  Gesetzesstelle  gebracht  hat,  zu  beseitigen  sind, 
wenn  die  Bedeutung  dieses  Wortes  gefunden  ^^  er(len  kann. 

Nach  dem  gemeinen  Sprachgebrauche  haben  die  Worte  befugen, 
Befugnis,  befugt  und  unbefugt  eine  transitive  und  intransitive  Be- 
deutung: „ich  befuge  jemanden"  ist  transitiv,  aktiv,  objektiv  aus- 
drückend —  „ich  bin  befugt^  aber  iutrauaitiv,  paäsivi  subjektiv.  Hierin 

16  • 


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244 


2L  Ghom 


liegt  aber  ein  anderer  Unterschied  als  in  dem  grammatischen  Aktiv 
und  Passiv  („ich  sehe"  und  „ich  werde  gesehen"^),  denn  in  unserem 
Falle  handelt  es  sich  um  die  Frage,  ob  zum  Begriffe  der  Befugnis 
stets  eine  zweite  Person  notwendig  ist,  von  weleher  dieselbe  ausgeht 
Sehen  wir  zu,  was  diesseits  idn  spmchlioh  Msielit  Die  einzige,  abr 
flolnt  yerllUUiche  Quelle  fflr  solche  Fragen  ist  bekanntlich  das  Denteohe 
Wörterbuch  von  Jac.  und  WOh.  Grimm,  in  wdohem  sieh  (im  4.  Bd^ 
I.  Abt,  I.  HSlfte)  pag.  871  Torent  die  Wund  unseres  Weites  gfug^ 
findet  Sdbstrentftndlich  hat  dasselbe  TCfscfaiedene  Bedeutungeo,  von 
denen  snb  2  genannt  ist:  „paßlichkeit,  angemessenheit,  besonders 
nach  ort,  zeit  oder  umstlnden.'^  Dann  sub  3)  ,  .  .  „das  was  ge- 
ziemt^; sub  4:  „das  was  paßt  und  zu^eioh  zum  vorteil  gereicht^  das 
was  Yorteilbringend  paßt" 

Bei  dem  Worte  „befugen,  befügen"  (^fast  nur  im  Part,  prät 
übrig,  also  befugt,  unbefugt")  heißt  es  zwar  allerdings:  „ermächtigen* 
es  wird  aber  namentlich  ein  Beispiel  aus  Wieland  angeführt:  „die 
einzige  Belohnunir,  wdclie  er  sich  befugt  halte,  für  seine  Dienste  zu 
verlangen"'  —  wornacli  „befugt''  nicht  blofi  ermächtigt,  sondern 
auch  berech  ti;rt  heilieu  muli.  Es  ist  also  luich  Grimm  sowohl  die 
transitive  als  auch  die  intransitive  Bedeutung  des  Wortes  festgestellt, 
d.  h.:  wenn  wir  das  Wort  „befugf*  sehen,  so  können  wir  sowohl  (hus 
Vorhandensein  einer  zweiten  Person,  von  welcher  die  Befugnis  aus- 
geht, annehmen,  als  auch  diese  Existenz  ausfichlielien,  und  die  Befug- 
nis im  Uberlegen  des  Subjektes  liegend  annehmen.  Also,  wenn  ich 
befugt  bin,  etwas  zu  tun,  so  kann  eine  zweite  Person  bestehen,  die 
nüeh  befugt  hat,  sie  muß  abor  nicht  «zistierett,  und  mein  Befugtsein 
kann  lediglich  auf  allgemeinen  Grundsätzen,  auf  gesetzlichen  Bestim- 
mungen, auf  meinen  Überlegungen,  auf  meinem  Gewissen  beruhen. 
Ob  das  dne  oder  das  andere  yoili^  hSngt  vom  Ealle  ab:  wenn  ich 
befugt  bin,  in  einem  Beyier  zu  jagen,  so  muß  jemand  existieren,  der 
mir  die  Befugnis  erteilt  hat  Wenn  ich  aber  befugt  bin,  zu  essen,  zu 
trinken,  zu  arbeiten,  mich  zu  erholen,  mich  Ober  erlittoie  ünbill  zu 
beklagen,  mir  jene  Handwerker  zu  wählen,  die  ich  beschiftigen  will, 
so  existiert  niemand,  der  mir  die  Befugnis  ertdlt  hat:  im  ersten  Falle 
heißt  Befuirnis  die  erteilte  Ermächtigung,  im  zweiten  die  be- 
stehende Berechtigung.  Dieser  Unterschied  ist  aber  für  unsere 
Frage  von  Bedeutung,  und  wir  wollen  zusehen,  in  welcher  Bedeutung 
im  300  D.R.St.G.  das  Wort  unbefugt  zu  verstehen  sein  kann.  Hierbei 
wollen  wir  der  Kürze  halber  die  [eine  Bedeutung  der  Befugnis  als 
^Kruiiic  litigung",  die  andere  als  ,.Berechtigung"  bezeichnen; 
und  auch  nicht  mehr  vom  Anwalt,  Arzt,  Hebamme  usw.,  sondern  bloU 


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Zur  Füge  des  BenifsK«hdiniune0. 


245 


vom  Arzt  sprechen,  zumal  sich  gerade  in  seiner  Person  diesfalls  die 
größten  Schwierijjkeiten  finden;  auf  die  anderen,  im  §  300  fr*'nannt<'n 
Personen  findet  das  rrC8af::te  sinngemäße  Anwendung;.  Fragen  wir 
also  zuerst,  ob  hier  unten  „unbefugt''  bezw.  Befugnis  eine  (transitive) 
Ermächtigung,  besser  gesagt:  eine  Erteilung  einer  Ermächtigung  zu 
verstehen  ist,  so  muß  sich  unmittelbar  daran  die  Frage  knüpfen: 
„von  wem?"  —  mit  anderen  Worten:  wenn  wir  behaupten:  ,,unbe- 
fugt"  heißt  hier:  ohne  erteilte  Ermächtigung,  so  muß  unbedingt 
festgestellt  werden,  wer  die  Ermächtigung  geben  muß,  damit  der 
Arzt,  der  „otfeidMurIf*,  stialM  Ueibt 

Die  flAehfldiQgeiide  Antwort  wSre:  „nur  der  Patrant,  oder  aeme 
Angehörige  oder  der,  der  den  Ant  gerufen  hat''.  Hiermit  ist  nicfats 
gesagt;  vor  allem  kann  niemand  sagen,  was  man  unter  „Angehdrigen" 
zn  yerstehen  hal^  nnd  selbst  wenn  man  diese  auf  das  engste  ein- 
schränken wollte^  so  kann  man  sieh  genug  FUle  denken,  in  wdehen 
gerade  die  nSchsten  Angehörigen  nichts  erfahren  sollen  (Eltern  oder 
Gatten  bei  Geschlechtskrankheiten,  Kinder,  die  mit  den  Eltern  in  Feind- 
Bchaft)  Geschwister,  die  miteinander  in  Zwietracht  leben).  Daß  der- 
jenige, welcher  den  Arzt  gerufen  hat,  hierdurch  allein  keine  diesfälligen 
Bechte  erwirbti  braucht  nicht  besprochen  zu  werdra,  aein  Verhältnis 
zur  Sache  kann  ein  ganz  äußerliches  und  zufälliges  sein.  Es  bliebe 
also  nur  der  Patient  übrig,  der  aber  in  vielen  Fällen  außer  Betracht 
kommen  muß,  da  Kinder,  Schwerkranke,  Irrsinniire  usw.  eine  Er- 
mächtigung nicht  geben  können.  Aulk-rdem  sind  genug  Fälle  denk- 
bar, in  welclien  der  Arzt  mit  Umgehung  des  Kranken  mit  anderen 
sprechen  mult:  niemand  wird  von  „unbefugtem"  Handeln  spreclien, 
wenn  der  Arzt  auch  ohne  Bewilligung  des  Kranken  z.  B.  die  Ange- 
hörigen auf  die  gefährliche  l^ige  aufmerksam  niaclit,  dem  AVärter 
eingehende  Verhaltungsmaßregeln  gibt  oder  mit  einem  erfahrenen  Kol- 
legen den  schwierigen  Fall  zu  seiner  Information  bespricht  Wann 
er  dies  tun  darf,  wie  viel  gesagt  werden  kann  und  wem  er  die  Mit- 
teilungen zn  machen  hat,  ohne  stnffiUtig  zn  worden,  das  kann  unmög- 
lich, weder  im  allgemeinen,  noch  im  besonderen  fÜle  gesagt  werden, 
wir  haben  auch  hier  wieder  eine  Sachlage^  in  welcher  man  dem  Arzt 
sein  Vorgehen  zur  eigenen  Überlegung  g^en  muß. 

Wir  kommen  also  zur  Erkenntnis,  daß  die  Auslegung  des  Wortes 
Befugnis  (also  hier  „unbefugt*^)  als  Ermächtigung  in  dem  Sinne 
unzulässig  ist,  daß  dne  bestimmte  Person  die  Befugnis  erteilt  haben 
müßte.  Der  Kranke  selbst  kann  es  nicht  sein,  weil  zu  viele  Fälle 
denkbar  sind,  in  ^vele}lem  von  ihm  aus  eine  Befugnis  nicht  erteilt 
werden  kann,  die  Augehörigen  können  es  nicht  sein,  weil  niemand 


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246 


X.  Gbom 


zu  sajien  vemiafr,  welclic  von  ihnen  gemeint  sein  sollen,  weil  eigent- 
lich für  jeden  Fall  mit  Erwägung  der  besonderen  Umstände  eine  be- 
sondere Bestimmung  gdroffen  werden  niiilite.  Hiernach  ist  von  der 
Auffassung  im  JSinne  eines  ^Ermäohtigungerteilens''  unbedingt  abzu- 
sehen, und  es  erübrigt  bloß  die  Auslegung  im  Sinne  subjektiver 
Berechtigung,  nach  welcher  wir  annehmen,  der  Ar/t  usw.  handle 
dann  befugt,  wenn  er  nach  reiflicher  Erwägung  aller,  im  besonderu 
Falle  maltgebenden  Umstünde,  nach  Wissenschaft  und  Gewissen  zur 
Überzeugung  kommt:  er  sei  befugt,  das  ihm  (als  Privatgeheimnis) 
ABTertnute  jemand  anderem  mitntteUen.  Dieae  Befogois  wird  er 
aelbBtreratändficb  dann  empfinden,  wenn  er  einen  weaentlich  größeren 
Sehaden  yerlitttet^  als  es  der  ul,  den  er  dnreh  den  Bmeh  des  Ge- 
hemmiflees  ▼eronaeht 

Wir  sagen  daher:  statt  Avfsteilnng  engheniger  Schwierigkeiten 
und  Ungerechtigkett  mengender  Begebi  schieben  wir  die  Bntschei- 
dnng  des  einielnen  Falles  der  dgenen  Yecantwcdüang  des  Arsfees  ra, 
und  kommt  es  zu  gerichtlicher  Verhandlung,  so  hat  der  Richter  ledig* 
lieh  den  Vorgang  im  Innern  des  Arztes  zu  überprüfen.  In  einem 
solchen  Falle  hätte  der  Arzt  dem  Richter  seine  Beweggründe  darza- 
legal  nnd  dieser  hätte  zu  überprüfen,  ob  dieselben  als  maßgebend  za 
erachten  sind  oder  nicht.  Hiermit  ist  der  Richter  nicht  mehr  nnd 
anders  über  den  Arzt  gestellt,  als  dies  überhaupt  heim  Richter  gegen 
die  Partei  der  Fall  ist,  es  handelt  sich  um  die  Beurteilung  ehren- 
liaitrn  Vorgehens,  wie  sie  der  Richter  in  unzähligen  anderen  Fällen 
ebenfalls  vorzunehmen  hat. 

Kommt  IS  zu  dieser  Auslegung,  so  kann  diiä  Gesetz  bestehen 
bleiben,  wie  es  ist,  wir  kommen  nur  zu  einem  Grundsatz,  wie  er  über- 
haupt in  unserer  ganzen  Gesetzgebung  gröbere  Verbreitung  finden  muß. 
Es  ist  eine  eigentümliche  Erscheinung  unserer  Zeit,  dali  mehr  w  ie  früher, 
niemand  Veranlwurtung  übernehmen,  niemaud  Verantwortung  erteilen 
will,  obwohl  es  gerade  mit  vorschreitender  Kultur  und  größerer  Ötlb> 
Btindigkeit  des  Einzdnen  dazn  kommen  soll;  da0  eben  verantwortet 
werden  maß.  Es  will  sellsam  bedttnken,  wenn  man  in  nnseran  heu* 
tigen  Strafgesetz  enge,  fest  an  Beweiszwang  mahnende  Bestimmnngen 
findet:  die  vielen  Altenbeatimmnngen,  die  Vorschriften,  wann  und  genau 
in  welchem  Verwandtschaftsgrade  sich  ein  Zeoge  der  Anssage  en^ 
schlagen  darf,  die  fixen  Bestimmnngenüber gewisse  Verbreohensgrenaen) 
Aber  VeijShmng  nsw.  —  sie  alle  schränken  freie,  ehrliehe  und  ent- 
sprechende Beurteilung  eines  Verbrechen  ein,  weil  sie  dem  Riditer 
Verantwortung  abnehmen  und  angeblich  seine  Willkür  beschränken. 
Man  überlege,  welche  große  Oewidt  man  dem  Richter  gibt  nnd  geben 


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Zur  Flage  des  Berofsgefaeuiuiiaaes. 


247 


muß  —  ob  man  es  ilini  dann  noch  iibcrläl^t,  z.  B.  zu  erwäj^en,  oh 
ein  Verwandter  im  so  und  so  vielstem  Grade  die  Rechtswob Itat  der 
Zeiignisentschlagun^  genieben  soll,  das  vermehrt  seine  Verantwortung 
nar  unwesentlich  und  läßt  das  so  notwendige  Individualisieren  doch  zu. 

Ebenso  wie  aber  unsere  gesetzfiehen  Bestimmungen  freier  und 
weiter  werden  mttasen,  ebenso  wie  man  die  vom  Richter  verlangte 
Vefantwortnng  auf  Umstünde  ausdehnen  mnß^  die  im  Vergleiche  zu 
der  ohnehin  ertöten  Gewalt  doch  nnr  minimal  sind,  ebenso  muß  man 
auch  mit  dem  Arste  voigehen.  Man  stelle  es  sich  einmal  Idar,  w^he 
ungeheure  Gewalt  jeder  Arzt,  am  Ende  anch  der  nnzivilisierter  lündar, 
besitzen  muß:  seine  Medikamente  sind  oft  Gifte^  die  töten  können, 
wenn  er  folsch  gegriffen  oder  zu  viel  verordnet  hat  —  trotzdem  nimmt 
man  sie  unbedenklieh ;  seine  Vor^^chriften  ü))er  das  Verhalten  des 
Paüenten  diktieren  oft  Leben  oder  Tod  und  doch  geliorcht  man  ihm; 
er  entscheidet  über  die  gefährlichsten  Operationen  und  Tausende  sind 
jährlich  seinem  rettenden  oder  tötenden  Messer  überantwortet;  er  ver- 
fügt über  Tötung  des  Kindes  im  Mutterleibe,  er  gebietet  und  verbietet 
die  folgenscinversten  Handlungen  —  kurz  die  Gewalt  über  Leben 
und  Tod,  Krankheit  und  Gesundheit,  die  der  Arzt  besitzen  mub,  ist 
eine  so  groPte,  dab  man  ihm  auch  die  Verantwortung  über  die  Wah- 
rung eines  Geheimnisses  noch  dazu  geben  kann  —  es  ist  in  der  Tat 
nach  dem  matliematischen  Satze  gehandelt:  Eins  plus  unendlich  ist 
wieder  unendlich.  Wir  verfügen  heute,  Gottlob,  über  einen  hochge- 
bildeten, intelligenten  und  gewissenhaften  Arztestand,  der  das  ihm  ent- 
gegengebrachte Vertrauen  auch  verdient,  er  wird  nur  noch  gehoben, 
wenn  wir  seiner  Verantwortung  und  seinem  Gewissen  die  Wahrung 
von  Geheimnissen  nnd  die  Entscheidung  darüber  zuschieben,  ob  er  in 
bestimmten,  ohnehin  ja  nicht  hfinfigen  Fftllen,  Tiellacht  namenloses 
Unheil  Terbtttet,  indem  er  von  dem  ihm  Gesagten  klagen  Gebranch 
macht  Ehrenhaftes  und  ernstes  Überlegen  führt  anch  in  schwierigen 
Lagen  zum  rechten  Ziel,  warum  bringen  wir  heute  den  Aizt  so  oft 
in  Pflichtenkollisioni  ind^  wir  ihm  zu  schweigen  gebieten,  obwohl 
ihn  seine  wissenschaflliche  Oberzengnng  nnd  sein  ehrliches  Gewissen 
znm  Reden  zwingt? 

Das  Credo  lautet:  der  Arzt  handelt  dann  nicht  „unbefugt*^  im 
Sinne  des  Gesetzes,  wenn  er  nach  bestem  Wissen  ijnd  Gewissen  ein 
ihm  als  Arzt  anvertrautes  „Privatgeheimnis'^  im  Interesse  eines  höheren 
Zweckes  unter  eigener  Verantwortung  der  richtigen  Person  offenbart 
—  er  hat  lediglich  zu  erwägen,  ob  er  nach  ehrlicher  Uberzeugung 
befugt  ist  zu  s])rechen,  oder  ob  es  unbefugt  wäre,  so  daß  er  scbweigeu 
muii.  Die  Verantwortung  darüber  steht  ihm  zu. 


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XL 


Wettbareaus  and  Winkelbuckmaciier  in  Deatschland. 

Hana    Xkntoaflld,  Kfinigl  KrimiiiBl-EoDiiniaBar  in  BeiUn. 

Den  fort.selirt'itenden  Rückganfj;  des  Totalisatürums<atzes  der  Renn- 
bahnen in  Deutschland  können  neben  den  im  b.  Bande  dieses  Arehivs 
von  mir  veröffentlichten  Daten  noch  folgende  Zahlen  verdeutlichen. 
Im  Jahre  18S9  betrug  die  Gesamtcinnahnie  des  Totalis^Uors  sumtlicher 
fiennbahnen  bei  Berlin  an  60  Renntagen  bei  nur  bechs  Rennen  für 
den  Tag  ungefähr  27000000  Mk.;  im  Jahre  1899  bei  der  gleichen 
Anssahl  Tim  Beamtagen  und  8i^>en  Bennen  für  den  Tag  5  400  OOO  Mk. ; 
im  Jahre  1901  nnr  4  820  472  und  im  Jahre  1902  nnr  noch  4  205  376  mk. 
und  zwar  bei  einer  grdfieren  Zahl  von  Renntagen  nnd  Bennen.  Eine 
weitere  Yennindernng  der  TotaiisatommBfitze  nnd  demgemäße  Ver- 
ringemng  der  Einnahmen  ans  der  VerBtenorang  dieser  Wetleinlagen 
ist  nnaosbleiblich  bei  der  gegenwirtigen  Lage  der  Dinge; 

Demgegenüber  enchdnt  erwähnenswert,  daß  in  einem  Verfahren 
gegßa  die  Inhaber  eines  Wettbureaus  wegen  gewerbsmäßigen  Glücks- 
spieles und  Stempelhinterziehung  sich  herausstellt^  daß  allein  in  einer 
dnzigen  Wettannahmestelle  dieses  Unternehmens  und  zwar  in  der  Zeit 
von  noch  nicht  vier  Monaten  nur  an  Wetteinlagen  für  ausländische 
Rennen  82  04-1  Mk.  und  zwar  unversteuert  angenommen  worden  sind. 
Die  Steni]Klsteuer  hätte  etwa  27  3S0Mk.  (33' :i  Proz.)  betragen.  Nun 
sind  aber  im  Jahre  1902  von  allen  Wetthiireaus  Berlins  zusammen 
nur  8270  Mk.  mit  -2704  Mk.  und  im  Jjilirr  1901  nur  2<)3o7  Mk.  mit 
8760,50  Mk.  und  1900  nur  52822  Mk.  mit  17 590  Mk.  nach  Mitteilung 
der  Steuerbehörde  versteuert. 

Hieraus  ergibt  sieh  deutlich  das  Mißverhältnis,  in  welchem  die 
tatsächlich  von  solchen  Bureaus  unversteuert  augeuuunuem'n  Wetten 
zu  den  versteuerten  stehen.  £b  wird  nämlich  nur  ein  ganz  geringer 
Teil  der  gemachten  Wetten  wiiUich  versteuert  Bs  ergibt  sich  aber 
auch  unmittelbar  aus  diesen  Zahlen,  daß  die  Vorschriften  zur  Eon- 


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WeUboreans  und  Tnnkelbncliiitteher  in  Deatadiland.  249 


trolle  dieser  AVettanstalten  durch  die  Ori^ane  der  Steuerbeliörden  zwar 
einen  wesentlichen  Rückgang?  an  lliiljc  der  zu  Versteuerunf?  von  seiten 
solcher  Wettuntemehnier  angemeldeten  Wetteinlagen,  nicht  aber  eine 
VerniindtTung  der  unversteuert  angenommenen  Wetten  bewirkt  hat. 

Hierzu  kommt,  dal^  mir  meine  jahrelange,  fast  ausschlielilich 
diesem  Gebiete  gewidmete  Erfalirung  sowie  die  Beratung  mit  Inter- 
essenten der  beteiligten  Kreise  gezeigt  bat,  daß  es  Überhaupt  kfime 
nur  irgendwie  erdenkbaren  Yorsdiriften  und  Maßnahmen  gibt,  die 
eine  wirkaame^  d.  h.  nicht  m  nnigdhaide  Eontrolle  dieser  Wettbnreaas 
gewährleisten*,  insbesondere  eine  Überwaehnng  sSmtlieher  von  den- 
selben angenommener  Wetteinlagen  erzielen  vnd  kleineroi  die  Wett- 
leidenschaft der  nnbegttterten  Massen  befördernde  EinsStze  Terhindem 
könnten.  Es  li^gt  die  volle  Unmöglichkeit  vor,  alle  für  einen  Benn- 
tag  irgendwo  außerhalb  des  Tottiisators  von  irgend  jemandem  ge- 
werbsmäßig angenommenen  Wetten  zu  überwachen  und  bezüglich 
ihrer  Anlegung  am  Totalisator  zu  kontrollieren.  Die  zur  Zeit  be- 
stehenden Vorscb  rif ten  haben  bezüglich  der  Kontrolle  der  W^ettbureaus 
versagt.  Uierüber  kann  niemand  im  Zweifel  sein,  der  den  Betrieb 
solcher  Wettanstalten  aus  Erfahrung  kennt. 

Nach  Lage  der  Sache  würde  auch  eine  Konzessionierung  einzelner 
solcher  Untemehnier  nur  die  staatliche  Genebmignng  des  von  ein- 
zelnen betriebenen  gewerljsmäliigen  Glücksspieles  bedeuten,  olino  dem 
gleichartigen  Betriebe  anderer  nicht  konzessionierter  Unternehmer  ein 
Ziel  setzen  zu  können. 

Charakteristisch  für  die  Art  der  in  den  sogenannten  ,.Sportkom- 
missions-Bureaus**  abgeschlossenen  (Geschäfte  ist  unter  anderen  aucli 
die  Tatsache,  (lab  in  der  überwiegenden  Melirzabl  der  Fülle  der  Wetter 
einen  Auftrag,  den  gezahlten  Betrag  am  Totalisator  im  Inlande  an- 
zolegen  oder  emer  Wettannahmeslelle  im  Ansbnde  zor  Annahme  event 
Anlegung  dortselbBt  zn  flbennitteln,  flberiianpft  nicht  ertdlt  Da  auch 
irgendwelche  KommissionsgebÜhren  zor  Decknng  der  erheblichen,  mit 
Erledigung  eines  derartigen  Anftrages  verbundenen  Unkosten  des- 
gleichen nicht  gezahlt  werden,  so  müssen  die  Wetter  rieh  eig^tlioh 
selbst  sagen,  daß  ihre  Wetten  von  den  ünternehmem  gar  nicht  weiter 
gegeben  werden  können.  So  erklSrt  es  rieh  auch,  daß  man  in  diesen 
Kreisen  wohl  von  Wetten  und  Buchmachern,  nicht  aber  von  Aufträgen 
und  Kommissionären  s) »rieht  und  keinerlei  Sorge  um  rechtzeitige  Writar- 
gaV>o  der  Wetten  und  W  etteinlagen  an  den  Tag  legt,  vielmehr  augen- 
scheinlich nur  an  dem  richtigen  Auszahlen  etwaiger  Wettgewinne  von 
Seiten  der  Wettannehmer  ein  Interesse  hat.  Xur  in  der  Besorgnis 
von  dem  „Buchmacher'^,  der  vielleicht  nicht  zahlungsfähig  ist,  nicht 


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260 


XL  MimmimL 


nur  um  die  erwarteten  Oewinne,  sondern  auch  xim  die  eing'czahlten 
Wetteinlagen  (stakes)  gebracht  zu  werden,  liegt  der  ausreichende  Grund 
für  die  jetzt  fast  allgemein  von  seilen  der  Inhaber  der  Annaimiestellen, 
als  Filialieten  und  Beauftragten  der  Bncbmacher  geübten  Praxis,  die 
Wetteinlagen  der  Wetter  meht  vor  Beginn  der  Bennen  u  den  eigent- 
liehen  Weitimteniehmer  abiraffibieii,  sondern  erst  naefa  Beendigung 
derselben  mit  dem  letzteren  zu  yetreehnen.  Der  Wetter  n&niieh, 
welcher  in  den  meisten  Füllen  den  üntemefamer  selbst  gar  nicht  in 
Gesicht  bekommt  und  anch  sonst  kanm  von  ihm  h9rt»  hält  sich  bei 
Ansprüchen  auf  Zahlung  yon  Geirinnea  nnd  Bflcksahinng  von  Wett- 
geldem  in  erster  Linie  natOrÜch  an  den  ihm  bekannten  Wettannehmer. 
Andererseits  bilden  die  von  letzterem  vereinnahmten  Wetteinlagen  der 
Wetter  überhaupt  die  einzige  sichere  Einnahmequelle  eines  solchen 
Geschäftes;  ans  derselben  werden  auch  die  Provisionen  gezahlt,  die 
der  Wettuntemehmer  seinem  Filialisten  in  Höhe  von  5  bis  10  Proz. 
der  Ein1a«:en  auf  gelaufene  Pferde,  d.  h.  von  solchen  Wettgeldem, 
die  nicht  an  die  Wetter  zurückgezahlt  werden,  gewährt.  So  liegt  es 
im  eigenen  Interesse  des  Filialisten  und  mag  mangels  ausreichender 
Garantien  für  Einhaltung  der  Zahlungsverbindlichkeiten  von  aeiten 
der  Unternehmer  wie  der  Wetter  auch  berechtigt  sein,  daß  der  In- 
haber der  Wettannaliinestelle  die  Wettgelder  bis  zur  Abreclinung  mit 
dem  Unternehmer  und  den  Wettern  nicht  aus  den  Händen  läßt;  der 
Anlegung  von  Wetteinlagen  am  Totalisator  oder  der  Weitergabe  der 
Wetten  an  eine  Wettannahmestelle  im  Auslande  dient  eine  solche  Ge- 
schäftsführung nicht  Am  Totalisator  gibt  es  keine  nnbaren  Wetten, 
und  die  Wettannehmer  im  Auslande  siehon  sieh  thieiseits,  indem  sie 
Überweisung  eines  Depots  an  Wertpapieren  oder  an  barem  Oelde 
▼erlangen  und  Wetten  nur  bis  zur  Höhe  desselben  ansf&hren.  Die 
Eänbehaltnng  der  Wettgdder  tou  selten  der  Fifialisten  wfiide  nur 
dann  eine  §^UUte  Biledigung  der  Wetten  am  Totalisator  resp.  eine  Über- 
mittelung deraelben  nach  dem  Auslande  nieht  stfiren»  wenn  der  ünter- 
nehmer  durch  ein  ihm  zur  VeifQgnng  stehendes  Depot  in  der  HOhe 
der  zu  wettenden  Summen  für  seine  Ansprüche  unter  allen  ümstSnden 
gedeckt  wire.  In  keinem  der  zu  meiner  Kenntnis  gelangten  Fälle  ist 
bisher  von  einer  solchen  Vereinbarung  die  Bede  gewesen.  In  der 
Mehizahl  der  Fälle  würden  die  Filialisten  gar  nicht  in  der  I^e  ge- 
wesen sein,  dem  Unternehmer  eine  solche  Sicherheit  zu  bieten.  Viel- 
fach läßt  sich  auch  nachweisen,  daß  die  Unternehmer  selbst  gar  nicht 
aus  eigenen  Mitteln  die  erforderlichen  Beträge  zur  Weitergabe  der 
Wetten  verauslagen  und  den  Filialisten  kreditieren  können. 

Hat  nun  der  Inhaber  des  Wettgescbäftes  nicht  nur  die  seinen 


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Wettbaictnt  und  WlnkelbodiiDaeher  in  Deatscbland.  261 


W^tennehuRin  gewährten  Verg^ütigunp:cn,  sondern  auch  alle  anderen 
Unkosten,  wie  /.  ß.  das  Abonnement  für  eine  resp.  mehrere  Sport- 
zeitungen für  jede  Annainnestelle,  Auslagen  für  Anschaffung  der  Ab- 
reiübücher  mit  Formularen  für  Aufnahme  der  Wetten  und  Abrechnung 
über  solche,  Kosten  für  Einsammlung  der  Wetten  durch  Boten,  Briefe, 
Depeschen,  Telephongespräche,  kurz  alle  Ausgaben  für  Einrichtung 
und  Erhaltung  der  Filialen  wie  des  Hauptbureaus,  darunter  vorkom- 
mendenfalls  auch  noeh  Haname  für  Angeetellte  sowie  etwaige  Un-. 
kosten  für  Beenoh  yon  BennpÜtzen,  ebenfells  ans  den  Wetteinlagen 
der  Wetter  sn  zahlen,  so  begreift  man,  daß  er  sieb  gegen  jede  weitere 
erkeUiebe  Verminderung  dieser  Einnahme  zn  siohem  snoht  Für  ge- 
wdbnlieh  sohlUzt  nnn  die  H5he  der  anf  dem  Totalisatonimsatee 
ruhenden  Steuer  von  20  Pros,  der  Gesamteinlagen  in  erster  Unie  die 
Wettbureans  ror  erhebheheren  Verinsten,  die  sie  durch  Anssahhmg 
von  hohen  Gewinnen  aus  eigener  Tasche  treffen  könntoi.  Infolge 
der  hohen  Abzüge  sind  nämlieh  die  am  Totalisator  auf  die  am  meisten 
gewetteten  Pferde  ausgezahlten  Gewinnquoten  im  Durohsobnitt  so 
mftßig^  daß  der  Wettnnternehmer  sie  meist  unschwer  und  zwar  viel* 
fach  noch  mit  einem  erheblichen  Überschusse  ans  dm  ihm  zur  Ver- 
fügung stehenden  Wetteinlagen  seiner  Wetter  decken  kann.  Von  Ein- 
geweihten wird  sogar  behauptet,  daü  die  Wettbureau-Inhaber  leicht 
und  ohne  dabei  zu  Schaden  zu  kommen,  die  Verpflichtung  eingehen 
könnten,  ihren  Wettern  noch  zwei  Proz.  mehr,  als  die  Totalisatorquote 
beträgt,  im  Grw  innfall  auszuzahlen.  Spart  doch  der  Wettunterm-limer 
von  vornlitTciii  die  20  Proz.  Steuern,  die  V(m  sämtlichen  Totali.sator- 
einlagen  erliulun  werden.  Diese  hohe  Steuer,  die  das  Wetten  am 
Tötalisator  unrentabel  und  damit  unbeliebt  gemacht  hat  —  kann  es 
doch  vorkommen,  dali  ein  Wetter,  wenn  die  Totalisator- Verwaltung 
nicht  aus  eigener  Tasche  zulegt,  im  Gewinnfalle  kaum  seinen  Einsatz 
▼oU  wieder  zurttekerhSlt  ^  hat  unter  anderem  weeenttieh  mk  zur 
Frequenz  und  Blttte  dieser  unter  der  Gunst  des  Augenbliekes  und  des 
wettenden  Publikums  Überall  bis  in  den  entferntesten  Winkel  des  Bdehes 
öffentlieh  ihr  Unwesen  treibenden  Wetlanstdten  beigetmgen.  Wer 
BetiSge  unter  &  Mark  wetten  will,  und  die  große  Masse  der  Wetter 
befindet  sieh  in  dieser  Lage,  kann  überhaupt  nicht  am  Totalisator 
wetten.  Dagegen  stehen  in  allen  Städten  und  hier  in  Berlin  in  fast 
jedem  Zigarrenladen  und  Scbankgeschäfte  dem  Wetter  unzählige,  völlig 
unkontrollierbare  Wettannahmestellen  offen,  wo  er  jeden  beliebigen 
Betrag,  fast  zu  jeder  Tageszeit  bis  zum  Beginn,  oft  sogar  noch  nach 
dem  programmäßigen  Anfang  der  Rennen  wetten  kann,  ohne  Auslagen 
für  den  Besuch  einer  Kennbahn  zu  haben  und  ohne  daß  man  öteuem 


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262 


XI.  Makteujffei. 


oder  sonstige  Gebühren  von  ihm  verlan^rt.  Es  ist  iloch  gar  keine 
Frage,  daß  der  Totalisator  bei  einer  solchen  Konkurrenz  auf  die  Dauer 
nicht  beaieheii  kami.  Dam  kommt  aber  nodii  daß^  wer  hQliere  Bo* 
tiSge  wettet,  meut  schon  ein  bestimmtes  Interesse  daian  bat,  daß  seine 
Wetteinlage  nicht  am  Totalisator  angeleg;t  wird.  Wie  jeder  Enndige 
weiß,  wird  mit  der  YergrOßenmg  der  Einzahlongen  am  Totalisator 
anf  den  yoranisichtlichen  Sieger  im  Verhältnisse  sn  den  naehher  event 
für  den  Gewinner  zur  Anssahlung  znr  VerfOgnng  stehenden  sonstigen 
Einlagen  anf  andope  Pferde,  die  demnächst  resultierende  Gewinnquote 
vermindert,  oder  wie  man  sich  in  jenen  Kreisen  ausdruckt  „ge- 
drückt". Xun  hat  aber  jeder  Wetter  ein  natürliches  Interesse  daran, 
eine  möglichst  hohe  Gewinn(|uote  zu  emelen.  £b  ist  dies  ein  wesent- 
licher Grund,  wamm  erhebliche  Wetteinlagen  meist  nicht  am  Totali- 
sator anprelegt  werden,  sondern  ihren  We^  in  die  Taschen  von  Buch- 
niachem  und  Wettbureau- Inluibcrn  finden.  Ilierbei  haben  die  Wetter, 
vorausgesetzt,  dal)  die  Wettunternehmer  auch  zahlen,  den  Vorteil,  dal» 
sie  unabhängig:  vom  Zufall  und  der  Laune  der  üi)rij;en  Wetter,  die 
am  Totalisator  selilieAlicli  bestimmend  für  die  auszuzahlende  Gewinn- 
quote sind,  mit  einem  festen,  vorher  bestimmten  Gewinne  für  den  Ge- 
winnfall rechnen  können.  Man  nennt  es  eine  Wette  zu  festem  Kurse, 
wenn  der  Wettannehnier  dem  Wetter  von  vorneherein  einen  bestimmten, 
nach  vielfachen  des  Einsatzes  normierten  Gewinn  verspricht  Unter 
Odds  yersteht  man  die  in  Vielfachen  des  Einsatzes  ausgedrückte  Quote, 
welche  im  GewinafoHe  dem  Wetter,  den  Einsatz  nicht  gerechnet,  ge- 
zahlt wird,  z.  B.  bedeuten  3  Odds  —  auch  3: 1  geschrieben  — ,  daß 
der  Buchmacher  das  dreifache  des  Emsatzee  als  Gewinn  zu  zahlen 
yenprochen  hat  Dagegen  haßt  1:3  oder  3  au^  daß  der  Wetter 
drdfach  zahlen  muß,  um  das  ein&che  des  Satzes  zu  gewinnen,  mit 
anderen  Worten,  daß  er  z.  B^  für  300  Hk.  beim  Buchmacher  im  Ge- 
winnfalle  nur  100  Mk.  ausschließlich  des  Einsatzes  erhält  Sonst  bei 
Buch  mach  er  wetten  gebräuchliche  Bezeichnungen  sind  unter  anderen 
z.  B.  double-event,  triple-event  und  gekoppelt  Von  dieser  b(  sagen 
double-event  resp.  triple^vent  eine  Doppel-  tesg,  eine  dreifache  Wette 
für  zwei  resp.  drei  verschiedene  Rennen  auf  ein  und  dasselbe  oder 
auf  zwei  und  bei  triple-event  aueli  auf  drei  verschiedene  Pferde,  und 
zwar  auf  je  eins  in  den  betreffenden  Hennen  unter  der  Voraussetzung, 
daii  die  AVolte  für  den  Wetter  gewonnen  ist,  wenn  die  sänitliclicn 
frewetteten  l'ferde  siej;en.  Da  die  Gewinnchance  für  den  Wetter  keine 
erhebliche  ist,  kann  der  Buehniaeher  solche  Wetten  mit  hohen  Odds 
legen,  d.  h.  im  Gewinnfalk'  hohe  vielfache  des  Einsatzes  als  Gewinn 
zahlen.   Anders  ist  es,  wenn  der  Wetter  gekopi)eU  wettet,  d.  h.  für 


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Wettbnreaos  und  WinkelbtichiiiMher  in  Deutschland 


868 


ein  und  dasselbe  Rennen  mehrerer  Pferde  wettet;  in  diesem  Falle  vt  r- 
rinfrert  der  Wetter  mit  Erhöhung  seiner  Gewinnchance  auch  ent- 
sprechend die  beim  BuciimaclH  r  erhältlichen  Odds.  Solche  und  ähn- 
liche zu  festen,  vorher  vereinbarten  Gewinnciuoten  abgeschlossenen 
Wetten  etwa  am  Totalisator  auszuführen,  ist  nach  der  Einrichtung 
desselben  völlig  ausgeschlossen.  Diese  Tatsache  an  dieser  Stelle  be- 
8(Niiden  herronolielien,  enebeint  erf<nderiiob.  Wiid  doch  immer  wieder 
in  ErmittelTingsverfabren  gegen  Inhaber  von  Wettboieans  von  selten 
dieser  geltend  gemadit,  daß  eine  aolefae  Ansfnhrong  nicht  nur  denk- 
bar, Bondeni  auch  in  der  Praxis  dnrohfabibar  sei.  Die  Totalisator- 
▼erwaltang  kann  aber,  bevor  die  tolzte  ISnzahlnng  an  ihren  Eaasen 
gemacht  nnd  die  Pferde  vom  Stut  abgelanfen  sind,  denn  eiBt  in 
diesem  Momente  erfolgt  die  SchlieBung  sämtlicher  Kassen  für  Wett- 
einlagen, absolut  keine  Übersicht  über  die  totalen,  anf  s&mtliohe  am 
Bennen  beteiligte  Pferde  gemachten  £inzahlangen  und  die  demgemäß 
nach  Abrechnung  der  Steuern  und  sonstigen  Abzüge  für  alle  Ein- 
lagen auf  das  eine  oder  andere  Pferd  zur  eventuellen  Gewinnaus- 
zahlung zur  Verfügung  stehenden  Wettbeträge  geben.  Während  die 
Totalisatormaschine  erst  auf  dem  Rennplätze  kurz  vor  dem  programm- 
raäliigen  Beginn  der  Kennen  und  zwar  für  jedes  Rennen  abgesondert 
für  sich  in  Tätigkeit  gesetzt  wird,  unterliegt  die  Tätigkeit  des  Huch- 
machers  keinen  derartigen  Beschränkungen.  Monate,  Wochen,  Tage 
vur  dem  betreffenden  sj)ortlichen  EreijJrnisse  und  viUlig  uiiabbiingig 
vom  lvennj)latze,  sowie  an  dem  Iragliehen  Renntage  selbst  und  auf 
der  Rennbahn  nimmt  er  von  jedermann  auf  alle  genannten  resp.  in 
den  Rennen  laufenden  Pferde  ohne  andere  Grenze  als  das  Wettbe- 
dttrfnis  der  Wetter  und  die  eigene  ZahlnngsfiUiigkeit  oder  den  Egonen 
Kredit  Wetten  an. 

Die  ersten  Bncbmacher  sind  vermutlich  in  den  Anfangszeiten 
der  Bennen  nur  als  Mittelspersonen  zwischen  den  wettenden  Sports- 
leuten  aufgetreten  und  haben  Buch  geführt  —  daher  offenbar  der 
Name!  —  Aber  die  ihnen  von  einzelnen  aufgetragenen  und  späterer 
Realisierung  durch  Aufnahme  von  Gegenwetten  anderer  vorbehaltenen 
Wetten.  S[)äter  erst  haben  sich  aus  diesen  Vermittlem  fremder  Wetten 
zwischen  den  Wettinteressenten  und  aus  P>u('hfährem  der  wettenden 
Parteien,  als  nach  und  nach  im  Laufe  der  Zeiten  an  Stelle  der  an 
der  rferdeztt<^t  mit  ihrer  Person  und  ihrem  Vermögen  interessierten 
Sportsleute  eine  nur  an  miihlelosem  (Jewinne  interessierte  Masse  trat, 
die  heute  in  England  und  <  Österreich  zugelassen,  in  den  Salons  der  Klubs 
wie  aul)erhalb  derselben  ihre  Wetten  offerierenden  und  realisierenden 
Buchmacher  entwickelt.  So  sind  die  Buchmacher,  die  zunächst  nichts 


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XL  MAHTKTTrFSL 


weiter  als  Wcttkonimissionäre  waren,  sehlielilicli  tlazii  über^'e^'aniren, 
die  ihnen  aufgetragenen  Wetten  selbst  zu  halten  und  einen  Ausgleich 
in  anderweitig  von  ihnen  kontrahierten  Wetten  zu  suchen.  Dieser 
Entwicklungsprozeß,  auf  den  ich  vielleicht  noch  später  eingehender  an 
anderer  St^e  zarückkommen  werde,  ist  aneh  fflr  ans  von  Interesse. 
Zwar  liaben  wir  bei  uns  keine  Bnohmaeber  im  Sinne  der  in  England 
und  ÖBtereich  zngelaasenen,  aber  wir  baben  mit  ibnlidien  ErBobeinnngen 
SQ  tan  nnd  das  VeiBtibidnis  derselben  wird  dnrcb  Anfdeoknng  des 
ideellen  Znsammenbanges  sowie  des  Untersebiedes  beider  Phasen  des 
Bachmaebertnms  siober  erleicbtert 

Wir  haben  hier  anf  den  BennpUUaen  dne  besondero  Klasse  von 
Leuten,  die,  ohne  selbst  Buchmacher  zu  sein,  das  Gewerbe  derselben 
wesentlich  fördern.  Diese  Wettkoramissionäre  leben  von  dem  Profite, 
den  sie  als  Vermittler  zwischen  den  Huchmachem  und  dem  wettlnstigaii 
Tublikam  erzielen.  Von  den  Bachmachern,  zu  deren  Anhang  und 
Helfern  sie  gehören,  erhalten  sie  sowohl  als  Vergütigung  wie  auch 
als  Aufmunterung  5  bis  1  ü  Prozente  der  durch  sie  vermittelten  Wett- 
einla^en;  von  den  W<'ttern  bekommen  sie  kein  bestimmtes  Entirold 
vielmehr  nur  ab  und  zu  bei  Gewinnfällen  Ijesondere  beliel)ifre  Gratifi- 
kationen. AußerdiMii  sollen  einzelne  dieser  Kommissionäre  noch  dadurch 
ein  Erhebliches  venlienen,  <lal>  sie  zu  höheren  Kursen  von  den  Buch- 
machern erhaltenen  Wetten  zu  niedriircren  Kursen  und  zwar  natürlich 
als  zu  läniTSt  erhältlichen  Odds  an  ihre  Kunden  weiteri^eben.  Das 
ist  im  wesentlichen  auch  dieselbe  Rolle  wie  sie  von  Wettannahmesteilen- 
Inhabern  der  Wettunternebinern  in  der  btadt  beliebt  wird;  ihre  Auf- 
gabe läuft  darauf  hinaus,  möglichst  viel  Wetten  für  ihre  üintermänner 
za  bekommoL  Diesem  Zwecke  dient  nach  das  Halten  der  Sport- 
zdtungen  nnd  der  Benntelegramme  mit  Bennberiehten.  SpAter  kommen 
dann  solche  Wettrermittler  ancb  daan  sich  selbslSndig  zn  machen,  d.  b. 
auf  dgene  Beohnang  nnd  GeCahr  Bach  sa  machen,  wobei  ihnen  die 
im  Verkehre  mit  Bnchmachern  nnd  Wettern  erworbene  Erfsbrang  nnd 
Gewandthdt  nnd  andererseits  der  nach  nnd  nach  erworbene  Wett^ 
knndenkreis  zu  statten  kommt  Wie  Viktor  Silberer,  Eigentümer  nnd 
Chef-Redaktenr  der  „Allgemeinen  Sportzeitang*^  in  Wien  in  seinem  von 
ihm  lieraosgegebenen  Turf-I^xikon  erklSzt,  l)edeutet  Bachmachen: 
^Wetten  auf  alle  in  einem  Rennen  engagierte  Pferde  annehmen,  nm 
durch  das  Endresultat  dieser  Manipulation,  bei  keinem  oder  geringem 
Risiko,  einen  sicheren  Gewinn  zu  erzielen,  wie  immer  das  Rennen  aus- 
fällt, z.  B.  es  laufen  in  einem  Rennen  10  Pferde,  und  es  leert  der  Buch- 
macher ^e;;en  jedes  dersellien  7:1.  Angenommen  nun,  es  finden  sich 
10  Personen,  deren  jede  eins  dieser  10  Pferde  mit  100  fi.  besetzt,  so 


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Wettbnreans  and  ^Hnkelbiiohiiiacher  in  DentsdiJtnd.  256 


erg:ibt  sich  —  welches  Pferd  auch  p^ewinnen  mag  —  fol^jentles  End- 
resuhat:  ^Der  Buchmacher  erhält  von  9  Personen,  deren  Pferde  nicht 
gewonnen  haben,  je  luü  fl.  gibt  in  Summa  *.>*»<»  fl..  Dagegen  liat  er 
an  den  Zehnt»>n,  der  den  Sieger  erriet,  700  fl.  zu  bezahlen.  Es  bleiben 
ihm  sonach  auf  alle  Fälle  "200  fl.  aus  diesem  Kennen''.  Wie  der  Ver- 
fasser fortführt,  ist  dies  zwar  die  Theorie  des  Bucbmacbenä,  in  der 
Praxis  stellt  sich  die  Sache  aber  etwas  anders,  weil  die  Pfeide  wegen 
ihrer  verschiedenen  Gewinoaitssiditoi  anch  Tenohieden  und  zwar  ein- 
zelne mehr  oder  weniger  sterk,  andere  erheblich  weniger  und  das  eine 
oder  andere  anch  gamicht  gewettet  werden.  Es  liegt  in  der  Natnr 
der  Sache,  daß  der  Bnchmacher  der  mehr  oder  weniger  großen  Nach- 
frage durch  die  yon  ihm  verheißaien  Gewinnquoten,  das  sind  die 
Enrsey  die  er  legt,  Bechnnng  trügt,  und  daß  er  die  auf  die  meist  ge- 
wetteten Pferde,  fayorits,  eingegangenen  Wettengagements  durch  ander- 
weitige auf  die  anderen  Pferde  eingegangenen  Wetten  möglichst  aus- 
zngldcben  sucht,  so  daß  er,  wenn  angängig,  ohne  Risiko  arbeitet  und, 
wie  man  sagt,  sein  Buch  „voll  macht*^.  Ein  derartiges  Buch  machen 
ist  natürlich  nur  unter  der  Voraussetzung  möglich,  dali  der  Buch- 
macher öffentlich  frei  und  unbehindert  seinem  Geschäfte  nachgehen 
kann.  Für  die  Rennen  in  England  gibt  es  für  die  Wetten  eine  reguläre 
Wettbörse,  bei  welcher  die  Kurse  der  Pferde  je  nach  Angebot  und 
Nachfrage  bis  zum  Momente  des  Startens  der  Pferde  fortwährenden 
Schwanknn.irt'ii  unterwürfen  sind.  Die  in  deutschen  Sportzeitungen 
ver"if fentlieliieii  Wettkurse  sind,  wie  behauptet  wird  -  das  Gegenteil 
läbt  sich  nicht  naebwei>en  —  die  von  den  Buehmaebern  im  Auslande 
zugesicherten  GewiiuKiuoten.  Kine  Eigentümliehkeit  der  Wetten  zu 
festem  Kurse  ist  auch,  dal»,  abgesehen  von  solchen  Wetten,  die  nur 
für  den  Fall  gelten  sollen,  dal)  das  gewettete  Pferd  auch  startet,  d.  b. 
im  Rennen  läuft,  die  Wetten  auf  Pferde,  die  nachträglich  aus  der  Liste 
der  Konkurrenten  gestrichen  werden,  für  den  Buchmaeber  „laufen*, 
d.  h.  ffir  den  Wetter  verloren  sind.  Da  der  Buchmacher  für  eine  ge- 
wisse Situation  und  ffir  ein  bestimmtes  Rennen  auf  Grund  sftmtlicher 
bei  ihm  für  diesen  Fall  eingegangenen  Wettrerbindlichkeiten  seine 
Kuisberechnung  macht,  so  muß  er  auch  auf  die  seinem  Kalkül  zu- 
grunde gelegten  Wettemhigen  sicher  rechnen  k9nnen. 

Am  besten  wird  eine  solche  Rechnung  vielleicht  durch  nachfol- 
gende Aufstellung  verdeutlicht  Voraus  ^  f/ung  derselben  ist,  daß  der 
Buchmacher,  auch  ..Leger**  genannt^  auf  das  bei  ihm  am  meisten  ge- 
wettete Pferd  lö(M)  Mark  zum  Kurse  von  3 :  1  angenommen,  d.  h.  als 
Gewinn  4500  Mark  und  einschlielilich  der  Wetteinlagen  6000  Mark 
Auszuzahlen  und  im  Übrigen  unter  Abschätzung  der  Gewinnchancen 


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256 


XL  MAKTEDFrEl. 


der  zur  Zeit  konknrrieiendeii  Pferde  Bein  Bneh  toU  gemacht,  d.  h. 
Einnahme  und  eventaeUe  Ausgabe  so  bakndert  hai,  daß  er  in  jedem 
Falle  mit  einem  gewissen  Oberschnsse  heranskommt.  Die  gewetteten 
Pferde  sind  der  Kfine  w^gen  mit  A  bis  K  beieiehnet,  der  Fa?orit 
darunter  ist  A. 

OddB  {  Wettelnlaire  | 


Gewetteces  Pferd 

B. 

C. 
D. 
E. 
F. 
G. 
H. 
L 
K. 


1  501)  Mk. 

1  200  * 

860  ' 

670  ' 

550  * 

460  ' 

40O  « 

400  = 

SoO  ' 

280  « 

Sa.:  0  620  Mk. 


Gewinn 

4  5ÜU  Mk. 

4  800  • 

5  160  ' 
360  « 

5  500  ' 

5  520  > 

6  600  • 
5  6U0  « 
5  600  • 
5  750  • 


mm  Mk. 

6  000  • 

r,  020 

6  030 

i;  0.W 

5  980 

6  000 
6  000 
5  950 
5980 


i  ^ 

• 


I 


Hiorauä  ist  leicht  ersichtlich,  daß  der  I>eger,  welehesder  10  Pferde 
ancb  gewinnt,  inimer  ca.  6000  Mk.  zu  zahlen,  aber  6620  Mark  ein- 
genommen, mithin  einen  Nntzpii  von  620  Mk.,  d.  ti.  10  Pros.  hat.  Es 
ergil)t  sich  auch  ohne  weiteres  daraus,  daß  der  Leger,  wean  er  auf  den 
Favorit  eine  bestimmte  Samme  zu  einem  bestimmten  Kurse  angenommen 
und  die  Gewinneliancen  der  anderen  Pferde  abj^eschätzt  hat,  nicht 
jede  beliebip:e  Summe  auf  die  anderen  Pferde  annehmen  kann,  viehnehr, 
wenn  er  ohne  Risiko  „lehren"  und  einen  gewissen  Gewinn  erzielen 
will,  nur  f^nz  bcstiniintc  Suinnien  zur  Koniiiietierunp;  seines  Buches 
brauchen  kann.  Sclilieltlicli  hestäti^rt  auch  die  Keclinun;^',  daP»  er,  um 
einen  Verdienst  zu  erzielen,  niclit  auf  irgendeine  Wetteinlage,  z,  B. 
weil  das  Pferd  nachber  im  Reniu  n  nicht  gestartet  ist  oder  aus  irgend- 
welcben  (iründeu  aus  der  Liste  der  Konkurreuteu  schon  vor  dem 
Renntage  gestrichen  ist,  verzichten  kann. 

Etwas  anders  gestaltet  sieh  die  Sache,  wenn  der  Leger  auf  dem 
Bennplatze  selbst  auf  die  am  Rennen  beteiligten  Pferde  Wetten  an- 
nimmt In  diesem  Falle  wird  der  erklftrte  Favorit  meist  so  itaik  ge- 
wettet^ daß  der  Buchmaeher  ihn  fflr  den  Kehmer,  d.  h.  Wetter  in 
der  Regel  nur  mit  „odds  auf"  legen  kann.  Ein  Beispiel  soll  die 
Rechnung  auch  in  dnem  solchen  Falle  erläutern. 

GewettetoiPferdI  Odds  j  Wetcoinlagen  1  Gewinn 


Bäri'iiliäuter 
Legcntle  .  . 
Iclithyol  .  . 
Wuiirhaftig. 

Olly  

Zwickel .  .  . 


1  '/sauf, 
6/1  I 

S'l  i 

•••1  I 

12/1  I 
12/1 


ba.: 


3UUÜ  Mk. 

715  * 

555  « 

500  * 

3S5  < 

38.")  ^  

5  540  Mk. 


2  000 
4  290 
4  440 
4  500 

4  t;2o 

4  020 


Mk. 


5  000  Mk. 
5  005  ' 

4  995  ' 

5  005  ' 

ö  005  * 
5  005  ' 


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Wettbareaiis  nnd  Winkelbuclmiachcr  in  DeutscfalaiMl.        •  267 


Natürlich  ist  auch  liit  r  Voraussetzunfr,  dal*»  der  iiiiclimacht  r  frei 
und  offen  Wetten  lehren  und  ufforieren  und  hierdurch  sein  Jhich  voll 
machen  kann.  Au«  der  Aufstellung  ergibt  sich,  dali  der  Le^^^er  dann 
bei  Wetteinlagen  in  Hohe  von  5540  Mk.  für  jedes  Pferd  im  Gewinn- 
folle  ea.  5000  Hk.  zu  zahlen,  also  einen  Übenchnß  yoa  ea.  540  Mk^ 
d.  b.  von  rand  10  ^/i  Proz.  hat  Da5  die  obige  Bechniing  siob  dnroh- 
aii8  im  Rahmen  dessen  hält,  was  ein  Bnohmacber  für  ein  Bennen  ver- 
Annahmen  und  demgemäß  anazahlen  kann,  wird  jedem  Wissenden 
ohne  weiteres  dnlenobten.  Ich  will  nur  noeh  bemerken,  daß  diese 
Daten  tatsächliehen  Informationen  ans  Bnehmaoberkreisen  entnommen 
sind.  Hält  man  dem  gegenüber  was  der  Totalisator  in  dem  gleichen 
Falle  für  den  Gewinner  zahlen  kann,  so  ist  der  Unterschied  und  der 
Vorteil  der  Buchmacherwette  in  die  Augen  springend.  Obige  Daten 
betreffen  nämlich  das  am  14.  Oktober  1901  zu  Hoppegarten  gelaufene 
III.  Tagesrennen  um  einen  mit  60(»0  Mk.  dotierten  Staatspreis  Der 
Totahsator  zahlte  für  Sioijwetten  auf  den  Ttewinner  „Ichthyol"  22:10, 
d.  h.  den  Einsatz  al)^H'rcchnet  1  '/i-  Odds.  Beim  Buchmacher  iiiiilUen 
Wetten  auf  den  Stall  Graditz,  d.  Ii.  auf  die  l'ferde  Lotsende  und  Ich- 
thyol, jj^ekoppelt,  die  nach  vorstellender  Kechnun<r  0  1  und  8  1  iiu  Kurse 
standen,  3  1  —  irenau  teerechnet  2' Vi«  Odds  —  pMe-^t  werden;  der 
Wetter  hiitti'  ahsi»  bt  iiiahe  das  Dreifache  von  dem  erhalten,  was  der 
Ti»tulisut()r  zahlen  konnte.  Noch  deutlicher  wird  die  Eigenartigkeit 
und  der  Unterschied  von  Totalisator  und  Buchwette,  wenn  man  beide 
nnter  der  Voraussetzung  gleicher  Einsätze  miteinander  vergleicht  Zn 
diesem  Zwecke  gebe  tdi  nadistehend  eine  Übenicht  der  bd  Totali- 
sator-Rechniug  für  das  letzterwähnte  Bennen  resultierenden  Gewinn- 
quoten unter  der  Annahme,  daß  an  den  Totalisatorkassen  dieselben 
Einsätse  wie  bei  den  Buchwetten  in  der  vorigen  Aufteilung  eingezahlt 
worden  wären.  Es  hätten  dann  an  Einsätzen  ebenfalls  5540  Ifk.  zur 
Verfügung  gestanden.  Von  diesen  sind  aber  ca.  20  Proz.  für  die 
Steuer  mit  1108  Mk.  und  etwa  8  Proz.  fär  den  Eennverein  mit  443  Mk. 
in  Abzug  zu  bringen,  so  daß  im  ganzen  nur  3989  Mk.  für  Gewinne 
zur  Verteilung  übrig  lileiben.  An  vierter  Stelle  ist  berechnet,  was  der 
Totalisntor  für  10  Mk.  Einsatz  im  Gewinnfalle  zahlen  würde  und  an 
letzter  Stelle,  welche  Odds  demgemäß  gezahlt  werden  können,  d.  h.  ein 
wievielfaches  des£inaatzes  der  Gewinn  in  jedem  Falle  vorstellen  würde. 

«^wettete«  Pfenl   Wetteinsiltzcl  stäSr?S;."i'l^"ätzo  Totali«tor,uüto  Odds 


I?;iiviili:iiitri   ....  y  IHM)  .Mk. 

Legcude,  Ichthyol  >  1 270  * 

Wahrhaftig  ....  500  • 

Oliv   3^5  > 

Iwkkv]   a>:>  ' 


9&9  Mk.  I           10  3  auf 

2  719   «  31:1U  27io:l 

8  489   '  i      79:10  I  6»/io:l 

8  604   »  103:10  I  ;»'iu:l 

S  A04   «  lUS :  lu  1    U  'ho :  1 


Archiv  (tir  KiimüialanUiropologie.  XIII.  17 


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268 


XL  MAKT£UFF£Lr 


Wfihrand  bei  den  Badunacherwetten  im  gaasea  ca.  5000  Mk. 
und  abzfiglich  der  WetteiDUigea  2000  bis  4020  Mk.  in  jedem  einselnen 
FaUe  ate  Gewinn  ansgezahlt  werden  kOnnen,  stellen  sieh  die  Gewinne 
fOr  den  Wetter  nach  der  TotaÜsator-Beehnnng  infolge  der  hohen  Ab- 
züge wesentlich  ungOnstiger. 

Es  wäre  nun  irrig,  anzunehmen,  daß  der  Buchmacher  in  jedem 
Falle  eine  Mehrzahl  Ton  Wetten  nnd  eine  besonders  komplizierte 
Rechnung  nöti^  hätte,  ura  Einnahme  und  Ausgabe  m.  seinen  Gunsten 
'  al)zuwägen.  Zwei  Pferde  werden  z.  B.  bei  ihm  gewettet,  das  eine  ist 
Favorit  und  wird  von  ihm  bei  lOOl»  Mk.  Einsatz  l  \U  „auf"  gelegt,  er  hätte 
also  im  Ciewinnfalle  ohne  den  Einsatz  dem  Wetter  800  Mk.  zu  zahlen. 
Auf  das  andere  hat  er  IMio  Mk.  angenüninu  n  nnd  die  Wette  .^pari"  gelegt, 
d.  h.  im  (lewinnfalle,  den  Einsatz  nicht  gerechnet,  900  Mk.  zu  zahlen. 
Gewinnt  nun  das  erste  Pferd,  so  mul»  er  800  Mk,  hergeben  und  hat  aus 
der  zweiten  Wette  900  Mk.  gewonnen,  während  er  im  andern  Falle 
900  Mk.  auszuzahlen  und  lOüO  Mk.  aus  der  ersten  Wette  gewonnen  hat 

Würden  die  Buchmacher  sich  nun  lediglich  darauf  beschränken, 
ohne  jedes  Risiko  feste  Wetten  mit  einem  gewissen  Überschasse  zu  legen, 
so  könnte  von  einem  Glücksspiele  im  eigentliohen  Sinne  des  Wortes  höch- 
stens für  die  Wetter  die  Bede  sein,  das  Bnohmaohen  wäre  eine  dnreh- 
ans  sichere  Sache  nnd  es  könnte  gar  nicht  yorkommen,  daß  Bnchmacher 
„niederbrechen'',  d.  h.  völlig  ihre  Zahlungen  einstellen  müssen.  Tatsäch- 
lich aber  gehören  solche  Eragnisse  keineswegs  zn  den  Seltenheiten.  Der 
Grund  für  solche  Vorkommnisse  Ußgl  darin,  daß  die  Bnchmacher,  wie 
der  von  mir  schon  genannte  Viktor  Silberer  in  mnem  lesenswerten, 
„Die  Bnchmacher*^  betitelten  Artikel  der  von  ihm  heranagegebenen  und 
redigierten  „Allgemeinen  Sport-Zeitnng''  (Wien,  am  10.  April  18S7) 
ausführt,  „entweder  selber  spielen  anstatt  vorsichtig  Buch  zu  machen, 
weil  sie  sich,  gestützt  auf  eine  vorgefaßte  Meinung,  gegen  ein  Pferd 
zu  sehr  engagieren,  oder  weil  sie  nicht  die  nötigen  Mittel  besitzen 
und  sich  im  Vertrauen  auf  das  Glück  über  iiire  Kräfte  einlassen."  Ein 
solches  Spiel  erfüllt  natiirlicli  die  Voraussetzungen,  welche  die  in 
meiner  Vorarbeit  schon  erwähnten  Pieiclisg<'riehtsentscheidungen  vom 
29.  April  und  30.  Juni  11382  als  p'worbsinäriiges  01ückssi)iel  aus 
§  284  St.-G.-B.  kennzeichnen.  Ich  habe  keinen  Zweifel,  dalt  die  l^e- 
troffcnen,  wie  sich  aus  den  (Iründrn  dw  Erkenntnisse  ergibt,  tatsäch- 
lich nichts  anderes  als  gewerbsmübiges  <Ilücksspiel  betriel)en  haben. 
Von  eiueiu  Buchmacher  nach  bestimmter  Buchrechnung  und  ohne 
eigenes  Risiko  ist  dort  nicht  die  Bede.  Ich  möchte  an  dieser  Stelle 
noch  hinzufügen,  was  Viktor  Silberer  in  dem  vorerwähnten  Artikel 
zur  Charakterisierung  solcher  Buchmacher-Existenzen  sagt. 


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Wettbafeam  und  Winkelbucbmacher  in  Deatschland.  2&9 


^In  Deutschland  wurde  in  dieser  Hinsicht,  ehe  die  liuchniacherei 
ganz  eingestellt  wurde,  viel  Unfug  getrieben.  Leute  mit  kaum  tausend 
Mark  stellten  sich  als  Buchmacher  hin,  rafften  an  Wetten  zusammen, 
was  nur  erhältlich  war  und  ließen  dann  phlegmatisch  den  Dingen  ihren 
IßnL  Ging  das  Bennen  ffir  sie  glücUidi  ab,  so  war  aUes  gat  Endete 
es  achlechti  so  bezahlten  sie  einfach  gar  nichtBi  sie  waren  eben  — 
niedergebrochen.  Ja  es  gab  znm  Schlnaae  schon  Herren,  wie  das  ja 
auch  in  England  nnd  Frankreich  schon  oft  vorkam,  welche  Gelder  zn 
Barwetten  zu  allen  Preisen  annahmen,  den  Ausgang  des  Rennens 
aber  überhaupt  gar  nicht  mehr  abwarteten,  sondern  w&hrend  die  Wetter 
voU  Aufmerksamkeit  dem  Verlaufe  des  Rennens  folgten,  sich  gleich 
ohne  weiteres  mit  ihrem  Raube  aus  dem  Staube  machten.**  Wer  wie 
der  Verfasser  jenes  Artikels  kein  Laie  in  solchen  Dingen  ist,  vielmelir 
trotz  sdner  reiferen  Erfahninp^en  auf  dem  Gebiete  im  übrigen  unter 
gewissen  Kautelen  für  die  Buch  macherei  eintritt,  wird  schwerlich  in 
den  Verdacht  kommen,  zu  schwarz  geschildert  zu  haben.  Ich  kann 
aus  meiner  Praxis  bestätifren,  da(^  das  von  ihm  entworfene  Bild  auch 
heute  noch  für  die  überwie^a-nde  Masse  der  Winkelbuchmacher  und 
Wettunternc'linier  durchaus  zutreffend  ist.  Ein  weiterer  durchaus  un- 
verdäelitiirer  Zen<?e,  der  als  Verteidiger  in  gegen  Inhaber  von  Wett- 
bureaus an<;('strt'ngten  Prozessen  sich  einen  gewissen  Ruf  erworben 
hat,  der  Kcchtsanwalt  Dr.  Jaroczy nski,  äuliert  sich  in  „einem 
offenen  Worte  zu  den  deutschen  Wettverhültuissen  ■  i  Deutscher  Sport 
vom  16.  Januar  1903)  wie  folgt  zur  Sache:  „Es  genügt,  wenn  ich 
auf  Grund  meiner  Erfahrungen  die  Ansicht  ausspreche,  daß  bei  ' 
100  Wettbureaus  höchstens  bei  10  dn  einigermaßen  erheblicher  Ge- 
winn seitens  des  Wetters  überhaupt  zu  erlangen  ist  und  daß  von  diesen 
10  Tielleidit  5  anstandslos  zahlen,  ohne  zunächst  Schwierigkeiten  zu 
machen.  Die  Entstehung  nnd  GesohSflspraxis  der  großen  Mehrheit 
jener  Bureaus  wird  deutlicher  als  durch  lange  Beschreibungen  durch 
folgendes  Beispiel  charakterisiert.  Als  ein  gut  situierter  Wetter  eines 
Tages  zu  seinem  Barbier  kam,  jannnorte  dieser,  dali  das  Geschäft 
nicht  mehr  gehe  und  er  mit  seiner  Familie  vor  dem  Ruin  stehe,  es 
bleibe  ihm  nun  nichts  anderes  übrig,  als  ein  Wettbureau  aufzuniaclien. 
Er  bat  den  Kunden,  ihm  hierzu  40  Mark  zu  borgen.  Der  Jvunde 
willfahrte  der  Bitte,  und  Herr  X  hat  noch  heute  ein  Wettbureau  mit 
allem  Komfort  und  allen  Chikanen." 

Schon  die  eine  Tatsache,  dal»  die  Mehrzahl  solcher  Wettunter- 
nelinier,  wenn  die  Wetter  nun  wirklich  einmal  gewonnen  haben,  Ge- 
winne nicht  auszaliU  n,  ist  ein  Beweis  dafür,  dal»  jene  Bureaus  nichts 
anderes  als  Filialen  von  Winkelbuchmacheru  sind.   Wären  jene  Leute 

17* 


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260 


XI.  Makteotel 


nur  Wettkommissionäre,  so  könnten  sie  ohne  weiteres  die  am  Tutali- 
sator oder  die  Yon  im  Auslände  zugelassenen  Wettannabmestellen  ge- 
zahlten Gewinne  ebne  jedes  Biako  ihrereeito  ibfen  Kunden  sablen. 

Werden  nun  von  Wettannabmestellen  soleber  Leute  Wetten  mit 
def  Veieinbanmg  der  Gewinnanszablnng  naeb  Maßgabe  der  am  Totsli* 
eator  asn  zahlenden  Gewinnquote  angenommen,  so  heifit  das  nicht 
etwa,  daß  die  Wettdnsilze  wirklich  am  Totalisator  angelegt  werden 
sollen  —  es  fehlt  ja  hiensn,  wie  ich  im  Anfange  anseinandergeselzt 
habe,  an  den  wesentlichsten  Voraussetzungen  eines  solchen  Auftrags- 
geschäftes — ;  vielmehr  hat  eine  solche  Abmachung  lediglich  den- 
selben Sinn  wie  die  von  VVinkelbuchmachem  auf  Rennplätzen  mit 
ihren  Wettern  getroffene  Aljrede  nach  den)  „Totalisatorkurse",  d.  h. 
nach  Maßgabe  des  Totalisators  auf  eigene  Rechnung  und  Gefahr  im 
Gewinnfalle  au?izuzalilen.  Nun  kann  es  allerdin<rs  passieren,  daß  am 
Totalisator  auf  irpMidein  wenijr  gewettetes  rfenl  im  (lewinnfalle  eine 
unverbältniäl'tig  hohe  Gewinnijiiote  entfällt.  Vorsichtige  Wettimter- 
nehnicr  verfolgen  daher  eifrig  die  am  Totalisator  vom  Publikum  ge- 
machten und  in  ilirer  Höhe  dort  (Tsichtlichen  Wetteinlagen.  So  sind 
sie  in  der  Uagc,  wenn  die  voraussichtlichen  Gewinnzuhiungen  für 
stark  bei  ihnen  gewettete  sogenannte  „Außenseiter"  allzusehr  in  die 
Höhe  schnellen  sollten,  sich  noch  rechtzeitig  mit  Einsätzen  auf  dieselben 
gegen  zu  große  Verluste  zu  „decken".  Solche  Rücksichten  machen 
also  auch  Winkelbndimaeher  nnd  Wettbnnaiiflnhaber  zn  eifrigen  Renn- 
bahnbesnchem  nnd  Gfisten  des  Totalisators.  Andererseits  suchen 
Wettannefamer  ihr  Bisiko  ba  Eingehung  solcher  Wetten  dadurch  zu 
yeiringem,  daß  sie  dn  „limit^,  d.  h.  eine  Grenze  für  die  Ildhe  der 
etwaigen  Gewinnzablungen,  machen.  Vidbcb  ist  es  so  gebrSnchlich, 
nur  bis  znm  zwanzigfachen  des  Einsatzes  für  Sieg-  und  bis  zum  sechs- 
fochen  des  ISnsatzes  für  Platz-Wetten  auszuzahlen.  Dieselbe  Bedeutung 
hat  es,  wenn  bei  Wetten  für  Rennen  im  Auslände  solche  „limits^  au8> 
bedungen  werden.  In  Frankreich  arbeitet  der  Totalisator  z.  B.  nur 
mit  7  Prra»  an  Abzügen  und  kann  daher  wesentUch  höh^  Gewinn- 
quote zahlen.  Aber  auch  sonst  können  die  hiesigen  kleinen  Wett- 
annehmer  und  Winkelbnchmacher  mit  ihren  Wetten  natürlich  nicht 
mit  dem  gr(»l'ien  Weltmarkte  im  Auslande  konkurrieren  und  sind  daher 
liestrebt,  ilir  Kisiko  gegenüber  alizugroüen  Kursschwankungen  in 
engeren  Grenzen  zu  halten. 

Grundsäl/liclie  Voraussetzung  einer  jeden  Wette  ist,  dal»  der  Mög- 
lichkeit eines  Verlustes  auch  (Iii-  Mrii^liclikeit  eines  Gewinnes  gegen- 
übersteht. Nun  setzt  sich  das  Winkt  lltucliniachertum  und  das  Unter- 
nehmertum solcher  Wettanstalten  meist  aus  Leuten  zusammen,  die 


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Wettbnreans  and  WUikellradimadier  in  Deutschland. 


261 


entweder  in  ihrer  frülieren  Existenz  Schiffbnich  gelitten  oder  aber  ein 
ehrliches  Gewebe  vorher  überhaupt  nicht  gehabt  haben  nnd  schon 
anderweitig!:  mit  Eecht  und  Gesetz  in  Konflikt  geraten  sind.  Diesen 
Personen  fehlt  vor  allem  meist  die  Möglichkeit^  in  irgendwie  erheb- 
lichem Umfanj^e  Wetten  ehrlicherweise  eingehen  zu  können  —  sie 
sind  gar  nicht  im  Besitze  von  Mittehi,  um  die  eingegangenen  Wetter 
realisieren,  d.  Ii.  event.  Wettgewinne  auszahlen  zu  können  und  speku- 
lieren denigeniäl)  nur  auf  den  Leichtsmn  und  die  Unerfahrenheit  des 
wettenden  Publikums,  um  sieli  auf  die  hilligste  Art  und  Weise  mit 
fremdem  (Jelde  die  Taschen  füllen  zu  kruim  n.  Daher  auch  die  Taktik, 
w^omöglich  nur  durch  die  lnljai)er  der  Annahmestellen  mit  den  Wettern 
zu  verkehren,  selbst  aber  im  Verborgenen  zu  bleiben,  Namen  und 
Adresse  nicht  mehr  unter  die  Wettscbeine  zu  setzen  und  schließlich 
im  TaJÜe  des  Gewinnens  der  Wetter  alle  möglichen  nnr  erdenklichen 
VorwSnde  zn  gebranohenf  nm  sich  den  eingegangenen  Verfomdlich- 
keiten  zn  entziehen.  Da  diese  Leute  bei  kleineren  Gewinnen,  soweit 
dieselben  mit  ÜbeischOssen  ans  den  Betr&gen  der  anderen  Wetten  zn 
decken  sind,  meist  zahlen,  der  Um£ang  an  Wetten  sich  aber  selten 
ermitteln  1äßt|  und  im  flbrigen  nnr  vereinzelte  Ffille  znr  Anzeige  ge- 
langen, l&ßt  sich  nnr  unter  besonders  günstigen  Umständen  das  Vor- 
liegen eines  Betruges  im  Sinne  des  $263StG.B.  nachweisen.  Es 
ist  erstaunlich,  mit  welchem  Ilaffiaement  diese  Sorte  von  Wettaa- 
nehmem  ihrem  unsauberen  Gewebe  nachgehen,  wie  sie  jahrelang 
allen  irgendwie  erheblichen  Gewinnansprüchen  der  Wetter  wie  auch 
den  Xachforsehungen  der  Behörden  zu  entgehen  wissen.  Soweit  ich 
mit  sitleh»  n  Ermittelungen  in  letzter  Zeit  befalk  war,  sind  fast  stets 
Vernichtungen  der  eigentlichen  Wettscheine  und  Anfertigung  willkür- 
lich hergestellter,  zum  Teil  auf  (irund  von  auf  den  Tvennbahnen  auf- 
gelesener Totalisator  Tickets,  wie  Fälschungen  der  der  Kontrolle  der 
Stt'ui'rbehrirde  dienenden  Bücher  vurgt'kommen.  In  einem  solchen 
Kattenkönig  von  Betrug  und  Fälschungen  kann  sich  natürlich  nur 
ein  durch  reiche  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  geschulter  Sachver- 
ständiger zurecht  finden.  Dies  ist  auch  der  Grund,  warum  in  der 
weitaus  überwiegenden  Mehrzahl  der  BEIle,  soweit  es  an  «nem  solchen 
SachTerstSndigen  fehlt,  das  Treiben  und  GesehitfiBgebaren  dieser 
Geschäftsleute  nicht  nach  GebQhr  gewtlrdigt  werden  kann.  Im 
schlimmsten  Falle  weehsehi  die  Wettfirmen  ihre  Namen,  andere  In- 
haber erscheinen  plötzfich,  die  früheren  Fcrschwinden,  nm  bald  hier, 
bald  dort  nnd  schließlich  im  Auslande  —  HoUand  ist  als  Buen  retiro 
besonders  beliebt  —  aufeutaaeben  und  frisch  und  fröhlich  das  Ge- 
schäft weiter  zn  betreiben,  Filialen  im  Inlande  zu  suchen,  Offerten 


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262 


XL  Hamtbcfvxl 


mit  Preisverzeichnissen  ihrer  Wetten  vom  Auslande  ans  zn  Teroaideii 
nnd  öffentlich  in  den  Sportzeitungen  zu  annonzieren. 

In  vorstehendeiii  habe  ich  mich  bemüht,  im  Zusammenhange 
nachzutragen,  was  mir  nodi  ziiiii  Vorsitändnis  des  Wesens  und  der 
Bedeutung  der  sogenannten  Wettbunaus  erforderhch  erschien.  Das 
Material  dazu  habe  ich  mir  selbst  in  fast  zehnjähriger  Beobachtunfj^ 
sammeln  müssen.  Daß  ich  von  Seiten  derjenigen,  denen  diese  Studien 
gewidmet  waren,  auf  ein  Entgegenkommen  geschweige  denn  auf  eine 
Unterstützung  nicht  zu  rechnen  hatte,  bedarf  wohl  kaum  der  Aus- 
führung. Aber  auch  sonst  habe  ich  an  Literatur  über  den  Fall  außer 
den  an  Ort  und  Stdle  erwähnten  zeistreuten  Anmerkungen  nichts  von 
Bedentong  finden  k^Snnen.  Das  wei^eliende  Intcfeaee^  wdehes  meine 
ente  Arbeit  Aber  diesen  Gegenstand  im  Ym.  Bande  des  Arebivs  ge- 
funden —  fast  sSmtliche  gröfieren  Zdtangen  Dentsebiands  baben  die- 
selbe z.  T.  in  extenso^  z.  T.  sogar  veibotenas  gebroobt  —  Ififit  mich 
hoffen,  daß  die  fortschreitende  Erkenntnis  der  Schftdliobkeit  nnd  6e- 
meingefiUirlichkeit  dieses  modernen  Anabentertnms  aneh  einmal  dabin 
führen  werde,  den  einaig  mOglioben  Weg  anr  radikalen  Beseitigiing 
desselben  dnroh  Heibeif&hrung  eines  gesetaliehen  Verbotes  der  ge- 
werbsmäßigen sogenanntoi  Wettvemiittelung  zu  betreten. 

In  Frankreich,  wo  man  mit  ähnlichen  Mißständen  zu  kämpfen 
halte,  regelt  das  Gesetz  und  Dekret  vom  Jahre  1891  (loi  du  2  juin 
et  d^cret  du  7.  juillet  reglementant  l'autorisation  et  le  functionnement 
des  courses  de  cheveaux  en  France  et  loi  modifiant  le  paragraphe 
2  de  Vartide  4  de  la  loi  du  2  juin  1S^>1)  nicht  nur  die  Befugnis,  einen 
Totalisator  auf  Rennliahnen  aufzustellen,  sondern  verbietet  unter  an- 
derem die  Wettvenoitthing,  das  Halten  von  Wettbureaus,  sowie  das 
Verkaufen  sogenannter  „Tipps",  d.  h.  Vorhersagungen  der  Sieger  in 
Rennen  zu  Wettzwecken  und  jede  Art  der  Annonzierung  dieses  Ge- 
werbes, sei  es,  daß  das  Unternehmen  oder  der  Unternehmer  seinen  Sitz 
in  Frankreieh  oder  im  Auslande  hat.  Der  Untenstaatsanwalt  Herr  M. 
J.  Ilurel  zu  Cherbourg  ist  ao  liebenswürdig  gewesen,  mir  neben 
anderen  Informationen,  wofür  ieh  ihm  anoh  an  dieser  Stelle  meinen 
Dank  ansspreehe^  aneb  naebfolgende  Obersiehtstabelle  ans  einer  Sohrift 
des  Herrn  Bnffard  (doctenr  en  droit  et  direotear  de  la  France  cbe- 
valine)  znr  YeifQgnng  zn  stellen.  Ans  derselben  ergibt  sich  unmittel- 
bar der  infolge  jener  gesetzlichen  Bestimmungen  von  Jahr  zn  Jahr 
steigende  Totalisatommsatz  in  lYankreich,  der'  in  den  letzten  5  Jahren 
die  enorme  H0he  Ton  einer  Milliarde  118  Millionen  Franks  —  hiervon 
die  Hennen  von  Paris  allein  eine  Milliarde  sechzig  Millionen  —  nnd 
die  Abgaben  faienron  die  respektable  Höhe  von  78260000 1'canks  — 


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Wettbnranu  und  Winkelbachmaclior  In  DetrtBchlaiid.  268 


die  Pariser  Bennen  sind  an  dieser  Abgabe  mit  74  2ü()i)0ü  Franks  be- 
teiligt —  erreicht  haben.  Diese  Zahlen  sprechen  auch  ohne  weiteren 
Kommentar  eine  deiitlielie  Sprache.  Es  muß  hervorjrchohen  werden, 
daß  in  Frankreich  von  den  Totalisatoreinlairen  nur  7  Proz.  an  Ab- 
gaben und  zwar  2  Proz.  für  lokale  Wohllätij;keit,  1  Proz.  zugunsten 
der  Pferdezucht  erhoben  werden  und  der  liest  von  4  Proz.  den  Kenn- 
gesellschaften verbleiht.  Gegen  eine  solche  Steuer  kann  nicht  ein- 
gewendet werden,  daß  der  Staat  auä  dem  Spiele  einen  Vorteil  zöge. 


ÜberaGht  der  Umsätze  am  Totalisator  von  1891—1899  in  Frankreidi. 


Jahre 

Totabnmaie 

1  Prt».  ffir  PMenieht 

2  Proz. 
für  Wohltätii^kcit 

1891 

5  823  6S3  Pres. 

5S  236 

Frcs.  83 

116  473  FXC8.66 

1S92 

169  799  779 

1  697  997 

e 

79 

3  899  995 

«  58 

lS!t  19^  S77 

1  S<».l  «JSiS 

77 

3  7S9  977 

^  54 

18d4 

183  473  m 

1  834  730 

* 

61 

3  669  461 

«  22 

1S95 

168  018  41S 

1  680 184 

s 

IS 

8  260  S68 

*  26 

ism) 

197  295  477 

1972  954 

7  ( 

8  945  909 

^  54 

1897 

213  197  ti92 

S 

2  181 976 

s 

92 

4  263  953 

^  84 

1898 

221400799 

2  214007 

99 

442S  015 

*  98 

1899 

255678  08« 

2  556780 

* 

85 

5  113  561 

•  70 

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XU. 

£me  bewandernswürdlge  LeiBtang- 

Dr.  OdnPM,  Beehtsanwalfc  in  Kaibnihe. 

Der  Pro7»  l)  Tlumbert  ist  zu  Ende.  Er  hat  mehrere  Wochen 
hing  j;edauert  und  eine  erdrückende  Fülle  von  Material  zutage 
j^ofürdert.  Es  handelte  sich  utii  gfschäftliclie  Transaktionen  wäh- 
rend einer  Zeit  von  15  .laliren  im  lietra^'^e  von  annähernd  sieben- 
hundert Millionen  Francs.  Der  Staatsanwalt  hat  acht  Stunden,  die 
Verteidiger  haben  mehrere  Tage  zu  ihren  Plaidoyers  bedurft.  Am 
22.  August  HHi;?  nachmittags  2 ',2  Uhr  wurden  den  Geschworenen 
258  Fragen^  über  die  Taten  der  vier  Angeklagten  vorgelegt.  L  m 
6V2  Uhr,  nach  vier  Stunden,  stixnd  der  Wahrspruch  fest,  waren  Bämt- 
lieheB^ra^en  beantwortet.  Eine  bewunderungswürdige  Leistung!  Be- 
traohten  wir  sie  etwas  näher.  In  4  Stunden  —  240  Minuten  waren 
258  fragen  zu  erledigen,  es  traf  also  auf  Behandlung  je  einer  lYage 
nicht  ganz  eine  HinutCi  etwa  55  Sekunden.  Die  Hauptfrage  beginnt 
mit  den  Worten:  Paccnse  est-il  conpable  d'avoir  commis  td  crime? 
(Art  337  Code  dinstr.).  Sie  umfaßt  allerdings  nur  die  tatsSohliche^  nicht 
die  rechtliche  Seite  des  Delikts.  Bis  der  Obmann  die  Frage  veileaen, 
jeder  einzelne  Geschworene  sich  auch  nur  3  Sekunden  besonnen  und 
seine  Stiranie  abgegeben  hatte,  etwaige  Zweifel  und  Mißverständnisse 
beseitigt,  das  Stimmenverhältnis  festgestellt  und  zu  Papier  gebracht 
war,  yeigingen  ganz  gewiß  55  Sekund(  n  und  mehr.  Ein  Zeitverlust 
konnte,  wenn  alles  gut  ging,  vielleicht  bei  den  P^ragen  nach  mildernden 
Umständen  fcireonstances  attenuantes).  bei  denen  die  Geschworenen 
wahrscheinlich  kurz  bosonncn  warm  und  meist  einstimmig:::  bejahtt  n, 
ein<;oho!t  worden.  llal)t'ii  also  dir  (ifschwor»  nen,  wie  in  obi^^er  Auf- 
machun^'  an^cnoiiiiiicn  ist,  {»fliclitiremärt  üijer  jt'd»'  ciTizelne  Fra^'^e  nach 
der  ßeihenfülge  abgestimmt,  so  muüten  sie,  wollten  sie  wie  geschehen, 


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Bine  bewnndernswOccUge  Ldstnng. 


265 


in  4  Stunden  fertig;  werden,  im  Stuniischritt  alle  Fraj^en  ohne  jedes 
Zaudern  sofort  beantworten,  eine  Deliatte  war  bei  keiner  tinzi-en 
FrajLre  niöf::licb.  Erwüjxt  man,  dali  die  liauptfra^ren  meist  nicht  ein- 
stinunii;,  sondern  mit  Mehrheiten  beantwortet  wurden,  so  ist  klar,  daß 
von  tMHcr  communis  oi)inio  zu  einem  alle  überzeugenden,  einleuch- 
tenden Tatbeweise  keine  Kt'de  sein  konnte.  Vielmehr  handelte  es 
sicli  liei  vielen  dieser  Fragen  um  die  Würdigung  von  Beweisstücken, 
Zi'ugenaussagcn,  ScLriftverstiindigcii- (lutaehten  und  sonstigen  ver- 
wickelten Tatbeständen,  welche  14  Tage  und  länger  zurück  lagen.  Die 
Geschworenen  halten  allerdings  eine  fabelhafte  Gescbicklichk^  im 
Behalten  und  Yorwerten  all  dieser  TaAbestSnde  entfaltet»  wenn  die 
Sache  so  ging,  wie  de  nach  dem  Gesetze  gehen  sollte. 

Aher  es  ist  vollstftndig  aosgeschlossen,  daß  die  Abstimmung  in 
dieser  Weise  erfolgt  wiie.  Kdn  KoUeginm  der  Welt  and  bestände 
es  statt  ans  zwölf  nnr  ans  drei  KOpfen,  bringt  es  fertig,  Uber  258 
strittige  Fragen  in  einer  Zeit  von  je  55  Sekunden  abzustimmen,  wenn 
das  Material,  über  welches  sich  diese  Fragen  verbreiten,  einem  Pro- 
zesse entstammt,  der  wochenlang  dau^e  und  Hunderte  von  sich 
widersprechenden  Beweisstücken  zum  Vorschein  brachte.  Gleichwohl: 
die  Ant^^  orten  liegen  vor,  ^  wie  sind  sie  zustande  gekommen? 

Ich  denke  mir  den  Vorgang  folgendermaßen: 

Der  Obmann  begann  zuerst  mit  der  Erörteruiiir  der  Fragen  in 
der  Keilienfolge,  wie  der  Präsident  sie  übergeben  hatte.  Sehr  bald 
iinilUt'  t  r  walirnclimen,  daß  in  einer  Anzahl  von  Fällen  die  (n'schwo- 
n  ni  n  von  ilireiii  <u'(liielitnisse  verlassen  wurden  und  deshalb  die  Frage 
verufintt  n.  oder  sieh  in  eine  lange  und  hitzige  Debatte  verwickelten, 
wodurch  man  nicht  vom  Fleeke  rückte.  Man  niuPtte  sich  sagen,  dal» 
auf  diese  Weise  vielleicht  noch  eine  Woi-lif  hing  am  Verdikte  beraten 
worden  wäre.  So  entschlossen  sich  die  Oesehworenen  zu  einem  an- 
deren Arbeitsmodus.  Die  eklatantesten,  die  gravierendsten,  die  in 
der  Erinnerung  der  SchwurmSimer  am  bestmi  haltenden  Fälle  griff 
man  bei  jedem  Angeklagten  heraus,  stellte  sie  zur  Diskussion,  und 
nachdem  die  Mehrheit  die  diesbezüglichen  Fragen  bejaht  hatte,  war 
man  der  beruhigten  Oberzengung,  daß  die  Schuldigen  ihre  Strafe 
schon  finden  wttrden,  griff  deshalb  sSmtliche  fibiiggebliebenen  Fragen 
zusammen,  beantwortete  sie  mit  „Nein''  und  die  Sache  war  erledigt 

Genial,  aber  gesetzwidrig.  Hierzu  konnte  man  um  so  eher  kommen, 
als  die  SchwurmJinner  nach  französischem  Rechte  nach  ihrer  über 
dem  Gesetze  stehenden  conviction  intime  richten.  Wozu  also 
die  zahllosen  Fragen  noch  des  T.:iniren  und  Breiten  prüfen,  wenn  die 
Geschworenen  bereits  zum  Ausdrucke  gebracht  haben,  daß  die  An- 


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266  XXTT.  G5uBn,  Eine  bmnuidenswflidige  Leiatan; . 


geklagten  in  der  Hauptsache  schuldig  sind  und  wenn  lestatoht,  daii 
sie  der  Stmfe  dafür  niclit  entrinnen  werden? 

Im  deutschen  Verfahren  würde  man  die  Zahl  der  Fragen  wesent- 
lich verringert  hahen  durch  Stellung  einer  Frage  nach  fortgesetzter 
Tat.  Das  durfte  der  französische  Richter  nicht  wagen:  es  stand  zu 
viel  auf  einer  Karte.  Deshalb  strickte  er  ein  Netz  mit  zahllosen 
Maschen  in  der  Annahme,  daß  wenigstens  in  einigen  derselben  — 
wenn  andi  nur  in  den  wenigateD  die  Angeklagten  hängen  blieben. 
Und  80  geschah  es.  Aul  193  Fngen  lautete  die  Antwort  Neb;  nnr 
auf  65  Fragen  lautete  sie  Ja! 


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XIII. 

Das  Geständnis  des  Yerbreclieis. 

Landriditer  Himlhmiir  in  Zuickan. 

Nur  eine  f;enaue  Kenntnis  der  zum  Tatbestande  des  Verbrechens 
^ehörifren  Tatsachen  verbürgt  eine  gerechte  Strafe  des  Täters.  Bei 
jeder  Straftat  gehört  zu  solchen  Tatsachen  die  Willensrichtung  des 
Täters  und  bei  vielen  Straftaten  ist  sie  ausschlaggebend  für  die  recht- 
liche Ik'urteilung  der  Tat.  Das  beste  Beispiel  hierfür  sind  wohl  die 
FaUef  in  denen  die  verbrecherische  Handlung  den  Tod  eines  Menschen 
venmadit  bat,  denn  lediglich  von  der  WiUensrichtung  des  Täters 
hängt  es  bei  ihnen  ab,  ob  sie  als  Köipenrerletznng  mit  tödlichem  Aus- 
gange, Totschlag  oder  Mord  zn  beorteilen  ist,  oder  ob  im  Naogel 
ilberhanpt  dnes  gewollten  schlimmen  Erfolges  der  Tod  nnr  als  durch 
eine  fahrlässige  Behandlung  Teraisacht  ansosehen  ist 

Abgesehen  yon  der  WiUensiichtong  des  Täters  ist  aber  aach  eine 
mSf^ichst  genane  Kenntnis  der  die  Tat  begieitenden  Umstiinde  oder 
derer,  die  sie  veranlaßt  haben,  wichtig  für  die  Beurteilung  des  Grades 
der  Verschuldung  des  Täters  nnd  damit  der  Höhe  der  von  ihm  ver- 
wirkten Strafe,  ganz  abgesehen  davon,  daß  sie  möglicherweise,  wie 
zum  Beispiele  bei  gegebener  Notwehr,  seine  völlige  Straffreiheit  be- 
gründen können.  Die  Willensricbtung  des  Täters  und  die  seine  Tat 
begleitenden  Umstände  können  nun  in  vielen  Fällen  zwar  aus  Zeugen- 
aussagen oder  anderen  licweisniittt  hi  in  dem  Maße  entnommen  werden, 
daß  über  sie  ausreichende  Klarheit  gewonnen  wird. 

In  vielen  Fällen  und  nicht  zum  mindesten  bei  den  schwersten 
Verl)rechen  werden  aber  diese  Hilfsmittel  zur  Erforschung  der  Wahr- 
heit nicht  genügen  und  wird  der  Richter  im  Mangel  ihrer  sicheren 
Kenntnis  entweder  die  Freispri  chinig  des  Täters  verfügen  oder  eine 
ihm  günstigere  Straf besiiuimuug  zur  Auwendung  bringen  müssen  und 

1)  Vgl.  H.  Groß,  Handbuch  für  rntorauchunpsricbter.  3.  Aufl.  S.  101  ff.  o, 
deeaenKrimiiialpsycbologie.  S.88,  41, 42,  112, 133,  136,  137,  141,  173,  396,  457  usw. 


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268 


XUL  ÜAiTBinnai 


ausfjcsclilo.ssen  werden  niolit  die  Fälle  ])leil)eii,  in  denen  der  Richter 
auf  Grund  der  ihm  durch  diese  lieweisinittel  bekannt  ^a'wordenen 
TatBacben  auch  zu  einer  dem  Täter  uDf^üDstigeren  Ännabuie  gelangt, 
indem  er  ein  flcbwererai  Venclinlden  «nnimml^  als  wie  ea  tatsSehlicb 
ihm  zur  Last  fiUlt»  wenn  nämiieh  die  ihm  bekannt  gewordenen  Tat- 
sachen ihn  zu  dieser  Annahme  zwingen,  wfthrend  in  Wirklichkeit  ihm 
unbekannt  gebliebene  Tatsachen  Torliegen,  die  die  Schuld  des  Tftters 
aasschließen  oder  ein  erheblich  geringeres  Verschulden  des  Titers  er- 
kennen lassen.  Deiigleiehen  FftUe  sind  nicht  allzuselten,  weil  nur  zu 
oft  der  schuldige  Titer  in  dem  Bestreben,  der  Strafe'  zu  entgehen, 
nicht  nur  über  seine  Willcnsrichtung  und  ÖIh  r  die  die  1^  beglei- 
tenden Umstände  unwahre  Angaben  macht,  um  die  Tat  zu  verschleiern. 
Wird  ihm  nun  durch  die  erhobenen  Beweise  die  Unwahrheit  seiner 
Darstellung  nachgewiesen,  so  scheut  er  sich  leicht  aus  Scham,  die 
Unwahrheit  des  bisher  von  ihm  Erzählten  einzugestehen,  die  Tat- 
sachen vurziiljrinj^en,  (he  ihm  günstig  sein  könnten,  auch  weil  er 
deren  Wiehtiukeit  für  die  Beurteilung  des  Pralles  l)ei  seiner  regelmäßig 
unzulänglichen  Kcuutnifi  der  Strafgesetze  nicht  ausreichend  zu  er- 
messen wein. 

Es  sei  nur  des  Falles  gedacht,  daß  dem  Täter,  trotzdem  er 
jede  Beziehung  zur  Tat  geleugnet  iiat,  gleichwohl  die  Verursachung 
des  Todes  eines  Anderen  cinwandsfrei  nachgewiesen  worden  ist, 
und  daß  durch  die  Beweisaufnahme  zugleich  auch  Umstände  dar- 
getan worden  sind,  die  auf  eine  vom  Täter  auch  gewollte  Tötung 
hinweisen. 

In  diesem  Falle  kann  es  ihm  geschehen,  da0  ez  des  Totachhigs 
für  schuldig  befunden  wird,  obschon  er  talsächlich  yieUdcht  nur  der 
KOiperrerietzung  mit  tödlichem  Ausgange  schuldig  ist,  daß  also  seine 
Strafe  statt  nach  S  226  St.G.B.  innerhalb  des  Bahmens  von  3  bis 
15  Jahren  Zuchthaus  nach  §  212  dieses  Gesetzes  innerhalb  der  Bah- 
mens von  5  bis  zu  15  Jahren  Zuchäiaus  gesucht  werden  muß.  Diesen 
Nachts,  der,  da  im  letzteren  Falle  die  geringste  zulässige  ordentliche 
Strafe  zwei  Jahre  höher  ist,  bei  der  Strafausmessung  sich  zu  seinen 
Ungunsten  sehr  füldbar  machen  muß,  erleidet  er  unter  Umständai 
lediglich  deshalb,  weil  er  über  die  Tat  und  ihre  begleitenden  Um- 
stände, besonders  aber  über  seine  AVilb-nsrichtung  und  die  sie  dar- 
tuenden Tatsachen  gesehwiegen  ddcr  unwahre  Angaben  gemacht  bat| 
in  dem  Bestreben,  überhaupt  der  Strafe  /u  entgehen. 

Abgesehen  davon  ist  aber  das  <  i«'>t;indnis  des  Täters  in  jedem 
Falle  auch  noch  um  deswillen  von  Wert,  weil  es  trotz  aller  anderen 
Beweise  doch  immer  die  Quelle  sein  wird,  aus  der  am  zuverläääigsteu 


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Das  GestSndnis  d«B  Verbrechen. 


269 


die  inneren  Vor^^äni^e  beim  Täter  während  der  Tat,  wie  vor  ihr  und 
nach  ihr,  erforselit  werden  kimnen. 

Jeder,  der  eine  Untersueliun^'  zu  führen  hat,  sollte  deshalh  mit 
allen  ihm  zu  (lebote  stehenden  Mitteln  bestrebt  sein,  die  Tat  durcli 
Ckständnis  des  Täters  zu  eiforscben.  Die  Polizeibehörden  bennihen 
«cb  ja  in  dieser  Riohtong  naeh  Kifften.  Andere  mit  üntersncbungen 
bebßte  Stellen  besehifinken  deb  in  dieser  TBtigkdt  aber  oft  anf  das 
Änßeiste  zum  Nachteil  für  die  Untersnehnng.  Abgesehen  davon,  daß 
bei  einem  Teistockten  Verbreeher  die  Ermittelnng  eines  Gestfindnisses 
oft  viel  Zeit  kostet^  die  den  zumeist  mit  Arbeit  überlasteten  Staats- 
anwälten nnd  Untersnchnngsriehtem  fehlt,  mag  viele  von  ihnen  anefa 
die  Sehen  abhalten,  sie  machten  beschuldigt  werden  oder  in  den  Ver- 
dacht kommen,  mit  nnznlissigen  Mitteln  das  GestSndnis  eilangt  zu 
haben. 

Falls  aber  der  die  Untersuehung  Führende  nur  jederzeit  nnd 
auch  dem  schwersten  Verbrecher  gegenüber  nicht  vergißt,  daß  auch 
der  Verbrecher  ein  Mensch  ist  und  daß  wir  alle  Sünder  sind,  und 
wenn  weiter  er  ilini  L-eirenüber  sieb  niemals  eine  verletzende  oder 
unpassende  liehandlun^;  erlauht,  ihm  auch,  sofern  es  mit  der  Unter- 
suchung vereinbar  ist.  in  P>fUlluni:  von  Wünschen,  die  seine  häus- 
lichen oder  wirtsehaftlieben  Verbältnisse  betreffen,  ent^'e<ienkommt, 
kurz  stets  sich  als  ein  ^'erecbt  denkender  und  wohlwollend  ^resinnter 
Beamter  zeigt,  wird  kaum  jemals  ein  bei  ihm  in  Untersuehung  Be- 
findlicher es  unternehmen,  ihn  zu  verdächtigen.  Der  Anwendung  ge- 
setzlich verbotener  oder  sittlich  nicht  einwandfreier  Mittel  wird  ja  ein 
rechtlich  denkender  Mann  so  wie  so  sich  auch  nicht  schuldig  machen. 
Die  Wichtigkeit  des  Geständnisses  für  die  Ezfonachung  der  Wahrhat 
muß  meines  Erachtens  aber  auch  trotz  etwaiger  Seheu  vor  etwaigen 
unbegründeten  Verdächtigungen  jeden,  der  eine  Untersuehung  zu 
führen  hat,  veranlassen,  es  zu  erlangen  zu  suchen. 

Schwer  ist  es  ja  nun  gewiß  für  den  Täter,  dne  womüglich  wohl- 
erwogene und  in  aller  Heimlichkeit  ausgeführte,  nur  ihm  allein  be- 
kannte Tat  in  ihren  Einzelheiten  einem  anderen,  der  noch  dazu  ihret- 
wegen gegen  ilin  die  Untersuchung  führt,  zu  offenbaren. 

Gleichwohl  zeigt  die  Erfahninu.  dal»  \  iele  Verbrecher  CS  tun  und 
daß  selbst  die  schwersten  Verbrechen  gebeichtet  werden,  wenn  dem 
Täter  richtig  begegnet  wird. 

Im  folgenden  will  ich  den  Weg  zeigen,  auf  dem  ich  in  lang- 
jähriger Tätigkeit  viele  und  oft  unerwartete  (Jeständnisse  erzielt  habe. 
Zunächst  ist  es  unbedingt  erforderlich,  den  Beschuldigten  kennen  zu 
lernen. 


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270  Xm.  liAL&SMSB 

Dasa  dienen  außer  der  Sfteren  pcraOnliohea  Untenrediing  mit  ihm, 
wobei  man  sich  insbeBondeie  Aber  seine  VerhUtnisse  und  seine  Yer- 
^genheit  zu  unterrichten  sucht,  Yomehmlich  die  über  ihn  etwa  er- 
gangenen VoEBikten  des  Gerichts  und  namentlioh  der  Poliieibehdrdeny . 
aus  denen  man  sich  du  Bild  fiber  den  Besohuldigten  in  machen 
sucht  Sehr  oft  geben  sie  ein  klares  Bild  seiner  häuslichen  Yerhält^ 
nisse,  sein«  wirtschaftlichen  Lage  und  seines  moralischen  Sinkens, 
wie,  was  sdir  wichtig  ist,  seiner  Glaubwürdigkeit  oder  seines  Ge- 
Bchickee  oder  Ungeschickes  im  Erzählen  von  Unwahrheit^  Oft 
stößt  man  in  den  Polizeiakten  dabei  aber  auch  auf  Anzeigen  gleich- 
artiger Straftaten,  die  zwar  zu  Ermittelungen,  aber  nicht  zur  l'ber- 
fiihrunfj:  g:eführt  haben  und  nicht  selten  macht  man  in  den  Vorakten 
gar  die  überraschende  Entdeckung,  dal')  früher  der  Täter  sich  ganz 
in  der  gloiclien  Weise  verteidigt  bat  wie  in  der  nun  wieder  gegen 
ihn  anhängitren  Untersuchung. 

Zwei  Beispiele  dafür,  die  mir  gerade  gegenwärtig  sind  und  die 
ich  selbst  erlebt  habe,  will  ich  hier  berichten. 

In  dem  einen  Falle  hatte  nach  der  Anzeige  der  Beschuldigte 
einen  alten  über  siebzigjährigen  alleinstehenden  Mann,  der  Trinker 
war,  in  einer  Schankwirtsohaft  kennen  gelernt  und  den  dort  wieder 
trunken  Gewordmen  schließlich  heimgeschafft  Der  Greis  hatte  nun 
behauptet,  er  sei  daheim  alsbald  in  Schlaf  TCifallen.  Als  er  erwacht  sei, 
habe  er  entdedct»  daß  sein  Sopha,  zwischen  dessen'Polstem  er  in  einem 
Strumpfe  Terstedst  einen  größeren  Geldbetrag  verwahrt  habe,  durch- 
wühlt gewesen  s^  und  daß  ihm  aus  dem  Strumpfe  ftber  100  Hk.  Geld 
fehlten.  Niemand  anders  wie  sein  Begleiter,  der  b^  seinem  Erwachen 
fort  gewesen  sei,  könne  ihm  das  Geld  gestohlen  haben.  Der  Tiker  leug- 
nete. Seine  Überführung  erschien  aussichtslos,  denn  das  Gericht  hätte 
schwerlich  bei  di*  sf  r  Sachlage  auf  das  Zeugnis  des  trunkenen  Greises  hin 
den  leugnenden  Beschuldigten  Terurteilt,  zumal  doch  auch  die  Möglich- 
keit nicht  ausgeschlossen  schien,  dalj  der  alte  ^fann  seine  Beschuldigung 
auf  Grund  einer  Wahnvorstellung  erhoben  hatte,  die  bei  seiner  Schlaf- 
trunkenheit, seiner  Trunksucht  und  seinem  Alter  immerhin  möglich 
war.  Ich  zog  zunächst  die  Strafliste  des  Beschuldigten  herbei.  Sie 
ergab  unter  anderen  luicli  zwei  Vorstrafen  wegen  Diebstahls,  die  aber 
den  Küekfiill  niciit  l»egründeten.  weil  inzwischen  seit  der  letzten  Be- 
strafung z<'lin  .lalire  verflossen  waren.  Da  nun  annehmbar  l)ei  den 
Vorstrafen  des  Beschuldigten  aber  Polizeiakten  vorhanden  waren,  zog 
ich  die  herbei.  In  ihnen  fand  ich  zu  meiner  1  bernischung  wohl 
sechs,  teilweise  schon  vor  Jahren  erstattete  Anzeigen,  in  denen  stets 
fast  die  gleiche  Beschuldigung  erhoben  worden  war.  Oer  Beschuldigte 


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Das  G«atindiii8  dea  Verbrecheis. 


271 


hatte  sich  mit  Betrunkenen  befreundet  und  die  hatten  nach  ihrer 
Trennuni;  von  ihm  stets  Geld  verniilH  und  diesen  Verhist  sich  nicht 
anders  als  wie  durch  eiuen  Diebstahl  des  Beschuldigten  zu  erklären 
yenuocht 

Kerne  «nzige  der  anf  dien  Anzeigen  eingeleiteten  Untenrochnngeii 
hatte  die  Überfllhnuig  dee  Beeohnldigteii  zur  Folge  gehabt  Ein  glttck- 
licher  ZnbJl  wollte  es,  daß  alle  in  diesen  Anseigen  benannten  Zeugen 
noeh  m  erimngen  waren.  Ein  dem  BeBchnldigten  nngifieklicher  Zu- 
fall wollte  es,  daß  mehrere  der  ihm  anr  ImA  gelegten  Handinngen 
noch  innerhalb  der  anf  die  letste  Vemrteilnng  folgenden  zehn  Jahre 
lagen,  so  daß  sie  im  Rückfalle  begangen  waren,  nnd  daß  bei  denen, 
auf  die  die  Rückfallsbestimmangen  nicht  mehr  anwendbar  waren,* 
VeQähmng  noch  nicht  eingetreten  war. 

Der  in  der  Anklage  angebotene  Beweis  gelanj^  vollständig.  Die 
von  den  vielen  Zeugen  geschilderten,  stets  gleichartigen  Vorkommnisse 
überzeugten  das  Gericht.  Er  wurde  zu  vier  Jaliren  Zuchthaus  ver- 
urteilt. Nach  der  Verurteilung  legte  er  ein  umfassendes  Geständnis 
ab,  in  dem  er  auch  über  den  Verbleib  der  dem  Greise  gestohlenen 
über  100  Mk.  Auskunft  gab. 

Der  andere  mir  auch  begegnete  Fall  ist  der  folgende: 

Ein  Mann,  der  des  Diebstahl  beschuldigt  war  und  bei  dem  die 
Voraussetzungen  des  Rückfalls  gegeben  waren,  wollte  die  Sache,  deren 
Diebstahl  ihm  zur  Last  gelegt  wurde  nnd  die  ihm  abgenommen 
worden  war,  irgendwo  gefunden  haben.  Er  gab  den  Platz  des  Fundes 
genau  an,  eine  Strafienkienzung  der  Landstraße  swisehen  awei  be> 
lebten  Orten. 

Eine  durebans  sichere  Widerlegung  dieser  Behauptung  war  naeh 
der  Lage  des  Falls  nieht  su  erwarten.  HerbeigeBOgene  Vorakten  et- 
gaben  nuu,  daß  der  Beschuldigte  bereits  frtther  emmal  genau  an  der» 
selben  Stelle  eine  Pferdedecke  gefunden  haben  wollte.  Als  ich  ihm 
das  Torhielt,  gal)  er  —  sichtlich  betroffen  über  diesen  ihm  völlig  un- 
erwarteten  Vorhalt  —  unter  dreistem  Ischen  den  Diebstahl  zu. 

Die  ans  Vorakten  zn  schöpfende  Kenntnis  der  häuslichen  und 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  des  Beschuldigten  ist  aber  deshalb  von 
Wert,  weil  sie  in  vielen  Fällen  Aufschluß  über  den  etwaigen  Beweg- 
grund zur  Tat  geben  kann.  Gelingt  es  doni  die  I^ntersueliunir  Führen- 
den den  Beweggrund  zur  Tat  nur  einii:ernial)cn  zutreffend  zu  er- 
gründen, so  ist  es  vom  groltem  Werte.  Denn  nicht  selten  pbt  der 
Täter,  wenn  er  gewahr  wird,  dali  sein  Gedankengang  erraten  worden 
ist,  sein  Leuirnen  auf. 

Auch  dulur  kann  ich  einen  selbsterlebten  Fall  als  Beispiel  anführen. 


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272 


Ein  Kutscher,  der  einer  ,-enngcn  Übertretung  angt-kla^'t  war,  er 
hatte  seinen  Wagen  ohne  Aufsicht  in  der  Straße  stehen  lassen,  ohne, 
wie  es  PolizeiyofBebrift  gebot,  die  Pferde  auszusträngen,  war  vom 
SehS^ngerichte  freigesproohen  worden*  Obschon  der  SohtUzinaiiii, 
der  die  Anzeige  erstattet  hatte,  eidlich  die  darin  behauptete  Be- 
Bcbnldigong  als  anf  eigener  Wahmehmnng  beroheod  veniehert  hatte, 
halte  eine  andere  Person  beeohworen,  die  Pferde  seien  ansgestringt 
gewesen.  Wer  von  diesen  beiden  Zeugen  fiJseh  gesehworen  hatte, 
war  in  der  Hauptverhandlnng  nieht  lestziisteUen  gewesen,  deshalb 
wnrde  der  Kutscher  freigesprochen.  Eme  dem  sicheren  Auftreten  des 
anderen  Zeugen  gegenüber  vom  Schutzmann  in  der  Hauptrerband- 
lung  gezeigte  Unsicherheit  war  der  Anlal^,  dafi  die  Akten  zur  Ein- 
leitung der  Untersuchung  wegen  Meineids  gegen  den  Schutzmann  an 
die  Staatsanwaltschaft  abgegeben  wurden. 

Rei  den  an  Ort  und  Stelle  vorirenommenen  En^rteningen  wurde 
ich  bald  inne,  dali  der  Entlastiin^s/eufre  eine  wenig  Vertrauen  «ge- 
nießende l'er^^önliehkeit  war,  die  en^en  und  vertrauten  Uni^'Hn^  mit 
dem  freigesprochi'nen  Kutscher  hatte,  während  der  Schutzmann  als 
einwandfreier,  zuverlässiger  Beamter  von  seineu  Vorgesetzten  geschildert 
wurde. 

Diese  Tatsachen  verscliafften  mir  bald  die  volle  Überzeugung, 
daB  der  Entlastungszeuge  der  Meineidige  gewesen  sei  und  er  dem 
Kutscher  mit  seiner  fidscSien  Aussage  einen  Frpundsehafisdienst  er- 
wiesen habe.  War  das  der  FaU,  dann  hatte  der  Kutscher  aber  das 
falsche  Zeugnis  vom  M^eidigen  aller  Wahrseheinlichkeit  nach  erst 
gefordert  und  annehmbar  auch  ihm  Versprediungen  gemacht  oder 
sonst  rieh  für  den  ihm  zu  leistmden  Dienst  erlienntlich  gezeigt,  da 
so  ohne  weiteres  schwerlich  sich  der  fVennd  zum  Meineide  yenstanden 
hatte.  Die  Versprechung  konnte  hoch  nicht  gewesen  sein,  da  der 
Kutscher  nicht  viel  zu  vergeben  hatte. 

Als  ich  nun  dem  Entlastungszeugen  den  Widerspruch  zwischen 
seiner  Aussagt'  und  der  des  Schutzmanns  T<^hielt  und  ihm  zu  er- 
kennen gab,  dal)  er  allem  Anscheine  nach  um  ganz  geringen  Vorteils 
willen  dem  Freunde  in  so  strafbarer  Weise  zu  Diensten  gewesen  sei, 
daR  er  annehmbar  um  ein  paar  Oroschen  oder  ein  paar  Glas  Bier 
meineidig  geworden  sei,  h\^'te  er  alsi>ald  unter  Tränen  das  Geständ- 
nis ab,  daf)  er  auf  ZiirtMli  ii  des  Kutschers  für  drei  Glas  Bier  wissent- 
lich falsch  geschwonn  habt*. 

Die  Kenntnis  der  sittlichen  Ilntwieklung  des  Verl>rccliers  aber  ist 
von  Wert,  weil  sie  mit  gutem  Erfolge  sich  verwerten  lälH,  um  dem 
Täter  ins  Gewissen  zu  reden.    Es  ist  auftallend,  wie  es  auf  den  Ver- 


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DaB  Uestäadnia  des  YorbrocIierB. 


278 


brecher  wirkt,  wenn  man  ihm  unter  Mittciiun^^  dvr  juls  den  Voiakten 
bekannt  ^'ewordcneu  Tatsachen  vurhäh,  wie  er  vom  ersten  geringen 
Diebstahle,  den  er  vielleicht  schoa  als  Scbulknabc  begangen  hat,  von 
Stnfe  zu  Stufe  gesunken  ist  und  wenn  man  im  Anschlüsse  daran 
damaeh  forscht,  welche  ümslftnde  ihn  soweit  gebracht  haben.  In  den 
weitaus  meisten  Füllen  folgen  langatmige  Schilderungen,  aus  denen  zu 
entnehmen  ist,  daß  schon  in  frfiher  Jugend  der  Verbrecher  ohne  Auf- 
sicht war,  daß  er  im  LAufe  der  Jahie  seelisch  vereinsamt  ist  und 
allmählich  sich  mit  dem  Gedanken  vertraut  gemacht  hat,  daß  er 
außerhalb  der  menschliehen  Gesellschaft  stehe. 

Bei  der  Erzählung  der  Tatsachen,  die  nach  seiner  Meinung  auf 
seine  sittliche  Entwicklung  eingewirkt  haben  und  für  sie  bestimmend 
gewesen  sind,  brechen  nur  zu  oft  auch  alte  GewolmlK-itsverbrecher  in 
Tränen  aus.  Die  während  dieser  Schilderung  vielleicht  aufsteigende 
Anwandlung  von  Reue  über  das  verfehlte  Treben,  die  Erinnerung  an 
die  schuldlose  Jugendzeit  und  wohl  auch  der  Gedanke,  daß  manches 
anders  gekommen  wäre,  wenn  die  Mitwelt  mehr  Anteil  an  seinem 
Schicksale  genommen  hätte,  verwandeln  nicht  selten  selbst  arg  ^'er- 
stockte  in  reumütig  ihre  Schuld  Bekennende.  Wenn  man  den  Ver- 
brecher in  diesem  Seelenzustande  fragt,  ob  er  schuldig  sei,  wenn  man 
ihm  dabei  vorliiiit,  dali  er  eine  einmal  auf  sich  genommene  Schuld 
doch  auch  sühnen  müsse  und  ihm  zuspricht,  dal)  es  damit  aber  nun 
wohl  das  letztemal  gewesen  sein  werde,  daß  er  die  Strafgesetze  ver- 
letzt habe,  bekommt  man  in  vielen  Fällen  ein  umfassendes  Geständ- 
nis selbst  schwerer  Verbrechen. 

Man  darf  aber  nun  nicht  verlangen,  daß  eine  schwere  Schuld 
sofort  in  allen  Einzelheiten  gebeichtet  wird.  Man  muß  sich  zunächst 
mit  dem  Nötigsten  begnßgen.  Bei  späteren  Vemehmungen,  bei  denen 
man  Be^g  nimmt  auf  die  (r&heren  Zugeständnisse^  erfährt  man  dann 
schon  noch,  was  man  sonst  noch  wissen  will.  Nur  muß  man  unter 
allen  Umständen  bei  solchen  Anlässen  Klarheit  wenigstens  über  den 
Beweggrund  zur  Tat  zu  erlangen  und  mögliclist  Tatsachen  zu  erfahren 
suchen,  die  eine  objektive  Feststellung  der  Richtigkeit  des  Geständ- 
nisses ermöglichen,  damit,  wenn  etwa  der  Verbrecher  s|)äter  sein  Ge- 
ständnis widerrufen  sollte,  durch  jene  Tatsachen  der  Beweis  geführt 
werden  kann. 

So  hielt  ich  beispielsweise  für  geboten,  als  mir  ein  Brandstifter, 

der  auf  meine  Frage,  ob  er  .schuldig  sei,  bejahend  nur  mit  dem 

Kopfe  nickte,  bei  der  Geh-geniieit  wenigstt-iis  nucli  in  Erfahrung  zu 

bringen,  wie  er  zu  dem  verschlossen  gewesenen  Brandherde  gekommen 

sei.  Er  gab  au,  er  habe  durch  Zufall  den  ordnungsmäßigen  Schlüssel 
AioUv  Ol  Kriininabnthiuiiologi«.  XIIL  18 


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274 


XIIL  HAII88KBB 


gehabt  und  NcrsiclRTtc  auf  weiteres  Befragen,  er  liai>e  ihn  nacli  der 
Tat  in  den  Aliurt  seiner  Jieliausunp:  jjeworfen.  Dort  wurde  er  auch 
gefunden  und  damit  ausgeachlossen,  dal^  nacliträg-lich  die  früher  ab- 
gegebenen, im  Geständnis  enthaltenden  Erklärungen  mit  Erfolg  wider- 
rufen werden  konnten. 

Der  Widermf  eines  Micben,  im  Zustande  völliger  seelisoher  Zer- 
knirschnng  abgelegten  Gestilndnisses  ist  verhältnisniäDig  sehr  selten. 

leb  glaube  den  Grund  dafür  im  Scbamgeffible  des  Verbreohero 
suchen  zu  müssen.  Er  schämt  sich,  dem,  dem  er  einen  so  tiefen  Ein- 
blick in  sdne  Seele  gestattet  hat,  wieder  als  Verstockter  sich  au  zeigen. 
Das  mag  auffiUlig  und  unwahrscheinlich  klingen.  Ich  halte  mich  aber 
zu  dieser  Behauptung  doch  für  berechtigt,  auf  Grund  ungezShlter 
Aussprachen,  die  ich  mit  zaidreichen  und  schweren  Verbrechern  ge- 
habt habe  und  bei  denen  ich  WahriiebTiiungen  gemacht  habe,  die  mich 
anfangs  überrascht  haben,  mir  später  aber  durchaus  nicht  mehr  auf- 
fiUlig gewesen  sind. 

Solche  Wahrnehmungen  sind  die  folgenden : 

Es  ist  nicht  selten,  dal»  der  Verbrecher,  und  unter  ihnen  besondere 
jugendliclie  und  naniontüch  auch  weililiche  l*ersonen.  nach  abgelegtem 
Oeständnisse  ihrer  Befriedigung  darüber,  dali  sie  es  al)gelegt  haben, 
unverliolden  und  ganz,  offenbar  niclit  gelieuchelt  Ausdruck  gegeben 
haben  mit  der  Begründung,  es  sei  ilinen  nun,  wo  sie  sidi  ausgesprochen 
hatten,  wiecier  leieliter  uins  Herz,  es  habe  sie  vorher  „richtig  gedrückt^^ 
Erwachsene  Männer,  namentlich  gediente  Soldaten  äuliern  ihre  Be- 
friedigung in  anderer  Weise.  Sie  strecken  einem  zuweilen  ihre  Hand 
entgegen  mit  der  Bitte,  sie  nicht  zu  verachten  und  ihnen  gnädig  zu 
sein,  sie  nicht  zu  hart  strafen  zu  lassen.  Andere,  namentlich  solche, 
die  zum  ersten  tfale^  aber  schwer  sich  strafbar  gemacht  haben,  sprechen 
die  frohe  Erwartung  aus,  daß  sie  nun  wieder  hofften.  Schlaf  za 
finden  und  daß  sie  nun  hoffentlich  wieder  würden  essen  können. 

Damit  komme  ich  gleich  auf  eine  andere  Tatsache,  die  für  die 
Erzielung  eines  Geständnisses  nicht  unwichtig  ist. 

Das  schlechte  Gewissen,  das  den  drückt,  der  zum  ersten  Male 
gegen  die  Strafgesetze  erheblicher  gefehlt  hat,  macht  selbst  dem  an- 
scheinend gewissenlosen  Verbrecher  offenbar  arge  Pein,  die  sich  in 
Schlaflosigkeit,  schreckhaften  Träumen,  angstvollem  Erschrecken  und 
unter  Umständen  auch  der  nicht  weichen  wollenden  Vorstellung  des 
durch  die  Tat  geschaffenen  Bildes  äußert.  Diese  Pein  muß  zuweilen 
furchtbar  sein.  Icli  erinnere  mich  einer  Szene,  die  ich  mein  I^ebtag 
nicht  vergessen  werde.  Zu  einer  M<»rderin,  die  lange  und  hartnäckig 
geleugnet  hatte,  äußerte  ich  gelegentlich,  die  schwerste  Strafe  müsse 


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Das  GflBtSndnis  des  Verbrechers. 


275 


doch  leichter  sein,  wie  das  qualvolle  Leben,  das  der  führe,  den  Tag 
und  Nacht  das  Bild  des  von  ihm  ums  Leben  Gebrachten  verfolge. 
Kaum  hatte  ich  diese  Worte  g;esprochon,  brach  die  bis  dahin  dreiste, 
offenbare  Unwahrheiten  erzählende  Frau  sichtlich  zusaninien  und 
unter  liefti<^em  Zucken  ihres  Leibes  in  bittere  Tränen  aus.  Nach- 
dem diese  seelische  Erschütterung:,  die  ausreichend  schon  die  Schuld 
der  schon  Verdächtigen  erkennen  ließ,  etwas  sich  gelegt  hatte,  folgte 
alsbald  ein  Geständnis  der  Tat. 

Man  könnte  nun  vielleicht  einwenden,  es  sei  keine  Arbeit  für 
den  Juristen,  sondern  schicke  sich  für  den  Seelsorger,  in  die  Seele  des 
Verbrechers  zu  dringen.  Dem  gegenüber  bemfe  ich  mich  jedoch  auf 
das  im  Eingange  Gesagte,  das  meinfis  BiBehtens  aosroieheBd  daitat, 
wie  nützlich  und  sogar  notwendig  auch  für  den  Juristen  das  Ge- 
ständnis des  TSters  ist  als  taisSchliohe  Unterlage  für  Anwendung  des 
rechten  Strafgesetzes  und  für  Bemessung  einer  der  Schuld  des  Ver- 
brechers angemessenen  Strafe.  Das  GestSndnis  des  Verbrechers  bringt 
aber  auch  den  die  Untersuchung  Fahrenden,  dem  es  abgelegt  wird, 
als  Menschen  niher  dem  Menschen  im  Verbrecher.  Indem  der  die 
Untersuchung  Führende  dem  Verbrecher  in  die  geheimsten  Falten 
seines  Herzens  blickt,  seine  Not  und  seine  Seelenqualen  kennen  lernt, 
wird  auch  er  im  Herzen  von  all  dem  nicht  unberührt  beÜM  ii  und 
müde  ixp'jen  den  Beschuldigten  denken  und  handeln.  Der  Verbrecher 
aber,  der  das  bald  gewahr  werden  wird,  wird  die  über  ihn  verhängte 
Strafe,  auch  wenn  sie  hart  ist,  ohne  Groll  und  uiit  der  Enipfindun^^ 
hinnehmen,  daH  er  nur  die  notwendige  Folp»  seiner  Tat  erleide  und 
sie  (lureli  sie  sühne.  Enipfindef  er  aber  die  Strafe  als  eine  Sühne 
seiner  Tat,  dann  besteht  auch  nu'lir  Aussicht,  dal»  er  seelisch  gereini;;! 
und  i^eläutert  nach  ihrer  N'erbülkini,'-  ein  vorwurfsfreies  Leben  führen 
werde,  als  wenn  er  mit  Groll  im  Herzen  gegen  seine  Richter  die 
Strafe  als  unbillig  und  zu  hart  empfindet,  weil  er  glaubt,  dal»  sie 
ihm  kalt  gegenüber  gestiinden,  seine  Not  und  C^ualen  nicht  gekannt 
und  deshalb  sie  bei  der  Bemessung  der  Strafe  nicht  berücksichtigt 
baben. 

Stand  er  schon  im  Begriffe,  als  Gewohnheitsverbrecher  grund- 
sätzlich der  menschlichen  Gesellschaft  als  Feind  sich  gegenüberzu- 
stellen, so  wird  er  es  dann  wahrscheinlich  tun.  Ist  er  aber  in  der 
Untersuchung  gewahr  geworden,  daß  man  Mitgefühl  mit  ihm  hat,  dann 
wird  er  auch  geneigt  sein,  versöhnlicher  zu  denken  und  nochmals  sich 
prüfen,  ob  es  nicht  richtiger  und  besser  für  ihn  sei,  ein  nützliche^ 
Glied  der  Gesellschaft  zu  werden.  Wird  so  nur  einer  von  denen,  die 
auf  dem  Wege  zum  Gewohnheitsverbrecher  sind,  zur  Umkehr  be- 


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S76 


XITT.  HAVMHBt 


wojLcen,  80  ist  dieser  Gewinn  meines  Erachtens  schon  groß  genug,  um 
die  aufp:ewaii(lte  Zeit  und  Mühe  reichlich  7.11  lolinen. 

Leider  erfährt  (Ut  Unter!suchung:&fiihren(ie  von  einem  tatsächlichen 
Erfolge  dieser  Art  im  Lehen  kaum  etwas,  denn  nach  I^c  der  Dinge 
trifft  in  der  Kec^^el  der  gehesserte  ^  erl)recher  nicht  wieder  mit  ihm 
zuaamiiieii.  Zuweilen  erlebt  er  aber  doch  wenigstens  die  Freude,  daß 
nach  gesprochenem  Urteile,  auch  wenn  es  schwere  Strafe  verhangen 
bat,  der  Verurteilte  die  Gelegenheit  benutzt  und  freiwillig  daa  Wort 
«1  einer  Änfierung  des  Dankes  dafür  nimmt,  daß  man  in  der  Unter- 
sucliiuig  ohne  Hirte  und  wohlwoHend  geweBen  vA  und  daß  man  an 
ihm,  seiner  Not  und  seinem  Lebensgeschicke  Anteil  genommen  haL 
Solcher  freiwiUig  geänfierte  Dank  ist  meines  Eiachtens  ein  siemlioh 
xayeriässiges  Anzeichen  dafür,  daß  der  Vemrieilte  snm  mindesten 
den  Vorsatz  gefaßt  hat,  mit  der  Yeigangeaheit  m  brechen. 

Außer  den  im  ESngange  schon  erwßhnten  Grfinden,  die  das  Ge- 
Bündnis  einer  Straftat  als  Ziel  ihrer  Untersuchung  durchaus  wünaoheaa- 
wert  erscheinen  lassen,  scheinen  mir  aber,  nm  das  noch  zu  be- 
merken, auch  noch  folgende  Erwägungen  es  zu  rechtfertigen,  da& 
mit  allen  zu  Gebote  stehenden  zulässigen  Mitteln  in  der  Untezanohnngp 
darauf  hingewirkt  wird,  ein  Geständnis  der  Tat  zu  erlangen. 

Kegelniäßigc  Ursache  des  Verbrechens  ist  meines  Erachtens  ein 
Wunsch  des  Täters.  Ohschon  er  nun  regelmäßig  weili,  daß  er  durch 
die  Erfüllung  dieses  Wunsches  oder  die  Mittel,  durch  die  er  sich  seine 
Erfüllung  verschafft,  mit  der  Rechtsordnung  in  Widersjiruch  gerät, 
wird  bei  der  Wahl,  entweder  auf  die  Erfüllung  des  W  unsches  zu  ver- 
zichten oder  aber  das  in  der  Iiechtsordnung  für  ihre  Verletzung  an- 
gedrohte l'bel  zu  erleiden,  in  vielen  Fällen  für  ihn  ausschlaggebend 
sein  der  Grad  der  Wahrscheinlichkeit,  mit  dem  er  seiner  Ansicht  nach 
das  in  der  Rechtsordnung  für  ihre  Verletzung  in  Form  der  Strafe 
angedrohte  Übel  zu  gewärtigen  haben  wird. 

Kann  er  seiner  Meinung  nach  mit  Sicherheit  danuif  rechnen,  daß 
seine  Tat  nnentdeekt  oder  er  nidit  fiberführt,  also  straflos  bleiben 
wird,  so  wird  es  ihm  Idchter  fallen,  sich  für  die  ErffiUnng  seiaea 
Wnnsehes  und  znr  Verietznng  der  Bechtsordnnng  zu  entsdiUeßen,  da 
er  ja  dann  das  Obel  der  Strafe  annehmbar  gar  nicht  zu  erleiden 
haben  wird.  Bechnet  er  aber  mit  Sicherheit  auf  die  Entdeckung  der 
Tal^  nnd  weiß  er,  daß  er  die  Strafe  für  seine  Tat  sieher  erleiden  wird, 
dann  wird  er  sicherlich  es  sich  reiflich  überlegen,  ob  denn  die  ihm 
sichere  Strafe  in  dnem  Verhältnisse  zu  dem  Vorteile  steht,  den  ihm 
die  ErfOllnng  seines  Wunsches  gewährt  und  er  wird  gewiß  in  vielen 
Fällen  wegen  des  auch  von  ihm  erkannten  Mißverhältnisses  zwischen 


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Du  Gfwtindnte  des  Veiiiredieni. 


277 


Vorteil  und  Strafe  von  der  Tat  absehen.  Das  ist  meines  Eraclitens 
bei  der  Milirzaiil  der  Straftaten  die  einzige,  aber  aiuli  für  ihre  Be- 
gehiin*2r  entscheidende  Erwii^unpr,  die  der  Täter  anstillt.  Je  öfter 
nun  dem  Täter  bereits  gelungen  ist,  ungestraft  die  iStrafj^esctze  zu 
verletzen,  desto  leichter  wird  er  jreneigt  sein,  die  (iefalir  der  Ent- 
deckung der  Tat  zu  unterschätzen  und  bei  der  Abwäi^un^''  der  Vor- 
teile der  Tat  und  der  in  der  Strafe  ihm  drohenden  Nachteile  sich 
für  erstere  zu  entscheiden. 

Zu  einer  ünterBcbätzung  der  Gefahr  der  Entdeekung  und  seiner 
ÜberfQhning  wird  der  Tüer  aber  doch  gewiß  ieiebter  kommen,  wemi 
er  gar  sciion  einmal  in  Unteimhung  war  und  dmeh  sie  trotz  der 
▼erliegenden  Verdaelitegrfinde  Beine  Überfttbrang  niebt  gelungen  iet 
Der  Yerineeber  wird  in  aolobem  fUle  nnr  sn  leiebt  geneigt  werden, 
atefa  eiazabildem,  es  sei  für  ibn  niebt  sobwer,  dae  Genebt  zn  tinaeben, 
der  Strafe  zu  entrinnen. 

Zu  Boleber  Meinnng  kann  er  aber  und  wird  er  niebt  kommen, 
wenn  mögliohBt  in  jeder  Untersuchung  ihm  zum  Bewußtsein  gebraebt 
wird,  daß  es  sehr  schwer  ist,  als  Schuldiger  der  Strafe  zn  entgehen. 
Daß  es  schwer  ist,  muß  ihm  aber  bewußt  werden,  wenn  er  gewabr 
wird,  wie  der  die  Untersuchung  Führende  seinen  Lebensgang  nnd 
seine  B^iehnngen  zur  Mitwelt  zu  ermitteln  sich  bestrebt,  wie  er  sich 
bemüht,  seinen  Oedankengang  und  den  Grund  zur  Tat  zu  erforschen, 
und  wenn  er  schließlich  unter  der  Wucht  der  ilini  vorgehaltenen,  ihn 
belastenden  Tatsachen  oder  weil  der  rntersuchungsführende  ihm 
richtig  und  mit  Erfolg  ins  (iewissen  geredet  hat,  zur  Ahlegung  eines 
Geständnisses  sich  hat  bequemen  müssen.  Wer  in  einer  Untersuchung 
einmal  ein  (ieständnis  abgelegt  liat,  der  wird  jedenfalls  bei  einem 
neuen  Anreize  zu  verbrecherischer  Tat  das  (  bei  der  Strafe  für  ihn 
drohender  ansehen  und  (ItMiient.sprechend  bei  der  Abwägung  die  Vor- 
teile der  Tat  mehr  berückbichtigen  als  wie  der,  der  ihr  schon  einmal 
oder  mehrere  Haie  durch  mit  Erfolg  durchgeführtes  Leugnen  ent- 
ronnen igt 

Für  die  Ißebtigkeit  dieser  meiner  Annahme  spriebt  meines  £r- 
aebtens  die  dem  Kriminalisten  wohlbekannte  Tatsaebe^  daß  in  maneben 
Bezirken  Brandstiftangen,  die  offenbar  voisStslieh  nnd  Yon  Tersohie- 
denen  TXtem  reninaeht  sind,  namentlieb  die  TOisStdiehen  Inbrand- 
seCznngen  gegen  Feneisgefabr  yersioberter  Saeben,  fortgesetzt  nnd  in 
geradezu  ersebreekender  Weise  zuweilen  zunehmen  und  dann  auf 
einmal  aufhören,  nachdem  einen  oder  mehrm  der  Brandstifter  die 
gerechte  Strafe  ereilt  hat 

Diese  ganz  bekannte  anfßUUge  Tatsache  läßt  sich  kaum  anden 


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278  XUL  Uau88ke8,  Das  GestiodiiiB  des  Verbrechen. 

erklären,  als  daß  die  straflos  gebliebene  Tat  des  Einen  auch  die  An- 
deren ermutigt  bat,  auf  die  gleiche  Weise  sich  Vorteil  zu  yersebaffen, 
weil  sie  sich  gesagt  haben,  so  gut  wie  dessen  Tat  nicht  entdedLt 
worden  und  er  straflos  geblieben  sei,  wttiden  auch  sie  es  hieben. 
Erst  die  sebließlich  doch  erfolgte  Ventrteilvng  eines  Biandstifte» 
bringt  dann  denen,  die  Lost  zn  gleiofaer  Tat  hatten,  zum  BewnfitsMn, 
daß  doch  die  Aussicht,  straflos  zn  bleiben,  kdne  gar  so  aioheie  ist 
Eine  Antwort,  die  mir  nicht  einmal,  sondern  Öfters  von  Gewohnheils* 
Verbrechern  gegeben  worden  ist,  möchte  ich  auch  zur  Begrfindnng 
der  Kichtigkeit  meiner  Ansicht  hier  anführen.  Wiedertiolt  haben  nftm- 
hßh  rückfällige  Diebe,  die  geringwertige  Sachen  gestohlen  hatten, 
wenn  ich  ihnen  vorhielt,  daß  der  geringe  Vorteil,  den  sie  durch  die 
Tat  erlangt  hätten,  doch  in  einem  schreienden  Mißverhältnisse  zn  der 
für  die  Tat  ihnen,  wie  sie  wüßten,  drohenden  mindestens  einjährig:en 
Zuchthausstrafe  stehe,  zur  Antwort  gegeben:  „Mau  denkt  doch  nich^ 
daß  man  erwischt  wirdl** 

Der  außerordentliche  Wert,  den  das  Geständnis  nicht  nur  zur 
Klarstellung  der  Tat  und  der  Schwere  der  Schuld  des  Täters  wie 
auch  für  seine  Uiuterun^  hat,  wird  meines  Erachtens  vom  geltenden 
Reclite  zu  wenif;  berüek.sichti^'t.  Meines  Dafürhaltens  wäre  es  durch- 
aus zweckmäßig,  wenn  iu  den  allgemeinen  Teil  des  Strafgesetzbuchs 
eine  ausdrückliche  Vorschrift  des  Inhalts  aufgenommen  würde,  daß 
im  Falle  eines  GestSndniflaes  der  Biohter  Terpflichtet  ist,  milder  zu 
strafen,  ihnlich  wie  der  Gesetzgeber  das  fttr  das  veiBiiehte  Veiforedien 
YOfgesdirieben  hat  Von  emer  solchen  Vorschrift  erwarte  ieh  ans 
den  schon  angeftihrten  Grfinden  eine  Verminderung  der  Zahl  der  Ge- 
wohnheitsTerbrecher.  Feiner  eradite  ioh  sie  ftlr  ein  Gebot  der  Billig- 
keit dem  Gestfindigen  gegenüber,  den  infolge  seines  Gestindnisses 
siehere  Strafe  trifft  und  der  durch  sem  Gestlndnis  viel  Arbeit  und 
Kosten  erspart  hat,  während  der  dreist  Leugnende  naeh  Befinden  nicht 
nur  unendliche  Mühe  und  Kosten  yerursacht,  sondern  schließlieh  auch 
noch  der  Strafe  durch  sein  Leugnen  mit  Erfolg  sich  entzogen  hat 

Eine  sichere  Folge  solcher  Vorschrift  würde  endlich  aber  auch 
sein,  daß  die  erhebliche  Arbeitslast  der  Strafverfolfrunfj^sbehörden  ge- 
mindert würde  und  daß  die  ganz  außerordentliche  Kostenlast,  die  der 
Staat  jetzt  an  Zeu.c:enir*'hnhren  für  die  während  einer  Untersuchung 
re;;elmiil)ij;  zweimal  zu  hefra^andeii  Zeugen  aufzuwenden  hat,  ^r^spart 
und  das  dadurch  gewonnene  Geld  für  andere  öffentliche  Zwecke  ver- 
fügbar würde. 


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XIV, 

Teeheclioslawisches  in  der  GaanerspraciLO. 

Yoo 

Brust  Iioliaiiig  in  Prag. 

Im  Anschlüsse  an  die  überaus  interessanten  Ausführungen  von 
Caci«- ')  hat  der  IIerausj;eber  dieses  Archivs  der  Erwartung'  Ausdruck 
geg^eben,  es  mitclittn  Kenner  fremder  Idiome  deren  He/iebun^;en  zur 
Gaunersj)rache  darlegen,  so  wie  ea  ».ai'ic  bezüglich  der  kroatischen 
Sprache  ^a'taii  liat. 

Dieser  Anrc^un^^  suche  ich  im  fo!f:;enden  insofern  nachzukommen, 
als  ich  darzulegen  suche,  was  von  der  Gaunersprache  tschecho- 
slawiscben  Ursprungs  ist,  wobei  zunächst  der  Gebrauch  des  Ausdrucks 
„tsohecboslawisoh'*  anstatt  des  sonst  gebitnehliehen  «böhmiaeli*'  oder 
„tschechisch''  aufgeklart  sei  „Böhmisch**  und  „tschechisch**  müssen 
scharf  auseinandeigebalten  weiden;  „böhmisch**  bezeichnet  dieAnge- 
hOrigkeit  znm  Osterrdchischen  Kronlande  Böhmen,  „tschechisch''  die 
Inbesugsetzung  snm  tschechischen  Volksstamme.  Nicht  aUes,  was 
böhmisch  ist,  ist  tschechisch;  nicht  jeder  Böhme  ist  ein  Tscheche,  da 
Böhmen  ca.  36  Proz.  Angehörige  der  deutschen  Nation  hat  Aber 
auch  nicht  jeder  Tscheche  ist  ein  Böhme,  da  Tschechen  in  ge- 
schlossenen Massen  auch  aulkrhalb  Böhmens,  nämlich  in  Mähren, 
Österreichisch-Schlesien  und  Niederösterreich  wohnen.  Diese  Unter- 
scheidung zwischen  „böhmiscir  und  „tschechisch*"  ist  eine  Folge  des 
hümischen  Nationalitätenstreites  und  wurde  früher  nicht  gemacht. 
Daher  erklärt  sich  die  Anwendung  von  „böhmisch"  im  Sinne  von 
jjtselieehiseh'',  die  noch  immer  häufig  ist,  deren  sich  u.  a.  auch  die 
östirreieliische  Gesetzgebung  und  daher  auch  namhafte  österreichische 


1)  Kruatischü  Wörter  im  „Vocabularc  der  üuuuer^prache",  des  (jirolSscheu 
Handbuches  fOr  Unterancbanguiohter,  von  Dr.  Vlsdimir  (^aM^,  k.  Besdrka- 
richtcr  im  Sekretariat  der  k.  knNit-8iay.-dalm.  Septemviraltafel  in  Agram.  Dieses 
Archiv,  9.  Bd.  ».29811. 


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280 


XIV.  LORBIKO 


Juristen,  wio  z.  B.  Ii.  Pfaff,  v.  TTalhan,  Siejrol.  v.  II  errnr  i  1 1  ' ) 
u,  a.  bedicnon ;   tsclit'cliisclierseits  wird  dt-r  Ausdruck  .jtüclieeliisch" 
lieflijj^t  an<rf'focli(en,  doch  scheint  hierin  eine  Änderung  einzutreten. 
Wenif^stens  |)räscntierten  sich  die  Tscheclien  in  Paris  1900  bereits  als 
„1a  nation  tch^que"  und  gegenwärtig  erscheinen  in  der  „Österr.- 
oDgar.  Be?ue''  Bteys  über  tsobecbisebe  LitenUnr  ans  der  Feder  des 
tscheehiscben  Literaten  KarAsek,  in  denen  das  Wort  „tscbecluBch'' 
gebranebt  wird.  Es  btiebe  cigentUcb  somit  nur  zu  erOrtem,  was  der 
ünterBcbied  zwisoben  „tscbecbiscb^  und  „tscbecboelawiscb'*  ist  Eigent- 
licb  gar  kemer.  Aber  dnreb  den  Qebfancb  des  Wortes  ^fscbecho- 
slawiseb'*  anstatt  des  dnfacben  ,|tBcbecbiseb''  werden  die  B^ebnngen 
des  tschecbiscben  Idioms  zur  großen  slawischen  Völkergroppe  zam 
Ansdmck  gebracht  und  gerade  für  die  Torii^nden  Ausfübrnngai 
erscheint  mir  das  angezigt.   Denn  unter  den  von  ('atir  angeführten 
Wörtern  der  Gaunerspracbei  welche  er  als  kroatisch  bezeichnet,  gibt 
es  einige,  die  ebenso  sieh  aus  dem  Tschechischen  erklären  lassen. 
Oemeinsam  ist  ihnen  nur  der  slawische  Ursprung;   manclunal  über- 
wiegt die  Ähnlichkeit  mit  dem  Kroatischen,  ein  andermal  die  mit  dem 
Tschechischen;  doch  dürfte  in  Anbetracht  der  Modulationsfähigkeit 
der  Gaunersprache  es  nicht  immer  gelingen,  festzustellen  welcher 
slawischen  Sprache  eine  Vokabel  entstammt.    Diese  Worte  siud  '^): 

1.  Bika,  Stier.  Im  Tscheclnschen  heißt  Stier  „byk".  I  anstatt  y 
kommt  bei  ^ner  Sprache,  die  nicht  Schriftsprache  ist  (und  die 
Gaunersprache  ist  nicbt  Schriftsprache)  nicht  weiter  in  Betracht  ^). 

4.  Caklo,  Glas,  Fenster.  Die  Stammverwandtschaft  mit  dem  tsche- 
chischen „sklo"  ist  unleugbar;  doch  ist  die  Ähnlichkeit  mit  dem 
kroatischen  „staklo"  grolier;  das  gleiche  gilt  von  dem  Worte 
„steklo''  der  Gaunersprache. 

7.  Cudasina,  Wunder;  im  Tsciiechischen  heißt  Wunder  „tud". 
2t.  I^ko,  leicht;  tschechisch:  .Jehko"  dasselbe. 

24.  Me,  ich;  wohl  eher  romaniselien  als  slawischen  Ursprungs,  wenn 
aber  des  letzteren,  dann  ist  ein  Anklang  au  das  tschechische 


1)  L.  Pfaff,  Allgem.  Ssterr.  Ger.-Ztg.,  ib,  Jahrgmg,  S.  353,  Note  2  a.  E, 
Ualban  In  OrOnhntB  ZeitBchr.,  24.  Bd.,  &  TIS.  Z.  8        Siegel,  Dentsehe 

Rechtsgeschichtc,  3.  Aafl.  S.  190,  v.  Herrn  ritt,  Nationalit.1t  und  Recht  (Wien 
1S90),  S.  26ff. :  vt;!.  hingegen  Ladislaus  Gumpl owicz .  Nationalismus  und 
InteniatioDali&mus  iiu  19.  Jahrh.  (Ucrlin  1902),  Rauuhberg  in  ,.DcuCsche  A^beit^ 
Oktoberbeft  1902,  und  Sperl,  Syst.  Grdr.  nsv.  (Wim  1903),  8.  lU. 

2)  üm  eine  Yergldehnng  mit  den  AoBfOhmogon  von  CaiK  «. «.  0.  zn  er^ 
Mehtcm,  gebrauche  ich  seine  Oninungr^zahlen. 

8)  Vgl.  dar&bcr  Groß,  llandb.  f.  Unterftucbungaricbtor.  8.  Aufl.  S.  291. 


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TfldiechoslawiMbee  in  der  Oannenpnehe. 


281 


„mich  —  m«'"  ebenso  möglich  wie  an  das  kroatische  „me".  Das 
wahischeinliobste  dürfte  jedooh  die  AbleKaog  aus  dem  Sgeimeri- 

sehen  sein. 

26.  Nikana,  nikda,  nie;  nie  heißt  im  Tschechischen  „nikdy". 

27.  Niko,  niemand;  im  TschocliiBchen  l)edeutet  .,nikdo"  niemand. 

29.  Ostro,  der  Scharfe;  im  Tschechischen  heilH  „ostrV"  scharf,  das  Neu- 
trum davon  .,o.stro*',  so  daß  also  dieses  Wort  eher  aus  dem  Tsche- 
chisdien  als  dem  Kroatischen  (ostro)  den  Weg  ins  GaaDeridioni 
g^enommen  haben  dürfte. 

30.  Patyka,  Apotlirke;  das  hiezu  von  <:acic  bemerkte  gilt  mutatis 
mutandis  auch  für  das  Tschechische. 

31.  Peta,  Ofen,  Hand;  tschechisch:  „pec  (picka)"  Bratofen. 

32.  polifka,  Sup[)e;  das  taeheehisehe  Wort  „polfvka  (auch  pol^vka)'* 
bedeutet  Snppe,  nod  zwar  jede  Suppe,  nicht  nur,  wie  im  Kroar 
tiscben,  eine  gewisse  Snppe. 

33.  per,  Feder;  Feder  heifit  im  Tsoheebisehea  „pöro^ 

34.  Praho,  AscÄie;  tsoheehisch:  Mpraoh**,  Stanb. 

35.  Banne;)',  Wnnde;  erweiterte  Fora  des  taeheebiscben  Wortes  i,nna**, 
Wunde. 

37.  Stana,  Stall;  das  tschechische  „stan'^  heißt  Zelt 

39.  Straza,  Wache;  tschechisch:  „sträz",  Wache. 

40.  Sulum.  Stroh;  tschechisch:  „slilma",  Stroh. 

41.  Tamlo,  finster;  im  Tschechischen  «tma'',  Finsternis;  doch  hat  die 
Ableitung  aus  dem  Kroatischen  mehr  für  sich  als  die  aus  dem 
Tschechischen. 

47.  Zuto,  der  Gelbe,  zutoi,  gelb;  tsoheehisch:  „^luto^*  (adv.)  gelb. 

Das  ist  eine  verhältnismäßig  nicht  gerin«j^e  Anzahl  von  Worten, 
die  sich  mit  mehr  oder  minder  großer  Wahrscheinlichkeit  auf  das 
tschechische  wie  das  kroatische  Idiom  zurückfülm  n  lassen;  hei  einigen 
—  im  vorstehenden  ist  es  ad  hoc  bemerkt  worden  —  spricht  die  Ver- 
mutung für  die  eine  oder  die  andere  Abstammung,  bei  anderen  läßt 
sich  das  nioht  feststellen.  Sie  kOnnen  ^mbso  kroatlsoben  wie  tsche- 
ohischen  Ursprungs  seb,  sie  Icönnen  aber  auch  einem  anderen  Zweig 
des  Blawiaehen  Sprachenbanmes  entsprießen  und  insbesondere  sei  auf 
das  Polnische  verwiesen,  dem  das  Tschechische  viel  näher  steht  (nicht 
in  letzter  Linie  ans  geographischen  Rficksichten)  als  dem  Kroatischen. 

Das  Gesagte  gilt  nicht  nnr  von  den  bereits  angeführten,  sondern 
auch  Yon  den  noch  anzuführenden  Worten.  Wenn  nun  letztere  in 
der  Gaunersprache  in  veränderter  Gestalt  und  mit  manchmal  ver- 
änderter fiedentnng  Aufnahme  gefunden  haben,  so  ist  das  nicht  ledig- 


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282 


XIV.  LousiKo 


lieh  aus  der  Natur  der  Gaunersprache ')  zu  erklären,  sondern  es  mag- 
ancb  der  Entwicklungsgang  des  Tsohechischen  mit  im  Spiele  seiD, 
wo  der  G^nsalz  swisehen  Sehrifkspiaehe  und  Umgangsspiaehe  noch 
kein  ttberwundener  Standpankt  ist  Noch  um  die  Mitte  des  19.  Jahr- 
handerts  achrieb  maD  im  TBcbeehiseben  das  W;  die  gegeawfirtige 
Schriftsprache  keuit  diesen  Bnohstaben  nicht  mehr.  Dafür  hat  die 
tschechische  Umgangssprache  eine  Erscheinung,  die  lebhaft  an  das 
griechische  /  (Digamma)  erinnert,  das  im  klassischem  Griechisch  g«- 
scb  wunden  ist,  dennoch  aber  lange  Zeit  gesprochen  worden  sein  soll  '^). 
£&  gibt  nämlich  auch  im  Tschechischen  Wörter,  die  in  der  Sclirift- 
sprache  yokaliseh  anlauten,  in  der  Umgangssprache  jedoch  noch 
häufig  (namentlich  bei  den  niederen  V(jlksklassen)  ein  W  vorgesetzt 
erhalten;  man  hört  vielfach  wokno  statt  okno  (Fenster),  wopice  statt 
opice  (Affe),  wosel  statt  osel  (P^sel),  wen,  wona,  wono  statt  on,  on:i. 
ono  (er,  sie,  es);  ja  selbst  jin  pj^^ennainen  kann  man  diese  Erscheinung 
beobachten  (so  beii»t  ein  Ort  bei  i'rag  Oischan,  aber  auch  Wolscban). 
Ein  anderer,  nicht  uninteressanter  Beleg  für  den  scharfen  Ge^rensatz 
von  Schrift-   und  Umgangssprache  ist  die  allgemeine  Anreileforin; 
^vy*  und  ,.[w|ony",  soviel  wie  ^Ihr"  und  „Sie",  hört  mau  noch 
immer  nebeneinander;  trotzdem  die  Grammatik  „ony"  verwirft,  ver- 
mag sich  das  „vy^  nur  sehr  schwer  einzubttrgem'). 

Dem  letzteren  Moment  ist  zwar  keine  Gelegenheit  geboten,  steh 
in  der  Gaunersprache  irgendwie  zu  äufiem;  aber  in  Verbindung  mit 
den  andern  trSgt  es  vielleicht  zur  Charakterisierung  der  Sprache  bei 

Übrigens  hat  die  deutsche  Sprache  zwei^  Lehnwörter  ans  dem 
Tschechischen;  das  eine  ist  Dolch  (tulich),  das  andere  ist  das  Wort 
Halunke,  welches  auf  das  tschechische  hol^  (nackt)  zurttckgefOhrt 
wird  und  ursprünglich  zur  Bezeichnung  eines  nackten,  in  Lumpen 
gehüllten  Bettlers  diente;  diese  Worte  führe  ich  deshalb  hier  an.  weil 
sie  Belege  für  Umformung  einerseits  und  Bedeutungsändening  anderer- 
seits beim  Entlehnen  sind.  Auch  die  Gaunersprache  bat  bekanntlich 
derartige  Umformungen  und  Bedeutungsänderungen  aufzuweisen,  z  R. 
diene  als  Beleg  einer  Metathesis  ^tuleriseb"  für  protestantisch,  worin 
das  Wort  ,,lutherisch''  deutlich  zum  Ausdruck  kouniit,  oder  „ab- 
machayen"  für  „abmachen*',  ein  geradezu  klassisches  Beispiel  einer 


1)  Vgl.  ÜroiJ  iu  dit'sciu  Arcliiv.  U.  Bd.  Ö.  309. 

2)  In  manchen  OymnaBien,  namentlich  in  Österreich,  wird  bd  der  Lektüre 

Homers  auf  die  Ausspruche  dos  .-'  noch  Gewicht  gelegt. 

3)  V.  Jheriug,  Der  Zweck  im  Itecht  (2.  Bd  .  rt.  Aufl.,  \A'\p7.\g  IS9«.  S  716, 
Anmerkuug)  erklärt  diese  Erscheinung  aus  den  Bezieliungen  zu  den  Deutecbeo. 

4)  Weuigsteus  meines  Wissens  dürften  kaum  mehr  sein. 


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TsdiechoslawiBchcs  in  der  Gamienprache. 


283 


Worterweiterung  (Augmentativ,  vgl.  Freistädter  Glossar  ^Rosch  ab- 
machayen"  —  enthaupten);  als  Belege  für  Bedcutungsänderungen 
diene  der  Uinweis  auf  ^Sehvvimnies'^  (Fiscb),  „Jauche''  (Suppe). 
Derartige  Worte  der  Gaunersprache  stehen  zu  den  Beirriffen,  die  sie 
bezeichnen,  inhaltlich  in  den  verschiedensten  Beziehungen.  Die  häu- 
figste ist  wohl  die  der  frivolen  Umdeutung  (harniherzige  Schwester 
=  Freimädchen),  gemeinsamen  Eigenschaft  (Jauche  =  Suppe:  tertium 
couipiirationis:  Flüssigkeit,  Feuchte,  Nässe),  Haupttätigkeit  illanimer- 
ächlag  Schmied),  Zweckbestimmung  (Wärmling  =  Ofen),  Uniache 
und  Wirkung  (profit  über  die  Achsel  machen  —  Lumpensammeln). 
Diesen  Enehemuiigen  muß  mxk  bei  üntennohung  der  Frage,  inwie- 
fern tm  fremdes  Idiom  die  Gannerspraebe  beeittflolM  hat,  Bechnnng 
getragen  werden. 

Anf  diese  Weise  fioden  wir,  daß  anfier  den  bereits  er- 
wähnten W5rtem  noeb  folgende  Worte  der  Gaunersprache  anf  die 
tachechisehe  Sprache  sich  znrfiokfQhren  lassen: 

Bacas,  Schafhirte;  im  Tschechischen  bedeutet  „bäöa"  (c  =  tsch)  [Ober-J 
Schäfer. 

Baranyi,  Lamm;  das  tschechische  „heran"  bedeutet  Widder;  Lamm 
bd0t  jfberanec^ 

BMioOf  Hahn ;  dieses  Wort  bat  Ähnlichkeit  mit  ,|baiant^  (i  —  französ.  j), 
Fasan. 

Battnm,  Prfigel,  Stock.  Das  tschechische  ^batob'^bedentet Prügel,  Knflttel. 
Ghova,  Hand;  wohl  stammverwandt  mit  dem  tschechischen  „chpyati^i 

bewahren,  anf  den  HSnden  tragen,  „cboratel",  Bewahrer. 
Dess  (FH)0}  neun;  im  Tschechischen  beißt  nenn  „derdt**,  wihrend 

„dcssot*'  zehn  bedeutet. 
Dris  (FlI),  drei;  tschechisch:  „tii". 

Ducbo,  Geist;  dasselbe  bedeutet  das  tschechische  Wort  „dach". 

Harr  (FH)  Berg;  vielleicht  aus  dem  tschechischen  „hora"  (Berg)  ent- 
standen, wofür  auch  das  gaunerische  Wort  „horind"  (Berg)  spricht. 

Hazika,  Kock;  das  tschechische  „hazuka'^  bedeutet  Ifraaenrock,  aber 
auch  Kutte,  Münchskleid. 

Ilorind  (FE),  Berge;  s.  harr  (FH). 

Hussek,  Knabe;  im  Tschechischen  heißt  „hus(a)"  (Jans. 

Jaro,  Ei ;  im  Tschechischen  heilit  ,jjaro"  Frühling  (vgl.  Ca«  i<:,  a.  a.  0. 

S.  :m.). 

Kleba  (FH);  Brot;  tschechisch:  „cbleb,  chleba'^,  Brot. 

1)  (Ell)  =  Gaunerglossar  der  Freistädter  Handsdiiift  (henuugcgeben  tod 
H.  Groß  in  früheren  Binden  dieses  AichivB). 


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284 


XIV.  Loaman 


EUdi,  Schlüssel;  im  Tschechischen  heißt  Schlüssel  „kllc". 

Koasy,  Sense;  im  Tschechischen  „kosa'',  Sense. 

Krabl,  Krael  (FH),  Kaiser;  im  TschechiBchen  heißt  „kräl"  Köaig^. 

Knno^  Wurm;  du  tseheoUsdie  Wort  Jkmi/*  bedeutet  Hftliniiiff. 

Lanka,  Wieee;  twbeobiaob:  ,,loiika  (Fluni  Inka)''  Wieae. 

Maa^  FleiBcb;  taebeobiacb :  „maao^  Fleiaeb  (TgL  taiAtf  a.  a.  0.,  S.  306>; 

damit  snaammenblngend  nuMengeR»,  Fleiiober;  jedoch  im  Tsehe- 

diiecben  beifit  Fleischer  „«eoifk". 
Holiroi  Blei;  dieses  Weil  dfixfte  dnidi  Voraetenng  eines  M  vor  dns 

tscheobisebe  ,^loyo^  das  ebenfUls  Blei  bedeute!^  entstanden  sein. 
'  Mueinaw,  ich  muß;  tscbecbisob:  „muslm'S  ich  muß. 
Narodos,  Freund ;  Stammwort  das  tschechische  „n&rod^  Nation;  „niux^ 

domil",  Volksfreund. 
Nasado,  der  Erschlagene;  im  Tschechischen  gibt  es  eine  Bedewendnog^ 

^oasadati  ziva",  soviel  wie:  den  Rais  wahren. 
Nowi,  Wahrsager;  „novy"  (tschechisch)  beißt  neu. 
Olejis,  Öl;  tschechisch:  ..olej'^  Öl. 
Ozel,  fauler  Gauner;  tschechisch:  „osel".  EseL 
Pelisi,  Gefahr;  tschechisch:  „pele^",  Höhle. 

Pachulke'),  Knecht,  ungebildeter  ordinärer  Mensch;  tschechisch:  „pa- 

cholek",  Knecht 
Phubo,  Nabel;  im  Tschechischen  heißt  Nabel  „pupek". 
Plamena,  Blasebalg;  tschechisch:  „plamen**  oder  „plamena",  Flamme. 
Plasto^  Leinwand;  tscheebisch:  ^Üino^  Leinwand. 
Poro  (FH),  Kuh;  „porod'*  (tscbecbiscb),  Oebnrt 
Prosto,  Bauer;  tscjiecbisch :  „prosto'^,  schlechtweg;  ,;prosty",  gemein, ein- 

fach,  schlich^  aber  anch  einfiUtig  („verbanert^)  (vgl.  ttü^f  a.  a.  0.* 

Bäk,  G^fer,  Spdobel;  tscheebisch:  i,iak'',  Krebs  (vgl  Öad£,  a.  a.  0., 

S.  307.). 


Trast,  Furcht;  tschechisch:  „trest",  Strafe. 

Ves,  Wald;  tschechisch:  „ves",  Dorf  (der  Wald  heißt  les). 

Zad  (FH),  Seite;  tschechisch:  „z&da",  Bücken,  Bückseite, 

Hinterteil. 

Zilah,  Kraft;  tschechisch:  „sfla",  Kraft 

Sobliefilich  sei  es  gestattet^  ein  Verzeichnis  von  Wörtern  hier 
anzuschließen,  die  viel  in  der  Prager  Verbrecherwelt  gebraucht  werden; 

1)  Schütze  in  diesem  Archiv,  12.  Bd.  S.  81. 


Telel,  Tier; 
Telentos,  Kalb; 


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TscfaediOBlawisdies  in  der  €hiiuierq[mche. 


886 


damit  sei  keineswegs  gesagt,  daß  sich  ihre  Anwendung  auf  Prag  he- 
schränkt.  Da  sie  jedoch  im  Grol) sehen  Vokabulare  nicht  aufge- 
nommen sind,  will  ich  sie  mitteilen  und,  da  die  Mehrzahl  tschecliisehen 
Ursprungs  ist,  glauhe  ich,  sie  an  dieser  Stelle  mitteilen  zu  können. 

Ba^o,  Ziganenstummel. 

Chandina,  Zündlu'ilzel. 
<'inihen  (tschiniben^  schreiben. 

Fong,  Feuer. 

Hulit,  rauchen;  vielleicht  mit  dem  tschechischen  „hui"  (Stock)  verwandt 
.Tiskra,  Feuer;  eigentUch  Funke;  vgl.  „Funke"*  und  ^fong'*. 
Kuia,  Dunkelhaft,  Fasttag,  Disziplinarstrafe, 
l^idengero  I 

Latinger    (  Ka^ft»™»  Verteidiger. 

Motak,  ein  einem  Gefangenen  zugeschmuggelter  Brief. 
<->(II(  jt,  aufheben  j  eigentlich  ausgießen. 
Pakler,  Kirche. 

Pare^,  Kirche;  eigentlich  „paiez",  Baumstumpf. 
Pireskerice,  Polizeiaufsicht. 

Po^ta,  eigentlich  Post;  im  Verkehr  der  Sträflinge  versteht  man  darunter 
die  Übermittlung  eines  ao  mem  (aus  dem  StiSfliiigskleide  heraus- 
gerissenen) Faden  befestigten  und  irgendwie  (z.  B.  doioh  Speichel) 
entsprechend  besehwerten  ZfindhOlzcbens  ans  einer  höher  gelegenen 
in  eine  daninter  befindliebe  Zelle. 

Pur,  Feder,  soyiel  „wie  poi^. 

Sehellenger  1 

Schillinger  |  Gendarm. 

Sfdlo,  Speirhaken;  dgentUeb  Siti,  Wohnsitz. 

^tliiha,  Visite,  ZeHeninspektion;  im  Tsebeehisohen  beißt  f^tatA*" 

stöbern,  stirlen.  ^ 
Ves,  Wald;  gleichbedeutend  mit  „v€8**  (ves  wird  „wesch"  gesprochen). 
Zatlonkat,  leugnen,  die  Antwort  Terweigem;  eigentlich  yerBchbigen. 


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XV. 

Unlautere 

MaDipulationen  im  Geschäfts-  und  YerkelirslebeD. 

BeehtHmüctUcMit  Haas  B«diiieiek«rt  in  Mfinohen. 

Mit  dem  Oedanken  des  Gesetz ^i^ebers,  ni<)^'liclist  umfassende  Ge- 
setze zu  schaffen,  und  schädliche  Ausschreitunp:en  des  Geschäfts-  und 
Verkehrslebens  zu  verhindern,  wctliifern  die  Gedanken  der  durch  das 
Gesetz  zunächst  Betroffenen,  dieses  ireschickt  zu  umg:ehen,  sei  es,  dal» 
sie  die  vom  Gesetz  gewährten  Vorteile  üb*  r  die  Maben  in  Anspruch 
nehmen,  sei  es.  duH  sie  in  sfichkundipT  Wi  isc  ihrem  Opfer  von  einer 
unt,'eschützten  Seite  beikommen  und  sich  die  j^leichen  Vorteile  sichern, 
dereu  Verschaffung  bei  normalen  Verhältnissen  mit  Strafe  gesühnt 
würde.  Die  Öffentlichkeit  des  Gerichtsverfahrens  und  die  Überzeugung, 
dftß  man  bei  genauer  Kenntma  Geaetae  diese  am  eihestea  unge- 
Btcalt  zn  umgehen  yermag,  haben  Tiel  dazu  beigetragen,  den  nner- 
erfahrenen  oder  wenigstena  „gesetseannkandigen"  Hitmenachen  atrafloa 
betrogen  und  aasbeuten  zu  können.  Unter  diesen  UmstSnden  war 
der  Gesetzgeber  schon  wiederholt  gezwungen,  solchen  auftauchenden 
Neuerungen  in  der  geschäftsmäßigen  Hintergehung  der  Ifitmenscfaen 
eneigisch  entgegenzutreten ,  dabd  aber  erkennend,  wie  adiwieiig  es 
oft  ist,  der  Findigkeit  und  dem  Seharfoinne  des  modernen  Betrügers 
und  Schwindlers  Herr  zu  werden,  was  aus  den  mehrfachen  Abände- 
rungen der  in  Frage  kommenden  Gesetze  klar  ersichtlich  ist  Es  sei 
hier  erinnert  an  die  Wuchergesetze  ($$  301,  302  R.-St.-G.-B.  aus  dem 
Jahre  1870,  302a  bis  3o2d  1.  c.  aus  dem  Jahre  1S8(>,  §  302e  I.e. 
aus  dem  Jahre  18*.)3).  Ferner  kommt  hier  in  Betracht  die  Ersetzung 
der  {^4}  "281  bis  283  1.  c.  über  betrügerischen  Hankerott  durch  die  neuen 
einuehenderen  Strafbestimniung«'n  der  Konkursoninung  vom  ]().  Mai 
l'^HS;  ferner  das  <Mst't/,,  betreffend  die  Hcstnifung  der  Entziehung 
elektrischer  Arbeit  vom  'J,  April  1900.  Die  Wandlungen,  nelclie  da> 
auch  hierher  gehörige  (iesetz  zur  Bekämpfung  des  unlauteren  Wett- 
bewerbs vom  27.  Mai  ISIIG  noch  wird  erleben  müssen,  sind  ebenso 
sicher,  wie  unübersehbar.  Abgesehen  A  on  dieser  nicht  erachöpfendeo 


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UnUiiitOTe  Han^uUtionen  Im  Gescfa&fts-  und  Yerkehnleben.  287 


Auf  Zählung;  sei  scliliertlicli  noch  erinnert  an  die  ^roBe  Mannii^fultijirkeit 
(1er   bei  der  Pieclitsj)rechung  zuta;;e  p'tretenen  Kasuistik   des  be. 
trü«rorisclien  (leschäfts-  und  Verkelirslehens.    Der  erfinderische  (ieist 
(l«^r  modernen  Schwindler,  die  sicli  auf  Kosten  ihrer  unerfahrenen 
Mitmensclien  den  Kampf  ums  Dasein  mö^liclist  leiclit  zu  machen 
suchen,  läßt  sich  durch  solche  ihm  weit  nachhinkenden  Gesetzes- 
neuerungen keineswegs  entmntigeii.  Bis  der  Gesetzgeber  zu  der  Er- 
kenntnis gelangt,  daß  solche  Oeschiftskniffe  eigentlich  strafbare  Be* 
trttgereien  seien,  die  aber  mangels  zntreffender  Gesetzesbestimmnngen 
nach  dem  Grundsätze  nnlla  poena  sine  lege  poenali  vorlSufig  noch 
ungesfihnt  bleiben  müssen,  sind  die  Geschäftskniffe  größtenteils  auch 
schon  so  veraltet,  so  abgebraucht,  daß  der  Lebensk&nstler  selbst  von 
einer  weiteren  Verwertung  Abstand  nimmt  und  nenersonnene  Tricks 
an  seinen  Ojifem  erprobt.    Sind  also  solche  oft  nur  vorübergehend 
auftauchende  beträgerisohe  Geschäftskniffe  nicht  durch  strafrechtliche 
Gesetze  zu  verfolg:en,  auch  mit  Hdfe  der  Gesetzgebung:  kaum  auszn- 
rotten,  so  lälH  sich  hier  nur  durch  Präventivmaßregeln  Abhilfe  schaffen, 
<lio  in  erster  Linie  bezwecken  sollen,  den  liedrohten  und  unerfahrenen 
Laien  wie  auch  den  Kriminalisten  auf  solche  moderne  Oeseliäftskniffe 
aufmerksam  zu  tnaclien,  zumal  ja  bei  näherer  T  ntorsuchun;;  ein  ener- 
gisches Entiregcntnten   oft   nützlich  sein  oder  einr  untemominene 
Ötrafverfolirun«:  mitunter  Aussicht  auf  Erfolg  haben  wird. 

Im  nu(  li>tt  li(  iulen  sei  die  Sehilderung  einiger  mir  bekannt  ge- 
wordener unlauterer  Geschäftspraktiken  gestattet. 

1.  Ein  Schuldner  wird  auf  den  Betrag  von  lOOt)  Mk.  eingeklagt. 
Durch  sanen  Anwalt  Iftßt  er  den  Einwand  geltend  machen,  daß  ihm 
die  Schuld  auf  ein  Jahr  gestundet  sei.  Resultat:  Vertagung  oder 
Beweisbeschluß.  Inzwischen  klagt  ein  Freund  des  Schuldners  diesen 
vereinbarungsgemäß  ebenfalls  auf  den  Betrag  von  tOOO  Hk.  em. 
Bezfiglich  dieser  1000  Mk.  wird  Versäumnisurteil  erwirkt,  das  nach 
14  Tagen  rechtskräftig  wird.  Es  erfolgt  Ere^fändung  auf  1000  Mk. 
beim  Schuldner.  Die  berechtigte  (erste)  Klage  wird  dem  Kläger  zu- 
gesprochen, worauf  Na ch i)fändung  unter  dem  Werte  erfolgt 
Bei  der  alsbald  stattfindenden  Zwangsversteigerung  erhält  der  „Ge- 
schäftsfreund" alles,  während  der  berechtigte  K  läger  mit  seinem 
Ford erungsbet rage  durchfällt.  Der  Freund  zahlt  nun  den  „ge- 
retteten' Betrag  \on  looo  Mark  wieder  an  den  Schuldner  zurück. 

<  üinstigenfalls  läl>t  sich  in  diesem  Ealle,  der  übrigens  aus  der 
hiesiurn  ( ierichtspraxis  stammt,  mit  Hilfe  der  Staatsanwaltschaft  noch 
etwa-  ern  ieiit  n,  aber  bis  man  von  dem  unlauteren  Charakter  dieser 
Mauipulation  Kcnntniö  erlangt,  wird  es  meistens  zu  spät  sein.  ISchliuim 


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288 


XV.  SCUNEICKKKT 


wSre  es  auch  ffir  den  ReobtsaDwalt,  der  ohne  wdtere  PrÜfimg  der 
Sachlage  einem  solchen  betrflgerisohen  Voigeben  seine  Hilfe  darbSte. 

2.  Unter  den  Tftndlern  (TrSdlem)  herrscht  die  eigenartige  Ge* 
sobliftsnsance,  som  Zwecke  der  Emelnng  eines  anßerordentlioh  nie- 
drigen Kaufpreises  bei  amtlichen  Versteigemngen  von  Pfandobjekten 
eine  Art  ^stille  Gesellsdiaft"  zu  gründen,  welche  auf  die  ihnen  gQn- 
stigste  Regulierung  des  niedrigsten  und  höchsten  Angebots  bedacht 
sind,  um  nachher  den  dadurch  erzielten  Ciewinn  untereinander  zu  ver- 
teilen. Diese  Geschäftsusance  ist  unter  dem  Namen  „Kippe  machen'" 
hier  bekannt,  wie  auch  die  Einträglichkeit  dieser  eigennützigen  Mani- 
pulation bekannt  ist,  dafi  sie  aber  strafbar  ist,  wird  kaum  behauptet 
werden  können').  Sicher  ist  nur,  daü  der  gepfändete  Schuldner  den 
Schaden  tragen  mui^. 

3.  Ein  weiterer  Fall  aus  der  hiesigen  Geschäftswelt.  Ein  Allein- 
inhaber eines  Privatdetektivinstiluts  steht  seit  einiger  Zeit  unter 
Polizeiaufsicht.  Dieser  weil)  nun  seiner  Nebenstrafe  einen  ihm 
vorteilhaften  Wert  dadurch  beizulegen,  dali  er  in  den  Gescbäftsem- 
pfehlungen  sein  Institut  folgendermafien  kennzeichnet:  ^"S.  N.,  PriTat- 
detektivinstitnt  in  M.,  unter  direkter  Anfsicht  der  Landes- 
polizei''.  Ob  sich  diese  Firma  mehr  zur  Eintragung  in  das  Handels- 
register als  zur  üntersagnng  durdi  die  Polizeibehörde  eignet,  wird 
meines  Eraohtens  nicht  schwer  zu  entscheiden  sein. 

4.  der  durch  ein  Zdtongsinserat  eme  Wohnung,  ein  mSbliertes 
Zimmer  oder  dne  Hil&kraft  für  den  Haushalt  oder  das  Geecbift 
suchte  erbittet  unter  einer  in  dem  Inserat  näher  bezeichneten  Chiffre 
postlagernde  Offerten.  B.,  der  in  der  gleichen  Lage  ist  wie A, 
holt,  durch  das  Inserat  aufmerksam  gemacht,  die  eingelaufenen 
postlagemden  Offertschreiben  ab  und  trifft  seine  Wahl.  Während 
B.  80  die  Insertionsgebühren  erspart  hat,  ist  A.  vielleicht  um  die  irün- 
stigsten  Angebote  l)e(rogen.  Der  Mügliclikeit  eines  solchen  unred- 
lichen Vorgebens  kann  man  aber  dadurch  entgegentreten,  dal)  man 
die  erbetenen  Offerten  bei  der  Exi)e(liti()n  der  betreffenden  Zeitung 
hinterlegen  lälU,  die  ja  dem  Inserenten  in  der  Regel  eine  Karte  aus- 
stellt, deren  Besitz  allein  zur  Abholung  der  hinterlegten  Briefe  be- 
rechtiget. Die  PostansLalten  werden  aber  solche  N'ergünstigungen  nicht 
gewahren  können,  da  sie  für  postlagernde  Briefe  jede  Veraot- 
wortung  abl^en. 

5.  Hdchst  bedenklich  7om  sozialen  Standpunkt  aus  ist  das  Vor* 
gehen  gewisser  Frauenspersonen,  welche  die  Vorteile  unserer  neaeo 

1)  Zi  vi  1  rechtlich  iet  oine  derartige  Abmach uug,  als  „gcgeu  die  guten  Sitten 
veratofiend"  (f  188,  Ab«.  1  B.-6.-B.),  zwcifelloB  niebtig. 


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Unlanteie  Hairipiilttionen  im  QeidiUts-  und  VerkdinlebeiL  d89 


A  Ii  ment  enge  setze  in  einer  höchst  gewissenlosen  Weise  ansnützen 
und  aus  der  Erlanfjung:  von  zahlreichen  Alinionton  für  ihre  unehe- 
lichen Kinder  geradezu  ein  Gewerbe  machen.  Ket litsanwalt  11  ose n- 
l)erg  (Bonn)  weist  in  einem  Aufsatze  m  der  „Deutschen  Juristen- 
Zeitung",  Nr.  9  des  If.  Jahrganges,  S.  221,  auch  auf  die  schädlichen 
Wirkungen  des  §  1708  des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs  für  das  Deutsche 
Reich  hin  und  macht  auf  die  Zunahme  der  Meineide  in  dem  früheren 
Geltungsgebiet  des  Code  civil  aufmcrksjim.  Mit  einer  merkwürdigen 
Gelehrigkeit,  sagt  Bosen berg  a.  a.  0.,  haben  sich  gewisse  Mädchen 
die  neue  Geseteesbestiinmiing  zanntze  gemacht,  womit  die  Tatsache 
im  Zuflammenhang  stehe,  daß  für  manche  Ftenenspeisonen  die  Auf- 
hebung des  Art  340  Code  dvil  geradezu  ein  Ansporn  geworden  sei, 
sieh  einem  nnzttchtigen  Lebenswandel  zu  rageben;  nach  der  Theorie 
vom  kleineren  Übel  sei  daher  eine  dem  Art  340  Oode  civil  analoge 
VoiBchrift  den  §$  1708  ff.  6.6.6.  unbedingt  vorzosiehen. 

6.  Jedem  Kriminalisten  dttrfte  das  einträgliche  GeschSit  der  sogen. 
^Engelmacherinnen'*  bekannt  sein,  die  gegen  ein  „entsprechendes** 
Nährgeld  neugeborene  uneheliche  Kinder  in  Pflege  nehmen  und  nach 
einiger  Zeit  der  unehelichen  Mutter  die  „traurige  m  aber  selhstverstÄnd- 
lich  erwartete  Nachricht  von  dem  .sanften**  Ablel)en  des  Säuglings 
zukomnien  lassen.  Weniger  bekannt  wird  aber  sein,  dali  dieses  Ge- 
schäft auch  eheliehc  Mü(t<T  aus  den  niedii;j'stt'n  Volksschichten  an 
ihren  eigenen  Kindern  l)es(tr^^en.  Durch  ilire  notdürftige  Vermögens- 
lage sind  sie  gezwungen,  baUl  nach  der  Geburt  ilires  Säuglings  wieder 
<lie  Arbelt  MulM-rhalb  des  Hauses  aufzunehmen,  ohne  das  neugeborene 
Kind  einer  Wärterin  gegen  Entgelt  oder  ihren  ebenfalls  der  Arbeit 
nachgehenden  erwachsenen  Kindern  überlassen  zu  können.  Ein  Tränk- 
lein, bereitet  ans  dem  Samen  der  Mohnköpfe  oder  ans  anderen  leicht 
zu  beschaffenden  Schlaf mittehiy  bewirkt  ebenso  einen  langanhaltenden 
Schlaf  des  Säuglings,  als  er  auch  dessen  Tod  langsam  nnd  sicher 
herbeifahrt  Das  angestellte  Wehklagen  ttber  den  so  erfolgten  Tod 
des  Kindes  Ififit  den  Gedanken  an  eine  absichtliche  Wegsohaffnng 
des  listigen  flberzähligen  Kindes  kaum  anfkonmien.  Aber  anffiüllen 
muß  es»  wenn  eine  solche  Matter,  'die  schon  einige  Kinder  groß  ge- 
zogen hat,  keinen  ihrer  Säuglinge  mehr  Aber  das  Sfinglingsalter 
hinansbringt  Wie  schwer  wird  bei  dem  langsamen  Absterben  eines 
so  ernährten  Neugeborenen,  der  erklärlicherweise  jeder  ärztlichen 
Hilfe  entbehren  muli,  Belastungsmaterial  zu  sammeln  oder  eine  Be- 
strafung der  Mutter  herbeizuführen  sein,  weil  die  Ernährung  neu- 
geborener Kinder  ja  nicht  überwacht  wird  und  die  Dunmdieit  und  Un- 
erfahrenheit  der  über  den  Verlust  ihres  Kindes  ganz  ^untröstlichen'^ 

Archiv  (iir  Kriminalnnthropologie.  XI II.  19 


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290   X7.  Suiutnmuaw,  Ualantoe  Maaipiilatioiiem  im  Qeschift»  tt.  Vefkehraleben. 

Mutter  jedes  Bewußtsein  ihrer  verbrecherischen  Eingriffe  ausza- 
ßchlielicn  scheinen ! 

7.  Ein  hiesiger  Cafe-  und  Konditoreibesitzer  nützte  —  es  war  im 
vergangenen  Sommer  —  auf  ebenso  originelle  wie  tadelnswerte  Weise 
menwMdie  Schwachen  —  die  liebe  und  BSfeisacht  —  za  seinem  Vor- 
teil aofly  ind^  er  programmftßig  anonyme  Briefe  an  junge  Ehegatten 
aebrieb,  worin  ein  |,aDfriobtiger  Mensohenfreond^  im  Veriianen  den 
■  einen  Ehegatten  vor  der  Trenlorigkeit  des  anderen  warnte;  um  sieb 
davon  llberzengen  m  können,  müsae  er  nur  an  gewissen  Tagen  in  das 
näher  bezeichnete  Gafö  kommen.  Der  Stundenplan  war  gut  eingetdhi 
damit  es  keine  Kollisionea  gftbe.  Es  soll,  wie  hiesige  Blätter  mitteilten, 
in  jenes  sonst  so  vereinsamte  C&U  bald  reges  Leben  eingezogen  sein. 
Daß  bei  dem  vergeblichen^  langen  Warten  nicht* wraig  ventehrt  werden 
mußte,  hatte  sich  der  schlaue  Geschäftsmann  schon  ausgerechnet. 
Auch  ließ  er  es  nicht  an  weiteren  anonymen  Ermunterun^sschreib«! 
an  die  bisher  veri;el)lic)i  wartende  Ehehälfte  fehlen,  einmal  müsse  sie  ja 
doch  dahinter  kiminien.  Da  sali  eines  Ta^es  ein  Herr  in  jenem  Cafö 
sinnend  vor  Heineiu  anonymen  P>rief,  und  das  pal)  seinem  Nachbarn  — 
nach  den  Grundsätzen  der  Ideenassoziation  —  Veranlassung  sein  ^ähn- 
liches" Geheimnis  preiszup'ben.  Aufkh'irunir  fol^^te  auf  Aufklärung;, 
und  gar  bald  erkannte  der  findige  Geschäftsmana  den  tiefen  Ernst  des 
„Grubengrabens". 

Damit  sei  für  diesmal  die  An&Shhmg  und  Schilderung  bemer- 
kenswerter unlauterer  llampulationen  abgeseblossen.  Es  erübrigt  mir 
nur  noeh  der  Hinweis  auf  weitere  hierher  gehörige,  aber  schon  ander- 
weitig besproohene  unlautere  Cteaebaftakniffe^  s.  B.  bei  der  gesohäfts- 
mäßigen  Ausübung  des  Gedankenlesens,  des  Spiritismus  (Arehiy  XII, 
343 ff.)}  heim  Baritäten-  und  Kunstaaohenbelrug  (Groß*  Hdboh.  1 U.  E 
S.  729  ff.),  bei  Fälschungen  von  Urkunden,  Legitimationspapieren  und 
behördlichen  Stempeln  (Archiv  I,  26 ff.,  VIII,  iff.,  XII,  175ff),  bei 
flÜSchungen  von  Waren  und  alten  Waffen  (Archiv  I,  183  ff.,  VII,  ift). 
beim  Spielbetru«,^  (Groß'  Handbuch  f.  U.-&.  &  722),  beim  Herdebetmg 
(ebenda  S.  70aff.). 


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Kleinere  MltteüimgeE. 


Von  P.  Näcke. 
1. 

H clierzigenswerte  Worte  eines  Ver}»esspn on.  In  dorn  soeben 
erscliienenen,  <iu8f;ezeiclmeten,  und  für  Juristen.  Mediziner  und  l'svolmlo^'en 
gleich  wicliUgen  (V.)  Jahrbuche  für  sexuelle  Zwischenatofen  usw.  (Spohr, 
Ldpsigr  1908)  hat  Profenor  Karseh  gans  eingehend  das  Leben  des  sonst 
^anz  unbekannten  Handelsmanns  nnd  Potzmachers  Heinrich  Hössli  aus 
(Manis  (17S1  —  ISdl)  «rpfroben.  Dei-seMie  war  walirscheinlicli  f'in  Homo- 
sexueller, Autodidakt  und  schrieb  ein  zweibändiges,  hervorragendes  Werk :  Eros, 
worin  er  als  erster  der  Nenseit  die  Homosexnalitit  verteidigt.  Daraus 
werden  nun  viele  Proben  gegeben,  die  z.  T.  wirklich  großartig  sind,  besonders 
wenn  man  ilir  (laniaiige  Zoit  und  den  emfacben  Verfasser  bedenkt.  Einige 
Stellen  daraus  iiiiitrcn  zu  Nutz  und  Frommen  der  Leacr  liifrin  l'latz  fiiiden 
und  sie  geuialiueu  uns  immer  wieder  von  neuem,  auf  neue  Ideen  nicht  zu 
stolz  sein,  da  sie  nnr  zu  hinfig  sich  schon  frahw  vorfanden.  Nidits  fOhrt 
mehr  zur  Tieseheidenhttt,  als  das  Studium  der  aOgemeinen  —  and  der 
alten  Fachlitoratnr.    Hören  wir  .dso  jetzt  unseren  alten  Hössli'): 

„Wir  stehen  uns  licim  Sudien  itnnior  selbst  ini  Wejre!"  —  Es  gibt 
einen  religiösen,  einen  politischen,  einen  bittUcheu  Fauiitismus.  —  Wir  liegen 
errt  in  den  Wehen  fttr  wahrhaft  menschliche  Sitten  nnd  Gesetze.  —  Ge- 
setze ohne  Wissensdiaft  sind  Henker  «dmo  Obrigkeit.  —  Wir  sind  vielleicht 
zn  uriheidniseli ,  um  finznsclien ,  dal',  wir  kein  einziges  I-^ter  weniger  als 
die  Heiden  haben.  —  Im  t>anien,  im  K<  rn,  im  Embryo  ist  der  ganze  Mensch; 
wir  können  nichts  in  solchen  hineinbringen,  nur  sich  entwickeki  lassen  das 
In  Ihm  VefsehloBBene,  nnd  wenn  schon  viel,  das  hi  flun  ist,  zur  Verkrttpplnng 
nötigen,  ersticken  und  nicht  aufleben  lassen,  es  dodi  nicht  tilgen.  —  Es  ist 
in  unserer  nnd  jeder  Zeit  nicht  genug  das,  was  wahr,  was  recht,  was  schön 
ist,  zu  studieren,  man  muß  auch,  es  ist  noch  wichtiger,  das,  was  unrecht, 
was  TTnwahriieit,  was  befleckt  nnd  entstellt  ist,  erforsdien,  entbQllen  wollen^ 
nm  eine  beasm  Menschheit  sn  werden.  —  Weder  übersehen,  noch  ver- 
achten, weder  entstellen,  noch  verdammen  soll  der  Mensch  etwas  an  seiner 
Schöpfung  —  nur  kennen,  leiten,  erziehen  und  dahin  stellen,  wo  seine 
Endzwecke  sichtbai-  werden  können.  Nur  der  Wahnmensch  sagt  zum 
Bmder:  das  ist  nicht  deine  Natur,  weil  sie  die  meoie  nicht  ist,  Sllnde  ist  die 
denuge,  wefl  sie  meme  nicht  ist  .  .  .  —  Der  Gesetzgeber  mnß  jede  vor- 

1)  Aus  seinem  Werke:  Eros,  und  im  Jahrbuche  auf  S.  516  ss.  stehend. 

19* 


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292 


Kleinere  Mittciluugen. 


handene  wirkJicbe  Natnr,  die  der  GeseUschaft  g^lhrlicbe  Handlongw  be* 

^elien  kfinnto.  wissen,  beachten,  (Inrolischauen,  unter  das  Gesetz  stellen;  aber 
da«  Gesetz  darf  nicht  den  Menschen  auflieben ,  darf  nicht  I0{?en  und  darf 
keiue  Naturerscliemung  als  Niclttnatur  erklären,  um  sie  verfolgen  zu 
können  ....  —  Wer  ein  mit  Bhit  gefftrbtee  Sjunenkom  anf  den  Bmeh- 
feldent  lies  Guten  aufer>\eckt,  der  arbeitet  im  Garten  und  Vertram  n  (i  itti-s 
an  der  Menschheit.  —  Der  wahrhaft  erleuchtete  Mensch  aber  denkt  und 
fühlt  für  alles  Gefühl,  für  .dies  liecht,  für  alle  Wahrheit,  für  jedes  (Ge- 
schöpf, der  blinde  liulbuieasch  nur  für  sich  selbst.  —  Die  Erfoi-schuug  der 
meoMlilidien  Natur  ist  flberall  eb  ebenso  heiliges  als  verfolgtes  Werk.  — 
Der  Griechen  Behandlung  der  Mfinneiliebe  erOfbiet  den  mSnneriiebenden 
Naturen  ebenso  ein  sittliches  Ileilifrtnm  —  vne  sie  und  wir  in  der  Ehe 
fUr  die  Liebe  der  beiden  Gescldechter  eines  ei'öffnet  haben.  —  Natur- 
wnrzeln  haben  alle  Verbrechen;  Gut  und  Habe  besitzen  wollen  ist  Natur, 
Zoni  und  Badie  sind  Natnr,  in  der  awdgesehleditiiehen  liebe  sind  die 
Wurzeln  zahlloser  Verbreclien  und  zaldloser  Tugenden  und  großen  Hand- 
lungen .  .  .  Der  Lasterhafteste  kann  die  Frauen  und  der  'J'n^cndhafteste 
die  Männer  lieben.  Die  Erde^  die  Geschichte  ist  dieser  Erweise  voll  \  keine 
liebe  ist  an  sieh  Tagend  oder  Lastw,  so  wenig  als  Wollen  und  SeDiBibe- 
stimnumg  ,  » 


Der  angebliche  Infantilismus,  das  geringere  Gehirnge- 
wicht und  die  gerinj^erc  somatische  Variabilität  des  Weibes. 
Nachdem  M  öl) i  US,  den  ich  vei*schiedener  Analojrien  halher  den  ^deutschen 
Lombrusü'  nennen  mödite,  was  sicherlich  nur  ein  zweifelhafter  Elirentitel 
ist,  das  Sdilagwort  des  „ physiologischen  SfharfBmnB**  des  Weibes  in  die 
Menge  geworfen  und  in  unkritischen  Köpfen  damit  viel  UnbeQ  angeriehtrt 
hat,  nachdem  ferner  Lombroso  niclit  aufhört  von  der  gerinj;eren  anato- 
mischen Variatiunsfähi},'^keit  der  Frau  j^'c^enüber  dem  Manne  zu  reden,  folg- 
lich von  ihrer  geiingereu  Zahl  vuu  Entartungszeicheu,  obgleich  ich  dies, 
auf  Qnind  genaner  üntersnehungen  entschieden  bestritt*),  hat  soeben  der 
nngftmrfn  luitlsclie  und  genaue  Anthropologe  Giuffrida-Ruggeri  m 
diesen  zwei  wichtif^en  Dingen  djis  Wort  ergriffen,  freilicli  in  einer  Arbeit, 
die  einen  andern  Zweck  verfolgt-).  Nach  ilim  ist  die  Frau  anatomisch 
durdiaus  niclit  mfantiler  gebaut,  als  der  Mann.  Das  Himgewicht  der  Er- 
wadisenen  ist  freilidi  relativ  gering«*  als  das  des  Mannes  gMeher  GrOße;  das 
hängt  aber  von  ihrer  gerinj^cren  Tätigkeit  ab,  welche  wledenim  durch  eine 
geringere  Masse  von  Muskeln  und  Knociien  bedingt  ist  und  folf^lich  dui"cli 
die  ihnen  vorstehenden  trophischen  und  muskulösen  Hirnzentren.  Das  Him- 
gewicht' ist,  im  Mittel,  12,3  IVos.  kleiner  ab  das  des  Mannes,  dafttr  aber 
die  Muskeln  nnd  die  Knocben  un  30  Fh>B.  Nadi  den  geoaneD  Daten 


1)  NScke,  Untcrsnchunfj  von  16  Frauenschädeln,  danmtcr  sokfae  VOO 
12  Verbrecherinnen  usw.    Archiv  f.  IVvcliiarrie.  tSO.S.  2ö.  Bd.  Heft  1. 

2)  Giuffridu-iiuggeri,  Cousiderazioni  autrupologiclic  sull' iuluntiliümo  e 
condosioni  rehttive  all'  origine  delle  varietä  mnane.  Kwidtwe  Zoologioo  Kaliano, 
anno  XIV.  1908.  No.  4—5. 


2. 


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Kl6io6ira  HitteiliiBgQD. 


293 


von  Urnen  ist  das  S t i rnli i i  n  der  Frau  relativ  grRßer  als  das  des 
Muuueä,  dalier  die  seokreclite  Stuu  mit  deu  vorstehenden  Stii'uböckeru.  Das 
geringere  Gewidit  deB  Seitenlappens  —  eotqtrediaid  dtf  geringeran  Hmkel- 
ontA\  icklun<;  -  erzeugt  den  weniger  hohen  und  mehr  platten  SefaideL 
Endlich  der  relativ  jrrölM're  Iliuterhauptlappen  und  das  Kleinhirn  machen 
das  Hinterhaupt  vorspringender.  Was  sagen  nun  Möbius  usw.  dazu,  daß 
das  Vorderhim  der  Frau  gröl&er  ist,  wo  man  doch  weiii,  daß  dies  beim 
«genflidieii  Deokoi  wahnchdnlieh  am  meieten  betoligt  ist?  Wuhwehem» 
lieh  sind  auch  die  Nervenf:isem  bei  der  Frau  feiner.  Wenn  also  bisher 
die  geistigen  und  künstlerischen  Leistungen  der  Frau  siclier  hinter  denen 
der  Männer  zurückstehen,  so  ist  das  anders  zu  ei'kiären,  als  Möbius  will, 
leb  gehe  hier  meht  idQier  danmf  tan.  Hervorheben  wollte  idi  nur,  daß  olnger 
Umstuid  aleo  anatomiBA  aeher  nicht  begründet  ist  Bezflglieh  der  immer 
angeführten  geringeren  anatomischen  Variationsfälligkeit  des  Wdbes,  so  be« 
streiten  dies  entschieden  viele,  z.  Ii,  Pearson,  Oiuffrida  und  sogar 
Frassetto  —  ein  Anhänger  LombrososI  —  findet  den  ächädei  bei  der  Frau 
variabler  ak  beim  Manne.  Nodi  mehr  tritt  dafOr  Manovrrier  ein  >).  Der 
Schiuli,  den  auch  ( •  i  uf  f  rida  zieht,  ist  der,  daß  folgüdi  die  Frau  auch  mehr 
Stigmata  aufweisen  muH,  als  der  Mann,  nicht  weniger  (was 
Gin  ff  rida  milde  eine  ,,ungenaue  Behauptung'*  nennt).  Wenn  ich  selbst, 
wie  gesagt,  bei  meiueu  Untei-suuliungcu  hier  uiclit  mein-  Stigmata,  als  bei 
den  HSnneni  fand,  so  doch  nidit  weniger«  Nor  sind  aie^  dem  graafleren 
Körperbau  entsprechend,  weoiger  liervortretend  als  dwk  Ginffrida  macht 
endlich  ininicr  wieder  von  neuem  darauf  aufmerksam,  wie  vorsichtig 
man  mit  dem  Worte:  Kückschlag  und  Inf anti lisnius  sein  muiJ. 
Vieles  ist  nur  Schein,  wofür  Giuffrida  Beispiele  gibt  Diese  vorzügliche 
Arbeit  von  Ginf  frida  wird  aber  sieher  ebensowenig  Lombroso  ond  sraie 
Schule  beeinfhissen ,  N\ie  die  anderen  von  Manovrrier,  Pearson  osw. 
Theorie-Fanatiker  sind  eben  nicht  zu  belehren! 


3. 

Voruntersuchung  in  Abyssinien.  In  einem  interessanten  Artikel 
erfüllt  der  itaUenisdie  Arzt  de  Gastro  daß  zum  Auffinden  von  Dieben, 
ganz  jungen  Männern,  die  nodi  kein  Weib  berflhrten,  ans  besonderai 

Famihen,  hypnotische  Getränke  verabreicht  werden:  Im  somnambolen  Zn- 
stande laufen  sie  nun  herum,  bis  an  den  Ort  des  Verbrechens,  ahmen  die 
Gesten  des  Täters  bei  der  Tat  nach  und  bezeichnen  ihn  dem  lUcliter,  der 
sofort  die  Strafe  eintreten  läßt.  Man  nennt  sie:  lieba-sda  —  IKebssncher. 
Das  ist  aber  nicht  etwa  ein  Gottesurteil,  da  solches  in  Abyssinien  nicht 
existiert.  Es  handelt  sich  vielmehr  um  eine  «Pharmakotherapie"  des  Ver- 
brechens, wie  \'erfasser  es  nennt.    Merkwürdig  ist  auch  die  Sitte^  daß  ein 


1)  Den  Lombroso  nur  einen  „uülUigcu''i Anthropologen  nennt,  er,  der  ihm 
weder  an  Kritik  noch  an  Ctenanigfcdt  der  ünteiwidrangen  die  Schohrianoi 
lösen  konnte  I 

2)  De  r.istro,  Malati,  medid  e  tniffatori  in  Abisainia.  Archivio  di 
psychiatria  etc.  19U3.  p.  351. 


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294 


KlebMTO  HitteUangciL 


Verbrecber,  wenn  es  ihm  gelingt,  in  eine  Kirche  ein/.utreten  and  die  Qlocke 
ertODen  zu  lassen,  gesichert  kt,  so  lange  er  im  Beiligtum  weilt  Beim  Ver- 
lassen desselben  gdit  aflerffings  adn  Aaylreeht  verioren.  Yei^iiftarngBlkne 
sind  Hiebt  aelten. 


4. 

Spiritistischer  Schwindel.  Das  famose  „Blumenmedium  Kothe" 
ist  gründlich  abgeführt  und  für  einige  Zeit  unsdiädlich  gemacht  worden. 
Damit  hat  aber  natfirßch  der  Olanbe  an  den  Spiritiamna  keinen  Todeaatoß 

erhalten.  Eher  das  Gegoitdl!  Die  amie  Rothe  ist  eine  3färtyrerin  geworden! 
Der  Fanatismus  der  spiritistischen  (icmoiiHlo  ist  so  £?ron,  dal*  nichts  ihr 
Dogma  erschüttert  Sogar  bei  Gebildeten  und  Gelehrten,  und  das  ist  das 
IVanrige!  Kehrt  dodi  z.  B.  regelmäßig  in  Lombroao'a  „Ardiivio  £ 
pndiiatria  etc.''  eine  Kubrik:  ,,il  medianismo'^  wieder,  wo  haarsträubende 
Din-re  nis  ahsohit  sidiortrestellto  Tatsachen  fjcfrohen  werden.  Wie  es  aber 
tiamil  hcschaffen  ist,  lial  wiederum  neulich  Moll')  klassisch  nachgewiesen. 
Seit  wenigstens  11  Jahren  spukt  in  Italien  eine  gcfälirliches  Individuum, 
eine  gewisse  fVan  Enaapia  Palladino  herum;  gefährlicli,  wdl  aie  bereits 
einen  groCen  Teil  des  italienischen  Adels  und  eine  lleilie  ereter  Gelehrter 
ZQ  flliinbigen  bekehrt  lint.  Dal\  oberflächliche  Bc(il)aclitor,  wie  Lombroso, 
der  immer  mehr  zu  einer  %v  issenscliaftliclien  ,.<|iiantite  negügcable*'  herab- 
sinkt, zuerst  darauf  hineinfallen,  versteht  sich  von  selbst.  Moll  hat  nun 
nadi  ^genem  Angehauen  ihren  Hanpttridc  anfgedeekt,  der  darin  besteht,  ihre 
unter  Kontrolle  stehenden  Hände  und  Füße  durch  geschickte  Ablenkung 
der  Aufmerksamkeit  in  der  Dunkelheit  zu  liefrcien  und  damit  in  bekannter 
Weise  zu  „arbeiten".  Moll  macht  wohl  die  richtige  Bemerkung,  dal)  zur  Ent- 
larvung solchen  Schwindels  Gelehrte,  wie  Psychater,  Naturwissenschaftler  usw., 
nieht  die  geeigneten  Antorititen  amd,  sondern  nnr  die  Tnaehenapieler, 
bei  denen  ja  die  Ven^'ertung  der  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  oft  w  icb- 
tiger  ist.  als  die  Fingerfertigkeit.  Auch  die  folgenden  Sfitze  von  Moll  sind 
nnr  gutzubeil.'en :  „Es  ist  ja  gar  nichts  dagegen  zu  sagen,  wenn  jemand  an 
Gdster  oder  an  eine  beaondare  psychiadie  Kraft  ^lanben  wül,  daa  iat 
Glaubenssache,  wie  eon  Dogma.  Nur  soll  man  hier  nicht  das  Wort  Wiaaen- 
schaft  brauchen,  man  soll  nicht  Dinge  für  wissenschaftlich  bewiesen  hin- 
stellen, solange  man  nicht  unter  zwingenden  Beobachtungen  beob.achtet . .  . 
blieb  für  mich  als  Wunder  nur  eines  übrig,  nämlich  der  Um- 
stand, daß  große  Gelehrte  solch  frechen,  dnrehaichtigen 
Sehwindel  auf  unbekannte  Kraft  zurückführen'^.  Das  sieht  man 
auch  an  ernsteren  Celehrten.  wie  Lombroso  ist,  z.  B.  Dttolenglii,  dessen 
neues  IJuch:  „J.a  suggestione  c  le  facultfi  psicliiolie  occulte  etc."  Lom- 
broso in  seinem  Archive  (4.  lieft  S.  505j  uublülirlich  bespricht.  Er  glaubt 
an  Gedankenftbertragungen.  Seine  Beweiae  scheinen  nadi  dem  R^erat 
keine  stringenden  zu  sein.  Bisher  sind  selbst  die  Aufsehen  erregenden 
Experimente  von  T{  i  dt  c  t  selir  angezweifelt  worden.  0 1 1  ol  en  gh  i  glaubt  an 
das,  wenn  auch  nur  selt«  ne  Vorkommen,  von  „Ahnungen**  und  ^Hellsehen". 
Bisher  hat  noch  kein  einziger  Fall  aber  einer  strengen  Kritik  standge- 

1)  Moll,  Das  »Medium*'  Eusapia  PaUadino.  Dratsche  med.  Wochenschr. 

1903.  Nr.  29. 


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Kleinere  IDtteilimgan. 


296 


halten.  Ottoion  frlii  erlaubt  fornor  an  ^Exteriorisation"'  von  Empfinilunsren 
und  Bewegungen;  ebenfalls  wiasenscbaftlidi  noch  nicht  bewiesene  Dinge. 
Auch  soll  eB  nintellektaelle  medlaiiiBliBdie  PhlnomcDe*  geben,  wonadi  s.  B. 
Kinder  von  5  Monaten  schraibeo  kOnnen,  oder  eine  Person  stenograpliiwen, 
die  ee  nicht  gelerat  hatte!  „Da  Boll  mir  doch  einer  einen  Stordi  braten." 
wird  der  Horliner  mit  Hecht  saj^en!  Ottolenfrhi  behauptet  weiter,  dal') 
durch  krituiuelle  Suggeetionea  sogar  Ehrliche  (quasi  onesti),  besonders  wenn 
[rie  Bomnambnl,  hysteriseh  oder  epileptisch  sint^  Verbrechen  begeh«!  kftnnen. 
Bisher  ist  aber  noch  nie  ein  wirklicher  Fall  Yon  snggerieiten  Verbrectien 
publiziert  worden,  alles  sin«l  nur  I^aboratoriumsversuche  gewesen !  Man  sieht 
also  auch,  wjiö  man  von  Ottolen^'hi  zu  halten  hat,  den  freilieh  i^oru- 
broso  auf  den  Sdiild  hebt,  da  er  einer  seiner  strengsten  Anhänger  ist, 
was  aehon  von  vornherein  deaaen  Kiitikahigkeit  in  TerdSefatigem  Liäte  er> 
aoheinen  lassen  mnß. 


5. 

Schreckliche  Folgen  eines  fanatischen  Kurpf uschertums. 
In  einer  Notiz  der  Archives  d*anthropologie  erfminelle  nsw.,  1903.  8.  524, 
lese  ich  soeben,  daß  in  Appleton  (Staat  Wisconsin)  ein  Kurpfnaoher  nnd 
entscliiedener  Impfge^rner  die  Harmlosigkeit  des  I'ockenjriftes  demonstrieren 
wollte  und  zu  diesem  Zwecke  sich  die  Hände  mit  solchem  beschmierte  und 
SO  während  8  Tage  von  Stadt  zu  Stadt  zog.  Die  Folge  war  der  Aus- 
bmch  einer  heftigen  Pocken-Epidemie  in  der  ganxen  ümgegend.  Die  darflber 
mit  Recht  aufgebrachte  Menge  wollte  den  Elenden  lynchen,  fand  ihn  aber 
nicht  zu  Hause,  verbrannte  sein  Haus  und  zerstörte  das  Mobiliar.  Schon 
neulich  in  einer  kleinen  Mitteilung;  über  ..F'anatismu.s"'  iiabe  ich  auf  das  Ge- 
fährliche des  Fanatismus  in  jeglicher  Gestalt  hingewiesen.  Zu  den  gefälir- 
liehaten  gehören  natttitteh  die  Knipfnaehw,  die  freiHeh  wahrsdieinlich  nur 
zum  gerinp^ten  Teile,  wie  z.  B.  im  obigen  Falle,  edite  Fanatiker  sind. 
Meist  nämlich  sind  es  ganz  ^•■eineine  Schwindler.  Ebenso  gefährlich  ist  aber 
auch  der  Fanatismus  des  i'ublikums  fär  irgendeine  angeblich  sichere  Heil- 
methode. Niemand  wird  je  erfahren,  wie  viel  ungezälilte  Opfer  das  Kneipp- 
verfohren in  nnd  Mifieriialb  WOiriahofen,  wte  viele  Vegetarianer,  Lah- 
mannianer  usw.  sich  so  selbst  zu  Tode  kuriert  haben  oder  kuriert  haben 
lassen.  Alle  Warnungen  sind  aber  leider  in  den  Wind  gesprochen  und 
jedes  Volk  wird  zu  jeder  Zeit  seine  Fanatiker  haben  (resp. 
Sehwindler),  die  die  andern  verfuhren  oder  deh  verfuhren  lassen.  Die 
Menge  von  Schwindel  und  Fanatismus  wird  wahrseheinlieh, 
gerade  so  wie  von  Verbrechen  im  allgemeinen,  sich  gleich 
bleiben,  nur  dalJ  die  Art  und  Weise  wechseltl  Djis  18.  Jahr- 
hundert hatte  einen  Cagliostro,  das  19.  eine  Spitzeder  und  jetzt  im 
20.  erleben  wir  eben  die  Tragikomödie  der  „großen*'  Therese. 


6. 

Ein  amerikanischer  Blaubart  Nach  einer  Mitteilung  in  den 
Arehives  d'anthropologie  criminelle  etc.,  1903  S.  527,  ist  ein  gewisser  Alfied 
Knapp  in  Amerika  einer  lieihe  von  Mordtaten  an  Mädchen  nnd  seinen  beiden 
Fraaen  angeklagt  und  zum  Tode  verurteilt  worden.    Mit  gröüter  liuhe  und 


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296 


Kleinere  MittuiluuKeu* 


sdieiifilichem  Cynisiniui  gab  er  aUes  zn  und  beaehrieb  genan  die  Alt  und  Wdae, 

wie  er  beim  Erwürgen  mit  seinen  Händen  vorpng,  rühmte  sich  hierbei 
speziell  seiner  besonderen  (Teschicklichkeit  und  erklärte  vor  dem  (Je- 
schworeneu:  „Ich  versichere  iSie,  daü  ich  nicht  weiii;  warum  idi  diese 
FVaneo  getötet  habe;  Uik  hatte  keiDen  Gnmd  ea  an  ton,  aber  eine  nnwlder* 
atdifidie  Haeht  trieb  midi,  aie  an  erwür^^en,  und  ich  konnte  dieser  Ver- 
suchung,' nicht  ^^ideretehen."  Aus  der  Notiz  geht  nicht  hervor,  ob  irgend- 
ein sexuelles  Moment  vorlag.  \*on  irgendwelchen  Körperverletzungen  :i  la 
Jack  the  ripper  wird  nicht  berichtet,  aucli  nicht  von  Ausübung  des  Bei- 
schlafB.  Dagegen  spricht  ediOD,  daß  aeine  swei  FVaaen,  gegen  die  er  gar 
nichts  hatte,  ihm  gleiclifalls  zum  Opfer  fielen.  Verdächtig  ist  nur,  dalJ  es 
sirli  um  das  andere  ({eschleclit  handelte  und  teilweise  wm  Mädchen.  Eß 
möclite  also  doch  vielleicht,  wenn  auch  nur  im  UnterbewulUseiii.  eine  geschlecht- 
liche Kegung  mit  im  Spiele  sein.  Auf  alle  Fälle  hätte  das  Individuum  genau 
pqrdiiaMMh  nntenndit  werden  aoUoi.  Hier  olme  weiterea  eine  „Hordmono- 
manie'^  anzunehmen,  ist  sehr  bedenklicli,  da  ein  einzeln  dastehender  Trieb 
zum  Tött  ii  1.  sehr  selten  ist,  2.  noch  seltener  zur  Ausführung  kommt,  also 
meLst  unterdrückt  werden  kann,  und  3.  sich  wohl  nur  bei  Entarteten  oder 
Geisteskranken  finden  dttrfte. 


7. 

Vorsicht  bei  Hyp<itlicsen.    In  meiner  kürzlichen  Hesprechun^r  des 
Woltmanuschen  Huches  iilit  r  politisr-ln'  Antlirojioloirie  (diese  Ztschr.  12.  Bd. 
8.  346)  habe  icli  wieder  von  neuem  darauf  aufmerksam  gemacht,  wie  man  in 
der  Wiaaenaehaft  ▼orrichtig  in  der  Behandlung  der  Hx'potfaeeen  aein  mnß^  wedhe 
freüieh  stets  einen  groOen  henrialiaehen  Wert  lia])cn  werden.  Sobald 
dieser    Notbehelf  in   den    ITHnden   des  Forschers  als  echte, 
wahre  Münze  behandelt  wird,  ist  es  um  die  Wi.ssenschaftlicli- 
keit  getan!    Das  zeigt  sich  nameuthcii  bei  allen  Theorie- Fanatikern  ä  la 
LombroBO,  Wileer,  Ammon  naw.   Die  letzteren  wissen  angeblieh 
gaoa  genau,  daß  der  Eddtypos  de,s  Menschen  nur  der  Langkopf  ist,  und 
hier  wieder  nur  der  Germane,  da (5  der  Arier  nur  im  Norden  Europas  ent- 
stand, die  alten  Schädel  dort  direkte  \' orfahren  der  alten  Germanen  sind  usw. 
Ffir  sie  ist  Möglichkeit  oder  Wahrscheinlichkeit  ohne  weiterea  Wahr- 
heit und  immer  tiefer  veiierai  aie  aieh  in  FhantaatereieB.  Deahalb  iat  ea 
gut,  wenn  sie  von  Zeit  zu  Zeit  eine  gehöri^.'^c  Lektion  erhalten,  die  bei 
ihnen  allerdings  nicht  lange  anhält.     S<i  hatte  auf  dem  letzten  Anthro- 
pologen-Kongresse zu  Wonns  (iyu3)  Wils  er  bezüglich  alter  Schädel  ge- 
naue EinteOnngen  gemacht,  wobei  er  allerdings  glftnaend  abfiel*  Der  Ana- 
tom und  Anthropolog  Klaatach,  der  immer  mehr  zu  einer  der  enrten 
Größen  auf  diesem  Gebiete  auasuwachsen  scheint,  erklärte  sicli  sehr  ener- 
gisch, zugleidi  im  Namen  der  andern,  gegen  eine  solche  Art,  Wissenschaft 
zu  treiben.   Eine  gröUere  und  verdientere  Niederlage  eines  Gelehrten  kann 
man  aieh  kaum  denken!   Kurz  voiher  hatte  der  berttfamfte  Ranke  erkiiri^ 
daß  schon  die  alten  German«  ii  •  ine  Mischraaae  geweaen  aden  und  die  jetaigeu 
Schweden  nach  den  neuesten  1  lUtersuchungcti  nur  zu  10  IVoz.  den  gernin 
nischen  Typus  darböten;    alles  llmständo.  die  einige  viclireliebte  Theten 
Wilsers  und  anderer  Kassenfanatikcr  wescniUch  einschränken  mußten. 


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XVL 


Das  Leben  der  Waiideraniieii. 

Von 

Hans  Ostwald,  Groli-Lichtcrfelde. 

Wenn  yon  einer  Beseitignng  der  Wanderbettelei  die  Bede  ist,  so 
wird  tnent  eben  naeh  den  Ursaeben  der  £nebeimuig  gefragt  werden 
mflsBen;  denn  nur,  wer  ibre  ürsaeben  kennt,  wird  Ue  erfolgreicb  be- 
kämpfen und  beseitigen  können,  das  aber  dürfte  wohl  jeder  Krimi- 
nalist, jeder  Soziologe  und  Volks  Wirtschaftler  schon  eingesehen  haben, 
daß  die  Wanderbettelei  nicbt  allein  mit  dem  Trieb  zur  Faulheit  zu- 
sammenhängt, daU  ihr  zn  verecbiedenen  Zeiten  ganz  venebiedener 
Umfang,  auch  ganz  verschiedene  TTrsachcn  haben  muß. 

Auf  der  Landstraße  finden  wir  vor  allem  den  Menschen,  der  in 
seinem  Gewerbe  Schiffbruch  gelitten.  Heutzutage  kann  so  ein  Un- 
glücklicher in  ein  anderes  Gewerbe  übergehen,  wenn  das  andere  Ge- 

Anmerkanf  des  HeranBir^bers.  loh  ^nbe,  daß  der  vonteheiide 
AufiMts  in  die  so  überaus  wichtige  Fnge  der  Vagnbundn^e  mehr  Klärung 
briiifrou  Mrird,  als  viole  tliooretische  Kntrtcntntren ,  da  "Icr  Herr  Vrrfassor  die 
Sache  aus  eigener  AnHchuuung  kennt  Wir  Krimiuaiiäteu  sprechen  leider  über 
•0  vieles,  was  wir  nur  ans  der  Schilderung  anderer  kennen,  und  mOasen  der 
Natur  der  Sache  nach  wohl  so  vwgehm;  whnd  niia  aber  Gelegenheit  geboten, 
eine  uns  wichtige  Ere>cheinung  von  einem  verläßlichen  Mann  geschildert  zu  be- 
kommen, der  sie  aus  eigener  Wahrnehmung  Itennt,  so  nehmen  wir  dies  dankbar 
entgegen. 

Der  Berr  Verfasser  Ist  nach  seinen  dgenen  Mitteilungen  der  Sohn  einee 

unbemittelten  Berliner  Schmiedes,  erlernte  das  Goldschmiedhandwerk,  aibeltete 
einige  Jahre  in  Berlin  und  wtinle  arbeitslos».  Dieser  Tiiistand  und  der  Drang, 
die  Welt  zu  sehen,  trieb  ilin  auf  die  Wanderschaft.  Als  «anner  Reisender"  sah 
er  Deutschland,  bekuui  ub  und  zu  Arbeit,  handelte  mit  Guldsachen,  lebte  als 
Statist,  als  Reporter  und  wieder  als  „Reisender*^.  Was  er  sah  und  erlebte, 
notierte  w  und  wurde  nach  und  nach  Schriftsteller,  heute  schon  von  bekanntem 
Namen.  Als  s(»|{lier  lebt  er  heute  in  firoß  I.ichterfelde  bei  Berlin,  allf  .Taliro 
drängt  es  ihn  aber  wie<Ier,  wenigstens  für  einige  Wochen  —  auf  die  Liandbtraljet 
Seinen  Stoff  kennt  er  also.  H.  Groß. 

AieUv  fSr  KriBiBalutbrapoloal*.  Zill.  20 


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298 


XVI.  Ostwald 


werbe  nocli  aufnaliiiu'fiilii|;  ist  und  ihn  \ t-rwritni  kann.  Kann  es  ihn 
aber  nicht  verwerten,  vermag  er  die  ^'efordt  rhu 'I>eistun^en  nicbt  zu 
erfüllen,  ist  das  Cicwerbe  mit  Arheit.skiiiften  reichlich  versehen  — 
dann  gibt  es  für  ihn  nichts  weiter  als  die  Landstraße. 

Das  gilt  besonders  von  jenen  alten  oder  alleinstehenden,  anfier- 
dem  Ton  den  teohniach  oder  sittlich,  also  etwa  in  pnnkto  Alkohol 
schwächeren  Lenten.  Arbeitsonfähig  und  sie  zwar  nicht  Aber  sie 
werden  doch  snerst  entlassen,  sobald  die  Bestellnngen  sich  Termindeni. 
Eigentlich  dienten  sie  ja  nur  als  Notbehelt  Annenreohtliche  Unter- 
statznng  erhalten  sie  nicht^  da  sie  ja  noch  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  leistnngsfiUiig  sind.  Kredit  genießen  sie  meist  nicht  —  oder 
nur  in  ganz  beschrftnktem  Maße.  Sie  können  also  nicht  am  Orte 
bleiben.  Sie  müssen  schleunigst  einen  anderen  Platz  aufsuche  an 
dem  sie  vielleicht  noch  gebraucht  werden  können.  Da  sie  von  vorne- 
herein mittellos  waren  oder  es  bald  geworden  sind,  bleibt  diesen  Ele- 
menten bald  nichts  als  die  I^ndstraße  und  das  Betteln  von  Tür  zu  Tür. 

Zu  diesen  Repnientern  von  Seliiildlosen  stoßen  jene,  die  nicht 
am  Orte  bleiben  wollen,  weil  sie  sieh  nicht  in  Schulden  ven^pinnen 
möchten  -  selbst  wenn  sie  die  Aussieht  haben,  später  wieder  in  Arbeit 
zu  kommen.  Aber  sie  ^n  licn  liclx  r  hinaus  in  Wind  und  Wetter,  leben 
heute  gut,  hunjucrn  niorpn,  .schlafen  in  ekriliaftcn  Betten,  in  Ställen, 
mal  auch  in  den  besseren  Herbergen  zur  Ileiniut,  .Alt  hen  immer  unter 
strenger  polizeilicher  Kontrolle  —  bleiben  aber  dafür  frei  von  allen 
Verpflichtungen,  die  jeden,  der  im  Orte  geblieben  und  auf  Kredit  Ihs 
zum  Wiederbeginn  der  Arbeit  gelebt  hat,  wie  eine  Domenhecke  um- 
geben, ihm  ein  Aufsteigen,  eine  Zuknnft  versperren  und  ihn  nicbt 
seines  gegenwärtigeni  arbeitsreichen  Lebens  froh  werden  lassen. 

Diese  Art  von  Wanderzwang  ist  in  industriellen  und  auch  in 
handwerkerlichen  Berufen  vorhanden.  Neben  ihm  wirkt  noch  ein 
idedler  Wanderzwang:  die  Notwendigkeit,  daß  der  Arbeiter  in  andern 
Stfidten,  an  andern  Orten  seinen  Beruf  vervollkommne  und  außerdem 
M  incni  Rildungsdrange,  dem  er  oft  ;renng  nur  durcb  Veränderung 
des  Aufenthaltsortes  genügen  kann,  Nahrung  zuführe.  Zum  ideellen 
Wanderzwang  gehört  auch  jenes  durcb  Streikes  hervorgerufene  Wan- 
dern, das  meist  von  jungen  Leuten  geübt  wird,  die  auf  diese  Weise 
den  Ort  der  Streiks  entlasten  wollen.  Man  mag  darüber  denken  wie 
man  will.  Jedenfalls:  das  Aufgelx  n  des  Arbeitsortes  hat  bei  der  heu- 
tigen Uige  des  Arbeitsniarkles  imnu  r  »  twas  Ilrroisclics  au  sich.  Das 
wenigstens  sollte  denen  zugute  gereeiiiiet  wciih  ii,  die  zugunsten  ihrer 
Kameraden,  zugunsten  der  Lebenshaltung  des  Volkes,  ins  Ungewisse 
hinaubwanderten  oder  noch  hinausvvanderu  werden. 


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Das  Leben  der  Wandenrmeii. 


299 


Wie  weit  außerhalb  dieser  ideellen  Notw(  iKli<;keiteD  die  Lage 
des  Arbeitsmarktes  zu  den  verschiedenen  Jahreszeiten,  ganz  unab- 
häniriir  von  den  großen  Krisen,  die  arbeitende  Bevülkerunir  zum  Wan- 
dern nütij^t,  zeipt  eine  Statistik,  die  in  den  Jaliren  18i>5  und  1S96 
in  dem  oberbadiscben  Gebiet  der  VerpCleguogsstatioaeji  aufgenommen 
worden  ist. 

t'her  das  Wandern  der  einzelnen  Gruppen  zu  den  verschiedenen 
Jahreszeiten  wird  angegeben. 

Die  Schlosser,  Mechaniker  u.  dgl.  (im  weiteren  Sinne  wohl 
„Fabrikarbeiter^)  sind  das  ganze  Jahr  hindurch  sehr  zahlreioh  auf  der 
Wanderschaft;  im  Monat  Jnni  sogar  17,5  Pros,  aller  Wanderer;  auch 
die  eigentlichen  Fabrikarbeiter  haben  eine  starke  Frequenz,  die  im 
Februar  und  MSrz  9,4  Pros,  erreiebt^  dagegen  im  Dezember  auf  4,1  Proz. 
hecabsinkt  Die  Bicker,  HflUer  und  Konditoren  sind  in  den  Monaten 
März  bis  Juli  am  zahlreichsten  (bis  zu  10,7  Proz.)  yertreten  und  nur 
im  Januar  und  September  ist  ein  merklicher  Rückgang  zu  konsta- 
tieren.  Die  Schreiner  und  Glaser  steigen  im  September  auf  10,5  Proz., 
während  im  Dezember,  Januar  und  April  der  Prozentsatz  etwa  die 
Hälfte  hiervon  beträgt  Interessant  ist  die  Beteiligung  der  Schneider, 
die  in  der  flauen  Zeit,  im  Monat  August,  bis  auf  13,3  Proz.  anwächst, 
während  sie  im  Dezember,  April  und  Mai  wenig  über  3  Proz.  aus- 
macht Küfer  und  Bierbrauer  sind  am  wenigsten  vertreten  im  August 
mit  2,4  l'ru/..,  am  stärksten  im  März  mit  Proz.  Das  Baubandwerk, 
Maurer,  Zimmcrleute  und  Stt  inhauer,  sind  in  der  Saison  von  März 
bis  Dezember  nur  ganz  schwach  vertreten,  oft  nicht  einmal  mit  1  Proz., 
und  nur  von  DezemlxT  bis  März  wächst  ihre  Zald  bis  zu  9  Proz., 
solange  eben  die  Arbeit  ruht.  Ebenso  beinerkcii.swert  ist  die  ^ietei- 
ligung  der  Knechte  und  Tagelöhner;  bis  zur  Winterszeit  machen  solche 
7—8  Proz.  ans,  dagegen  von  Mai  bis  Dezember  kaum  3  Proz.,  im 
Juni  und  Juli  sogar  nur  Proz.  Die  Maler  sind  im  Dezember  mit 
8,5  Proz,  vertreten,  dagegen  im  April,  Mai  und  Juni  nicht  einmal  mit 
V*  Proz. 

Diese  Statistik  zeigt  deutlich,  wie  eng  das  Wandern  mit  dem 
Angebot  oder  dem  AufhQren  der  Arbeitsgelegenheit  zusammenhängt; 
zugleich  deutet  sie  an,  dal)  die  Landstraßen  im  Winter  viel  mehr  von 
wanderndem  Volk  belaufen  werden,  als  im  SommiT.    Es  ist  ein 

schwerer  Irrtum,  anzunehmen,  dali  die  wandernde  Bevölkerung  im 
Winter  ohne  Ausnahme  zur  Großstadt  walzt,  um  dort  sirli  s  in  Asylen 
und  W  ärmehallen  wohl  sein  zu  lassen.  Die  Statistiken  der  Verpfleg- 
stationen und  der  Herbergen  malen  ein  ganz  ander  Bihl.  Die  Her- 
bergen webseu  m  den  Wintermonaten  stets  cme  höhere  Zalil  von 

20* 


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800 


XVL  OSTWAIO 


.Schlafnächten  auf.  Das  kann  nicht  nur  daran  lieg:en,  dali  die  Iler- 
berp-n  der  Grolistädte  überfüllt  sind,  während  die"  Herberten  der 
Kleinstädte  leer  stehen.  In  Wirklichkeit  sind  die  Provinzherbergen 
im  Winter  ebenfalls  stark  in  Anspruch  genommen.  Und  wenn  auch 
im  Juni,  in  wannen  Sommertagen,  maocb  ein  Walzbruder  „plattmacht^, 
im  Freien  nfiebtigt,  wenn  auch  dieser  und  jener  das  Sohlafgeld  in 
der  Heiberge  spart  —  es  bleibt  doeh  die  Tatsaebe  bestehen,  daß  im 
Winter  außer  großstidtischen  Asylen  nnd  WSnnehallen  aneh  die  klein* 
stftdtiBchen  nnd  ttndlicben  Verpflegongsstationen  nnd  sonstigen  be- 
böidliehen  UnteiknnfiaBtellen  draußen  in  der  ProTinx  beeondera  staik 
in  Anspraeh  g«nomm«at  werden. 

Im  Winter  müssen  eben  viele  Betriebe  feiern,  die  an  das  Wetter 
gebunden  sind.  Aber  nicht  nur  deren  Arbeiter  Yerlieren  im  Winter 
ihre  Aufträge.  Für  eine  Anzabl  yon  Industrien  und  Arbeitszweigen 
bringt  der  Weihnachtsmann  nur  einen  leeren  Arbeitstisch  —  und  den 
Kündigungszettel.  So  vor  allom  in  der  Modewaren-,  in  der  Luxus- 
indue^trie  und  vielen  von  den  Geschäften,  die  fttr  den  Gescbenktiach 
oder  für  die  Bekleidung  arbeiten. 

Außer  diesen  periodisch  arbeitslos  werdenden  Massen  über- 
sehwenuiien  jetzt  jene  Arbeitskräfte  die  I^andstraHen,  die  von  dem 
allgemeinen  schlechten  Geschäftsgang  brotlos  gemacht  wurden.  Wäh- 
rend sich  bei  den  an  den  Zentralverein  für  Arbeitsnachweis  ange- 
schlossenen Arbeitsnachweisen  im  Jahre  19üü  auf  100  angebotene 
Stellen  117  Stellensncbende  meldeten,  ergab  das  Jahr  1901  auf  100 
angebotene  Stellen  163  Gesaohe.  Und  der  Juli  1902,  dieser  sonst  zu 
den  Renaten  gebörende,  in  denen  am  wenigsten  SteUengesnofae  ▼er* 
liegen,  braehto  ebenfalls  auf  100  offene  Steilen  163,7  Arbeiisnehende. 
Das  bedeutet,  daß  das  letzte  Jahr  nur  eine  gewisse  Steigerung  der 
Arbeitslosigkeit  gebradbt  hat 

Daß  diese  zahlreiehen  Omppen,  die  ja  in  solchen  Zeiten  nicht 
nur  von  einer  Stelle,  sondern  von  allen  Industrie»  und  Arbeitsstätten 
gleichmäßig  abgestoßen  weden,  tatsächlich  zu  einem  guten  Teil  tou 
der  Unruhe  gepackt  werden  und  ins  Wandern  geraten,  ihre  letzte 
Zufluclit  auf  der  Landstraße  Buchen,  ist  selbstverständlich.  Was  für 
eine  Lebensweise,  welche  Gewohnheiten  sie  annehmen,  will  ich  kurz 
skizzieren : 

Gewöhnlich  marschieren  die  Wanderer  täglich  drei  bis  4  Stunden. 
Das  ist  auch  wohl  genug,  wenn  es  tagaus,  tagein  wochenlang 
hintereinander  geschieht.  Von  Menschen,  die  längere  Zeit  unter- 
wegs sind,  ist  nicht  mehr  zu  verlangen.  Einzelne  Wanderhurseben 
marschieren  wohl  auch  hier  und  da  sechs  bis  acht  Stunden.  Das 


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Das  Leben  der  Wanderumen. 


801 


sind  aber  Gewaltsleistungen,  Ausnahmeleistun^n  aus  irgendwelchen 
Gründen  —  weil  im  Bestininmnji^sort  Arbeit  oder  Geldmittel  oder  ähn- 
liche wichtige  Dinp:e  erwartet  werden;  ältere  Wandersieute  hüten  sich 
vor  solchen  Gewaltsmärschen,  die  zuviel  Kraft  verbrauchen  und  auch 
leicht  zu  Entzündungen  führen.  Jüngere  machen  Bchon  eher  sulche 
Bravourstücke. 

So  muß  denn  der  Wandernde  mit  seiner  hauptsächliehstrn  Kraft 
äußerst  sparsam  sein.  Er  hat  ja  nicht  nur  von  Ort  zu  Ort  zu  laufen. 
Er  niuü  in  dem  nach  dem  Wandern  erreichten  Ort  sich  auch  uuch 
seinen  LebenBunterfaall  beeebnffen,  nch  ein  Einkommen  besorgen. 

Wenn  man  rem  Einkommen  der  annen  „Beisenden''  sprieht^  so 
kann  man  selbstverständlidi  nnr  das  meinen,  was  sie  sieh  znsammen- 
sehanen  nnd  was  sie  hier  nnd  dort  an  staadieher  und  Gemeinde- 
nnteistQtznng  bekommoi,  sowie  was  sie  Ton  der  Gewerksohaft  oder 
▼on  der  Innung  beriehen.  Die  slaallichen  Untetsttttoungen  bestehen 
meist  in  sogenannten  Verpflegungen;  d.  h.  der  Anfragmide  erhält 
nach  grUndliehw  Legitimierung  gewohnlieh  eine  Abendsuppe  mit  Brot, 
ein  Nachtlager  und  Moigenkaffee.  Auch  die  einzelnen  Gemeinden 
gewähren  meist  Verpflegung,  wofür  aber  fast  immer  eine  drei-  bis 
fünfstündige  Arbeit  verlangt  wird.  Manchmal  besteht  diese  im  Gras- 
zupfen auf  dem  Marktplatz,  ein  andermal  im  Chausaeesteine  karren 
oder  im  winterlichen  Schneeschippen  u.  dg),  mehr. 

Es  fällt  nun  natürlich  keinem  Walzbruder  ein,  sich  dabei  müde 
zu  arbeiten,  denn  dann  liat  er  ja  keine  Kraft  nielir  zum  Weiterwandern. 
Daraus  ergibt  sich,  dab  häufig  die  Kosten  der  Beaufsu-liti,i;ung,  über- 
haupt der  ganzen  Arbeitseinrichtung,  durchaus  nicht  dem  Ergebnis 
der  geschehenen  Ix'istungen  entsprechen. 

Was  nun  die  Art  dieser  Verpflegungen  betrifft,  so  kann  man  im 
ganzen  wohl  damit  zufrieden  sein,  denn  die  Suppe  und  das  .Brot  sind 
meist  genießbar  und  aneh  ausreiehendi  natflilieh  den  Verhältnissen 
entspreehend.  F&r  den  andern  Teil  des  Tages  muß  man  sich  darum 
immer  nocii  die  Lebensmittel  zusammenfeehten.  SeUeehter  ergeht  es 
den  armen  Beisenden  in  den  StSdten,  in  denen  sie  GelduntenstOtaung 
bekommen.  Diese  reicht  uAmlieh  meist  gerade  nnr  f&r  ein  Naoht- 
lagw,  allenfalls  auch  noch  zu  einem  Morgenkaffee,  wenn  man  das 
seltene  Glück  hat,  ein  äußerst  billipres  Nachtquartier  zu  finden,  so 
etwa  für  20—30  Pfg.  In  Lübeck  bekam  ich  40  Pfg.  als  Stadtge- 
scbenk.  Es  wird  mir  wohl  keiner  beweisen  können,  daß  man  damit 
einen  Tag  über  seinen  vollständigen  Lebensunterhalt  zu  bestreiten 
vermag.  Man  ist  also  auf  das  Fechten  angewiesen,  man  niübte  denn 
einen  Bückhait  an  Verwandten  haben.   Sonst  aber  genUgt  auch  das 


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802  XVL  OsTWALD 

Tnniinirs«:('sc'lit'nk  nicht,  nni  sicli  eini^^e  Ta^e  in  der  Ornnstadt  zu  «t- 
nährcn.  Die  Berliner  (Joldsclimiedeinniinp  ixcwälirt  eine  einmalige 
rnttTstüt/uiii:  von  1,50  Mk.,  die  Duisburj^er  Schläciiterinnunpi;  öl»  Pf^;. 
So  selnvankt  die  nrölte  drs  (Icsehenkes  je  naeli  dem  Reielituni  und 
den  anderen  vorliegenden  \  erhältnissen.  Also  niuB  man  fechten,  um 
etwaige  Arheitssgelegenheit  abwarten  zu  können.  Dann  klappert  man 
zuerst  die  Buden  ab  (d.  h.  die  Werkstätten  und  Geschäfte  eines 
Faches).  Da  gibf s  denn  hier  einen  bis  zweif  anch  wobi  fünf  Pfennig, 
dort  zehn  Pfennig;  der  Ertrag  dieser  Sammlnng  dfiifte  aber  kaum 
einen  täglichen  Dnichschnitt  von  50  Vtg,  flberstagen.  Das  aUes  reicht 
ja  dann  fOr  einige  Tage,  wenn  man  ökonomisch  yennlagt  ist  und 
alle  Mittel  zu  Bäte  zieht 

Aber  ich  weiß  auch  ganz  genan,  was  man  nnterwega  venehren 
nnd  verbrauchen  kann,  wenn  man  jnng  ist  nnd  tQchtig  darauf  los- 
marschiert Als  ich  im  Oktober  1894  meine  erste  Walze  machte^  fraß 
mir  manches  liebe  Mal  der  Hunger  im  Magen,  trotzdem  ich  von  meinen 
Eltern  unterstützt  wurde.  Warmes  Mittagessen  gönnte  ich  mir  viel- 
leicht die  Woche  zweimal,  sonst  aber  lebte  ich  nur  von  Brot  und 
Wurst  oder  Käse.  Ja,  ich  weili  so^^nr  manche  Tsi^e,  wo  ich  weiter 
nichts  hatte  als  ein  Stück  Scliwarzhrot,  und  ich  es  dennoch  nicht 
fertig  brachte,  irgendwo  um  ein  wenifr  Essen  anzusprechen,  l^is  mau 
dazu  kommt,  müssen  schon  alle  anderen  Aussichten  verloren  sein. 

Im  besten  Falle  kann  man  mit  allem  nur  die  notwendigsten  Be- 
dürfnisse befriedigen;  recht  satt  ist  man  selten.  Besser  ergeht  es  den 
Schlächtern  und  Bäckern.  Der  junge  Schlächtergeselle,  mit  dem  ich 
von  Duisburg  ging,  bekam  unterwegs  Ton  den  vielen  Schlachte- 
meistecn,  bei  denen  er  ansprach,  insgesamt  ein  halbes  Pfund  Wurst 
außerdem  hatte  er  an  barem  Gelde  etwa  dreißig  Pfennig  bekommen. 
Das  alles  in  noch  nicht  drei  Stunden. 

Wie  armselig  kam  ich  mir  als  Goldschmied  dagegen  vort  Kaum, 
daß  ich  in  mittleren  Städten,  wo  ich  TieUeieht  gOnstigstenfallfl  drei  bis 
ffinf  Goldschmiede  fand,  zwanzig  bis  dreißig  Pfennig  herausschlagen 
konnte.  An  manchen  Tagen  hatte  ich  gar  nichts;  und  namentlich 
erging  es  mir  so  auf  meiner  Tour  am  Rhein,  wo  ich  zwar  in  Köln 
an  einem  Vormittage  2,35  Mk.  zusammenbrachte,  aber  auch  nur  in* 
folge  von  Empfehlungen  an  ansehnliche  Firmen.  Sonst  ist  man  am 
Rhein  nicht  so  freigebig  gegen  arme  Reisende, 

Neben  diesen  sich  auf  so  simple  Weise  ernährenden  Wander- 
burschen findet  man  novh  eine  Reihe  von  professionellen  Hettlern. 
Da  sind  erstens  die  Kriijijtel,  die  aus  ihrem  Oebrechen  mehr  (Kier 
weniger  ein  Uescliäft  machen  oder  machen  müssen,  wie  jenes  junge 


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Das  Lebeo  der  Waadenmea. 


SOS 


Mädchen,  das  icli  in  Fritdlieini  hei  Schneideinülil  traf.  Es  hatte  in  einer 
lläcksehiiatichine  einen  Füll  verloren;  zu  unwissend,  sich  die  gesetzliche 
UuterstützuDg  zu  verschaffen,  irrte  sie  auf  den  Dörfern  herum.  Niemand 
trat  da  oben  im  Ssttiehen  DeutBobland,  jenseits  der  Oder,  für  sie  «in. 

Dann  wieder  gibt  es  Briefbettler.  Das  smd  meist  benmterge- 
kommene  Kauflente,  Stodenteo,  Sehanspieler  —  überbaupt  jene  Klassen 
und  Bemfe,  die  irgendwie  mit  der  „Intelligenz'^  in  Berübrung  ge- 
kommen sind.  Sie  verfOgen  meist  Ober  ein^  Beihe  wertvoller  Adressen, 
die  sie  sieb  mit  der  Zeit  in  Teracbiedenen  Stidten  anfgezeiebnet  baben 
und  die  sie  einander  verkaufen.  In  ibre  Klasse  gehören  aueb  jene 
Bettler,  die  durch  Zeitungsnotizen  und  Inserate  sich  ein  mehr  oder 
wenigur  auskömmliches  Lotten  verschaffen.  Und  dann  dazu  die 
Schnorrer,  die  jüdischen  Bettler,  die  aus  dem  armen  Osten,  «ns  Posen, 
Schlesien,  Polen  und  Rußland  kommen  und  ihre  Glaubensgenossen  im 
westlichen  und  mittleren  Deutschland  brandschatzen.  Sie  i^eheii 
vor,  von  unglücklichen  (Jenieinden  oder  Familien  abf^escliickt  zu  sein, 
sind  es  auch  häufig,  denn  wenn  auch  nicht  immer  ein  L'nglück  über 
sie  hereino:ebrochen,  so  tobt  in  Kußland  doch  soviel  Willkür,  daß  man 
manches  ^^lauhen  muß,  was  die  Schnorrer  vorhriniren. 

Zu  ihnen  kommen  die  Frauen,  denen  der  Mann  gestorhen  oder 
krank  sein  soll  —  manchmal  auch  ist.  Auch  Frauen,  die  mit  kranken 
Kindern  herumziehen,  leben  vom  Wanderhettel.  Unter  ihnen  sind  jene 
Elemente  zu  finden,  die  mit  gemieteten  Kindern  reisen  oder  die 
Kinder  gar  zu  Krüppeln  maehen.  Das  sind  jedoeh  SpezialittteUi  mit 
denen  das  Dentsobe  Beieb  nur  noeh  in  sdnen  nnkultiviertestm  Landes- 
teilen und  in  einzelnen  gar  zu  wiiren  IndustriebesiriEen  zu  reobnen 
bat  Solcbe  Ausbrfiebe  von  Verkommeabeit  und  Bobeit  sind  sebr 
selten  —  und  sie  sind  aueb  nur  da  mögUcb,  wo  ganz  besondere 
sebauderbafte^  wirtsebafUiebe  Zustände  henscbeo,  wo  es  eines  ganz 
besonderen  Aufwandes  von  Unglftok  bedarf,  um  sieb  das  zum  Leben 
Nötige  zu  erringen.  Hierhin  wären  auob  jene  Kreise  zu  rechnen,  die 
sich  durch  sogenannte  ßettlerzinken  verständigen.  Das  sind  flüchtig 
an  Zäune,  Hausecken,  Türen  oder  ßäume  angezeichnete  „Zinken**. 
Oft  ist  es  eine  geöffnete  Hand,  die  andeutet,  daß  an  dem  Orte  Freigebig- 
keit herrscht;  meistens  aber  bedeutet  ein  Kreis,  daß  der  Anklopfende 
bare  Münze  erhält.  Ein  Kreuz  bedeutet,  dal^  der  Wohnunfr.sinhaher 
nichts  jj^ibt  und  ein  Säbel  oder  ein  Bajonett  8aji;t  dem  Laiul^tn  icher : 
hier  ist  die  Polizei  nicht  ji^ut  auf  arme  Reisende  zu  s[(reelieii.  Diese 
,,Zinken"sprache  hat  noch  eine  Reihe  anderer  Zeichen  ').    Doch  sind 

1)  Vfjl.  H.  (iroli,  llaiKU.ucli  fiir  rntersuchaogsricbtor,  3.  AufL,  Ö.2G4ii.2ö&, 
wo  diese  Zeichen  riclitig  abgebildet  sind. 


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804 


XVL  OnwAJ» 


dieB  nngefülir  die  wichtigsten  und  •i:ebräuchlich8ten.   Sie  sind  aach 
nur  einer  Minderzahl  des  fahrenden  Volkes  bekannt,  vor  allen  den  g:e- 
wohnheitsmäßigen  Tipplern.   Die  Mehrzahl  der  Wanderer  versteht 
nicht,  sie  zu  gebrauchen  und  beschränkt  sich  auf  die  Mitteilung 
guten  Bettclorte  von  Mund  zu  Mund. 

Jene,  die  sich  Ins  zur  Organisation  und  Orientierunf,--  durch  Bettler- 
zinken  entwickelt  haben,  gehören  meist  zum  Stamm  des  Bettlcrtunis. 
Sie  liaben  in  der  Xähe  der  Großstädte  oder  der  Industriebezirke  ihre 
festen  Sitze,  in  denen  .sie,  wie  die  Wäscheroller  von  Köpenick,  einer 
bestimmten,  sich  auf  einige  Tage  in  der  Woche  erstreckende  Tätigkeit 
nachgehen,  die  übrigen  Tage  der  Woche  jedoch  die  Umgebung  der 
Grofisladt  oder  die  Indnstrieorte  abfeohten,  in  deren  wirrem,  «nl  Tag 
and  Naoht  zugeeefanittenem  Leben  sie  nor  eehwer  als  BetÜer  sn  er- 
kennen sind. 

In  manohen  reieheren  lAndetriohen  befinden  rieh  fthnliche  Zentral- 
punkte mit  Shnlichem  Stammpnbliknm.  In  ihnen  sind  Topfflicker, 
Korbmaeher,  Schereneehleüer  die  feete  Maaae,  die  aioh  hier  nnd  da 
auch  mit  dem  Bettel  besehäftigt  Im  llbrigen  aber  setzt  sich  das 
I^fatcrial  der  Pranen  aus  äußerlich  kräftigen,  breitschulterigen  Umd- 
arbeitern  zusammen,  die  jedooh  innerlich  schwach  sind  und  den  Ver- 
suchungen des  Wanderlebens  nieht  widerstehen  können.  Sind  sie  in 
festen  Händen,  so  halten  sie  sich  wohl  zur  Not.  In  gefährlicherer 
Stellung  können  sie  den  Verlockungen  der  ersten  I^hnzahlung  nichts 
entgegenstellen.  Zu  ihnen  stoßen  Männer,  die  nicht  so  breitschultrig 
sind:  Beamte,  Sciireilier,  Kauflente,  Menschen,  die  meist  liestraft  sind 
und  darum  in  ihrem  Berufe  nieht  weiterkommen  und  auch  wohl  die 
Anforderungen  des  Berufes  nicht  erfüllen  können.  Dazu  kommen 
Handwerker,  mehr  oder  weniger  verbrauchte  oder  niclit  verwendbare 
Menschen.  Es  sind  oft  sehr  tüchtige  Arbeiter,  die  jedoch  zu  selb- 
ständig geworden  sind  und  die  kein  Handwerksmeister,  der  ja  doch 
gern  ein  „Uorr^'  sein  will,  mehr  beschäftigt.  Andere  haben  nidit  ans- 
gelemt,  zu  wenig  gelernt,  viele  sind  aneh  zu  sehwflehlieb,  körpeiüdi 
oder  geistig.  Hit  der  Bettelei  ernähren  sie  sieh  gerade  notdürftig. 

Jedenfalls  ist  die  Art  ihrer  Emährang,  die  mehr  oder  weniger 
den  grSßten  WiUkttrtiehkeiten  nnd  Sohwaaknngen  miterworfen  isl^ 
nicht  geeignet,  die  Mehrzahl  der  Wanderer  gesnndheitlioh  besonders 
widerstandfiUiig  zn  machen.  Auch  das  Unterkunftswesen  —  die  Meh^ 
zahl  der  Wanderer  muß  auch  heute  noch  in  schlechten  Herbergen, 
Stilieni  auf  Pritschen  oder  im  Stroh  übernachten,  wohl  gar  in  den 
duDStigen,  übelriechoiden  AuCenthaltsräumen  der  Herbergen  oderVer- 
pflegnngsstationen  einen  kümmerlichen  Schlaf  suchen  —  ist  nicht  ge- 


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Da>  Leben  der  WandenimeD. 


805 


eignet,  das  Wandervolk  als  den  Trä^rcr  von  Oosundlieit  und  Kraft 
erscheinen  zu  lassen.  In  was  für  widri;;e  Zustände  liahc  ich  auf 
meinen  Wanderungen  selicn  müssen!  Es  kann  niclit  Zweck  dieser 
Schrift  sein,  das  darzustellen.  Konnte  ich  es  doch  kainn  durcliLTcifend 
in  meinen)  Roman  „Vagabunden^'  'j  tun,  der  sich  nur  mit  bchilderung 
des  I^ndstreicher-  und  Wanderlebens  befaJU. 

Tatsächlich  ist  ein  Aufenthalt  in  vielen  der  Herbergen  nur  mög- 
lich, wenn  der  QemiO  einer  gewiagen  Qnanülit  SohnapB  die  Sinne 
ein  wenig  abgeetampft  bat.  Nnn  will  icb  nnd  kann  leb  nidit  sagen, 
daß  die  Wanderer  ansnabmalos  Trinker  sind.  Unter  20  bis  30,  mit 
denen  ich  dnrebBohnittlich  anaammen  schlief  war  meist  nnr  ein  wnrk< 
lieh  Betrunkener.  Orgien,  wie  sie  so  oft  ans  Pennen  geschildert 
werden,  wie  sie  dort  jeden  Abend  sich  ereignen  sollen,  smd  in  Wirk- 
lichkeit sehr  sdten.  Meist  fehlt  den  armen  Reisenden  doch  das  Geld 
dazn  —  wenn  auch  unter  ihnen  sieh  hier  und  da  einzelne  finden, 
die  wirklich  jeden  Tag  schier  unerhörte  Einnahmen  haben,  wie  so 
mancher  Kaufmann  und  so  mancher  Wanderer  jüdischen  Glanbens. 
Unter  diesen  jüdischen  Bettlern  ist  übrigens  ziendich  häufig  die  etwas 
komisehe  Figur  des  Vaters  zu  treffen,  der  für  seine  Tochter  eine  Aus^ 
Steuer  zusammenschnont. 

Diese  Aristokraten  des  I^ndstreichertums  leiden  natürlich  weniger 
unter  der  Unbill  des  Wanderns.  Für  die  anderen  ist  jedoch  häufig  die 
Wanderzeit  wie  eine  sie  langsam  aber  sicher  zermahleude  Mühle. 
Man  betrachte  nur  ihre  Gesundbeitsverhältnisse,  ihre  Gesundheitspflege'. 
Ich  fand  überall  Einrichtungen  in  den  Herbergen,  die  nur  primitiven 
Ansprachen  in  betreff  der  Beinlichkeit  genügen;  aber  höhere,  und 
wirklich  berechtigte  Anforderungen  darf  man  nicht  stellen.  Wasch- 
geiegenheiten  sind  ttberall  Torhanden  und  wurden  auch  stets  benutzt 
Ich  wenigstens  bemerkte  unter  fast  allen  Beisekameraden  emen  einiger- 
maßen ausgeprügten  Hang  zu  mindestens  oberflSohlicher  Beinlichkeit 
Doch  gehört  gewiß  für  viele  ein  gut  Teil  Überwindungskiaft  dasu, 
in  Betten  zu  schlafen,  in  denen  wahmdiefailich  schon  oft  genug  vorher 
Leute  mit  Krankheiten  und  Gebresten  behaftet,  übernachtet  haben. 
Frisch  bezogen  können  die  Betten  niobt  jede  Nacht  werden.  Das 
l&ßt  der  Etat  der  Herbergen  nicht  zu. 

Was  nützt  da  die  dürftige,  allmorgentliche  Gesichts-  und  Hände- 
reinigungV  Dazu  nun  trägt  jeder  Kunde  einen  Taschenkamm  und 
ein  .Stück  Seife  als  gänzlich  unentbehrlich  l»ei  sich.  Bei  vielen  ist 
dies  mit  dem,  was  sie  an  Kleidung  auf  dem  Körper  tragen,  auüer 

1)  Bcrlm  lUOU.  Veriag  Bruao  Casairer. 


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306 


XVL  OSTWAU) 


eintMii  r^tt'ts  vorhandenen  Taschennies.ser  und  verscliietleiuii  I^'jjriti- 
iiijitioiisj);i|)ien-n  das  einzige  Eijxeiituiu.  Denn  ein  Ranzel,  oder  das 
Irülierc  Fellei.sen,  das  man  häufig  auf  zwei  Hiidern  mit  einem  JStock 
vor  sich  herschob,  ist  gar  nicht  mehr  üblich.  Das  wird  als  über- 
flüssig und  liiudemd  betrachtet.  Daraus  ergibt  sich  aber,  dali  auch 
niemand  mehr  Wäsche  bei  sich  führt,  als  er  auf  dem  Leibe  hat  Das 
mag  im  Sommer  gehen,  wo  jeder  Gelegenheit  findet,  ein  Freibad  zu 
nehmen  und  seine  UnterwSsohe  einer  grflndlichen  Beinigung  zn  nnter- 
ziehen,  indem  er  sie  im  ersten  besten  QewSsser  wisoht  und  wartet, 
bis  die  Sonnenstrahlen  sie  getrocknet  haben.  Im  Winter  jedoch  sind 
die  Verhältnisse  nach  dieser  Seite  sehr  tnuuige;  allenfalls  kann  so 
ein  armer  Teufel  durch  ein  Geschenk  in  die  Lage  Tersetzt  werden, 
seine  schmutzige  Wäsche  gegen  reine  einzutauschen,  sonst  . 

Wo  aber  derartige  Zuständi»  lierrschen,  ist  es  selbstverständlich, 
daß  sich  Ungeziefer  und  Hautkrankheiten  entwickeln.  In  den  Her- 
bergen, besonders  in  den  Herbergen  zur  Heimat,  wird  zwar  streng 
darauf  geachtet,  daii  niemand  Ungeziefer  an  sich  hat.  Ein  verlauster 
Kerl  wird  einfach  hinausgewiesen;  in  den  Herbergen  zur  Heimat  muß 
er  im  Keller  auf  llolzpritscben  nächtigen,  wenn  sie  vorhanden  sind. 
Oft  aber  fehlen  sie.  Das  veranlalU  viele  zu  grülkrer  Vorsicht,  andererseits 
aber  die  Kunden,  bei  denen  schon  Ungeziefer  vorhanden,  dazu,  andere 
Orte  wie  Herbergen  zum  Xachtcjuartier  aufzusuchen.  Hier  sind  sie 
aber  noch  gefährlicherem  ausgesetzt  und  gehen  noch  schneller  zugninde. 

Bedenkt  man  dazu,  daß  die  wenigsten  dieser  Verkommenen  im- 
stande sind,  sich  gehörig  zu  nähren,  so  begreift  man,  daß  ein  unge- 
heuerer Prozentsatz  von  ihnen  bald  yollkommen  aufgerieben  ist.  Wie 
oft  habe  ich  es  mit  angesehen  (und  auch  mitgemacht),  daß  sich  mdne 
Genossen  in  der  Herberge  eine  Tasse  Kaffee  fOr  fünf  Pfennig  und  für 
ebensoTiel  Brot  kauften.  Das  war  die  Mittagsmahlzeit,  die  bis  zum 
Abendbrot  vorhalten  mußte,  wo  ihr  dann  eme  zweite,  gleichartige 
folgte.  So  speisten  sogar  alte  LBadstraßen-VetenuDen ;  z.  B.  in  Doisbiifg 
ein  40jShriger,  starkgebauter  Mann,  der  seit  yier  Jahren  außer  Stellung 
war  und  wegen  eines  kurzen  Armes  auch  gar  keine  Aussichten  bei 
den  augenblicklichen  Verhältnissen  hat,  irgendwo  unterzukommen.  £r 
kannte  gewiß  alle  Wege  und  Schliche,  „kloppte'^  schon  seit  zwei 
Jahren  die  Umgegend  ab  und  war,  wie  er  erzählte,  trotzdem  genötigt, 
sehr  oft  derartige  Mahlzeiten  zu  halten.  Außer  ihm  taten  von  /elm 
Anwesenden  drei  das  gleiche.  Es  waren  alles  ältere,  gesetzte  Männer, 
die  dann  verzweifelt  sich  ihre  Verhältnisse  klagten.  Mensehen,  die  ire- 
wöhnt  sind,  regelmäßig  zu  leben,  müssen  bei  dem  .Mangel  an  warmen, 
ausgiebig  nahrhafteu  Speisen  zuerst  an  Lebenswillen  verlieren,  vor 


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Das  LebeD  der  Wandenumen. 


807 


allem  an  Betätif^un^^drang.  Die  Emährunjr  von  blol»eni  Ikot,  das  sie 
nieist  nur  haben,  läßt  sie  ersclilaffen  und  gleicbf^ültip:  werden;  oder 
aber  sie  verfallen  dem  Solinai»s«rennli.  Sind  sie  nur  jirleielii^ülti^,  so 
werden  sie  fast  ausnabmlos  von  einer  zerstörenden,  unbeilbartu  Krank- 
heit ergriffen;  Schwindsucht  ist  die  am  stärksten  auftretende.  Werden 
diese  Kranken  auf  den  Stiafien  oder  in  den  Heibergen  anfgefnnden, 
80  bringt  man  sie  in  ein  Spital,  wo  sie  eelteii  wieder  hergestellt 
werden.  Ihre  körperlichen  Kiilfle  sind  schon  sn  sehr  erschöpft ,  nm 
sotehe  Angriffe  aushalten  zu  können. 

In  den  SpitSlem  werden  die  Knuden  ebenfalls  so  behandelt,  wie 
die  anderen  Kianken.  Ich  lernte  einen  kennen,  der  einmal  14  Tage 
in  einem  Klosterspital  zogebracht  Er  hatte  sich  die  Füße  wund  ge- 
laufen nnd  da  wnrde  er  von  einem  Klosterbnider  zurückgehalten,  als 
er  nach  genossenem  Mittagsmalil,  das  stets  dreißig  Handwerksbursclien 
vom  Kloster  verabreicht  wird,  davonhumpeln  wollte.  Man  hatte  ihn 
gut  behandelt;  er  sehnte  sich  aber  dennoch  hinaus,  da  er  ja  hoffte, 
draußen  bald  wieder  Arbeit  zu  bekommen. 

In  einer  Ijeriint  r  Herberge  schlief  ich  neben  einem  Bäckerge- 
sellen, der  fortwährend  hustete.   Icli  fragte  ihn,  ob  er  denn  krank  sei. 

„Das  Schlimmste  habe  ich  schon  hinter  mir,"  meint(>  er.  ,,Ich 
war  bnistkrank,  da  bin  ich  vor  Weihnachten  ins  Cliarlnttenhur^^er 
Krankenbaus.    Fünf  Wochen  w  ar  ich  drin,  gerade  in  den  i  cicrtagen." 

„Hat  man  dich  denn  aufgenommen  so  ohne  Mittel?*' 

„Das  muß  man  doch  —  in  Beilin  ist's  ja  schwer;  aber  man  hafs 
aneh  außerhalb  sehr  gut  loh  hatte  immer  sehr  fernes  Essen  nnd 
täglich  ein  paar  Glas  Wein.  Da  bin  ich  ganz  gut  Ober  die  gefähr- 
lichste Zeit  hinweggekommen.** 

Nur  einer  von  allen,  mit  denen  ich  zusammenkam,  wollte 
ins  Spital.  Das  war  ein  19jähriger  Offenbacher  Schriftsetzer,  mit 
dem  ich  in  Lübeck  m  dem  Gasthaus  Quartier  machte,  in  dem  viele 
Gewerkschaftsmitglieder  einzukehren  pflegen.  Der  Offenbacher  war 
auf  der  Landstraße  im  Dunkeln  gefallen  und  hatte  sich  das  rechte 
Knie  wund  geschlagen. 

Nun,  der  war  noch  jung;  bei  älteren  Leuten  dagegen  war  kein 
Hang  vorhanden,  sich  im  Spital  aufzufriseben.  Ihnen  ging  die  Frei- 
heit über  alles,  boten  sich  ihnen  auch  weiter  keine  sinnlichen  (Genüsse 
wie  eine  Prise  Tabak,  oder  ab  und  zu  ein  Schnapt^.  Andere  Lebens- 
freuden kennt  der  Wandernde  nicht.  Der  Umgang  mit  Frauen  ist 
ihm  nicht  beschieden.  Auch  ist  dem  echten  eingefleij^chten  Land- 
streicher das  Weil)  gleichgültig,  er  ist  „darüberhinaus'*;  während  die 
jüngeren,  noch  uiit  dem  Leben  reclinendeu  Elemente  vor  allem  auf 


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808 


XVL  0STWA1J> 


B^gelnng  ihm  ErwobBTeriiiltiiiaBe  hoffen.  Das  liegt  Urnen  nfther, 
ab  der  Umgang  mit  Frauen.  Bei  Bolehen  aber,  die  in  der  Nfthe 
ibies  dreißigsten  Jahres  sind,  henneht  die  Keigong,  sieh  einer  weib- 
lidien  Gefilhrtin  anznsehfiefien,  die  in  der  Knndeospraehe  den  sdidnen 
Kamen  ^Tippelschickse''  führt  An  der  mecklenborgischen  Qrenze 
bei  Perieberg  traf  ich  ein  Paar.  Sie  hatten  ihr  ganses  Besitztum  in 
einer  Eiste  l>ei  sich,  die  sie  abwecheeind  trugen.  Das  etwa  26jährige 
Fkanenzimmer  erzählte  mir,  dali  sie  aus  Westpreußen  nach  Berlin  ge- 
kommen sei  und  als  Kasnererin  sich  ernährt  habe.  Dann  sei  sie  krajüc 
fj^eworden;  als  sie  aus  dem  Krankenhaus  kam,  hätte  sie  so  unansehn- 
lich au8p;eschen ,  daß  niemand  sie  in  sein  Geschäft  nelinien  wollte. 
Schlielilich  mußte  sie  ins  Asyl  gehen  und  dort  habe  sie  ihren  „Männe" 
keimt'n  ^'clernt.  Nun  hätten  sie  sich  beide  auf  die  Strümpfe  gemacht: 
^Vielleicht  haben  wir  unterwegs  mehr  Glück!" 

Diese  hatte  unstreitig  noch  bessere  Seiten  an  sich.  Sie  hielt  sich 
und  ihren  Hegleiter  sauber,  ihre  Kleidung  war  vielfach  geflickt,  aber 
nicht  zerrissen.  Auch  war  sie  augenscheinlich  nur  durch  Unglück  zu 
diesem  Waadeileben  gekommen,  während  alle  anderen  Tippelschioksen 
die  ieh  sonst  kennen  lernte^  die  ausgeprägteste  Faulheit  nnd  UnflUiig- 
kdt,  oder  die  Forefat  Tor  der  Sittenpolizei  anf  die  Landstraße  ge- 
trieben hatte,  im  Gegensats  za  den  minnlidien  Kunden,  bei  denen 
mdst  ganz  andere  GrOnde  Yorlagen.  Die  Tippelschicksen  bilden  die 
unterste  Stnfe  der  Proetitnierten.  Sie  sind  inneiiioh  Tielmehr  hemnter- 
gekommen  als  der  älteste  Gewohnheitsknnde,  Es  ist  alles  bei  ihnen 
außer  Band  und  Band.  Damm  gibt  sich  anch  keiner  gerne  mit 
ihnen  ab. 

In  dem  mäßig  großen  Zimmer  der  Duisburger  Herberge  saßen 
an  einem  Nachmittage  außer  mir  noch  fünf  Kunden  um  den  eisernen 
Ofen,  unter  ihnen  auch  der  schon  erwähnte  Einarmige,  der  außer 
diesem  Geburtsfehler  schön  und  kräftig  gewachsen  war.  Sie  hatten 
sich  ihre  Leiden  geklagt  und  kamen  nun  auf  die  Tippelschickscn  zu 
spreclien.  Der  Einarmige  erzählte,  daß  er  am  vorhergehenden  Tilge 
sechs  dieser  Weiber  in  der  Krefelder  Herberge  getroffen;  sie  waren 
noch  ziemlich  .junge,  frische  Dinger.  Eine,  ein  tolles,  blondes  Mädel, 
habe  ihm  den  Vorschlag  gemacht,  mit  ihm  zusammen  zu  gehen.  Er 
sei  aber  nicht  darauf  eingegangen:  „Na,  ja,  wenn  man  mit  so'n  Weü) 
geht,  hat  man  gleich  für  zwei  zu  sorgen.  Die  sind  zu  faul  nnd 
machen  einem  nur  Schererden.  Wenn  der  Gendarm  die  siehl^  hat  er 
Witterung  nnd  man  ist  geliefertf*  (er  meinte  damit,  daß  er  dann  bettebi 
gehen  mflsse;  wihrend  er  in  den  Häusern  sei,  stehe  das  MSddien 
draußen  hemm,  der  Gendarm  sehe  sie^  und  wüßte  sofort,  daß  anch 


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# 


Das  Leben  der  Wandenurmen. 


80» 


der  Kunde  nicht  weit  sei;  er  warte  bis  der  kommt  nnd  verhafte 
beide).  —  „Was  ansereins  schon  nach'n  Frauenzimmer  fragt.  —  War 
ja'n  ganz  hübscfies  Mädel  —  aber  —  ah!"  er  beweg'te  heftif;:  seinen 
Arnisturnpf  auf  und  nieder  und  nahm  mit  der  linken  Hand  eine  Phs^ 
die  ihm  ein  ehemaHj^er  Bäckermeister  hinhielt 

Diese  weiblichen  Kunden  schlierten  sich  mit  Vorliebe  I^iermännern 
oder  anderen  derartiji^n  Tauten  an.  Diese  nehmen  sie  auch  mitunter 
gerne  mit,  da  sie  als  Paar  sich  oft  besser  stehen,  wie  wenn  sie  allein 
leiernd  wandern.  Hinter  Schwerin  ging  ich  ein  Stück  mit  einem 
solchen  Paar.  Der  alte  Leiermann  gab  seine  Begleiterin  für  sein 
„Pflegekind''  am  Sie  sind  in  den  Gasthöfen  nnd  Heri>eig6n  irgend- 
welchen männüeben  DienstpeiBonen  gefällig  und  erleichtem  so  ihren 
Eamenden  das  Fortkommen.  Manehmal  entspinnt  sich  nnter  ihnen  ein 
danendes  Verhihnis,  hSufig  jedoch  halten  es  die  Weiber  nieht  lange 
bei  einem  ans  nnd  wechsdn  ihren  „Mann**. 

Wiederum  ziehen  sie  anch  zn  swei  nnd  drei  singend  nnd  musi- 
zierend umher.  In  Mittel-,  Sttd-  und  West-Deutschland  findet  man 
noch  öfter  solche  Trupps,  die  jede  Mease,  jeden  Markt  bereisen. 
Außer  daß  sie  gegen  Personen,  von  denen  sie  abhängig,  gefällig  sind, 
sind  sie  von  jedem  für  eine  Kleinigkeit  käuflich.  Da  sie  aber  fast 
stets  ansteckende  Krankheiten  an  sich  haben,  so  ist  man  gegen  sie  vor- 
sichtig. Ein  frülierer  Arbeitskollege  von  mir  erzählte:  Er  war  etwas 
angeheitert  von  einer  Beerdigung  von  Britz  gekommen.  In  der  Nahe 
des  Tempelhofer  Feldes  traf  er  eine  Tinpelscliickse,  die  sich  ihm  an- 
bot. Er  nahm  wahr,  dal»  sie  vollständig  durchkrankt  sei.  Wütend 
darüber  schlug  er  sie,  wa.s  sie  sieh  ruhig  gefallen  liel»,  Sie  wimmerte 
nur  um  ein  Almosen,  das  er  ihr  sciiließiicli  gab.  Er  fragte  sie,  warum 
sie  nicht  ins  Krankenhaus  gehe.  „Ich  will  nicht  ins  Krankenhaus  — 
schenk'  mir  doch  bloß  etwas  —  ich  kann  ja  nicht  ins  Krankenhaus  — 
ich  fürchte  mich  ja  so  — 

Die  Furcht  vor  dem  Krankenhaus,  vor  derSittenpolizei  treibt  ebenso- 
Yid  Mädchen  auf  die  Landstraße,  wie  die  Faulheit  und  Unföhigkeit 
Auch  die  nicht  zu  bezwingende  Leidenschaft  zum  Wandern  bringt 
manches  Hädchoi  auf  die  Landstraße.  Selten  jedoch  trifft  man  solche, 
die  ans  dem  Großstadtleben  auf  die  Wanderschaft  gekommen  sind. 
Die  meisten  Tippelschicksen  sind  ehemalige  Dienstmftdchen,  die  dem 
Bauern  wegen  zu  schlechter  Behandlung  oder  wegen  zu  dürftiger  Kost 
w^gelaufen  sind.  Manches  entlaufene  Mäddien  gerät  in  die  Tippelei, 
weil  es  auf  dem  Wege  zur  nächsten  Stadt,  wo  es  vielleicht  ein  anstän- 
diges Unterkommen  gefunden  hätte,  einem  schlechten  Kerl  in  die  Hände 
fiel  In  der  Umgegend  von  Halle  stieß  ich  auf  zwei  Tippelbrüder,  die 


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310  XVL  OtrwALO 

gieli's  mit  t  iiirin  junir<  n  Fraii<'nzimnior  hinter  einem  Buschwerk  bequem 
gemaclit  liattm.  Ilcimlicii  erzülilten  sie  mir,  sie  hätten  da.s  Mädchen  in 
der  Nähr  von  I^randenburi:  ^  troffen.  Sit-  seien  drei  Kunden.  Während 
einer  (\\v  noUvriKhire  Pickch-i  fEsseni  heransehaffte,  hielten  sie  das 
Mädelien  fest.  Später,  in  Frankfurt  a.  O,,  kam  der  eine  dieser  Tippel- 
brüder morgens  in  die  Herberge  zur  Ueiniat.  Er  hatte  plattgemacht 
(im  Freien  geschlafen)  und  erzählte,  während  er  aich  aofwärmtei  mit 
Behagen:  „Ja,  die  KteiBet . . . .  Bb  Berlin  haben  wir  sie  milgeadileift. 
£b  war  'ne  feine  Eiste,  —  wur  m  sn  Vieren.  Aber  dann  in  Botin 
haben  wir  ee  yerioren!**  In  seinem  yerBchmitst  ISobelnden  Qencht  las 
ich,  daß  sie  das  HSdchen  mit  Absicht  in  der  großen  Stadt  yerloren 
halten. 

Dieses  MSdchen  schien  ans  einer  sSehsiBehen  Industriesegend  za 
stammen.   Im  allgemeinen  gehen  Fabrikmädchen  selten  anf  die  Walze. 

Wo  aber  die  Prostitution  nicljts  Rechtes  einbringt,  im  Erzgebirge,  in 
den  Webeldistrikten  des  Eulengebirges  und  ähnlichen  armen  Bezirken, 
kann  man  oft  größere  Gruppen  wandernder  Mädchen  finden.  Iiier 
und  da  misclien  sich  auch  andere  P>xemplare  unter  sie,  wie  jene  ge- 
schiedene Gattin  eines  TJeheimrats,  die  ich  im  Xetzcbruch  traf.  Sie 
schwelgte  zügellos  im  Fusel  und  hatte  das  letzte  Schamgefühl  verloren. 
Liebschaften  und  Schnaps  h.itten  sie  S(»  heruntergebracht.    \  ou  diesen 
weiblichen  Wanderern  kann  man  auch  sagen,  dal»  sie  schwerlich  einen 
Unterschied  zwischen  mein  und  dein  kennen,  den  männlichen  Wanderern 
wird  das  im  ganzen  zu  unrecht  nachgesagt.   P.  Göhre  sagt  in  seinem 
Werk:  „Dreieinhalb  Monat  Fabrikarbeiter,"  das  gewiß  viel  Richtiges 
enth&lty  daß  man  kein  Messer,  überhaupt  nicht  das  Geringste  in  der 
Herberge  liegen  lassoi  darf,  es  wfiide  sofort  gemanat  Ich  vergaß 
eines  Morgens  meine  Brieftasche  in  einem  Dfissddorfer  Gasthof,  in  dem 
anßer  Fielen  Kunden  auch  anderes  fahrendes  Volk|  Akrobaten,  Jahr 
markts-Bndenbesitzer  und  -Händler  yerkehrten.  Ich  hatte  die  lederne 
Tasche  abends  ins  Bett  genommen,  nnter  das  Kopfkissen  gelegt  nnd 
sie  dort  liegen  lassen.  Erst  nach  dem  Kaffeetrinken  bemerkte  ich  dss 
nnd  eilte  rasch  nach  dem  Schlafzimmer,  wo  die  anderen  vier  Kunden, 
Iltere  Leute,  noch  beim  Ankleiden  wan  n.  Die  Brieftasche  war  unter  dem 
Kissen  hervorgerutsdi^  lag  also  offen  da,  aber  niemand  hatte  de  berührt, 
trotzdem  Brieftaschen  immer  eine  gesuchte  Beute  sein  sollen,  wegen  der 
wichtigen  Papiere,  die  sie  enthalten.    Von  nun  an  stellte  ich  häufi? 
Proben  an,  liel^  Sachen  unlteaufsiclitiirt,  schickte  andere  Kunden  mit 
gridieren  <  i eidstücken  zu  kleinen  Einkäufen  —  aber  es  ist  mir  nie  etwa^^ 
abhanden  gekommen:  ich  hatte  augenselieinlich  Glück  darin.  Spitz- 
buben gibt  es  eben  weniger  unter  den  Kunden  und  armen  Keiseodeo, 


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Das  Lcbco  der  Wandenumen. 


811 


als  man  f^laiibt.  Der  pclite  Verbrecher  glaubt  mehr  zu  i>c\n  als  der 
Kunde.  Der  Kunde  dünkt  .sieh  wieder  über  den  \'('rbri'(  her  iThaben. 
Trotzdem  nähern  sicli  bt'ide  mancbmal  in  ibren  Aiiscliaunnirt  n. 

Dal')  das  WandorlclM'ii  (Vw  sittlielien  Anscliaiinnupn  zcrsttirt,  die 
jeder  von  der  Scliulc  und  andertMii  rnttTrielit  niithekomuu  n  hat,  ist 
natürlich,  (hi  ja  keini-r  mehr  wie  die  Kunden  täffheb,  ja  stündHcb  erfährt, 
wie  wenig  das  christliche  Menschentanii  das  gepredigt,  wirklich  auch 
gelebt  wird.  Doeb  nur  in  AnsnalmiefiUleD  wird  sich  der  Wandernde 
gegen  tiefere  Bechtsregeln  vergehen  nnd  zwar  nur  Yon  der  Leidenschaft 
getrieben  (hierauf  wären  die  SittlicbkeitSTerbrecben  zn  setzen,  die  stark 
sinnliche  Naturen  begehen,  wenn  sie  zu  langer  Enthaltsamkeit  geswnngen 
waren),  oder  wenn  es  sich  um  Nahrung,  also  um  den  Erhaltungstrieb 
handelt 

Wirkliche  Verbrecher  findet  man  wenig  auf  der  Landstraße.  Denen 

ist  dcis  Wanderleben  zu  beschwerlich.  Gewiß,  viele  der  Wandemden 
sind  ächon  bestraft.  Aber  wir  wissen  ja  selbst,  wie  leicht  man  p^egen 
das  Gesetz  verstoßen  kann.  Und  nun  so  ein  Mittelloser!  Würde  er 
nicht  betteln,  so  würde  er  Selbstmord  durch  Hunger  begehen:  Strafbar 
ist  er  also  auf  alle  Fälle.  Ich  aber  niTtchte,  daß  man  das  P.etteln 
des  Mittellosen  bricbstens  als  straffreien  Mundraul)  ansieht.  Was  beute 
als  Arbeitssebeu  lK  <traft  wird,  ist  dun  liaus  \\  illkiirlicb.  Ist  die  Ari)eits- 
fsebeu  nicht  oft  erst  anerzogen  worden?  Dureb  i  rzwunirene  Arbeifs- 
iosi^i;keitV  Auirenblicklicli  sind  ja  unsere  sozialen  Verbältuisse  der- 
artig, dal»  mancher,  der  nicht  robust  oder  p'witzt  ^^ennj::  i*^t,  an  er- 
zwun^^eneni  Wandern  zu-runde  geht.  Auch  das  heutige  Unterstützungs- 
und Abhilfenwesen,  wie  ich  es  schon  kurz  skizziert  habe  und  wie  es 
ausführlicher  in  meinem  Buch  „Die  Bekämpfung  der  Landstreicherei^^ 
Stuttgart  1903  dargestellt  ist,  kann  nicht  ausreichend  wirken.  Innungen 
und  Gewerkschaften  können  nur  für  einzelne  sorgen.  Die  Gemeinden 
aber,  die  ja  alle  zur  Unterstützung  augenblicklich  Bedürftiger  ver- 
pflichtet sind,  können  meist  nicht  gezwungen  werden,  ihrer  gesetzlichen 
Pflicht  nachzukommen.  Geben  sie  aus  eigenem  Antriebe  die  gesetzliche 
Unterstützung,  so  kann  es  ihnen  wie  jener  kleinen  Gemeinde  ergehn,  die 
in  wenigen  Wintermonaten  1400  Mk.  zu  solchem  Zweck  verbrauchte  und 
daran  fast  verblutete,  während  große  Städte  sich  gar  nicht  um  die 
Wandernden  kümmern.  Auch  die  Vereine  gegen  Verarmung  und 
Bettelei,  die  Verpflegun};sstationen  mit  ihrem  harten  Wander-  und 
Arbeitszwang  und  die  Arheiterkolonien.  in  denen  Wanderarme  eine 
letzte  Zuflucht  finden  sollen,  in  denen  sie  aber  bei  schwerster  Arbeit 
nicbt  einmal  die  Kost  des  ^'enieinen  Soldaten  erhalten,  alle  die  jrut^re- 
uieiutcn  Einhchtungen  mit  ihrer  hartherzigen,  mcnsciieu-  und  lebens- 


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312 


XVL  Ostwald 


fremden  Ausführung  ihrer  Grundsätze  sind  nur  ein  dürftiger  Notbehelf 
und  nicht  geeignet,  die  Wanderarmenfrage  zu  lösen.  Bei  Krisen  haben 
sie  stets  versagt.  Sie  stehen  eben  mit  den  QfundiinftGheii  te  Wanderei, 
mit  den  wiitBchafdiohen  Beuehnngen  und  mit  dem  so  notwendigen 
Trieb  ans  Fabrik,  Kontor  nnd  WecfcstiUt  in  die  erfrisohende  und 
die  Angen  Sffnende  Katnr  sn  flflehten,  nioht  in  iigendwelcher  Ver> 
bindnng.  Aneh  mit  Notatandsarbeiten,  wie  sie  Dresden,  z.  B.  in  Winter 
1802—03  mit  100000  Mk.  begonnen  h$t,  ist  der  gesamten  Arbeitslosig- 
keit niobt  beiznkommen.  Das  alles  sind  anzuerkennende,  aber  kleine 
Mittel.  Daß  aber  die  Mittel  nicht  etwa  in  einer  Verschärfung  der 
Strafgesetze  bestehen  dürfen,  bat  das  Versagen  der  Strafanstalt^  in 
erzieherischer  Hinsicht  bewiesen.   Trotzdem  die  2jahl  der  Erstbe- 
strafungen ganz  wesentlich  während  der  Zeit  des  wirtschaftlichen 
Aufschwungs  fiel,  stie»:  die  Strafbarkeit  doch  von  1862  bis  181)9, 
nämlich  von  Kiio  bis  auf  1236  bei  1 00 000  Einwohnern.    Die  Be- 
straften wurden  gar  nicht  gebessert,  durchaus  nicht  abgeschreckf, 
sondern  sie  waren  nun  durch  die  Schule  des  Verbrechertums,  durch 
die  KorreklioDshäuser,  (iefün^^nisse,  Zuchthäuser,  durch  diese  eine  ge- 
wisse Art  von  Zwangs-Verbrccherklubs  bildende  Institute  gegangen 
und  befähigt  worden  zu  weiteren  Übertretungen  der  (iesetze. 

Es  liegt  also  in  der  Macht  der  Gesellschaft,  die  Zahl  der  Ver- 
brecher zu  vermindern,  die  Erstbestrafungen  zu  Terfaindern.  Auf  welche 
Weise  dies  zn  geschehen  hat,  bewies  der  wirtsehalUiehe  Anbehwnng: 
er  gab  denen  Arbeit,  die  sonst  vielleicht  znm  erstenmal  die  SehweOe 
einer  Strafanstalt  bitten  flbeisebreiten  müssen. 

Wie  notwendig  es  ist,  Arbeit  su  beschaffen,  wie  hart  und  ver- 
kehrt es  isl^  sn  venirteilen  wegen  Arbeitslosigkeit,  sei  hier  noch  ein- 
mal durch  die  Eigebnisse  der  Erhebungen  Aber  die  im  Jahre  1900  im 
Großherzogtum  Hessen  erfolgten  Bestrafungen  wegen  Betteln  und 
Landstreicherei  festgestellt.  Die  Zahl  der  auf  Grund  des  §  361  Nr.  3 
und  4  des  Reichsstrafgesetzbuidies  reditskräftig  ergangenen  Be- 
strafungen beträgt  1442.  Auf  die  einzelnen  Monate  und  Jabreszeileii 
verteilen  sich  die  Bestrafungen  wie  folgt: 

Mutiat  absolute  Zahlen       Durchscliiiitt  täglich. 

Januar   220  0,15 

Juni    ......     S3  2,77 

November   ....    175  5,83 

Laissjen  schondiese  einzelnen  Monatszahbjn erkennen,  daü  die  meisten 
Bebtrafungea  wegen  Landistreichens  untl  Jk'ttelei  in  den  Winternionaten 
November  bis  März  vorkommen,  so  geht  dies  noch  deutlicher  aus  folgen* 
der  Übersicht  der  einzelnen  Jabrzeiten  hervor.  Es  wurden  bestraft  im 


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Das  Leben  der  Wauderarmen.  318 

Winter  1899/1900  Deiember— Febnuur  479  5,32 
Frühliog  1900         Hän— Mai  334  3,63 

Sommer  1900  Juni— August  259  2,82 

Herbst  1900  Septembei^Noyember  331  8,04 

In  den  seehs  Jahren  1895  bis  1900  betrog  die  Zahl  der  Be- 
Btrafongen  im  Grofibefsogtom: 

1895  1896  1897  1898  1899  1900 
2583         2244  1968  1658  1267  1442 

Auf  100000  Eiawohner  kam  die  folgende  Ansahl  Bestntfungen: 
1895  1696  1897  1898  1899  1900 

21,96         21,49  18,49  15,60  11,82  12,95 

Die  Zahlen  1895  -1900  vervollständigen  das  Bild,  ans  dem  sich 
der  Ziisammenhanir  zwischen  Wirtschaftskonjunktur  und  Landstreicherei 
ergibt.  Wie  in  jedem  einzelnen  Jahre  die  Arbeitslosigkeitsmonate  ein 
Steigen  der  Strafziffern  bewirken,  so  zeigt  sich  in  einer  p-rd^eren  lieihe 
von  Jahren  der  Einfluli  der  fetten  und  mageren  Julire  mit  unveikenn. 
barer  Deutlichkeit  in  einem  Sinken  und  Anschwellen  der  Kriuiinalitäi- 
Diese  Zahlen  widerlegen  geradezu  die  Behauptung,  daß  Widerwille 
gegen  geregelte  Arbeit  die  naupt(juelle  der  I^ndstreicher  und  Bettelei 
bilden,  znmal  es  im  Winter  kein  Vergnügen  ist,  die  Landstraße  zu 
freqnentieren.  Es  ist  die  Not  der  ArbeitBlosigkeit,  die  diese  Ärmsten 
hinausstößt;  und  wer  die  landstreichera  beseitigen  will,  der  muß  die 
wirtsehafdiche  £ziBtens  der  arbeitenden  Bevdlkemng  sichern,  anstatt 
die  Opfer  des  Elends  durch  drakonische  Strafen  zu  züchtigen. 

Geben  die  Zahlen  der  Erhebungen  eigentlich  schon  die  Gewißheit,- 
daß  da  wirklich  Arbeitswillige  verurtdlt  werden,  daß  also  wirklich  eine 
Arheitsbereitscliaft  vorhanden  ist,  so  ergibt  sie  sich  auch  aus  der  Tat- 
sache, daß  im  Winter  den  Arbeiterkoionien  soviel  Menschen  zuströmen^ 
trotzdem  sie  dort  gewiß  nicht  auf  Rosen  gebettet  sind.  Die  große 
Mehrzahl  der  Kolonisten  muß  Meliorationsarbeiten  forst-  und  landwirt- 
schaftlicher Art  bei  jeder  Witterung  verrichten  und  dabei  vielmehr 
Schweil»  veri;ielM:n ,  als  der  mit  Einsperrung  Bestrafte,  ja  selbst  als 
der  Zuchtliäusler.  Dazu  wird  die  strenge  Hausordnung  befolgt,  kein 
Schnaps  getrunken,  liie  Leibeshaltnng,  T^igerstatt,  Kost  usw.  ist  selbst 
nach  Angabe  der  leitenden  l*ersönliehkeiten  kaum  eine  bessere  als  in 
den  Strafanstalten,  besonders,  wenn  die  viel  härtere  Arbeit  dazu  ge- 
nommen wird.  Und  der  Eintritt  ist,  wie  der  Austritt  treiwillig!  Wenn 
trotzdem  eine  solche  große  Zahl  in  die  Kolonien  drängen  —  und  unter 
ihnen  sehr  viel  Betrsfte  —  so  ist  es  klar,  daß  -es  sich  nur  darum 
handeln  kann,  die  Menschen  nicht  auf  die  Landstraße  zu  stoßen,  sie 
nicht  erst  oder  immer  wieder  schuldig  werden  zu  lassen. 

Arabhr  fflr  KitataiIuthiopcil«gl«.-XUI.  21 


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Das  Leben  der  Wandenumeu. 


815 


JSeiten  ^gewünschten,  an  Zwangsasyle  erinnernden  Wanderarbeitsstiitteo. 
Die  sollen  ein  Mittelding  zwischen  Verpflegungsstation  und  Arbeiter- 
kolonie werden.  Das  leidige  unnfttie  Waocteni  Ton  Station  zu  Stati<Mi 
würden  sie  beseitigen.  Doch  dfiifle  niemand  damit  einrentanden  sein, 
jeden  Mitldlosai  in  dne  Anstalt  anzosperren,  nnr  dämm,  weil  keine 
passende  Arbeit  fOr  ihn  vorhanden  ist  Die  WanderarbeitBstitte  w&e, 
wenn  der  Aufenthalt  in  ihr  em  freiwilliger  win,  ein  Fortschritt^  so' 
aber  würde  sie  den  Polizeiorganen  eine  sonderbare  Macht  einrftomen. 
Aneh  die  Hoorkolonisation  duroh  Wandeianne  ist  eine  polizistiache 
Utopie.  Was  bat  der  Mittellose  verbrochen,  um,  womöglich  auf  Lebens- 
zeit, in  Sumpf  und  Moor  deportiert  zu  werden? 

Der  Wanderarmenfrage  muß  wohl  auf  anderen  Wegen  beizu- 
kommen sein.  Das  Wandern  darf  nicht  zerstört,  verboten  werden.  Es 
muß  ermöglicht,  es  muß  or^'anisiert  werden.  Ist  es  doch  unter  ge- 
wissen Umständen  ein  wunderbares  Allheilmittel.  Die  arbeitende  Be- 
völkerung hat  oft  genug  keine  anderen  HiUlungs-  und  Lehrjahre,  als 
.  die  Wanderzeit.  Dit'  Wanderjahre  sind  dem  Arbeiter  das,  was  die 
Studienjahre  den  akademischen  Berufen.  Ich  halt^  das  Wandern  für 
o'-'e  Notwendigkeit 

Doch  müüte  es  von  seinen  Schäden  und  Abgründen  befreit  werden. 
,  In  welcher  Weise  das  zu  geschehen  hätte,  haben  die  Gewerk- 
^fiMfeRen  mit  ihrer  Beise-  and  AxbeUakfleiinntenlitsang  gezeigt  Über 
d'-^ne  nnd  Aber  weitere  Fragen  des  Untersttttznngs-  und  Abhilfewesens 
^«ichtet  mein  Buch  „Die  Bekftm|»fnng  der  LAndstreicheiei^  ans> 
iBhriieh.  Hier  ist  wohl  nicht  der  PlatZ)  das  zu  erOrtem.  Es  könnte 
nur  gründlich  geschehen.  Nicht  in  einigen  Zeilen. 

JedenfoUs  glanbe  ich,  daß  ans  dieser  Bichtnng  die  Beseitigang 
der  Wanderbettelei  zu  erwarten  ist  Die  Arbeiterorganisationen  werden 
ja  nicht  alles  allein  erreichen.  Doch  was  die  Gewerkschaften  allein 
in  ihrem  Kreise  leisten,  das  wird  das  große  Beich  in  seinem  auch 
leisten  können  —  wenn  dazu  alle  gemeinsam  wiikoi:  die  Arbeiter- 
bewegung mit  ihrem  vorbildlichen  ünterstützungswesen,  die  christ^ 
lieben  Kreise  mit  ihrem  Wohltun,  die  Verwaltungsbehörden  mit  ihren 
Anstalten  usw.  usw.  Von  einer  ^^^/iurichtung  alU'in  ist  nicht  alles  Heil 
zu  erwarten.  Es  ist  eben  alles  nötig:  ein  gutgeregeltes  llerbergswesen, 
eine  Art  Arbeiterkolonie  für  Unheilbare,  Reichsarbeitslosen  Versicherung 
und  auch  eine  Art  Wanderarbeitsstätte,  die  gewissermaßen  den  lieil- 
austallen  der  Invaliditätsversieherung  gleichen  mülite. 

Erst,  wenn  das  alles  da  is^  wird  man  mit  ßecht  fragen  können: 
Wer  ist  wegen  Bettebs  zu  besliafen? 


21» 


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xvn. 


Die  KoUektiyaiiBBtelliiDg  der  PoUzeibetadrden  aof  der 
8t8dteaii88telliing  in  Dresden. 

Von 

k.  k.  Gerich tftsekretär  Priedr.  Paul,  Olinutz. 
(Mit  16  Abbildangvn  im  Text  und  Tafel  L  U.) 

Die  Frage,  ob  die  Polizeibehörde  ab  aolcbe  an  einer  AuesteUiiDS^ 
als  Anaatellerin  sieh  beteiligen  kOane  and  dfirfe,  wnide  bereits  vor 
eiaigen  Jahren  in  Wien  von  dem  dortigen  PohzeipiftridiBni  gelegent- 
lieh der  damals  yeianstalteten  Wohlfshrlsansstelhmg  in  glllckliehsif* ' 
nnd  wie  die  spXtere  Zeit  zeigte^  aneh  in  erfolgreichster  Weise  gt!" 
Die  Neaheit  dn  YerBnchesy  sowie  die  snwazteode  Haltnng  eines  T 
der  mafigebenden  Faktoten  yeranlafite  die  Aussteller  das  Geboten^  . .  - 
Besncbcni  anziehend  zu  machen  und  so  wurde  denn  in  einem  sepa- 
raten Pavillon,  der  Tendenz  unci  dem  Räume  nach  deutlich  gescuieden 
in  einer  Abteilnng  durch  eine  Reihe  von  Bildern  künstlerischer  Aus- 
führung dem  Publikum  allegorisch  und  idealisiert  die  vielseitige 
Tätigkeit  der  modernen  Polizei  „auf  dem  Gebiete  der  Wohlfahrt"  vor- 
geführt, wobei  auch  einic;e  liistorische  und  lokale  Erinneningen  mit 
verkörpert  wurden,  wiilirend  m  einer  anschließenden  Abteilung  die 
eigentliche  Kriminalpolizei  mit  ihren  Behelfen,  inssbesondere  aber  die 
soeben  in  Wien  einjreführte  Bertillonai^e,  sowie  die  photo<^raphischen 
Aufnahmen  nach  Bertillon  in  sehr  anerkennen:<werter  Weise  zur  Schau- 
stellung kamen.  Nebenbei  waren  tecliniscbt'  Belielfe  und  Ausrüstungen, 
sowie  auch  bemerkenswerte  (legenstände,  an  oder  mit  welchen  Ver- 
brechen Ycrübt  worden  waren,  wie  man  äie  damals  eben  bei  Behörden 
nnd  InstitBlen  Torfand  (da  Kriminalmnsenm  bestand  damals  mir  beim 
Landesgeriobte  in  Qmz)  ausgestellt  Wenn  die  Ausstdhing  auch  dem 
Zwecke  dienen  solltCi  das  Publikum  im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes 
zu  gewinnen,  was  wohl  gerade  in  Wien  sehr  nahe  lag,  so  wurde 
dieses  Ziel  wohl  nicht  erreicht,  die  breiten  Schichten  des  PubKkums 
brachten  dem  künstlerischen  Teil  der  Ausstellung,  so  bemerkenswert 


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Archiv  für  Kriminalanthropolo^ie  und  Kriminalistik.    Bd.  XIII. 


I  •  •  •    i  • 
• .  •  •  •  • 


•  •  • 

•  •  • 


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KoUektivauöätclluug  ü.  i'ulueibeiiüi-deu  a.  d.  ätädtoauäMtelluug  iu  Dresden.  317 


er  war,  wenig  lotereaae  entgegen  t  ^  Hanptinlereflse  konsentrierte 
sich  in  den  RSnmen,  wo  die  Antbropometrie  in  wohlgebildeten 
Fignien  sowie  die  Photographie,  nicht  minder  auch  die  ans  Ter* 
scbiedenm  bekannten  großen  Strafsachen  lierriilirenden  Gegenstände 
das  Interesse  dauernd  fesselten.  Es  wiederholte  sicli  die  Tatsache, 
da£^  das  IHiblikum  den  Kitzel  eines  gewissen  Gruselus  sehr  gerne 
sucht  und  empfindet  und  mit  Vorliebe  seine  Aufmerksamkeit  Dingen 
zuwendet^  die  mit  der  Kriniinaljustiz  eng  zusammenhängen. 

Redeutende  Praktiker  und  Theoretiker  lial)en  daher  das  Publikum 
in  mehr  oder  weniger  geschiekter  und  erfolgreicher  Weise  zur  Mit- 
arbeit herangezogen,  ja  ich  habe  irelegentiicli  der  zu  besj)rechenden 
Ausstellung  geradezu  einen  Tvpus  kennen  gelernt,  den  man  mir  sehr 
zutreffend  als  den  des  ^Kriniinalamateurs"  bezeichnete. 

Bei  dem  hohen  Interesse,  mit  dem  das  Publikum  sich  mit  der 
Tätigkeit  der  Kriminalpolizei  befaßt,  ist  es  wohl  naheliegend,  daU 
anch  das  Urteil  der  Öffentlichkeit  ttber  die  Tätigkeit  der  Krinünal- 
polisei  immer  mehr  an  Gewicht  gewinnt  und  nachdem  nun  dmnal 
mit  der  Darlegung  der  Mittel,  mit  denen  die  Polizei  arbeitet,  ein  glfiok- 
Hoher  nnd  erfolgbrlng«ider  Anfang  gemacht  worden  ist,  kann  eine 
Ansstellnng  der  Polizeibehörde  als  eine  Art  Prüfung  vor  dem  Forum 
der  Öffentlichkeit  angesehen  werden. 

Der  Endzweck,  das  höchste  Ziel,  das  die  Behörde  in  ihren  Be- 
mühungen anstreben  kann,  ist  die  Achtung  des  Publikums,  anfg^ut 
auf  der  Uberzeugung  von  ihrer  Tüchtigkeit 

Wenn  die  Aussteller  in  Dresden  diesen  Zweck  angestrebt  haben, 
dann  haben  sie  ihn  voll  erreicht,  Fach-  und  Laienkreise  sind  einig  in 
der  Anerkennung  des  Gebotenen  and  die  Erfolge  dieser  Schaustellung 
werden  gewil'»  nicht  ausbleiben. 

Der  offene  Kampf  gegen  das  Verbrechen,  den  ich  so  oft  betont, 
wird  um  so  gröljere  Erfolge  bringen,  je  weiter  die  Kenntnis  jener 
Hilfsmittel  dringen  wird,  deren  sidi  die  Polizei  zu  bedienen  i)flegt,  die 
Verfeinerung  des  Verbrechertums  niub  dann  auch  wieder  einen  weiteren 
Fortschritt  im  Gefolge  haben,  denn  auch  hier  bedeutet  Stillstand  — 
Rückschritt 

An  der  Ausstellnng  selbst,  wdohe  in  dem  westliidien  Anbau 
des  Hauptgebiudes  in  genügenden  Blnmen  bei  sehönstem  Obeitioht 
untergebracht  ist,  haben  sich  unter  dem  bekannten,  recht  zutreffen- 
den Motto:  Quis?  quid?  ubi?  quibus  anzflüs?  cur?  quomodo?  quando? 
beteiligt,  das  Grofihensoglich  badiache  Minislerium  des  Innern,  die 
Herzogliche  PoUzeidiiektion  Braunschweig,  die  Pofizeiduektion  BieaMn, 
das  Polizeiamt  Chemnitz,  die  Königliche  Polizeidirektion  Dresden,  die 


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818 


XVIL  Paüi. 


Polizeibehörde  Hamburg,  das  Großherzoglicli  hessische  Ministerium 
des  Innern,  das  Polizeiaint  I>eipzig  und  die  Köni^fliche  Polizeidiroktion 
MfincheOi  bedauerlicherweise  fehlt  Berlin,  dessen  fjurichtungeQ  gewiß 

mit  besonderem  Interesse  verfolgt  worden  wären. 

Für  den  Fachmann  ist  der  Totalcindruck,  den  die  Ausstellunjj^ 
auf  den  Besucher  macht,  kurz  mit  den  Worten  lirzeidmet:  «Kampf  der 
Anthropometrie  gegen  die  Daktyloskopie,  Darstellung  des  technischen 
Dienstes  und  der  angewandten  Kriminalistik." 

Bei  der  Besprechung  diene  die  nachfolgende  Planskizze  zum 
Verständnis. 


KoüMimssMmg 


Messierfahrpn^ 


1= 


iizr 

Dttsdto 


Lmpzig 


□ 


Fig.  1. 

Historisch  bemerkenswert  ist  die  von  der  Polizeibehörde  zu  Ham- 
burg ausgestellte  Reproduktion  eines  griechisoben  Steckbriefes^  erlassen 
am  10.  Jnni  196  n.  Ch.  in  Alexandrien,  sdne  Übersetzung  in  deatscher 
Sprache  lautet: 

^Im  Jahre  25  am  16  Epiphi. 

Ein  junger  Sklave  des  Aristogenes,  des  Sohnes  des  ChiysippuSy 
des  I>eputierten  aus  Alabanda,  ist  in  Alexandrien  entlaufen,  namens 
Xermon,  alias  Neilos,  ein  geborener  Syrier  ans  Bambyke,  ungefähr 


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KoUektiTaaMtelliiog  d.  PoliidbehSrden  a.  d.  Stldteanwtelhisfr  In  Dreaden.  819 

18  Jahre  alt^  mittlerer  GrOße,  bartlos,  mit  geraden  Beinen,  im  Kinn  ein 
Grübchen,  an  der  linken  Seite  der  Nase  eine  linsenförmige  Warze, 
eine  Narbe  über  dem  linken  Mundwinkel,  an  der  rechten  Handwurzel 
mit  barbarischen  Buchstaben  tätowiert.  Er  tviif^i  einen  (Uirtel,  dessen 
Inhalt  3  Minen  10  Drachmen  gemünzten  Goldes,  einen  sill)ernen  King, 
auf  dem  eine  Sulbflasche  und  Schabeisen  dargestellt  sind,  auf  dem 
Körper  eine  Chlamys  und  ein  Schurzfell.  Wer  ihn  zurückbringt,  erhält 
2  Talente  und  3000  Drachmen,  wer  seinen  Aufenthalt  verrät,  erhält, 
wenn  derselbe  an  einem  heiligen  Orte  ist,  1  Talent  und  2000  Draclnnen, 
wenn  bei  einem  zahlungsunfähigen  und  gerichtlich  belangbaren 
Manne  ist,  3  Talente  5000  Drachmen,  Anzeige  gütigst  bei  dem  Beamten 
des  Strategen  zn  entatten. 

Hit  ihm  entbnfen  ial  Bion,  der  Sidare  mm  Hofbeamten  enter 
KlasBe^  nnteEBetzt,  bieitBobiiltrig,  mit  kiSftig  entwickelten  Beinen,  Augen 
grünlich. 

Er  trog,  als  er  entlief,  eine  Tnnika  nnd  dnen  kleinen  Sklaren- 
mantel,  ein  Fianenkofferchen  im  Werte  Yon  6  Talenten  5000 
Drachmen. 

Wer  ihn  znrfickbringt,  erhält  dieselbe  Snmme,  wie  für  den  (Angeaa, 
Anzeige  anoh  ilber  diekn  bei  dem  Beamten  des  Strategen  m  er- 
statten." 

Das  Schriftstück  ist  um  so  interessanter,  als  es  sich  in  seiner 

Textierung  gar  nicht  von  ähnlichen  Kundmachungen  unserer  Be- 
hörden unterscheidet,  zudem  sind  besondere  KörptTinerkuiale  zur 
Sicherstellung  der  Identität  sehr  zweckiiiiiltig  angeführt,  die  Belohnung 
war  sehr  hoch,  ein  Talent  entspricht  einem  Betrage  von  ca.  4700  Mark, 
ein  Talent  hatte  tio  Minen,  eine  Mine  100  Drachmen.  Das  Inter- 
essanteste an  dem  Schriftstück  ist  aber,  daß  es  auch  die  Abbildungen 
der  entwendeten  Gegenstände  enthält,  ein  dem  Erfolge  sehr  nützlicher 
Umstand,  der  neuestens  bei  den  Behörden  die  gebührende  Beachtung 
findet 

Geschichtlich  bemerkenswert  nnd  von  besonderem  Intetease  smd 
femer  in  der  Abteilung  des  Polizeiamtes  Leipzig  die  Originalnrkunden 
des  Magistrats  gegen  den  Betrug  im  Baachwerk  vom  5.  Oktober  1594, 
die  Herbergeordnnng  vom  8.  Hai  1599,  die  Gasthansordnnng  Tom 
Montag  nach  Margarete  1543,  die  Kntscherordnnng  vom  16.  Jnni  1687, 
die  Verordnung  tlber  dffenHches  WafCentragen  vom  14.  Mai  1545  usw. 

Den  Mittelpunkt  des  Interesses  bildet  die  Kollektivausstellung  der 
Bertillonage,  eine  Gruppe  von  10  Personen,  welche  die  Abnahme  der 
Armspannweite,  des  Kopfmaßes,  der  Unterarmlänge  und  des  Fuß- 
mafies  zur  Darstellung  bringen. 


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820 


XVII.  Paul 


Die  lelK-nsirroßen,  naturgetreu  nachgebildeten  Figuren  sind  schon 
durch  den  Mittoliranp:  hindurch  sichtbar  und  lenken  den  Strom  der 
Besucher  sofort  in  die  lUiume  der  Polizei.  Die  eindrucksvolle  Ornpj)e 
der  Bertillona^'c  ist  aber  mehr  als  Schaustück,  sie  ist  das  Grabdenk- 
mal des  Rertillonschen  Systems  als  solchen,  zum  mindesten  der 
Bertillonsclu'n  Körperniessun-i:  als  Registerbehelf.  Die  großen  Ver- 
dienste Bertiilona  auf  dem  (lebiete  der  Identifizierung  haben  eine 
gn^l'it'  Sclimälcrung  durch  seine  unglückliche  Fntervention  im  DreyfuiJ- 
Trozeli  erfahren  und  Bertillon  selbst  erlebt  den  Triumph  einer  inter- 
nationalen Regelung  der  Berfcilloiiage  nicht  mehr.  Das  Interesse  wendet 
ndb  mit  Beeht  der  Identifiaamiig  tooh  Abnabme  der  Papillarlinien- 
abdrücke zu. 

Die  Gruppe  wirkt  dureb  ibre  OrOße^  und  mit  Befriedigung  wendet 
neb  jeder  Benicbar,  Ton  dem  gelini§;eii  Mentor  im  Kittel  dee  MeB- 
beamten  über  das  Wesen  der  Antbropometrie  belebrt  za  den  anderen 
Annteilungsobjekten,  weldie  schon  einer  geoaneien  Betiacbtnog  ge- 
würdigt werden  wollen.  Wir  finden  vor  allem  in  der  reebten  Seiten- 
niscbe  dne  Wdtttbersichtskarte  Uber  die  Verbreitung  der  zwei  vor- 
züglichsten Systeme  der  Identifizierung  nach  Bertillon  und  nach  (^nger- 
abdrücken.  In  Europa,  Amerika  und  in  Asien  gibt  es  noch  Gebiete, 
in  welchen  keines  dieser  Systeme  in  Anwendung  ist,  Australien  wird 
ganz,  Nordamerika  zum  grol\en  Teile,  dann  Afrika,  Asien  und  zu- 
letzt Europa  der  Daktyloskopie  dienstbar. 

Ein  sehr  helriircnde  Zusammenstellung  bildet  die  Aneinandcr- 
reiliunir  aus  verschiedenen  Ländern  eingelaJigter  anthroponietrischer 
Meiikarten  derselben  Person  mit  l'hotographie,  besonders  deutlich 
tritt  auch  hier  die  Verschiedenheit  des  en  face  Bildes  nach  Alter- 
Tracht  und  selbst  nach  Herkunft  des  Bildes  zutage,  während  dem 
Eingeweihten  die  Linien  des  Profils  überall  die  überzeugenden  Be- 
weise der  Identität  liefern.  Unter  der  nebenan  befindlichen  Zusammen- 
stellung von  Meßkarten  der  verscbiedenslen  L&nder  liefern  Obinesen, 
Bossen,  Türken,  Inder,  Argentimer  und  eine  Algieronn  bemerkenswerte 
T^rpen. 

Die  Nebenwand  ftUlt  ein  Glaskasten,  weleber  tax  linken  Hilfie 
die  Einrichtung  einer  alphabetisoben  und  der  antbropometiisohen 
Beglstntnr  Bertillons  enthalt,  w&hrend  zu  beiden  Seiten  des  Kastens 
die  yerschiedenen  Abkürzungen,  auch  nach  libidera  geordnet  in  Tier 

Tabellen  sehr  übersichtlich  angebracht  sind. 

Wir  sind  damit  schon  zum  Teil  in  das  Gebiet  der  Darstellung 
<ler  l  nterriclitsbehelfe  zur  Erlernung  der  Antbropometrie  gelangt, 
d&m  die  anschiieüende  Wand  enthält  in  recht  gelungenen  G^psretiefen 


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KoUektirftiMBtellaiig  d.  Polisefbehfirdea  a.  d.  Stidtetniatelliuig  in  Dresden.  821 

die  wesentlichen  Fomen  des  Kopfes  und  der  Gesiobtslinien  und  außer- 
dem 12  der  horvomgendsten  diaiakteristiscben  Olirformen. 

Der  korrespondierende  Kaum  vis  k  vis  enthält  die  weiteren  Bebelfe 
zum  antbropometriseben  Unterricht,  vor  allem  ein  riesenhaftes  Ohr, 
dessen  einzelne  nach  Bertillon  untorschiedenen  Tcilo  in  verschiedenen 
Farben  aus^reführt,  dem  Schüler  gleich  drastische  Beh'hrun^i:  bieten. 

Zum  Studium  der  Hand-  und  Fulimessunj;  dienen  skelettierte 
Teile  diej^er  Kxtn'rnitäten,  zur  Erklärung  des  Kopfmai>es  ein  Schädel, 
während  ein  ver<;rör)erter  Augapfel  die  Beschreibung  der  Augenfarbe 
und  di«^  Einteilung  des  Iris  vermitteln  hilft. 

Ditjse  Lchrniittel  sind  umgeben  von  acht  sehr  sauber  ausgeführten 
Skizzen  der  Vorder-  und  Rückseiten  des  Kopfes,  des  Rückens,  der 
Arme  und  der  Hände,  an  welchen  gleichzeitig  die  Art  der  Aafioabme 
der  besonderen  Kennseiehen  eriftutert  ist.  Den  Schluß  der  Unter- 
riehtsbebelfe  bildet  in  dieser  Nische  eine  Zusammenstellnng  yon  je 
sw^  Fällen  yon  Identität  der  Person  trotz  Unäbnliehkeit  der  Bilder 
and  von  Nichtidentititt  der  Person  trotz  Ähnliehkeit  der  Bilder.  Die 
Abbildungen  sind  in  Lebensgroße  ausgefahrt,  und  yerdienen  nicht  nur 
wegen  der  sehr  gut  getroffienen  Wahl,  sondern  auch  wegen  ihrer  teoh- 
nisoh  bemerkenswerten  Ausführung  hervorgehoben  zu  werden. 

Wir  lenken  nun  uns^  Schritte  in  den  Raum,  wo  die  Daktylo- 
skopie ihre  Geheimnisse  enthüllt  Der  Gebrauch  der  Fingerabdrücke, 
in  China  und  im  Orient  (bei  uns  in  Bosnien)  seit  urdenklichen  Zeiten 
als  Unterschrift,  hat  Sir  William  Herrschel  als  administrativer  Chef 
in  Indien  in  der  ersten  Hälfte  des  abgelaufenen  Jahrhunderts  veran- 
lagt, der  Tjindessitte  entgegenkommend,  den  Abdruck  des  Zeigefingers 
zu  Identifizierungszwecken  zu  benutzen.  Francis  Oal ton ')  hat  die 
Sache  wissenschaftlich  auf  eine  reale  Bavsis  gestellt  und  die  Möglichkeit 
der  Registrierung  durch  Abnahme  von  Fingerabdrückeu  nachgewiesen. 

Zahllos  waren  die  Forscher  auf  diesem  (iebiete,  ich  hebe  nur 
einen  hervor,  der  die  Sache  mit  dem  Namen  bezeichnet,  der  jetzt  be- 
liebt geworden  ist,  sein  Werk  benennt  sich:  „Conferenzia  sobre  el 
sistema  Dactyloscopico  —  dada  en  la  Bibliotheca  publica  de  U  Plato, 
per  Juan  Vucetieh,  Gef e  de  la  ofidna  de  fEsladiBtica  e  Identificaoion 
de  la  Policia  de  la  Ployineia  de  Buenos-Aires.'*  La  Pinta. 

Bertillon  hat  unstreitig  yon  den  Bestrebungen  der  Engländer 
auf  diesem  Gebiete  frühzeitig  Kenntnis  gebab^  denn  im  Oktober  1893 
war  schon  yom  englischen  Homedepsrtement  ein  Komitee  dngeselzt 
worden,  welches  die  Aufgabe  hatte,  die  in  England  zur  Zeit  bestehende 


1)  Finger^Priats.  Macmiilan,  And  A  eomp.,  Loodon. 


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822 


XVIL  Paoi. 


Methode  der  Registrierung  von  Verbrechern  zu  prüfen,  das  anthropo- 
metrische  System  Bert'illons  zu  studieren  und  Vorschläge  über  die 
Verwendbarkeit  der  Finfrorabdrücke  zu  gleichen  Zwecken  zu  erstatten. 

Das  Komitee  war  auch  bei  Bertillon  in  Paris,  und  es  ist  be- 
merkenswert, dal»  ungefähr  um  dieselbe  Zeit  Bertillon  auf  seinen 
Messkarten  Abdrücke  der  Finger  der  rechten  Hand  vorschrieb.  Hätte 
damals  Bertillon  sich  entschlossen,  alle  zehn  Fingerabdrücke  des 
Individuums  aufzunehmen,  so  wäre  zweifelsohne  der  Erfolg  auch 
weiter  an  seine  Fahnen  geheftet  geblieben. 

Das  Komitee  unter  dem  Vorsitze  von  Charles  Edward 
Troup,  Esq.  rom  Home'Qffiee  erkUMe  die  zur  Zeit  in  Eoglaad  be- 
standene H^ode  der  Begietriening  ungenügend.  In  Hinsicht  der 
Bertillonage  erklärte  aber  das  Komitee  dieses  System  für  England 
nieht  annehmbar,  da  nnmSglich  nach  «iglischen  Begriffen  der  Polizei 
em  so  gewaltiger  Eingriff  in  die  Reohtasphire  des  einaehien  gestaltet 
werden  könne,  wie  es  die  Körpermessung  mit  sich  bringe,  das 
Komitee  entschied  sich  somit  für  die  Annahme  des  Fingerabdnick- 
qrstemee  oder  sagen  wir,  fOr  die  Daktyloskopie. 

Weniger  glücklich  war  man  in  England  in  der  Reform  der  Photo- 
graphie,  denn  es  ist,  wie  ich  schon  mehrfach^  insbesondere  in  meinem 
Handbuch  der  kriminalistischen  Photographie  nachwies,  ein  unbestreit- 
bares Verdienst  Bertillons,  daß  er  Profil-  und  Enface-Bild  getrennt 
und  scharf  zur  Darstellung  bringt,  denn  die  englische  Methode  mit 
dem  Spiegel  muß  schon  aus  teclinischen  Gründen  als  fehlerhaft  und 
vollkommen  unverlälMich  entschieden  verurteilt  werden.  Im  Jahre  1894 
wurden  naeli  dem  Vorschlag  des  Komitees  Aufnahmen  von  Signale- 
ments nach  einem  gemischten  System  angeordnet,  das  Haupti)ureau 
sollte  in  London  m  Scotlaud-Yard  nahe  Charmg-Cross  sein  und  sollten 
nur  Signalements  aus  den  Gefängnissen  aufgenommen  werden.  Zum 
HanptbnrettDcbef  wurde  Dr.  IL  Anderson ,  Assistent  oonimissioner 
of  police,  zum  Konsulenten  Dr.  med.  Georg  Gerson  bestellt^  und 
1895  sollte  das  ganze  im  Gang  sein. 

Schließlich  wurde  das  System  der  Ungerabdrilekenach  £.  K.Henry, 
Polizdkommissär  der  hauptstädtischen  Polizei  in  London,  eingeffihit 
Das  System  konnte  in  England  um  so  eher  Boden  ftnsen,  als  dort 
die  Tätigkeit  Galtons  schon  seit  vielen  Jahren  bekannt  war  und  als 
selbst  in  der  Gesellschaft  das  Deuten  der  Fingerlinien  als  Sport  getrieben 
wird.  Neuerlich  geschieht  dies  auch  in  Paris,  seit  Dr.  För6')  in  der 

1)  F6r6,  Note  snr  Ica  plia  de  fleadon  de  la  pateie  de  Ui  main.  Comp.  read,  dee 
B^anoee  de  la  Soc;  de  biol.  de  Paris  1900.  —  Hontro  moi  ton  doigt,  je  te  dind 
qui  tn  ee. 


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Kdlekthrtontdluiig  d.  PdiieibehfirdMi  a.  d.  StSdtetnaMdlniig  in  Dresden.  823 

Biologischen  Oesellschaft  die  Mitteilung  machte,  daß  angeblich  mit 
der  Feinheit  der  Linien,  mit  der  Feinheit  des  Musters,  auch  die 
Intelligenz  des  Besitzers  höher  zu  stellen  ist  Das  System  von 
Heniy  ist  dargoeleUt  in  seinem  Werk  mit  dem  Titel:  Classification 
and  uses  of  finger  prints.  By  E.  K.  Henry,  C.  S.  J.  London,  printed 
for  Iiis  Majestys  stationeiy  Office,  bey  George  Hontledge  &  sons 
Ltd.  l'JOl.    2.  Aufla<?e. 

Ich  scliieke  diese  Ausfühnin«?en  zum  Verständnis  des  nach- 
folgenden voraus  und  bemerke,  daß  die  Abliandlunr,'  über  Daktylo- 
skopie im  12.  Bande  S.  III  ff.  einen  Auszu^^  aus  diesem  Werke  dar- 
stellt, auf  den  im  naclifolfrenden  Bezu^  freiiominen  werden  wolle. 
Die  Daktyloskopie  ist  als  Registrier-  und  Idt'ulifizierungsmethode  vor- 
zttglich  geeignet.  Die  Abnahme  der  Abdrücke  erfordert  keine  In- 
stnimente,  also  keine  besonderen  Auslagen,  die  ZufiUligkeiten  folsch 
funktionierender  Instrumente  und  Fehlerquellen  der  Messenden  sind 
auageschieden.  Die  auf  einer  Karte  abgedruckten  Fingerabdrucke 
lassen  sich  jederzeit  auf  ihre  Bichtigkeit  prOfen,  ohney  wie  bei  dem 
Messen,  das  Individuum  zur  Hand  haben  zu  mfissen,  die  Abdrücke 
mtlssen  nur  deutlicb  sem,  die  Abdrücke  selbst  gestatten  schon  Toli- 
kommen  Tcrlfißlicbes  Urteil  über  Identität  und  Nicbtidentitit 

Die  Polizddirektion  in  Dresden  widmet  der  Daktyloskopie  einen 
eigenen  Baum.  An  der  Stirnwand  zu  oberst  findet  sieh  in  sehr  ge» 
lungener  drastischer  Darstellung  die  Handfläche  einer  Hand  mit  ihren 
markanten  Furchen  und  Linien,  darunter  die  Vergrößerung  einer 
daktyloskopischen  Karte  „Slips".  Neben  diesen  Abbildungen  befindet 
sich,  von  links  beginnend,  die  Darstellung  der  vier  verschiedenen 
Muster  (Irr  Finircrlinien  und  zwar  i'ogcn,  BeliU-ift'.  (  >uirl  iWirbcli  und 
zusammengesetztes  Muster  (Komjiosite;,  die  markanten  Linien  durch 
rote  Farbe  drastisch  hervorgehoben. 

Die  Erzeugung  der  Abdrücke,  das  sogenannte  Rollen  wird  von 
zwei  Figuren  in  Xaturgnilie  dargestellt,  und  es  gewinnt  oft  mitten 
unter  den  Besuchern  den  Anschein,  als  ob  Personen  lebend  an  der  Be- 
lehrung des  unermüdlich  fragenden  Publikums  teilnehmen  würden. 

Die  Erzeugung  der  Abdrücke  der  Finger  und  die  Vomahme  des 
Kontrollabdruckes  mit  den  geschlossenen  Fingern  ist  durch  lebens- 
große Photographie  faBIich  erläutert. 

Interesse  findet  der  Gipsabguß  einer  Hohlhand,  deren  Linien 
besonders  deutlich  zum  Ausdruck  kommen,  während  als  Gegenstück 
eine  Vergrößerung  des  Vorganges,  wie  die  Luden  in  den  Schleifen 
gezahlt  werden,  ebenfalls  vergrößert,  angebracht  ist 

Während  dem  Eintretenden  zur  linken  Hand  eine  schöne  Kollek- 


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824 


xvn.  paox. 


tion  von  zn  "Roklamezweckon  naclijroniachtom  Papiergeld  sog^enannte 
Blüten  den  Besehauer  fesselt,  zei^'t  eine  Zusammenstellung  von  Briefen 
den  sogenannten  Sehatzgräbersclnvindel,  zu  deutscli,  die  Wahrheit  des 
Surichwortps,  die  Dummen  werden  nicht  alle.  Vereinzelte  Personen 
erhalten  nändieh  aus  Spanien  Briefe,  in  welchen  der  Schreiber  unter 
der  abenteuerlichsten  Schilderung  seiner  überstandenen  Kriegsgefangen- 
scfaaft  in  Tunis  oder  iihnlich  dem  Empfänger  mitteilt,  er  sei  in  Kenntnis 
eines  irgendwo  vergrabenen  Schatzes  von  unennelilichem  Werte,  zu 
dessen  Hebung  er  nur  Qeld  benötige,  welches  er  eben  in  Spanien,  um 
Aidbehen  za  ▼enmeidfiii,  m«lit  besehaffen  kOnne.  Die  Briefe  zitieNn 
dann  den  Adresaaten  snmeiat  an  entlegene  Orte  und  enden  mit  einer 
Anffoidening  an  einen  beedmmten  Ort  Geld  m  senden  mit  dem  der 
Betroffene  immer  bineinfiUli  (Vergl  dieeea  Arohir  Bd.  lY.  S.  81.) 

An  der  Unkaseitigen  Wand  des  Banmea  befindet  sieh  eine  inter- 
eieante  ZnaammensteUnng  von  EaaBeneinbreoherwerkaengen  and  Be- 
standteilen erbrochener  Kästen. 

Diese  dffenttiobe  Schaustellung  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  man 
neb  noch  Tor  wenigen  Jahren  scheute  deiarligea  öffentlich  zu  zeigen, 
indem  man  es  mit  dem  Sprichworto  bielt,  „man  zeige  den  Dieben  den 
Weg".  Der  kriminalische  Fachmann  weiß  aber,  daß  es  ganz  andere 
Quellen  der  Belehrung  gibt,  die  den  Unterricht  suchenden  Verbrecher 
weit  gründlicher  für  seinen  Benif  vorbereiten,  als  eine  Ausstellung, 
die  er  kaum  besuchen  dürfte:  wenn  man  aber  derartige  Oei^enstiinde 
ausstellt,  informiert  man  große  Schichten  des  Publikums,  der  einzelne 
spielt  gerne  und  oft  den  Geheimpolizisten  und  schon  das  zufällige 
Entdecken  »solcher  Werkzeuge  durch  Ijiien  bei  Verdächtigen  kommt 
und  schafft  tatsächlich  oft  den  grüßten  Nutzen.  Dem  Getriebe  der 
Großstadt  mehr  entrückt  ist  das  mittlere  Tableau;  welches  den  t  ang 
und  die  Erlegung  des  Wildes  auf  verbotene  Art  durch  Vogelsteller, 
Sohlingenleger  und  BanbsebtUien  anm  Gegenstande  hat 

In  dem  unterhalb  dieses  Tableaus  angebmehten  Glassehnnk 
fesseln  yor  allem  das  Interesse  die  verschiedenen  Beste  des  Aher- 
gisnbens»  die  im  Volke  nooh  immer  leben. 

Unter  anderem  ein  ndt  Blut  beschmierter  Zettel,  im  Oeldtlsdhöhen 
getragen,  mit  der  Teuf elsverschreibnng :  ich  yenchreibe  midi  von  heute 
ab  in  Gewalt  um  Beichtum  zu  besitzen  und  ergebe  mich  allem  — 
den  -25.  Juli  L.  L.  Teufel,  Teufel,  Teufel,  komme,  komme.  — 

Da  finden  ^ich  auch  Päckchen  mit  Kräutern  gefüllt,  die  ein 
spekulativer  Kopf  ^gegen  verhextes  Vieh  an  der  Stalltüre  anzubringen", 
das  Stück  zu  3  Mk.,  verkaufte;  Bleche  mit  eingeritzter  Schrift,  Bibel* 
Sprüche  und  ein  Totenkopf,  den  eme  Zigeunerin  beim  Wahrsagen 


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KoUektivaasstelluug  d.  Polizoibebördcn  a.  d.  StädteausateUung  in  Dresden.  325 

]>eDiitite,  um  ibien  AaBsprficlieik  mehr  Glauben  nad  offenbar  aneh 
mehr  Honorar  za  nehern. 

Hienm  reiheii  sieh  interessante  Kassiber,  die  den  Gefangenen 
die  Korrespondens  mit  der  Anfienwelt  vermitteln,  hierzu  diente  ein 
BriUenfuttöal  im  Boofcfirmel,  ein  eingenfihtes  Stttek  I/anwand  nsw« 

Ans  dtm  Beiefae  des  Betrugs  bleibt  niebt  ohne  Interesse  ein 
skelettierter  Ocbsenkopf  von  einem  Sdiiacbtneb,  das  zur  Versteaerung, 
um  die  Behörde  zu  täuschen  und  um  nur  eine  geringere  Gebühr  ent- 
richten zu  müssen,  als  Stier  anj^emeldet  wurde,  zu  welchem  Zwecke 
in  den  Kiefer  aus  einem  Kalbskopfe  zwei  Milchzähne  eingesetzt  worden 
waren.  Falsche  Würfel,  auf  verschiedene  Art  gezeichnete  Karten,  eine 
Anzahl  der  häufigsten  Oaunerzinken,  falsche  Münzen  füllen  den  Kasten, 
in  welchem  uns  noch  eine  mit  Röntgenstrahlen  verpackt  ])hoto- 
graphierte  Höllenmascliine,  die  an  die  Adresse  des  Polizeipräsidenten 
irelangte  und  als  verdächtig  photographiert  wurde,  besonders  auffällt. 
Diese  \'erwendung  der  Röntgenstraslen,  die  schon  bei  Zollämtern  zur 
Prüfung  des  Inhaltes  von  Packsendungen  viel  Anwendung  findet, 
bietet  einen  Hiciurtn  Sehutz  gegen  die  (Jefabren  der  Höllenmaschinen, 
vorausgesetzt,  dal)  man  die  Sendungen  schon  als  verdächtig  beanstandet. 

Sehr  belehrend  wirken  Proben  von  Schnitten  mit  schartigen  Mesaem 
und  die  Untersuchung  ihrer  Spuren  auf  GipsbllSeken  zum  Nachweise 
boshafter  Beschädigung  von  Bäumen.  Von  historischem  Interesse  ist 
ein  Steckbrief,  mit  welchem  Bichard  Wagner  in  Eberhards  Polizei^ 
anzeiger  Bd.  XXXVI  vom  11.  Juni  1853  I.  A.652,  verfolgt  wird,  der^ 
selbe  lautet: 

„Wagner,  Richard,  ehemaliger  KapeUmeister  aus  Dresden,  einer 

der  hervorragendsten  Anbänger  der  Umstnrzpartei,  welcher  wegen 
Teilnahme  an  der  R«  v(tlution  in  Dresden  im  November  IS  10  f  Bd.  XX  VIU 
S.  220  und  Bd.  XXXII  S.  306)  steckbrieflich  verfolgt  wird,  soll  dem 
Vernehmen  nach  beabsichtigen,  sich  von  Zürich  ans,  woselbst  er  sich 
gegenwärtig  aufhält,  nach  Deutschland  zu  begeben. 

Hehufs  seiner  Ilabhaftwerdung  wird  ein  Porträt  Wagners,  der  im 
Betretungsfallo  an  das  königliche  Stadtgericht  in  Dresden  abzuliefern 
sein  dürfte,  liiir  bei  «gefügt.** 

Viel  iM'acbtet  ist  auch  eine  Kollektion  falscher  ?teni])el,  bekannt- 
lich ein»'  Industrie,  dit,-  in  (iefangenen-  und  Arbcit.sliiiusrrn  hiiihl,  genug 
Schaden  anrichtet  und  leider  noch  wenig  bekämpft  wird.  \on  Inter- 
esse ist  auch  das  Modell  eines  Zellenwagens  im  Volksmunde  der  grüne 
Wagen  genannt.  Der  Wagen  dient  zum  Transport  der  Gefemgeuen; 
die  Einrichtung  ist  dadurch  bemerkenswert,  daß  der  ttberwaehende 
Gensdarm  bei  der  Türe  sitzt,  ein  Baum  für  renitente  Individuen  T0^ 


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388 


XVIL  Paix 


banden  i^t  und  somit  allen  Anfordemngeii  Mitaproohen  iatf  die  mui  an 

ein  soIcIh's  Fuhrwerk  stellen  kann. 

In  iiliniieher  Weise  bietet  eine  Nachbildung  einer  Reihe  von  Zellen 
aus  dem  Zellengefän^nis  der  Polizeidirektion  einen  anschaulichen  und 
übersichtlichen  Einblick  in  diese  dort  bestehenden  Einriclitun^en. 

Dem  Eintretenden  fallen  zur  rechten  Hand  sofort  drei  ^roRe  Tafeln 
in  die  Augen,  welche  angewandte  Fälle  der  Daktyloskopie  zum  Gegen- 
Btande  haben. 

Der  Mittelfall  behandelt  Fingenibdrückef  die  bei  einem  Morde 
anf  einem  wdfien  Tiaebtach  zurückgeblieben  waren. 

Die  andern  Fllle  betreffen  beide  denselben  TMer,  weleher  in  emem 
Zwisebeniaom  von  2  Jabien  je  einen  Elnbrncbsdiebetabl  in  einem 
nnd  demselben  Kaffeehanse  Terübte,  wo  er  das  eine  Mal  die  Sporen 
adner  reohten  Hand  auf  dem  SpSegel  der  Kredenz,  die  er  zu  eibreohen 
anchte^  znrftekließ,  während  er  m  der  glddien  Abriebt  das  niehstfol- 
gende  Mal  seine  von  gebranntem  Ziuikat  besehmutzten  Finger  der  lin- 
ken Hand  auf  dem  Aufschreibebneb  der  Kassiererin,  daa  anf  dem 
Tische  lag,  abdrückte,  welche  Spuren  in  beiden  Fällen  zur  Überwei- 
sung des  Täters  ftthrteo. 

Die  Orig^nalspuren  sowie  auch  die  Fingerabdrucke  sind  auf  den 
Tafeln  in  starker  Vergrößerung  abgebildet  und  ist  insbesondere  durch 
Hezugniilinie  auf  die  (.bereinstimmungen  in  den  Abdrücken  deutlich 
deren  Identität  nachgewiesen. 

Wird  erwogen,  dnl)  in  einem  bestimmten  Straffall  zumeist  aucli 
nur  ein  bestimmter  Kreis  von  Personen  in  Verdacht  kommt,  so  ist 
es  an  der  Hand  solcher  lie weisstücke  mitunter  möglich,  den  allenfalls 
schon  registrierten  Täter  selbst  auf  Grund  der  daktyloskopischen 
Registratur  aufzufinden. 

Von  besonderem  Werte  aber  ist  es,  daß  man  mitunter  durch  Ab- 
nahme der  Fingerabdrfieke  yerdichtiger  Personen  sofort  einen  TeQ 
von  Personen  mit  Bestimmtbeit  als  unbeteiligt  ausschalten  kann. 

Diese  in  die  Augen  fallenden  Tafeln  finden  eme  inteiessante  Er- 
gfnsnng  durch  die  unterhalb  derselben  in  dem  Glaskasten  ansgestelllen 
Versuche  latente^  unwillkürlich  binterhissene  Abdrücke  Ton  Hand-  nnd 
Fnßflfteben  auf  6la%  Papier  usw.  sidhtbar  an  madiea.  Wer  hat  nieht 
schon  zu  seinem  Verdruß  auf  den  blanken  Teilen  einer  Kasse  die 
rostigen  Papillarlinienahdriicke  eines  schwitzenden  Fingers  bemerkt, 
wem  fiel  es  nicht  auf,  dafi  ein  Versuch,  den  heißen  Lampenzylinder 
zu  richten,  die  Spuren  unserer  Fingerlinien  am  Zylinder  aufwies, 
welche  Hausfrau  bat  sich  nicht  schon  über  die  Dienerschaft  beklagt, 
die  nicht  imstande  sei,  reine  Trinkgläser  auf  den  Tisch  zu  stellen. 


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KoUeküvausfttciluiig     Polizeibehörden  a.  d.  Städteaussteliung  in  Dresden.  •  32  7 

Ich  verweise  auf  das  2.  Heft  des  Bandeii  woselbst  nadi  An- 
gaben des  Dr.  Groß  das  Siebtimrmacben  latenter  Fingerabdrileke  des 
weiteren  behandelt  ist.  Ich  halte  diese  Daistdlnngen  der  sichtbar 
gttnacbten  AbdrCLoke  in  verschiedenen  Farben  fOr  die  weitere  öffent- 
lidikdt  sehr  nfitzlichf  da  eme  Menge  von  Laien  in  der  Sache  belehrt, 
sehr  Idcht  in  die  Lage  kommen  kSnnen,  in  einem  vorkommenden 
FsUe  voifindliche  Abdrücke  für  die  Behöide  zn  erhalten  nnd  vor 
Zerstörong  zu  schützen. 

Sehr  belehrend  und  geschickt  eizeugt,  befinden  sich  in  (hm  er- 
wähntoi  Kasten  Abdrücke  von  unbekleideten  Händen  und  Füßen, 
abgenommen  mit  Gips,  Schwefel,  Paiaffini  Wachs,  ja  selbst  von  Ab- 
drücken in  Schnee  und  Mehl. 

Ein  Abklatsch  einer  Felsspitze  und  wieder  zusammengesetztes 
^  erl)ranntes  Pa|)ier  zeugen  von  besonderer  Geschicklichkeit  und  Ge- 
duld des  Arbeiters. 

Von  jrleicliem  Fleifie  zei^^en  zwei  plastische  Terraindarstellungen 
eines  Tatortes,  die  eine  nach  dem  Nagelsystem  (eingeschlagene  Niigel 
zeigen  die  Coten  an,  welche  bei  Ausfüllung  des  lUiumes  zwischen  den 
Nägeln  die  obere  Fläche  bestimmen),  die  andere  nach  Art  der  Mili- 
tärkarten nach  dem  Flattensystem  (geschnittene  Pappscheiben  den 
einzehien  HShenschichten  entsprechend  anf^nandergelegt). 

Den  Kasten  zieren  noch  Kommissionstaschai  und  ein  Besteck  znr 
Erzeugung  von  Papillarlinienabdrücken,  sehr  zweckmäßige  Anrieb- 
tnngen,  deren  Brauchbarkeit  die  BehSrde  jedenfalls  selbst  erprobt  hat. 
Das  Besteck  ffir  daktyloskopische  Aufnahmen  ist  gewiß  zeitgemüß 
es  wSre  selbst  der  Fall  zn  denken,  daß  das  euizelne  Organ  im  Besitz 
eines  oder  mehrerer  Fmgerabdrücke  eines  Individunm,  bei  Betretnng 
sofort  Versuche  anstellen  wollte,  nm  sich  sofort  von  der  Richtigkeit 
des  Verdachtes  zu  überzeugen,  was  ja,  „wie  der  Praktiker  zugeben 
wird*^,  in  der  größten  Zahl  der  Fülle  sofort  spruchreif  eruierbar  sein  wird. 

Wir  nehmen  Abschied  von  dem  interessanten  Raum,  nicht  ohne 
mit  Überraschung  eine  Tafel  eingesehen  zu  haben,  auf  welcher  die 
seltensten  Legitimationspapiere  in  scheinbar  frapi)ant  echtem  Kleide  als 
Fälschungen  ausgestellt  sind,  ein  Beweis,  daß  viel  mehr  falsche  Doku- 
mente im  Umlaut  sich  befinden,  als  die  bezüglichen  Behörden  anzu- 
nehmen geneigt  sind. 

Bevor  wir  uns  dem  gegenüberliegt  inU-n  lüiuini'  zuwenden,  den 
die  Polizeibehörde  von  Hamburg  ausfüllt,  verweilen  wir  ein  wenig 
im  Zwischengange,  woselbst  durch  proportioneile  Darstellung  der  Größe 
eines  Schutzmannes  die  2iahl  der  Beamten  der  Polizei  und  durch  Dar- 
stellung eines  Sackes  der  Aufwand  für  die  föcherheitspoliiei  der  Stadt 


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328 


XVU.  Vavu 


Dresden  seit  dem  Jahre  1853  bis  1903  reeht  augenCSUig  dargestellt 
ist  Die  Kosten,  sa  denen  die  Stadt  flberdieB  einen  Beitiag  leistete, 
betrugen  1853  143768  M.  und  sind  1903  anf  647  457  beaw.  2  248  475  M. 
gestiegen,  während  1853  eine  ZaU  Yon  301  Beamten  den  Dienst  ver- 
sahen,  nahm  das  Jahr  1903  schon  deren  1040  in  Ansprach.  Die 
Ursache  dieser  Steigemng  stellen  zwei  weitere  Tafeln  dar,  welehe 
dnieh  Abbildung  einer  prozentuell  gewählten  Anzahl  von  Personen 
reeht  anschaulich  die  Zunahme  der  Bevölkeron^^,  andererseits  karto- 
graphiseb  den  Wachstum  dos  Weichbildes  von  Dresden  in  dem  Zeit- 
räume von  1853  bis  1903  darstellen.  Während  die  Bevölkcrung-s- 
ziffer  für  lSr>:i  zu  105  300  Personen  durch  5  Männer  und  ein  Kind 
dargestellt  werden  konnte,  mußten  zu  der  Darstellung  für  da« 
Jahr  1903  schon  21  Männer  und  ein  Jüngling  gewählt  werden,  es 
hat  sich  also  in  dem  Zeitraum  von  50  Jahren  die  Bevölkerung  fast 
verfünffacht,  eine  Tatsache,  die  auch  die  zur  Schau  gestellten  Adreli- 
bücher  schon  nach  ihrem  Umfange  erkennen  lassen. 

Wir  schreiten  in  den  gegenüherliegenden  Kaum,  aus  dem  uns  das 
Wappen  der  freien  Hansestadt  Hamburg  entgegenleuchtet-  Welcher 
Fachmann  kennt  nicht  die  Polizeibehörde  der  Hansestadt  Hamburg, 
wer  beneidete  nieht  die  BehOide^  weldie  Ton  dem  dnnohte?ollen  Senat 
für  ihre  rUhmlicfaen  tonangebenden  Bestrebungen  anf  dem  Gebiete  der 
krinunalistiBohen  Photographie  eine  namhafte  Jahresdotalion  besieht? 
Wie  Tielseitig  ist  nieht  die  Tätigkeit  dieser  PoUseibehördei  die  am  Tore 
von  Enropa,  Asien  nnd  Afrika  gelegeni  sehr  oft  Gelegenheit  findet,  die 
schwierigsten  Amtshandhrngen  voiEnnehmen,  die  mit  Leuten  aller 
Zonen  zu  arbeiten  hat,  die  ein  Emporium  des  Welthandels  Gelogenhett 
find(  t.  unmittelbar  mit  den  VerbrechergrQfien  yon  England  und  Amerika 
ihre  Kräfte  erfolgreich  zu  messen? 

Und  interessant  ist  es,  diesen  Kampf  in  der  Nähe  amsUBeheO,  die 
dem  bureaukratischen  Wesen  fremde,  mehr  den  Bedürfnissen  eines  Kon- 
tors angepaßte  Oescliäftsordnung,  ja  schon  der  beständig  ohne  Auf- 
sicht dem  einzelnen  frei  zu^^iinirliclie  Aufzug  im  htadthause,  bei  dem 
kein  Unfall  sich  ereignet,  zeigen,  dali  man  hier  mit  Ausnützung  aller 
Mittel  auf  die  einfachste  Art  bestrebt  ist,  groüe  Erfolge  zu  erzielen. 
Aber  nicht  allein  der  kühle  \'erstand  herrscht  in  den  liäumen  des 
Stadthauses,  auch  das  Herz  schlägt  den  Hamburgern  am  rechten 
Fleck  und  der  gev^'innende  \'erkehr  des  Chefs  mit  dem  eifrigen 
Untergebenen  sind  nicht  zum  geringsten  die  Faktoren,  die  große  Er- 
folge zeitigen  und  den  Ruf  der  Behörde  begründen  helfen. 

Dies  mnflte  Tontusgeschickt  werden,  um  die  Ausstellung  der  Ham- 
burger au  Terstehen.  Am  Eingang  fiUlt  uns  eine  Anzahl  ron  ^kten 


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Kollektivausstellung  d.  Polizeibehörden  a.  <l.  Städtcaufistollun^?  in  Dresden.  329 


auf,  welche  Personen  darstellen,  deren  Identität  nicht  feststeht  und 
üher  deren  Herkunft  aus  dem  Publikum  Nachrichten  erwünscht  sind. 

Im  Räume  selbst  fällt  uns  das  eigenartige  der  Verhältnisse  sofort 
auf.  Zwei  nette  naturgetreue  Nachbildungen  einer  Dampfbarkasse  und 
eines  Motorbootes,  mit  welchen  die  Kriminalpolizei  im  Hafen  den  Dienst 
versieht,  gestatten  dem  Beschauer,  im  Verein  mit  einer  Photographie 
der  ganzen  Poli- 
zeiflotte, sich  eine 
Vorstellung  zu 
schaffen  über  die- 
sen interessanten 
Teil  des  Dienstes. 
Zu  den  ange- 
nehmsten Erinne- 
rungen der  Gaste 
in  Hamburg  zählt 
eine  Fahrt  im  Mo- 
torboot der  Kri- 
minalpolizei in 
Gesellschaft  des 
liebenswürdigen 
Hafenkapitäns. 

Daneben  be- 
findet sich  ein 
Apparat  zur  Auf- 
nahme von  Lei- 
chen usw.  aus  der 
Vogelperspektive, 
welcher  bei  der 
Polizeibehörde  in 
Hamburgzu  aller- 
erst zu  diesem 
Zwecke  in  Ver- 
wendung kam 

und  neben  anderen  Vorteilen  jene  monströsen  Aufnahmen  verhindert, 
die  mitunter  in  den  Münchner  Fliegenden  zum  Spott  der  Amateure 


Fig.  2. 


Die  Abbildung 


zeigt 


die  Anwendung  dieses  Apparates 


erscheinen, 
nach  einem  Hamburger  Bild. 

Über  die  Ausdehnung  des  Polizeigebietes  und  die  Einteilung  des 
Dienstes  erteilt  Belehrung  ein  großer  Plan.  Die  dem  Dienste  selbst 
dienenden  Behelfe  als  Ilandschriftensammlung,  Oeneralkartenregister, 

AiciÜT  fdr  Krimkoalsntbropototsic.  Xlil. 


•)•> 


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880 


XVQ.  Paul 


Vcrbn  cluTiill)!!!!!,  S|)it/iia!iM  ii\ tTzcielinisse,  eine  verkleinerte  antliropa- 
nietriselie  Registratur  ( ntliultcn  für  den  Fachmann  eine  Fülle  intereü- 
Banter  Details,  dir  an  Ort  und  Stelle  studiert  sein  wollen. 

llerv(irzuli<  l)i Ii  >iiul  die  Falindungshiiclier,  die  alle  S  Wochen  neu 
gedruckt  und  an  jedem  Werktag  mit  den  die  Änderungen  enthaltenden 
Tekturen  versehen  werden. 

Sehr  zweckmäßig,  jedenfalls  zwe^mülMger  als  die  Zwangsjacke, 
die  schon  manches  Unheil  angerichtet,  erscheint  mir  das  ausgestellte 
Zwangslager,  eme  mannsbrdte  und  ebensolange  Kiste,  in  der  das 
betreffende  Individuum  dnreh  Riemen  festgehalten  und  am  Hemm- 
schlagen  natnrgeraäfi  gehindert  ist  Hambnig  vollsiebt  die  Todes- 
strafe durch  Guillotinieren  und  die  aosgestdlte  Guillotine  versinnlicht 
den  traurigen  Vorgang,  wfihrend  in  dem  Drehgestell  des  Baumes 

sich  die  Al)hildun<2;en  der 
T<  »teninasken  Justifizierter  fin- 
den. Die  Stirnwand  ziert  das 
Stadthaus  mit  Abhildungen 
und  seiner  Tnnmräunie,  wel- 
ches aber  schon  lanj:e  nicht 
mehr  für  die  Bedürfnisse  der 
l\»lizei  zureicht,  im  Glaskas- 
ten unterhalb  befinden  sich 
►Schlielizcuge,  Handfessel,  sehr 
hübsch  erzeugte  Spuren  von 
Händen  und  Füßen,  Nach- 
bildungen von  Einbrecher- 
werkzeugen, ein  handliches  Besteck  eines  EmbrecheriKQnigs  und  eine 
sehr  lehrreiche  Sammlung  von  Blutspuren  auf  Holz,  Papier  usw. 

Ein  photographisches  Binode^  dessen  Verwendung  nebenan  sicht- 
bar ist,  verdient  besonders  erwShnt  zu  werden,  nachdem  mit  dem- 
selben eine  Bahe  von  Personen  (am  Turf  usw.)  photographiert  wurden, 
deren  Bilder  die  Behörde  sich  einst  nicht  so  leicht  bescliaffen  konnte. 

Unter  den  aus^n  >t(  lht  n  Mordwerkzeugen  fällt  insbesondere  ein 
in  der  Aui:e!i;::ej:end  durchstoliener  Sehädelteil  auf  mit  einem  Sonnen- 
schirm, durch  dessen  beschlagenes  Ende  der  Besitzer  des  Schädels 
ums  Leben  kam,  eine  drastische  Warnung:  für  manchen  Besucher  der 
AusstelI^nL^  der  die  lasterhafte  Oewobnheit  bat,  mit  dem  wa«,'erechten 
►Schirm  unter  dem  Arm  in  den  Straüen  zur  beständigen  Gefahr  für 
seine  Mitliür^^er  zu  wand«  In. 

An  rh  r  anstoln  ndeii  Seitenwand  finden  sich  sämtliche  Abzeiclien 
der  Polizeibediensteten  und  zwei  Bilder  der  Mannschaften,  auf  dem 


Fi«.  8. 


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Kollektivausstellung  d.  Polizoibcliördcu  a.  d.  Städteausstollung  in  Dresden.  331 


daranter  befindliclien  Längstisch  das  Modell  eines  Reproduktions- 
sclirankes  mit  Tagesmappcn  für  6  Monate.  Ein  Nationalitätenrefi^ister 
des  Meldeamtes  und  verschiedene  andere  Behelfe  des  inneren  Dienstes, 
unter  denen  insbesondere  ein  Verzeichnis  sämtlicher  Dienstherrschaften 
mit  deren  Namen  und  der  bei  denselben  bedienstet  gewesenen  Personen 
sehr  gute  Dienste  leisten  dürfte. 

In  den  Tafeln  der  Drehgestelle  finden  Hamburger  Fuhrwerke, 
Richtschwerter,  die  mittelalterlichen  Strafmittel,  als  Schandpfahl,  Rad 
usw.  photographische 


Darstellung. 

Belehrend  sind  ins- 
besondere einige  Tatbe- 
standsaufnahmen, unter 
anderem  den  neben- 
stehend abgebildeter 
Kasseneinbruch,  Abbil- 
dungen von  Herbergen, 
Tätowierungen,  Rönt- 
genaufnahmen sowie 
ein  alter  Haftbefehl  aus 
dem  Jahre  1 105. 

Wir  kehren  nun- 
mehr in  den  Uaupt- 
rauni  der  Dresdner  Aus- 
stellung zurück ,  um 
dort  das  auf  dem  (to- 
biete  der  Kriminalistik 
und  des  praktischen 
Dienstes  Gebotene  zu 
besehen.    Die  wesent- 


lichsten Dienste  leistet  Yig.  4. 

der  Polizei  die  Mithilfe 

des  Publikums,  welche  auch  in  der  Ausstellung  in  anschaulichster 
Weise  durch  zwei  Kästen  in  Anspruch  genommen  wird,  die  sich  in 
dem  linken  Nebenraume  neben  der  Kollektivgruppe  befinden.  Der  eine 
Kasten  enthält  gefundene  Gegenstände,  von  denen  die  Polizei  Ursache 
hat  anzunehmen,  daß  sie  mit  einem  Verbrechen  zusammenhängen 
und  trägt  die  Unterschrift:  Wem  gehört  dies?,  während  der  zweite 
Kasten  mit  der  Überschrift:  Wer  weiß  etwas V  Photographien  und 
Steckbriefe  von  Personen  enthält,  deren  Identität  oder  Habhaftwerdung 
der  Polizei  besonders  am  Herzen  liegt;  diese  erbittet  hierüber  Mit- 

22* 


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333 


XVII.  Paol 


teilun^'cn  aus  dem  Publikum.  Es  ist  pnviß  am  Platze,  j^erade  an 
dieser  Stelle  den»  ^'rriltert'n  Pui)likum  die  Kenntnis  einer  Einrichtung 
zu  vermitteln,  die  schon  oft  ihre  Probe  bestanden  hat. 

Um  aber  nicht  wieder  auf  einem  Umwege  diese  Abteilung  auf- 
suchen zu  müssen,  wollen  wir  hier  unsere  Aufmerksamkeit  einem 
Schranke  zuwenden,  der  die  Überschrift  trii^jt:  Hilfsmittel  der  modernen 
Kriminalpolizei. 

Naehdem  der  Inhalt  fttr  yerscliiedeiie  FMhkraiM  beeonderas  loler- 
esse  haben  durfte,  will  ieh  es  mir  nieht  Tenagen,  ihn,  wenn  aoeh 
nnr  flflehtig,  zn  besprechen. 

Zu  obeiBt  befinden  eich  die  eogenanntiea  KategorienkJtoten,  in 
wdehen  die  Verbrecher  nach  ihrem  Metier  geordnet  sind,  eodann  alphap 
betiaeh  geordnete  Bogisterfcarten  xnm  Verbrechemibnm,  wetters  eine 
Handschriftensammlung  nach  Verbreoherkategorien  geordo^ 

Eine  Reihe  Ton  Bllcheni,  deren  Aufschriften  dem  Fachmann  ge- 
nügen werden,  um  zu  erkoinen,  welchen  Vorteil  und  welche  &folge 
der  Inhalt  zu  bringen  Termag.  Dieselben  lauten :  Tauf  namenverzeichnis, 
Spitznamenverzeichnis,  Verzeichnisse  der  aus  den  Strafanstalten  ent- 
lassenen, in  die  Strafanstalten  eingelieferten  und  aus  den  Strafanstalten 
beurlaubten  Personen.  Verzeichnis  internationaler  Verbrecher,  Samm- 
lung kriminalistisch  interessanter  Zeitungsausschnitte,  Verzeichnis  der 
Kennzeichen  der  unter  Polizeiaufsicht  stehenden  Personen,  der  ört- 
lichen Gaunersprache,  der  Spezialitäten,  der  Falsifikate  (Metall-  und 
Papiergeld),  der  deutschen  Konsulate  und  Gesandtschaften,  der  aus- 
wärtigen Polizeibehörden,  der  Arzte,  der  Ilebammen,  der  wund- 
ärztlichen  Hilfsstellen  der  Sanitätswachen ,  der  Bankgeschäfte,  der 
Theater,  Varietes  nnd  Singspielhallen,  der  Hotels,  der  Öffentlichen 
Tanzlokale,  der  Gasthänaer  nnd  Herbergen,  der  Scfaankbetiiebe 
mit  weiblicher  Bedienung,  der  Gesinde-  nnd  SteUenvermittfer,  der 
Hindler  und  Trödler,  der  Stempebchneider,  der  Pftuidlaher,  der 
Uhrmaoher  nnd  Goldarbeiter,  der  Fahrradhändler  nnd  der  Antiqni- 
tiUenhändler. 

Weiter  finden  wir  eine  Sammlung  der  einkommenden  Spfthbtttter, 
die  uns  nicht  minder  interessiert,  und  zwar: 

United  States  of  Amerika :  The  Detective.  Bayer.  Zentralpolizei- 
bhitt,  München.  Deutsches  Fahndungsblatt  ,  Berlin.  Elsaß  -  rx)tbr. 
Polizeianzeiger,  Straßburg.  Fahndungsblatt  des  Kgl.  Württembergschen 
I^indjägerkorps,  Stuttgart.  Internationales  Kriminalpolizeiblatt,  Mainz. 
Königl.  preuß.  Zentral|)olizeiblatt,  Berlin.  Königl.  sUchs.  Oendarnierie- 
blatt.  Prager  Polizeianzei^^^er.  Wiener  Zentralimlizeibiatt.  Züricherischer 
Polizeianzeiger.   Londoner  lllustrated  Circulares. 


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Kollektivausstellung  d.  Polizeibehörden  a.  d.  Städteausstcllung  in  Dresden.  333 

Femer  finden  sich  Diebstahlsregister.  Kästen  enthaltend  Karten- 
verzeichnisse über  gestohlene  Uhren,  Goldsachen  und  Fahrräder,  liierzu 
Verzeichnisse  der  Namen,  der  Straßen  der  gestohlenen  und  bekannt 
gegebenen  und  der  gestohlenen ^und  nicht]bekannt'gegebenen  Gegen- 
stände. 

Weiters  eine  Anzahl  von  Kästchen,  enthaltend  Sammlungen 
von  Siegelmarken  und  Stempelabdrücken  von  Staatsbehörden,  Kirchen 
und  Schulen,  Städten,  Gemein- 
den und  Gutöbezirken,  Samm- 
lungen postfertig  adressierter 
Briefumschläge  für  eilige  Post- 
sendungen und  zwar:  Turnus 
A  für  Polizeibehörden  Kreis- 
und  Obergendarmen  in  Sachsen 
und  Turnus  B  für  die  größeren 
sächsischen  und  hauptstädti- 
schen Behörden  Deutschlands 
einschließlich  der  Hafenstädte. 

Endlich  Turnus  C  für  die 
größten  Polizeibehörden  des  In- 
und  Auslandes. 

An  diese  Behelfe  schließt 
sich  eine  reichhaltige  Hand- 
bibliothek für  die  Bedürfnisse 
der  Behörde,  welche  Krimina- 
listik im  weitesten  Sinne  zum 
Gegenstand  hat  und  aus  aller 
Herren  liinder  sich  rekrutiert. 

Benierkenswerterweise 
schließt  sich  an  diese  Bibliothek 
streng  wissenschaftlichen  und 
dienstlichen  Inhalts  eine  Samm- 
lung von  Werken  der  Roman-  5- 
literatur. 

Es  ist  nur  zu  billigen,  daß  man  einerseits  trachtet,  die  seltenen 
freien  Stunden  der  Beamten  in  dieser  Weise  zu  kürzen,  aber  die  Sache 
hat  noch  einen  tieferen  Sinn  und  Nutzen.  Der  mit  Absicht  und  Sorg- 
falt gewählte  Inhalt  der  Bibliothek  ist  eine  Art  guter,  theoretischer 
Vorschule  und  Schablone  für  den  Beamten,  dem  die  Aufgabe  zufällt, 
dem  Täter  einer  l.'beltat  nachzuforschen.  Die  mehr  als  gewöhnliche 
Phantasie  mancher  Kriminalschriftsteller  regt  auch  die  Phantasie  des 


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884 


XVIL  FAVh 


Li'^ers  an  und  die  l'hpltaten  unserer  Zeit,  niclit  selten  der  über- 
schwenglichsten l'liantasie  entsprungen,  finden  so  entsprechend  einge- 
weihte und  erfahrene  Ilächer. 

Im  aiifltoBendeii  Baume  finden  wir  eine  sehr  zweckmäl^ige  Kon- 
struktion des  Berti  Hon  sehen  AnfhahmeatalileBy  der  sieb  insbesondere 
dadnioh  anszeiebnetf  daß  der  Sessel  fest  mit  dem  drehbaren  Boden- 
brett yeriranden  ist,  das  dnreb  eine^''^mit  dem  Fofie  des  Operateors 

zu  bewegende  Klinke 
in  der  riebtigen  Stel- 
lang festgehalten  wird. 
Der  beigegebene  photo- 
giaphisehe  Apparat 
(Fig.  5)  jEeichnet  sich 
vor  dem  sonst  f&r  die- 
sen Zweck  erzeugten 
besonders  durch  eine 
solidere  Konstruktion 
aus. 

Dem  Zwecke  recht 
entsprechend  präsen- 
tiert sich  hier  auch  ein 
Stativ  zur  Aufnahme 
aus  der  Vogelperspek- 
tive (Fig.  6),  welches 
sieb  von  ähnlichen  Eon- 
stmktionen  froherer 
Zeiten  banptsSehfich 
durch  sebe  Einfachheit 
und  Leiehtigkeit  aus- 
zeichnet 

Die  wesentliche 
Verbesserung  besteht 
darin  y  daß  die  einzel- 
nen Füße,  bohl  in  ihrem  Inneren,  die  Verlängerung  zu  verBchieben  ge- 
statten, während  der  Unterteil  an  seiner  Außenseite  mit  gerieften,  guli- 
eisemcn  Auftritten  versehen,  bequem  die  Besteigung,  gerade  wie  auf 
einer  (allerdings  viel  schwereren)  Leiter  gestattet.  Ein  Apparat  zu 
selbem  Zwecke  findet  sich  in  der  korresjHtndierenden  Ecke  vis-ä-vis 
allein,  nach  Art  einer  Doppelleiter  konstruiert,  nimmt  er  schon  so 
viel  Raum  in  Anspnich,  dal«  wir,  gute  N'erwendbarkeit  vorausgesetzt, 
dem  ersten  Apparat  wohl  den  Vorzug  einräumen  müssen. 


Fig.  6. 


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KoUektivauastelluug  d.  Polizcibdiürdeo  a.  d.  ätädtcuu&ätellung  m  Dretidoa.  335 


Eine  hfiufig  Torkommeode  Aufgabe  der  Polizei,  lOst  eine  kleine, 
unsobeinbare  Vonrichtong. 

Eb  handelt  sich  der  Behörde  sehr  oft  dämm,  eine  Zusammen- 
stellmig  Ton  Werkzeugen,  Schlttssehi  oder  anderen  mitunter  kleinen 

Gegenständen  lasch  zu  photographieren,  wegen  der  Raum-  und  Geld- 
enparois  ist  es  aneh  notwendig,  die  einzelnen  Gegenstände  entsprechend 

zu  gruppieren. 

Bisher  half  man 
sich  damit,  daß  man 
die  einzelnen  Gegen- 
stände mit  Faden 
oder  Draht  auf  eiiuT 
Fläche  befi'sti^'tf  und 
so  photographierte. 

Allein  dies  er- 
fordert Zeit,  die  man 
nicht  immer  zur  Ver- 
ffiguDg  hatiroddann 
macht  sich  auch  der 
Umstand  unange- 
nehm bemerkbar,daß 
die  kleinen  und  mehr 
oder  weniger  hohen 
Gegenstände  Schat- 
ten werfen,  die  das 
Erken  n  en  d  er  (1  egen- 
stände .  besonders 
wenn  Abzüge  auf 
Bronisilbcrpapior  er- 
zeugt werden,  unge- 
mein erschweren. 

Diesem  Uhel- 
stande  hilft  eine 
einfache  Vorrich- 
tung ah. 

Die  Gegenstände  werden  auf  eine  durchsichtige  Glasplatte  gelegt, 
unter  welcher  gegen  dieselbe  unter  Ab^  geneigt,  sich  eine  weiße  Fläche 
befindet  Anf  diese  Art  wird  das  Licht  auch  von  unten  nach  oben 
reflektiert  und  die  mfihelos  nach  freier  Wahl  und  rasch  auf  der  Glas- 
platte gruppierten  Gegenstände  können  ohne  weiteres  ohne  Schatten 
durch  den  Apparat  aufgenommen  werden,  der  an  einer  senkrecht  an- 


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336 


XVII.  Paui. 


Flg.  S. 


gebrachten  leiste  verschiebbar  anjj^ebracht  ist.  Die  abgebildete  Vor- 
richtung (Fig.  8)  dient  diesem  Zwecke '). 

Das  Menschen- 
und  Tierhaar, 
welches   in  der 

Kriminalistik 
schon  wegen  der 
Bestimmbarkeit 
seiner  Provenienz 
eine  bedeutende 
Rolle  spielt,  ist 
an  der  anstoßen- 
den Wand  durch 
eine  Reihe  von 

transparenten 
vergrößerten  Bil- 
dern dargestellt, 
während  eine 
Darstellung  des 
Dresdner  Fuhrwerkes  im  öffent- 
lichen Verkehr  mit  einem  Stadt- 
|)lan  den  Hintergrund  der  photo- 
graphischen Apparate  bildet 

Ein  Teil  der  Besucher  wid- 
met sich  der  Besichtigung  der 
hier  aufgestellten  Bioskope,  wel- 
che Darstellungen  von  Tatbe- 
standsiiufnahmen  und  ähnlicher 
(Jegenstände  enthalten,  während 
ein  anderer  Teil  den  Kriminal- 
aniateuren  zuhört,  die  in  mehr 
oder  weniger  richtiger  Beschrei- 
bung den  Zuhörern  die  Bedeu- 
tung von  Bildern  erläutern, 
welche  an  der  dritten  Wand 
des  Raumes,  unter  der  Auf- 
schrift :  Photographie  im  Dienste 
der  Polizei,  angebracht  sind. 


•  Ii  Die  plipii  licsprochcnen  App.nnitc  sind  von  ilcr  Firma  Aktieugcscllacliaft 
für  IMidtograplilK-lu'  lU-darfsartikel  vormals  llüttit,'  Sohn  in  Dresden  erzeugt 
iiud  au.sgc»tellt  wordcu  und  köjinen  bestens  enipfublcn  werden. 


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KoUekdTaiiMteUing  d.  PoUseibehSideQ  a.  d.  StidtenNtellitiig  in  Dieaden.  887 


Wir  finden  Aufnalniien  von  Personen,  die  im  Freien  unbemerkt 
für  Zwecke  der  Polizei  pboto^raj)hiert  wurden.  So  z.  B.  ein  Taschen- 
dieb während  einer  Auktion  (Fifr.O).  Es  kann  beispielsweise  jemand  den 
Verkehr  mit  einer  bestimmten  Person,  seine  Anwesenheit  an  hestinim- 
tera  Orte  leugnen  und  kann  gegebenenfalls,  durch  eine  mittelst  eigener 
hierzu  vorhandener  Apparate  und  die  mit  denselben  hergestellte  Photo- 
graphie dokumentarisch  überwiesen  werden.  Eine  redit  ÜBlale  Ge- 
Bchichte  stellt  ein  unter  den  obigen  Bildern  angebrachtes  Bild  dar. 
In  einem  Hanse  wnrde  ein  Einbmeh  TerUbt,  znfiUlig  hatte  der  Wirt 
nngeftbr  nm  dieselbe  Zeit  sein  Gescbift  mit  seinem  vor  das  Haas 
getretenen  Penonale  photographieren  lassen  nnd  znfiUligerweise  fiel 
der  Polizei  anf  diesem  Bilde  «fie  Photographie  eines  Mannes  aafi  der 
gewiß  nicht  zufällig  anwesend  war,  nachdem  bald  herauskam ,  dafi 
er  für  seinen,  der  Polizei  bekannten  Genossen  den  Aufpasser  ge- 
macht hatte.  Unterhalb  dieser  Photographie  finden  sich  Anklänge  an 
den  berüchtigten  Prozeii  Dreyfuß,  eine  drastische  Mahnung  an  Sach- 
verständige, sich  jederzeit  nur  streng  mit  den  Original ien  selbst  zu 
befassen  fdas  berüchtigte  Bordereau  wurde  den  Mitgliedern  des  Kriegs- 
gerichtes nur  in  Photographie  vorgewiesen),  das  Beispiel  einer  Brief- 
fälschung auf  photographisclieni  Wege. 

Aus  einem  Briefe  gleichgültigen  Inhaltes  sind  Worte,  welche  zur 
ZusaniHH  iistellung  einer  Mitteilung  kürzeren  Inhaltes  genügen,  heraus- 
geschnitten worden,  (Die  herausgeschnittenen  Worte  sind  schwarz 
ausgefüllt  !  und  wurden  in  Form  einer  Karte  zu  einer  neuen  Mitteilung 
vorbereitet,  welche  natürlich  mit  dem  Inhalte  des  Briefes,  wegen  der 
willkürlich  ausgewählten  Worte  nichte  gemeui  hat 

(Die  dem  Brief  entnommenen  Worte  sind  anf  schwarzem  Gmnde 
dargestellt,  nm  dieselben  drastisch  hervorznheben.) 

Wurd  nnn  diese  Karte  mit  den  zn  einem  neuen  Inhalte  verwen- 
deten Worten  pbotographierl^  nnd  werden,  was  leicht  geschehen  kann, 
durch  Betonche  die  Spuren  des  Ausschneidens  zerstört,  so  liegt  eine 
Photographie  absolut  echter  Schrifizflge  vor,  welche  der  Schreiber 
selbst  anerkennen  muß^  wiewohl  er  der  festen  Überzeugung  ist,  eine 
Karte  dieses  Inhaltes  nicht  geschrieben  zuhaben.  Wir  finden  weiter 
die  Abbildungen  des  photographischen  Ateliers  der  Polizeibehörde, 
Aufnalmien  nach  Berti  Hon  und  nach  dem  englischen  System  mit 
Spiegel,  Aufnahmen  von  laichen  und  einige  der  musterhaften  Bilder 
aus  den  Werken  Berti  1  Ions, 

Weiter  eine  Reihe  von  Bildern,  darstellend  erbroelHMie  Kassen 
und  Tatl)estandsaufnahmen,  Vergrölterungen  echter  und  duri'li  das 
Fenster  nachgefahrener   Schriftzüge,   eine  vergröberte  Urkunden- 


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338 


XVII.  l'AUL 


fälschunj::.  Die  Art  dos  Xfiehweises^eines  Holzdiebstahlea  durch  Über- 
einstimnmnj^  der  Photo^^raphien^der  Jahresringe  des  im  Walde  stehen 


;j^ehliehenen  Ilolzstaninies  und  des  beim  Täter  j^efundenen  Ab- 
schnittes, sowie  die  Thoto^^raphic  eines  fehlerhaften  Schuhes  mit 


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KoUektiTaoaiteOiiiig  d.  PoliieibeliÖTdeii  a.  d.  SOdtMOflatelliuig  in  Drasden.  889 


Fig.  11.    Teil  einer  ecliten  Unton*chiift 


Fig.  12.  Die  durcb  NachziefaeD  duidis  Fenster  geflUsdite  Untmdnift. 


Flg.  IS.  Zittern  infulgoiliobeu  Alten. 


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340 


XVII.  Paul 


der  von  diesem  erzeugten  Fußspur,  die  zur  ÜberfUlirung  des  Täters 
gedient  hat. 

In  der  rechtsseitigen  Seiten- 
nisclie  findet  sich  eine  Darstellunfi: 
einer  eigentüniUchen  Geheim- 
schrift, die  des  Interesses  wegen, 
das  sie  fand,  des  Breiteren  be- 
sprochen werden  soll. 

Dem  berüchtigten  Intriguen- 
spiele  der  französischen  Uöfe  war 
es  ganz  angemessen,  daß  der  Mi- 
nister der  auswärtigen  Angelegen- 
heiten unter  Ludwig  XVI.,  Graf 
von  Vergennes,  eine  eigene  Schrift 
einführte,  um  den  Überbringer 
selbst  gleichsam  durch  einen  Urias- 
brief  dem  Empfänger  auszuliefern. 

Der  nichtsahnende  russische 
Kurier  z.  B.,  der  vom  französi- 
schen Gesandten  eine  Empfehlung 
an  den  französischen  Ilof  mitnahm, 


Fig.  N. 

BaumstAmm,  im  Walde  stehen  geblieben. 


Sehulisohle  i>hot.   Fig.  15.   Spur  der  Schuhsolilc  als  Spiegelbild. 

Überreichte  mit  dieser  Empfelilungskarte  gleichzeitig  eine  vollkommen 
orientierende  Mitteilung  des  französischen  Gesandten  in  Petersburg 
über  die  Eigenschaften  des  Überbringers  und  den  Zweck  seiner  Reise. 


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KoU«ktiyaii«tenaiig  d.  PolkeibebSiclen  a.  d.  StldteMMteUaag  in  Drosdeo.  341 


£8  waren  zwei  Scbriften  im  Gebrauch,  eine  dekorative  und  eine 

chiffrierte. 

Bei  (h'T  dekorativen  spielten  vor  allem  die  i^arbeu  eine  ßoUe,  zu- 
nächst bedeudet: 

1.  weiß  =  Portufi^al,  4.  ^^elb  ==  England, 

2.  rot     =  Spanien,  5.  ^rün  =  Ilolland, 

3.  blau  =  Frankreich,  6.  grau  =  Sardinien, 
swei  Farben,  die  erste  oben,  die  zweite  unten,  bedeuteten: 


7.  weifi-rot 

8.  „  -blan 

9.  „  -gelb 

10.  „  •grttai 

11.  „  -gran 

12.  rot-weiß 

13.  „-blau 

14.  „  .gelb, 

15.  „  -grOn, 

16.  „  -gran, 

17.  blau-weiß 
■rot 


18. 
19. 
20. 

21.  ^  -j^rau 

22.  gelh-weil) 


'  Parma, 
Modena, 
Venedig, 
Genna, 
'  Lacca, 
Florenz, 
Kirchenstaat, 
Sizilien, 
Schweiz, 
Mainz, 
Trier, 
Köln, 
Bülin-cn, 
Pfal/hayem, 
Sachsen, 


23.  gelb-rot  Hannover 

24.  „  -grün  — ^  das  Laad  eines 


25.  gelb-gian      das  Land  eines 
katbolisehen  BeiehefOnten 

26.  grUn-weiß     das  Land  eines 
evangdisohen  Beichsfürsten, 

27.  grün-rot  =  eine  Reichsstadt, 

28.  ,  -blau  Dänemark, 

29.  „  -gelb  «=  Schweden, 

30.  priln-irran  =  Rußland, 

31.  grün- weiß  Polon, 

32.  -rot  =  Türkei. 

33.  grau-blau  ==  Osterreich, 

34.  „  -gelb  =^  l'ngarn, 

35.  „  -grün  =  österr.  Idolen. 


=  l'reulten, 
Die  erste  Farbe  links  dir  zweite  rechts: 

36.  weiß-rot    =  östKiederlande,    39.  weiß  grün  —  Tirol, 

37.  „  -Man  —ItaHoi,  40.    „  gran  — iYofderOsterreteb. 

38.  „  -gelb  »Mihren, 

Nach  der  Farbe  des  Bildes  kam  in  BetraeM  seine  Einfessnng, 
welche  der  Mode  jener  Zeit  angepaßt,  sich  ans  allerlei  allerdings  be- 
dentang87ollen  Schnörkeln  zusammensetzte. 

Die  Eintonng  gab  Auskunft  Über  ftnßere  Merkmale  und  Ver- 
hättnisse  des  Vorzeigers.  Bis  zu  25  Jahren  war  die  Einfassung  rund) 
bis  30  Jahren  oval,  bis  45  achteckig,  bis  55  sechseckig,  bis  00  qua- 
drati.sch,  über  60  rechteckig.  Den  Wuchs  zeigten  gerade  oder  gewirbelte 
Linien  der  Einfassung  an,  wobei  insbesondere  auch  die  Entfernung  der 
Linien  voneinander  bedeutungsvoll  war. 

Eine  schöne  und  große  Person  wurde  durch  weit  ab.stehende 
wellenförmige  Linien  bezeieimet.  die  Größe  durch  gerade  Linien,  Mittel- 
statur und  sc'lumen  Wuchs  bezeichneten  eng  aneinanderi^efügte  wellen- 
förmige Linien,  Mittelstatur  mit  schlechtem  Wuchs  enge  gerade  Linien, 


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842  XVU.  Paul 

eine  kleine  und  wolilfrewaelisene  Fij^ur  wurde  durch  eng  aneinander 
gesetzte  wellenförmige  Linien,  kleine  Figur  endlich  mit  schlechtem 
Wuchs  durch  enge  gerade  Linien  bezeichnet 

Einen  Buckel  bezeicbnete  ein  wÜlkfirUcber  Zug  nach  dar  Seite 
unter  der  Ein&ssnng;  Lahmheit  ein  betiebiges  Zeichen  Aber  der  Mitte 
der  Einfassnng. 

Die  GeeichtBzilge  fanden  ibreBeschieibnng  in  der  Mitte  desOberteUes 
der  Einfassung.  Eine  Rose  bedeutete  schön  und  freundlich,  eine  Tulpe 
schön  und  emsthaft,  eine  Sonnenblume  leidlich  schön,  aber  frenndlich, 

eine  Narzisse  mittelmäßig  schon  und  em:>tliaft,  ein  Satj-rkopf  garstig 
aber  freundlichi  endlich  ein  gehörnter  Widderko])f  liälMieh  und  emsthaft 

Einen  Augenfebier  zeigte  ein  einfacher  oder  doppelter  Punkt  ttt>er 
den  (iesichtszeichen  an. 

War  der  Beschriebene  verheiratet,  dann  schlang  sich  von  oben 
bis  unten  um  die  Einfassung  ein  Band,  welches  bei  Lediir^'n  fehlte. 
Den  Reulituni  bezeiclineten  12  um  die  Einfassung;  verteilte  Knüpfe, 
viel  Knöpfo  /.»i^'teii  eini^'es  Verniüjrcn  an,  während  das  Fehlen  der 
Knöpfe  überhaupt  auf  Armut  des  Htschriebcnen  hinwiesen. 

Trug  der  Beschriebene  eine  I'errücke,  dann  kam  in  die  Mitte  der 
Einfassung  von  oben  eine  Muscliel,  fehlte  diese,  dann  trug  der  Be- 
schriebene noch  sein  eigenes  Ilaar. 

Auch  die  Abaidit  der  fidae  fimd  ihren  Ausdruck  in  der  Einfossnng. 
Handelte  es  sich  um  eine  Heirat,  dann  war  das  Band  nur  um  die 
HUfte  der  Einfassung  geschlungen,  Bewerbung  um  ein  geisfliches  Amt 
wurde  durch  einen  klonen  Kreis  oder  eine  Null  an  der  Mitte  der 
unteren  länfassung,  Bewerbung  um  ZiTildienste  durch  2  kldne 
Kreise  swischen  den  Einfassungslinien  su  beiden  Seiten  des  Gesichts- 
zeichens  ausgedrückt 

4  kleine  Kreise  symmetrisch  zwischen  den  Einfassungslinien 
bedeuteten,  daß  der  Beschriebene  Kriegsdienste  suchte. 

Wecbselgeschäfte  wurden  durch  6,  Vergnügungsreisen  durch 
8  Kreise  ausgedrückt 

TLnndelte  es  sich  um  kaufmännische  Spekulationen,  sovertratdie 
Stelle  dvjä  Kreises  (beim  geistlichen  Amte  ein  Oval. 

fSelehrsiimkeit,  Wissenschaft  und  Kunst  bezeichneten  2  Ovale  zu 
beiden  Seiten  des  Oesiclitszciehens. 

In  gleicher  Wi  ise  Ik  deuteten  \  Ovale  eine  Erbschaft,  ()  Ovale 
einen  Besuch  bei  Verwandten  oder  Freunden,  8  Ovale  Staatsgeschäfte. 

War  die  Absiebt  unbekannt,  dann  blieben  .auch  die  Zeichen  fort. 

Die  Unterscheidungszeichen  deuteten  die  Religionen,  so  zwar  daß 
ein  Kolon  (:)  den  Katholiken,  Semikolon  0)  den  Lutheraner,  Tunkt  (.)  den 


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Kollektivansstellting  d  PolizoibebGrden  tu  d.  Stldtcaoutellimg  in  Dresden.  843 


Naturalisten,  Koninia  (,)  den  Reformierten,  (i»'(hinken8trich  ( — )  den 
Juden,  kein  Zeichen  den  Atheisten  kennzciclinotcn. 

Ein  Zeichen  unter  detn  Namen  diente  zur  An*rnh<>  des  Clianikters. 

So  wurde  Einsielit  mit  dtm  Zeichen  ^  ,  Einfult  dureli  einen 

Strich,  Narrheit  durch  ^}§§§§,  Leiclitsinn  aher  durcli  eine 
Wellenlinie  hezcichnet.  Waren  dem  Scliluli/.ciclien  zwei  Gänsefülichen 
(.,)  hei^efii^t,  so  l)edeutete  dies  Ehrlichkeit,  Ehrliehe  und  Redlichkeit, 
wurde  das  Zeichen  verdoppelt  so  war  es  für  Verschwiegenheit 
gehraucht 

Fand  eich  &ber  dem  Seblnßzeichen  ein  liegender  oo  so  war  damit 
ein  Hang  zur  Betrügerei  bezeichnet 

Ein  Punkt  über  dem  Schlußzeichen  bezeichnete  den  Spieler 
.  ;  ^  ein  Punkt  unter  demselben  ' — s  '  den  Verlobten,  ein  Strich 
jedoch  den  Trinker  ^>r?^^.  Kenntnisse  wurden  durch  Zahlen  ans- 
gedrückt:  1  bedeutete  Theologie, 

2  g  Jurisprudenz, 

3  »  ArzDeiwissenschaft, 

4  n  Naturkunde, 

5  „  Staatskunde, 

6  ^  Mathematik, 

7  S|»raclienkunde, 
b  bedeutete  ^^chriftstcllerci, 

9       „        mechanische  Künste 

0  ^  ^rcrin^'C  Kenntnisse 
in  irjrendcincr  Wissenschaft.  Mehrfache  Kenntnisse  wurden  durch 
Nebeneinanderreihen  der  Zahlen  ausgedrückt,  wobei  links  immer  die 
tieferen  Kenntnisse  zu  stehen  kamen.  Ist  die  Gesamtzahl  mit  dem 
Zeichen  .  ^  .  hervorg^oben,  dann  bezdchnet  dies  weaentÜdie 
Kenntnisse  der  angeführten  Wissenschaften  oder  Künste. 
Tafel  II  zagt  eine  solche  Karte. 

Vorzdger  des  Papieres  ist  Engländer  (gelbe  Farbe),  35  Jahre  alt 
<ninde  Einfassung),  Ton  großer  Natur  (Einfossnngslinien  sind  weit  von- 
«inander),  schSn  gewachsen  (Einfassungslinien  wellenförmig),  8ch5n 
von  Angesicht  aber  ernsthaft  (oben  in  der  Einfassung  der  Tulpe),  ver- 
heiratet (die  Einfassung  ist  umwunden),  sehr  reich  (12  Knöpfe  am 
Oval),  tiSgt  Perücke  (die  Muschel  über  der  Tulpe),  reist  als  Gelehrter 
um  seine  Kenntnisse  zu  erweitem  (oben  seitlich  von  Tulpe  zwei 
Ovale),  ist  evangelischer  Konfession  (hinter  dem  Namen  ein  Semi- 
kolon), besitzt  viele  Kenntnisse  (unter  dem  Namen  das  Zeichen  der 
Einsicht),  ist  redlich  (zwei  ( Jiinsefür>cheM  über  den  Zeichen  der  Ein- 
«icbt)^  verschwiegen  ^das  Zeichen  der  iuusicht  zu  beiden  Seiten  mit 


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344 


XVa  Paol 


Striclien),  lieht  da«  Spid  lüher  (h'iu  Schlußzeichen  ein  Punkt),  ist  in 
der  Jurispriitleuz  und  in  der  Ölaatswinseubchaft  erfahren  (ohen  links 
die  Zahl  25,  nachdem  2  zuerst,  besser  Jurist  als  Staatsmann),  und 
besitzt  gründtiebe  Bildung  (was  durch  das  Zeidien  der  Eiosiobt  unter 
der  Zahl  25  angedeutet  ist). 

Nachdem  bei  Anwendimg  dicBer  Methode  sich  viele  Schwierig- 
keitea  ergaben,  die  Karten  gedruckt  oder  geatocheai  werden  mnfiteo, 
nm  nicht  anfbiUend  su  sein,  so  nahm  der  Graf  bald  ein  nenea  Systeni 
zu  Hilfe^  ,,die  chiffiieite  Polizeischrift*. 

Hier  bedeutete  der  Buchstabe  N.  die  Statur  und  wurde  anschei- 
nend als  Abbreviatur  für  Nr.  in  die  linke  obere  Ecke  gesetzt,  indem 
die  Größe  des  Buchstabens  die  Größe  der  Statur  zum  Ausdruck  brachte. 
Nr.  bedeutet  unbekannter  Statur. 

Wird  das  N  durch  zwei  Striche  durchquert,  dann  hat  man  es 
mit  einer  verheirateten  Person  zu  tun,  ist  das  unbekannt,  dann  fügt 
man  ein  o  an  Xo,  wird  dies  bloß  vermuteti  dann  kommen  noch  die 
zwei  Querstriche  hinzu. 

Eine  VW'llenlinie  unter  dem  N  bezeichnet  den  Perückenträger, 
 bedeutet  ei^^enes  Haar,  ein  fehlendes  Zeichen  läßt  die  be- 
zügliche Frage  unentschieden. 

Die  Landeszugehörigkeit  wird  durch  Zahlen  nach  dem  oben  auf- 
gestellten Schema  angedeutet,  die  Zahlen  von  lü  ab  dicht  aneinander. 
In  Hinsicht  des  Alters  bedeutet: 

1  ein  Alter  bis    25  Jahre 

3  =      =  35  c 

4  s  s  40  5 
h    '      '  45  s 

6  i  =      ^  50  s 

7  5  c      -  55  = 

8  s  5      s  60  * 

9  5  s  über  60  s 

Innere  und  äui^ere  Eigenschaften  bringt  ein  Zahlenbmch  snm 
Ausdruck,  der  sowohl  im  Nenner  wie  im  Zähler  4  Ziffern  hat. 

Innere  Eiijenschaften  verrät  der  Zähler,  äußere  der  Nenner. 

Im  Zähler  bedeutet  an  Stelle  der  Tausender  die  Geisteskraft 
und  zwar  5  od.  9  viel  Einsicht,  2  od.  6  wenig  Einsicht,  3  od.  7  dumm, 
4  od.  8  närrisch.  1  unbekannt. 

An  Stelle  der  Hunderter  die  Sinnesart  1  od.  3  od.  5  od.  7  auch^9 
—  leichtfertig,  2,  4,  ü  od.  b  gesetzt,  0  unbekannt 


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KollektiTaaaatellaiig  d.  PolizeibelidrdeD  a.  d.  Stidteausatelliuig  in  Dfeaden.  346 


An  Stelle  der  Zehner  die  ilauptleidenschaften  4,  7  od.  5  verliebt, 

3,  8  od.  1  tmnksüchti^',  2,  0  od.  9  dem  Spiel  ergeben,  0  unbekannt. 

An  Stelle  der  ESner  die  VenDdgenirerhältiiisse,  1,  3  od.  6  reich, 

4,  7  od.  5  nicht  arm,  2,  8  od.  9  9xm,  0  unbekMiit. 

Im  Nenner  an  Stelle  der  Tausender  den  Wncha,  5  eohOn,  9  od 
2  schlecht  gewachsen,  6  od.  3  schief,  7  od.  4  bncklig,  8  lahm,  0  nn- 
bekannt 

An  Stelle  der  Hunderter  die  Gesichtsbildnng  1,  7  od.  9  schOn,  5 

od.  6  mittelmäßig,  2  od.  3  häßlich,  4  od.  8  einSngig,  0  nniwkannt 

An  Stelle  der  Zehner  Mienen  und  Geberden  1  od.  8  £rBiiiidli<A, 
7  od.  4  ernsthaft,  5  od.  8  stohs,  2  od.  6  betrübt,  9  unbedeutend,  0  un- 
bekannt. 

An  Stelle  der  Einer  die  Absicht  der  Reise,  2  Hehrat,  5  Zivil- 
dienste, 1  Kriegsdienste,  7  Wechsel-  oder  Handelsgeschäfte,  4  Ver- 
gnü^'unirsreisen,  9  Erbschaftsreisen,  3  Besuch  bei  Verwandten,  0  Reise 
in  geheimen  Aiifträ<:en,  S  Reise  als  Gelehrter,  0  aus  unbekannten 
Motiven.  Zu  Itemerken  ist,  daii  für  jede  Eigenschaft  immer  nur  eine 
Zahl  genommen  wird,  die  aber  gewechselt  werden  kann. 

Der  Stand  der  Person  wird  ebenfalls  durch  Zahlen  angedeutet: 

1  bezeichDet  geistlichen  Stand, 

2  s  den  Soldaten, 

3  s  s  Ktinstler, 

4  5  5  Kaufmann, 

5  ;  s  Schauspieler, 

6  5  5  Privatbeamten, 

7  s  s  Staatsbeamten, 

8  i  !  Privatmann  ohne  Stellung, 

9  s  =  Werber. 

Die  Kenntnisse  erfahren  ihren  Ausdruck  durch  die  bei  der  deko- 
rativen Schrift  erwähnten  Zahlen. 

Verschwi^lfenheit  zeigt  man  durch  zwei  Gänsefüßchen  an,  welche 
die  Zahlen  der  Landsmannschaft,  des  Alters,  des  Standes  und  der 

Ken ntni sse  ei n sch  1  iel  »en . 

Eine  gewellte  kurze  Linie  unter  dem  Namen  der  Person  bezeichnet 
Ehrliehkeit  und  Redliehkeit,  sind  diese  Eigenschaften  zweifelhaft,  dann 
tritt  an  die  Stelle  des  gewellten  Striches  ein  gerader  Stricii,  den  Betrüger 
kennzeichnet  eine  unter  dem  ganzen  Namen  verlaufende  Wellenlinie. 

Die  Religion  kommt  wie  bei  der  dekorativen  Schrift  zum  Ausdruck. 

Das  Zeichen  v —  unter  die  Kenntnisse  und  Stand  beseich* 
nenden  Ziffern  gesetzt  bedeutet  Wahrheitsliebe. 

Aickir  fir  KriaiaalMithniiologi«.  XIU  2S 


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846  Xm  Pacl 

Was  unbrkatint  ist.  wird  durch  oinon  HorizODtai8tricb|  durch  eine 
Null  oder  durch  eini^ro  Punkte  anj^edcutct. 

bemerkenswert  in  Hinsicht  der  Anordnunp:  der  Zahlen  war  noch, 
dal'»  links  fht  raldisch  rechts)  die  Zahlen  der  IvcibescrölW,  des  Ehe- 
biindes  und  -lalires,  daneben  die  Ziffern  der  Heimat  un<l  des  Alters, 
dann  die  in  Bruchform  angeordnete  Geisteskraft,  Sinnesart,  Hauptleiden- 
schaft,  Vermögen,  Leibeswnchfl^  Genehtsbildang,  Miene,  Gebärden  und 
Absicht  der  Beise  zu  stehen  kommen. 

ScblieOliob  stand  in  der  Mitte  der  Karte  der  Käme  des  Über- 
bringers bezw.  des  Besitzen  und  gleich  hinter  dem  Nenner  das  Reli- 


RECOMMANDE  A  MONSIEVR  LE  COMTE  DE 
VERGL'\ME$    P^R  LE  COMTE  DE  RIAMCOURT 
AnBAS3ADEl'R  DE  FRANCE  A  l^iCOUK 
DE  PETEK^BOUaa. 


¥ig,  16. 

Die  Torstehende  Karte  entziffert  nachstehende  Legende:  Herrltiedr. 
Yon  Springthal  ist  groß  von  Person,  das  N  ist  groß,  unbestimmt  ob 
ledig  oder  verheiratet,  denn  nach  dem  N  steht  eine  0,  wahrschein- 
lich ledig,  da  die  Querstriche  durch  das  N  fehlen,  trägt  eine  Perfickei 
die  wellenförmige  Linie  unter  dem  N,  ist  aus  FfÜsbayem,  20—7,  ist 
zwischen  50-55  Jahre  alt,  der  7  in  der  letzten  Zahl,  verschwiegen, 
d»  im  die  Zahlen  sind  „ — eingescidossen,  besitzt  viel  Einsicht,  5  im 
Zähler,  ist  <re^t  tzt,  4  im  Zähler,  ein  Spieler,  6  im  Zähler,  nicht  arm, 
7  im  Zäider,  schön  gewachsen,  5  im  Nenner,  mittelmäßig  schön  von 
Angesicht,  G  im  Nenner,  von  ernsthafter  Miene,  7  im  Nenner,  suclit 
Krio^dienste,  1  im  Nenner,  versteht  KStiiatskunde,  5  rechts,  Mathe- 
matik 0  reehts  und  Sprachen  7  reclds,  ist  .Soldat.  2  rechts,  kennt  die 
Wahrheit,  unter  den  Zahlen  der  Kenntnisse  und  des  Standes  — - — , 


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KollektivMustelliiiig  d.  PoHieibehSrdeii  «.  d.  BtidteMmtellnng  In  Dresden.  847 


ist  Kalholik,  hinter  dem  Namen  ein  Kolon^  und  ein  Betrüger,  der 
Name  ist  mit         -  unteratriohen. 

SchlieUlieb  findet  noch  ein  widitiger  Teil  des  Dienstes  seine 
Darstellung-,  indem  in  sehr  nett  ^ehidtenen  Miniaturnachbildunfren  die 
Einriclitunfjen  des  hauptstädtischen  Meldeamtes,  der  Evidenz-  und  \'ip:i- 
lantenbureaus  mit  photoii^raphisehen  Abbildungen  der  Tnnenniunic  der 
betreffenden  Stelleu  reclits  und  links  vom  Einj^ang-e  in  «len  Hauptraum 
anfrebracbt  sind.  In  dem  anstoßenden  Ilaunie  bat  auüer  den  bereits 
ernälinten  Urkunden  das  Polizeiamt  in  Leipzig  eine  Darstellung  der 
Innenräume  des  Polizeigebäudes,  zwei  Bilder,  darstellend  die  Unifor- 
mierung  der  Polizei,  und  bemerkenswerter  weise  auch  eine  Photo* 
graphie  zur  AnasteUnng  gebracht,  welelie  die  Terwendnng  der  Hunde 
im  PolizeidieDflk  feetatelh. 

Die  AasBteUiiDg  yer7oll8tliidigcn  PUtaM»  des  Stadtgebietes,  des 
AmtshaiueBy  des  Batshantes,  sowie  eme  Zosammenatelhiiig  der  weseot- 
liehen  Bebelfe  der  Potizeibehöide. 

Denselben  Baum  fttUt  anoh  die  Ansstellnng  des  PoHieiamtes 
Chemnitz,  welches  eine  Abbildung  der  Geeamtmannschaft,  Bewaffnung 
Schließzeuge,  Beförderungsmittel,  eine  Anzahl  historischer  Urkunden 
nicht  minder  einen  Stadtplan  und  in  mehreren  Photographicen  den 
Dienstbetrieb  im  QeCangenenbanse  und  in  einer  Polizeiwache  zur  Dar- 
stellung bringt. 

Erwähnenswert  insbesondere  das  Modell  eines  Gefangenenwagens 
für  9  vollkommen  isoliert  unterzubringende  Gefangene^  die  sich  wäh- 
rend des  Transportes  nicht  besprechen  können,  während  bemerkens- 
wertervveise  während  der  Fahrt  der  Regleitniann  mit  dem  Kutscher 
durch  ein  Sprachrohr  verkeliren  kann.  Die  sehr  zweckmäßige  Ein- 
richtung ist  patentamtlich  geschützt. 

Nach  Abfassung  dieses  Berichtes  will  ich  mich  auch  nicht  der 
Beantwortung  der  Frage  entziehen,  die  mir  Tielseitig  vorgelegt  wurde, 
ob  denn  diese  Ansstellnng  wiiklieh  Geld  nnd  Mfihe  lohnen  mid  ob 
sie  einen  Erfolg  bringen  werde. 

Knuy  ich  kann  die  Frage  sofort  mit  einem  entschiedenen  nnd 
fiberzengten  Ja  beantworten.  Die  Ausstellung  ist  Tor  allem  ein 
sprechender  Erfolg  des  nnermfldlichen  Vorkämpfers  auf  dem  Gebiete 
der  Kriminalistik,  der  Kenner  des  Groß  sehen  Handbuches  wird 
darüber  bei  Besueh  der  Ausstellung  nicht  einen  Augenblick  im  Zweifel 
gewesen  sein,  denn  es  ist  hier  klar  dargelegt,  daß  manche  Anregung 
der  Theorie  in  der  Praxis  erfolgreich  auf  fruchtbaren  Boden  üeL 

Ich  verfolge  seit  mehr  als  einem  Dezennium  die  Entwicklung  auf 
diesem  Gebiete  und  kann  behaupten,  daß  gerade  in  den  letzten  fünf 

23» 


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948       XVII.  Paul»  KoUektiTMusteUoiig  der  Polisoibeböidai  usw. 


Jahren  der  Fortschritt  in  der  exakten  Arheit  sowohl  bei  der  PoHzoi 
wie  bei  (Jericht  ein  bedeutender  ist.  Wesentlichen  Anstoß  zum  Fort- 
schreiten gaben  der  antbroponjetrische  Kongreß  in  Berlin  und  die  Aus- 
stellung der  Polizei  in  Wien  und  nun  bat  gewiß  auch  die  Ausstellung 
in  Dr^en  einen  gewaltigen  Impuls  gegeben,  welcher  sieh  snnSchat 
«nf  dem  Gebiete  der  Daktjrloskopie  zeigen  wbrd.  Aber  aofieidein  wird 
80  DMiicbeBi  was  wir  bier  nur  ab  YerBaehasHIok  aehen,  in  Kfine  als 
praktiaeh  eiprobter  Fall  anm  Nutzen  der  Qeaamtheit  gcObt,  denn  alle 
Beamten  des  BeaaortB  ffiblen  mit  Stolz  die  Aneikeanong,  die  ibnen 
das  Pnblilnim  zollt,  ate  iat  ibnen  ein  Anapom  zn  wetleier  erapiiefi- 
lieber  IMgkeit 

Und  noch  eines  nnd  nicht  das  kleinste  Moment  iat  ea»  daa  den 
wesentlichen  Nutzen  bringt;  die  Behörden  führen  Neuemngen  spontan 
nieht  ein,  es  müssen  zuvor  immer  riele  vorarbeiten,  sie  mfiasen  daa 
branchbare  oft  auf  den  verschiedensten  Gebieten  des  Wissens  zusam- 
mensuchen nnd  in  verwendbare  Formen  kleiden;  das  venirsacht  aber 
Mühe  und  AH)f'it,  allein  alle  Behörden  verfügen  über  viele  pflichteifrige 
Beamte,  welche  einen  Ehrgeiz  darein  setzen,  durch  solche  Kleinarbeit 
das  große  Ganze  zu  fördern.  Die  gelehrigen  Schüler  des  Meisters 
Groß  mehren  sich.  Die  einzelnen  Mitarbeiterfinden  reichen  Lohn  in 
den  Erfolgen  der  Behörde.  Auch  diesen  Umstand  will  ich  hervor- 
heben, er  ist  die  beste  Gewähr  für  den  Erfolg;  die  Ausstellung  wird 
auch  in  dieser  Hinsicht  eine  mächtige  Anregung  gegeben  haben;  das 
Bestreben,  hinter  den  anderen  nicht  zurückzubleiben,  wird  bei  dem 
Einzelnen  nnd  aomit  aneh  bei  den  B^Orden  die  böebste  Vollendung 
enstrebenawert  machen  und  mit  der  VenroUkommnnng  der  Biniieb- 
tnngen  zum  Schutze  dea  fihizelnen  wird  auch  daa  Anaehen  der  Be- 
hörde ateigen. 

Damm  anf  Wiedersehen  bd  der  niobrten  boffentlieb  internatio- 
nalen AnaateUungt 


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xvm 


Zam  FaUe  auf  8. 320  im  XU.  Bd. 

Ton 

JEL  aroIlB. 

«Nil  noTi  sab  sole"  isl  doch  richtig.  Hein  verehrter  Kollege 
Haberda  in  Wien  hat  die  Güte,  darauf  aufmerksam  zn  machen,  daß 
in  der  Tat  ein  ihnlicher  iUl  verOffentBeht  wnide. 

Lebrnn  teilt  in  den  Annales  de  la  Soci6t6  de  med.  leg.  de 
Belgiqne  1899  Bd.  XI  p.  9  u.  ff.  mit:  Eine  Mutter  trat  mit  der  An- 
zeige auf,  ein  Mann  habe  ihre  fünfjährige  Tochter  in  seine  Wohnung 
gelockt,  sie  ausgezogen,  aufs  Bett  gelegt  und  dann  Ton  einem  männ- 
lichen Affen  gebrauchen  lassen.  Während  er  den  Affen  mit  einer 
Hand  am  Halse  hielt,  brachte  fr  dessen  Penis  in  die  Vulva  des  ^liid- 
chens.  Dies  wiederholte  er  soluii'^o,  bis  der  gelehrifre  Affe  den  Kuitut. 
seihst  ausübte.  Indessen  soll  der  Mann  zugesehen  und  inasturliierl 
haben.  Das  Mädclien  wurde  gehchtsärztüch  untersucht,  das  Ergeb- 
nis war  ein  negatives. 

Die  Sache  führte  zu  keiner  Anklai^e,  weil  die  Aussagen  des 
Kindes  hierzu  nicht  für  ausreichend  erachtet  wurden. 


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XIX 


Forensißch-psycliiatrisch-psychologische  Randglossen  zum 
Prozesse  Dippold,  iDsbesondere  über  Sadlsmns. 

Medisimdnt  Dr.  P.  NIoke  in  Hobtttoabiiqr. 

Anfang:  Oktober  1903  spielte  sich  in  Bayreuth  ein  Prozel'i  ab,  der 
allenvärts  die  tiefste  Entrüstunf?  hervorrief.  Ein  24 jähriger  Student  der 
Rechte,  namens  DippoUl,  hatte  zwei  ihm  zur  Erziehung  übergebene 
Knaben  von  1 3  und  1 A  Jalircn  längere  Zeit  hindurch  auf  das  Furcht- 
barste geprügelt,  gc(iuält  und  auf  alle  Art  mißhandelt,  so  dal)  der  jüngere 
an  den  erlittenen  Hcseliädigungen  starb.  Der  Übeltäter  ward  zu 
8  Jahren  Zuchthaus  und  10  Jahren  Ehrverlust  verurteilt. 

Die  Wogen  der  sittlichen  Empörung  gingen  hoch,  nicht  bloß  bei 
den  Zuhörern  der  gerichtlicheil  Yerliandlungen,  sondern  in  der  ge- 
samten Pnese  und  hierbei  ist  von  Laien  viel'Bichtiges  gesagt  worden. 
Fttr  den  F^chologen  ist  der  Prozeß  fut  fiberall  interessant  und  er 
demonstriert  gerade  sehr  gut  gewisse  Tatsachen,  die  nnr  sn  leieht  ttbe^ 
sehen  werden;  andererseits  deekt  er  mancheilei  SchSden  anl  So 
monstrOs  aber  auch  der  Prozeß  ist,  so  dürfte  er  doch  in  nnserer  schnell 
lebenden  ZeÜ^  die  fortwiihrend  durch  nene  Eindrücke  in  Atem  gehalten 
wird,  sehr  bald  vergessen  werdm,  mag  er  auch  in  seiner  Art  wahr' 
scheinlich  einzig  dastehen.  Es  wäre  also  nnr  wenig  verlockend,  den- 
selben quasi  psychologisch  paraph rasieren  zu  wollen.  Um  dies  in  der 
richtigen  Weise  tun  zu  können,  müljtc  man  außerdem  wenigstens  das 
ganze  Aktenmaterial  vor  sich  haben  oder  doch  die  stenographischen 
Berichte  der  rierichtsverhandlungen.  während  man  jetzt  nur  auf  die 
Zeitungsberichte  angewiesen  ist.  Und  bekannt  ist  ja,  dal)  diese 
durchaus  nicht  immer  zuverlässig  sind  und  in  verschie- 
denen Referaten  sogar  nicht  selten  sich  direkt  wider- 
sprechen. Will  man  also  die  nötige  Vorsicht  üben,  so  darf  man  nur 
die  Tatsachen  und  Äuberungen  'als  wahr  hernehmen,  die  in  den 


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Foreodacb'psydiiatttodi-pqrdiologiBdie  Randi^oBaen  sum  Ptozcsm  Dippold.  861 

HanptblSttern  iimner  wiederkehren.  Die  Schlüsse  werden  also  stets 
reserviert  sein  niü8s«'n. 

Anders  steht  es  al)er.  wenn  man  von  den  Personen  möglichst 
absieht  und  nur  gewisse  Tutsachen  zum  Ausgangs[)unktc  aligemeiner 
Betrachtungen  nimmt,  die  teils  alte  Lehren,  möglichst  im  nenem  Ge- 
wände, bestfitigen,  teils  wenig  bekannte  oder  gar  unbekannte  Bahnen 
aufzeigen  sollen.  Dies  scheint  mir  ein  sehr  nützlicher  Weg  zu  sein 
und  ich  will  ihn  beschreiten.  Im  folgenden  sind  daher  bis  auf  einen 
alle  Namen  onterdrfickt  worden. 

Unser  Hanptinteieefle  erfordert  narariiob  der  Angeklagte  Dippold 
selbst  Hier  handelt  es  sich  um  zwei  Fragen:  1.  Ist  er  geisteskrank 
gewesen?  nnd  2.  war  er  ein  Sadist?  eine  iVage,  die  sich  soju^nr  dem 
Laien  aufdrängte.  Erst  eine  Beantwortung  derselben  wird  die  Zorech- 
nnngsfähigkeit  und  die  Strafhühe  resp.  die  Art  der  Unterbringung 
des  Beklagten  ergeben.  Hier  also  haben  wir  vollkommrae  Gelegen- 
heit, allgemeine  forense  Gesichtspunkte  zu  entwickeln. 

Ad  1.  War  Dippold  geisteskrank?  Der  Direktor  der  Kreisirrenan- 
stalt zu  Bayreuth,  Dr.  Kraussold,  hat  ihn  in  seiner  Anstalt  beobachtet 
und  für  geisti«^  gesund  erkUirt.  Leider  ist  nicht  ^esa^'t,  wie  laui^e 
lleat  in  der  Anstalt  j;ebliebeu  ist.  b  Wochen  dürfte  das  Minimum 
sein,  welches  die  Beobachtungszeit  in  einer  Irrenanstalt 
betrag;!  !!  sollte.  In  gewissen  verwickelten  I  ülK  n  aber,  wie  im  vor- 
stehenden, ist  die  Zeitdauer  zu  kurz.  Jedenfalls  ist  die  Beobachtung 
in  einer  Irrenanstalt  unendlich  viel  besser,  alsdieblofien 
mehrfachen  Besuche  des  Experten  im  Gefängnisse.  Daher 
sollte  m  den  dazu  geeigneten  Fillen  das  Gericht  stets  den  ersteren 
Modus  einschlagen.  Schon  deshalb  wäre  ein  Adnex  an  der  Strafanstalt 
für  ure  Verbrecher  sehr  erwUnscfat  Ein  anderweites  Korrelat,  das 
ich  wiederholt  Öfter  betonte,  ist  aber  auch,  daß  bei  jedem  Kapital- 
▼erbrechen  —  eüi  solches  liegt  bei  Dippold  yot  —  sowie  in 
allen  Fällen  von  sexuellen  Delikten  und  bei  außergewöhnlichen  Hand- 
lungen und  Motiven  ex  officio  die  psychiatrische  Expertise 
angeordnet  werden  sollte.  Freilieh  wäre  es  am  besten,  dieselbe 
auf  alle  Verbrecher  überhaupt  auszudehnen,  was  jedoch  leider,  an  den 
Kosten  und  andern  Umständen  scheiternd,  eine  bloße  Ttopie  ist  und 
wohl  sicher  Ideiben  wird.  i  e  1 1  e  i  c  h  t  k  «i  n  n  t  e  man  noch  die 
Greise,  etwa  von  TO  Jahren  ab,  der  Expertise  unter  werf  en , 
wie  zuerst  We  I  len  her  g  h  in  Amsterdam  1 901  vorsehluir.  Bez.  der  Frauen 
ist  endlich  bei  jedem  Ver^'ehen  auf  eine  Koinzidenz  mit  der  Menstruation, 
eventuell  mit  dem  klimakterischen  WU-r  zu  achten,  was  in  concreto 
der  Psychiater  am  besten  betreffs  ihrer  \\  ertigkeit  beurteilen  könnte. 


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352 


XIX.  Näcke 


Die  bloße  Beobachtung  ist  aber  noch  nicht  genügend. 
Heutzutage  kann  verlangt  werden,  daß  diese  auch  durch  eine 
genaue  kriniinalanthropologische  Untersuchung  ergänzt 
werde,  weshalb  vom  Experten  durchaus  Kenntnisse  auf  diesem 
speziellen  Gebiete  zu  verlangen  sind;  leider  fehlt  dies  freilich  noch 
sehr!  Es  ist  also  nur,  wie  ich  ausdrücklich  früher')  schon  her- 
vorhob, eine  Erweiterung  der  psychiatrischen  Expertise,  da  für  mich 
und  andere,  z.  B.  auch  v.  Kraff t-Ebing,  die  Kriminalanthro- 
pologie keine  für  sich  bestehende  Wissenschaft  darstellt,  sondern  nur 
eine  Hilfswissenschaft  der  forensen  Psychiatric.  Als 
solche  kann  sie  aber  gerade  in  zweifelhaften  Fällen  erkleckliche  Dienste 
leisten;  diejenigen,  welche  sie  unterschätzen,  zeigen  eben,  daß  ihnen 
hierin  die  nötige  große  Erfahrung  abgeht.  Über  den  Wert  der  Ent- 
artungszeichen überhaupt  habe  ich  speziell  wiederholt  mich  geäußert  *) 
und  sicherlich  denselben  nicht  überschätzt.  Er  ist  stets  nur  ein  relativer, 
ein  Index,  daß  wahrscheinlich  etwas  nicht  im  Lote  ist.  Dieser  soll 
zu  weiteren,  namentlich  psychologisch-psychiatrischen  Untersuchungen 
auffordern,  besonders,  wenn  es  sich  um  sogenannte  „funktionelle'' 
Stigmata  handelt,  die  viel  wichtiger  sind,  als  die  somatischen. 
Ob  nun  eine  so  geartete  Untersuchung  bei  Dippold  stattfand,  ist  nicht 
gesagt  Sie  hätte  vielleicht  einiges  ergeben,  da  es  einmal  heißt,  Dippold 
sei  blaß  und  unschön  erschienen,  der  reinste  Verbrechertypus.  Ge- 
häufte, sehr  zerstreute  somatische  Stigmen,  besonders  wichtiger  Art 
und  wiederum  namentlich  am  Kopfe,  würden  eine  geistige  Minder- 
wertigkeit bis  zu  einem  gewissen  Grade  wahrscheinlich  gemacht  haben, 
die  freilich  wieder  erst  psychiatrisch  festzustellen  ist  Denn  einerseits 
beweist  Fehlen  von  Degenerationszeichen,  besonders  äußerlichen,  noch 
nicht  Fehlen  von  Entartung,  ebenso  wie  andererseits  Stigmen  ohne 
Degeneration  einmal  da  sein  können.  Zu  vergessen  ist  auch  nicht, 
daß  es  ,,innere"  sein  können  (siehe  meine  Arbeit  hierüber)  oder  daß 
endlich  die  Entartung  sich  erst  später  im  Leben  zeigen  kann,  also 
latent  schon  bestand,  daß  endlich  ohne  jede  Anlage  und  ohne  jedes 
Stigma  die  Entartung  später  durch  Krankheit,  Sturz  auf  den  Kopf, 
Alkoholismus  usw.  erworben  sein  kann. 


1}  Näcke,  a  kriminalanthropologische  Themen  usw.  Dies  Archiv.  fL  Bd. 
a.  u.  4.  Heft.  1901. 

2)  Derselbe,  Die  »of^cnanntcn  äußeren  Degeuerationszeichen  bei  der  pro- 
gressiven Paralyse  usw.  Allgcm.  Zeitschr.  f.  Psych  Bd.  1899;  femer:  Einige 
„innere"  somatische  Degeuerationszeichcn  usw.  Ebenda.  öS.  Bd.  1902;  ferner: 
La  valeur  de»  t^ignes  de  (K'gem'rescence  dans  lY'tudc  des  maladies  mentale:«, 
Anuales  mödico-psychologiques  etc.  1891,  und  noch  in  andern  Arbeiten. 


Foreo8i8ch-pftycfautii8cfa-p8ycholo|(iiGfaeRandgloaMn  mm  Proseise  Dif^ld.  3&3 

Aber  mit  den  vorstehenden  Untersuch un^'cn,  zu  denen, 
womöglich,  speziell  psychologisch-experimentelle  mittels 
TestBUBw.  berangezogen  werden  sollten,  iat die  Unteranobnng 
noch  lange  nicht  abgeachloflaen.  Es  heißt  da  znn8ch8t  genau  die 
Anamnese  nnd  den  indiTidnellen  Lebensgang  des  Verbrechen  eigrttnden. 
Wie  weit  enteres  beiDippold  geschehen  is^  weiß  ich  nicht;  die  Zeitungen 
schweigen  hierüber.  FÖr  die  Beurteilung  des  Falles  ist  es  ja  klar,  daß 
es  Ton  großer  Bedeutung  ist  ob  erbliche  Belastung  durch  SdbstiDord, 
Trunksucht,  Schlagfluß,  Nerven-  und  Oeisteskrankbeiten  bei  einem  der 
Eltern  oder  beiden  oder  bei  den  Großeltern  vorliegt  oder  nicht,  in  zweiter 
Linie  bei  den  Kollateralen,  in  dritter  in  der  Deszendenz.  Die  Fran- 
zosen rechnen  unter  die  belastenden  Momente  aber  auch  noch  Schwind« 
sucht,  den  Zuckerham  und  die  ..rheumatische  Diathese'^  (Gicht  nament- 
lich), was  seinen  ernten  Grund  zu  haben  scheint. 

Iiier  ist  niclit  der  Ort,  auf  die  Schwierigkeit  des  Begriffs:  Erblich- 
keit und  alle  dieselbe  betreffenden  Fragen  einzugehen  el)enso\venig 
auf  die  fundamentale  Frage,  inwieweit  in  concreto  ein  Kausiilitäts- 
verhältnis  oder  eine  blobe  Koinzidenz  vorliegt.  Immer  wird  die 
erl)liche  Belastung  ihre  Wichtigkeit  behalten.  Die  Erfor- 
schung des  Lebensgangs  wird  namentlich  an  die  Kinder- 
jakre  anzuknüpfen  haben,  und  nicht  am  wenigsten  bez. 
der  Vita  sexnalis,  deren  Wurzeln  häufig  bis  hierher  zu  Terfolgen 
sind.  Aber  auch  die  Charakterkeime  des  spüteren  Menschen  sind  hier 
meist  schon  gegeben  und  schließlich  ist  der  Mensch  nur  das  Kind, 
dessen  angeborene  Kenne  sich  weiter  entwickelt  und  Tor  allem  an  das 
Milieu  adaptiert  haben.  Der  Kern  des  OharakterB  bleibt  hierbei  unbe- 
rtthrt  In  den  Zeitungen  erfahren  wir  nichts  von  Dippold  als  Kind. 
Da  er  sich  als  ein  ganz  verlogener,  grausamer  und  hocbmütiger  Mensch 
und  lIoh]koj)f  zeigte,  wird  man  wohl  ohne  großes  Risiko  diese  Eigen- 
schaften als  schon  früher  bestehend  ansehen  müssen.  Auf  der  Schule 
und  als  Student  soll  er  oft  zugeschlagen  haben.  Wichtig  ist  das  Ver- 
hältnis zu  Eltern  und  Geschwistern,  auch  zu  den  Tieren.  Wieder  er- 
fahren wir  nichts  hierüber,  ebensowenig  wie  von  der  Art  der  Studien 
und  dem  Umfange  seines  Wissens.  Er  wird  als  Kohlkopf  bezeichnet 
und  wjir  wahrscheinlich  trotz  seiner  gewandten  Rede  intellektuell  nicht 
hervorragend'-').  Auf  der  Universität  lebte  er  liederlich,  trieb  sich  mit 

1)  NeaerdittgB  bdiandelte  £.  Schwalbe  diee  vonfi^di  in  seiner  Axbelt: 
Das  Problem  der  Vererbang  in  der  Paäiologie.  Uilndiener  med.  Wodienichr. 

1903.  Nr.  37  u.  3S. 

2)  Beides  deckt  sit  h  oft  nicht  Auf  der  Schule  war  ich  mehrere  Jahre  mit 
einem  riesig  redegewandten  Knaben  zusammen,  der  aber  als  sehr  dumm  galt» 


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354 


ZIX.  Kien 


Dirnen  herum,  trotzdem  er  Bräutigam  war  und  yergeudete  des  Geld, 
das  Ihm  sem  Schwiegervater  gelieben  hatte.  Freeh  henahm  er  sieb 
bei  den  Vechaadlangcn,  noch  mehr  beim  Tnmsport,  zeigte  keine  Spar 
Ton  Rene  und  erachien  auch  durch  das  Verdikt  nicht  gebrochen. 
Auf  die  forchtbaren  Mißhandlungen,  die  er  den  ihm  anvertrauten 
Knaben  sntetl  werden  Uefi|  ward  schon  Mher  hingewiesen,  ebenso  daß 
Momente  vorlagen,  die  den  Sadismus  wahrscheinlich  machten,  was  wir 
gleich  berühren  werden.  Alle  diese  und  andere  Momente  ließen  ihn 
dem  Dr.  Eranssold  zwar  als  «geistig  minderwertig%  trotsdem  aber 
zurechnungsfähig  erklären. 

War  Dippold  Sadist  so  lautet  nnsere  zweite  Hauptfrage.  Ein 
Hauptpunkt  fehlt  hier  vollkommen:  die  Kenntnis  seiner  Vita  sexnalis, 
besonders  l)ozüfi:Iich  ihres  Anfangs  und  der  weiteren  Entwicklung. 
In  den  Zeitungen  ist  nichts  hiervon  zu  lesen,  doch  hielt  ihn  Dr.  Kraus- 
sold für  einen  Sadisten.  (!er.ide  bei  Eniirning  dieser  wichtigen 
Punkte  ist  man  meist  nur  un  die  subjektiven  Angaben  des  Gefragten 
gebunden,  da  nur  selten  anderweite  vorliegen.  Daher  die  grolie  Ge- 
fahr bei  sexual-pathologischen  Untersuchungen,  das  Opfer 
von  Schwindlern,  bewulUen  oder  unbewulUen  Lügnern  zu 
werden,  eme  Gefahr,  der  sogar,  wie  man  sich  erzählt,  v.  Krafft- 
Ebing  hie  und  da  erlag.  Man  kann  hier  also  bei  Erhebung  der 
Anamnese  nicht  vorsichtig  genug  sein!  Bei  Dippold  wfire  kaum  Sieherea 
zu  erfahren  gewesen,  weil  er  sich  als  ein  duräi  und  durch  verlogenes 
Subjekt  erwies.  Wichtig  wire  es  —  und  man  stände  hier  wenigstens 
anf  dem  Boden  des  Tatsächlichen  — ,  wenn  Genaneres  Aber  seinen 
Geschlechtsverkehr  mit  den  Dirnen  bekannt  geworden  wäre.  Ist  er 
Sadist  gewesen,  so  hätte  sich  hier  die  beste  Gelegenheit  dasn  geboten, 
da  gerade,  wie  man  weiß,  Sadismus  im  Verkehr  mit  pnellis  publicis, 
namentlich  in  den  Bordellen  großer  Städte,  etwas  sehr  Gewöhnliches 
ist  und  alle,  namentlich  die  feinem,  mehr  oder  weniger  darauf 
eingerichtet  sind.    Manches,  was  bei  Dippold  den  Zeitongniacb- 

spSter  jedoch  eiu  bckamiter  Uborbürgermeister  wurde.  Möglich,  dali  der  «Knoten 
rlB" ,  und  die  Intdligenz  spSter  nmahm ,  dodi  ist  dies  Bdten.  Dagegen  Icuia 
praktteebe  TQditigkeit  bestehen,  wie  hier.  Ihnlicfaee  adieint  dnigennafien  sndi 

bei  Ganilictta  i]vr  F;ill  ■rowcscn  zn  sein. 

1)  I>('r  N.iine  kommt  bi-kanntlich  vom  Manjuis  lU-  Sado  lior.  der  in  sfiiuM* 
„Justine"  und  „Juiiette'*  »eine  Phantasie  furnilich  in  sadistischen  Akten  .iller  Art 
schwelgen  UOt  Ob  er  danadi  wirklich  gehandelt  hat,  ist  nadi  Lacasaagne 
nnd  andern  doch  noch  nicht  so  si<  in  i .  «la  zw  ar  viih»  Prozesse  gegen  ihn  ange> 
strengt  wurden,  wciiiir  ^^icheres  alu  r  dalM-i  lu'iaiis  kam.  Eni  enhurfr,  Sadismus 
und  Masochismus  (Wicsltaden .  Bergmann,  IWl),  diiickt  sich  reserviert  über  ihn 
aus,  hält  ihn  aber  für  schwer  entartet. 


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Forentiseb-iMiydiiatritdi-iMy^^ologische  Randglonen  som  PMoMse  Dippold.  356 

richten  nach  sich  zei^e,  sprach  allerdings  für  ein  Bestehen  dieser 
sexuellen  Perversion.  Das  f;rausanie  Zuschlaj^'en  mit  allerlei  Stöcken, 
bis  das  Blut  erschien,  das  Erfinden  iiinner  neiuT  (^»iialen  für  die  armen 
Knaben,  besonders  aber  das  Sichweiden  an  raffiniert  ausfredachten 
Seelenschnierzen  lej^en  diese  Vermutung  sehr  nahe.  Dippold  lälit  bis- 
weilen den  einen  Knaljtn  den  andern  schlafen,  bringt  den  einen 
dazu,  die  schculiliclisten  Dinf^e  von  sich,  die  nie  geschehen  waren, 
an  die  Eltern  zu  berichten  und  sucht  auf  alle  Art  und  Weise  sie  in 
ihren  eigenen,  sowie  in  fremden  Augen  zu  demütigen.  Sie  sollen 
Tor  allem  glauben,  da5  sie  starke  Onamaten,  B<Miiit  seliwere  Sünder  sind, 
was  ihm  einen  scheinbaren  Grund  für  weitere  Hißhandlnngen  an  die 
Hand  gibt  Sogar  nachts  wacht  er  oft  auf  —  offenbar  aneh  dn 
ner?(taeB  Symptom!  —  und  mißhandelt  wieder  auf  andere  Weise 
die  armen  Kleinen,  denn  anoh  bei  der  Gransamkeit  gilt  das:  yariatio 
deleetat 

Hier  muß  ich  noch  einiiro  wichtige  Bonerknngen  Uber  Onanie  ein- 
flechten.  Dippold  glaubte^  die  Jungen  seien  Onanisten,  weil  sie 
manchmal  geistig  ganz  verwirrt,  sehr  zerstreut  und  oft  momentan  geistes- 
abwosond  gewesen  seien.  Der  Vater  weist  entrüstet  solches  als  unmög- 
lich zurück,  weil  die  Knaben  blühend  nuscresehen  hätten,  mit  frischem 
Gesichte  und  leuchtenden  Au^^en.  Ähnliches  beliaui>ten  auch  sogar 
Arzte.  Die  Sache  liegt  nun  vielmehr  so.  Man  nnil»  seltene,  niäliige 
und  sehr  häufig  ausgeübte  (niehruials  täglich)  Onanie  scharf  unter- 
scheiden. Bei  dt  n  2  ersten  Arten  wird  vorher  I)estehende8,  blühendes 
Aussehen  und  knabeiiliaftes,  frisches  Wesen,  bei  negativem  Befunde 
am  (jliede,  bleiben.  Bei  sehr  häufigeuj  Abusus  allerdings  könnte 
aber  wohl  einmal  starke  Abmagerung,  Nervosität  eintreten  und  sich  ein 
sehenee  Wesen  usw.  zeigen,  vor  allem  aberEntzfindungserscheinungen, 
Einrisse,  Ausfluß  am  Penis.  Hier  Uegt  jedoch  meist  die  umgekehrte 
Kausalität  vor:  weil  das  Kmd  nervISs,  schlecht  genährt  usw.  ist,  ona- 
niert es.  Merken  wir  das  also,  daß  es  fflr  Onanie  kein  absolut 
sicheres  Zeichen  gibt;  nur  Verdachtsmomente.  Denn  selbst 
die  entzündlichen  Erscheinungen  am  Gliede  usw.  könnten  anderswo 
herrflhren.  Endlich  wird  der  Nachteil  der  Onanie  sehr 
fibertrieben.  Ob  wirklich  daraus  Nerven-  oder  Geistes- 
krankheiten entstehen,  wie  manche  glauben,  ist  mehr  als 
zweifelhaft.  Nur  ein  Kranker  onaniert  frenetisch,  nie  ein 
Gesunder.   Letzterer  gibt  es  auch  meist  bald  auf  0* 


1)  Sielio  hitriilter  nieino  eingehenden  Betrachtungen  in:  Die  scxuelleo Perver- 
dtiten  in  der  Irienanstait.  Wiener  klin.  Randschan.  1899.  Nr.  27—30. 


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366 


XIX.  Nlcn 


Was  aber  nirgends  erwähnt  ist,  ist  der  Umstand,  ob  Dippold  bei 
seinen  gemeinsamen  Züchtigungen  usw.  Erektionen  mit  Samenergofi 
hatte  oder  omnieite.  Bnteies  hSttea  Jungen  Bchwerlicb  sehen 
können,  wohl  aber  letzteres  und  doeh  sagt  der  ftberiebende  Knabe  tot 
dem  Fomm  nichts  hierflber  ans.  Ob  Dippold  darüber  befragt  wurde, 
weiß  ich  nicht  Bei  seiner  LOgenhafÜgkeit  wire  aber  anf  die  Aussagen 
nichts  zu  geben  gewesen,  wohl  aber  wenn  man  ihn,  ohne  ihm  nftheree 
ansndenten,  nach  seinen  Trftnmen  gefragt  hStte^  welche  in  sweif  el- 
haften  Füllen  sicher  das  beste  Diagnostiknm  anf  perverse 
Gescblechtsbetätignngen  sind,  da  sie  dieselben  bis  in  die 
feinsten  Details  hinein  sn  geben  pflegen,  nota  bene  aber  nur, 
wo  solche  Perversionen  angeboren  sind').  Femer  ist  hierbei 
nicht  ein  Traum  maßgebend,  sondern  nur  eine  Reihe  solcher,  da  auch 
hier  bisweilen  „Kontrnst-Träuine'"  vorzukoTiimen  scheinen,  wenigstens 
wurden  solche  bei  Ilett  rosexuelleii  beobachtet.  Auljerdem  können  bei 
gewissen  sexuellen  Zwisclicnstufon  homo-  mit  heterosexuellen  Träumen, 
bei  angeborener  Konil)ii)ation  von  Sadismus  und  Masochisnius  auch 
sadistische  und  masochistische  Träume,  eventuell  sogar  noch  mit 
homosexueller  Färbung  usw.  auftreten. 

Könnte  nicht  aber  bei  Dippold  auch  Homosexualität  oder  homo- 
sexueller Sadismus  vorgelegen  haben?  Ob  Reat  homosexuell  beanlagt 
war,  wissen  wir  mcht  Daß  er  viel  mit  Dirnen  Terkelirte,  spricht 
eher  dagegen,  da  der  „echte*  Urning  einen  horror  feminae  hat,  trotzdem 
könnte  es  ans  Terschiedenen  ürsachen  einmal  geschehen  oder  bei 
psychischer  Hermaphrodisie  dar  Fall  sem.  Wir  erfahren,  daß  Dippold 
die  Jnngen  öfter  mit  herau^esogenem  Hemde  hemmlaufen  Heß,  sich 
Tor  ihnen  sans  gtae  beim  Baden  entblößte^  sie  wiederholt  heizte  und 
kQßte,  sie  nachts,  anch  tags  mehrmals  unzüchtig  berührte*),  sie  selbst 
bis  auf  das  Klosett  verfolgte,  mit  ihnen  in  einem  gemeinsamen  Bette 
schlief  und  sie  wiederholt  auf  die  Hinterbacken  schlug,  anch  auf  die 
Genitalien.  Das  klingt  allerdings  höchst  verdächtig!  Das  wOrde 
sehr  für  Homosexualität  sprechen,  obgleich  der  echte  Ilomo- 
sexuelle  gerade  mit  Knaben  sich  gewöhnlich  nicht  ab- 
gibt. Wir  erfaliren  nicht,  ob  Dijiiiohi  bei  diesen  unzüchtigen 
Handlungen  Samenergul)  mit  oder  ohne  Erektion  hatte.  Sehr  eigen- 
tümlich berührt  es,  daß  Dippold  die  Jungen  schlägt,  weil  sie  angeblich 

1)  Siehe  hierfiber  Nteke;  Probleme  auf  dem  Gebiete  der  HomoeexmlitSt 

Allgcm.  Zcitscbr.  f.  I'sydi.  ii^^w  59.  Bd.,  und:  Die  fornuiBohe  Bedentang  der 

Trftuue.  T^ios  Archiv.      IU\.  S.  1 

2)  Mäcke,  Probleme  auf  dem  Gebiete  der  UomosexualiUU.  Allgem.  Zeitschr. 
f.  59.  Bd.  1002. 


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Fonodsch'pBydiUitHech'piij'cbologische  BandgloBsen  zum  ProBease  IMppold.  367 

jrcheinie  Ju^^urKisüiulen  trieben,  die  er  an  ihnen  selbst  dann  oft  aus- 
führte. Man  könnte  saj^en,  es  geschähe,  um  ihnen  Sclinierzen  zu 
bereiten  —  darüber  kla^rten  die  Jungen  iil)er  nie  und  nur  einmal  soll 
er  sie  blutig  manustupiert  haben  —  oder  sie  in  ihren  eigenen  Augen 
lierabzusetzen,  also  ans  sadistischem  Triebe,  oder  gar,  um  ihnen  das 
ODanieren  anzugewöhnen,  was  noch  teuflischer  wSre.  Nfther  aber 
liegt  hier  die  Annahme  rdner  homosezaeller  Handinngen  Yor.  Diese 
stehen  den  Mißhandlungen  köiperlioher  und  seetisoher  Art  allerdings 
sehr  nach,  so  daß  man  an  sadistische  luFenrion  wohl  su  denken  hJitte^ 
wobei  das  Mißhandeb  dem  Dippold  mehr  Vergnfilgen  bereitete  als 
bloße  homosexuelle  Praktiken  und  zur  geschlechtlichen  Befriedigung 
all^  schon  genügten. 

Da  es  aber  für  den  Begriff  der  Zurechnungsfähigkeit  von 
höchster  Bedeutung  ist,  zu  wiBsen,  ob  Sadismus  mit  oder 
ohne  Homosexualität  besteht  und  in  welchem  Grade,  ob 
er  angeboren  oder  erworben  ist,  so  sollte  in  solchen  schwie- 
rigen Fällen,  wie  der  vorlieijende,  stets  ein  spezieller  Sach- 
verstän  di^^er  in  diesen  Fragen  angegangen  werden,  wjis 
leider  nicht  geschehen  ist.  Als  solche  wären  z.  H.  Moli  in  Berlin 
oder  V.  Sc hrenck- Notzing  in  München  zu  hören  gewesen,  wie  sie 
denn  ja  oft  genug  für  ihre  speziellen  Fächer  vernommen  werden. 
Der  gewöhnliche  Psychiater  und  Gerichtsarzt  kann  es 
nicht,  da  das  Gebiet  der  sexuellen  Pathologie  eben  schon  zu  groß 
ist  und  nur  Ton  wenigen  beherrscht  wird. 

Und  hiermit  kommen  wir  auf  das  schwierige  Kapitel  der  so 
wichtigen  Zurechnungsfilhigkeit  zu  sprechen.  Es  fragt  sich  also  in 
einem  unserem  obigen  ähnlichen  Falle  zunächst:  besteht  eine  sexuelle 
Penrenion  oder  nicht?  und  welche?  Freilich  hätte  man  noch 
die  Vorfrage  zu  stellen:  Kommt  dieee  allein  für  sich,  ohne  weitere 
krankhafte  Symptome  Tor?  Die  meisten  Autoren  ?emeineii  dies» 
vor  allem  v.  Kraf  f  t-Ebing,  der  ihr  sogar  eine  schwer  degenerative 
Bedeutung  beimißt,  während  Moll  reserviert  sich  ausspridit;  und  wohl 
mit  Becht,  soweit  es  sich  um  angeborene  Zustände  handelt  In  bezug 
auf  Homosexualität  glauben  dagegen  neuerdings  andere  —  ich  gehöre 
ebenfalls  darunter')  — ,  daß  sie  auch  bei  ganz  normalen  Indi- 
viduen (in  der  gewöhnlichen  Variationsbreite  normal)  existieren  luuin. 

1)  Moll  (Untennehniigeii  Aber  die  Libido  sexiialis,  Berlin  1897/98,  1.  Bd.) 
hält  es  für  einon  Fdiler  nnd  Intom,  wenn  ein  itrimlpieller  Untencbied  zwiedieo 

anpel>orcncn  und  erwurbcncn  Zuständen  gemacht  wird.  Ich  kann  ihm  hierin 
nicht  Kccht  avhvu ,  da  /.  H.  /.Asiachen  echter  Penrenion  und  Pseodu-Perveruon 
ein  riesiger  L  ntcmhicU  besteht. 


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368 


XIX.  Nackb 


Das  vMi'  Erfordernis  wird  also  sein,  festzustellen,  ob  die  Perversion, 
(Sadismus  usw. I  angehören  oder  erworben  ist.   Das  ist  durchaus  nicht 
iniuier  leicht  zu  entscheiden,  bisweilen  so^ar  unmöglich,  da  wir  über 
die  intime  Vita  sexualis  des  Betreffenden  8o  oft  nur  weni^;  unterrichtet 
sind  und,  wie  schon  früher  jresa^;t,  nicht  ohne  weiteres  den  Aussagen 
trauen  dürfen.   Namentlich  bei  Unf^ebildeten  sind  die  Schwierij^keiten 
oft  große.    Haben  wir  alj>T  die  Perversion  bis  in  die  Jugend  hineiu 
verfolgen  können,  besonders  aber  sie  stets  in  gleicher  Art  in  den 
Träumen  wiederkehren  sehen,  so  sind  wir  berechtigt,  sie  als  angeboren, 
besser  gesagt:  eingeboren,  «umsehen.  Aber  Boa6s  greifen  m  alleriei 
Reizen,  um  die  gesunkene  Potens  m  heben,  so  nndh  sehr  gewöhnlich 
zum  Sadismus.  Da  solche  Praktiken  in  Bordellen  anflerordeotlioli 
▼erbreitet  sind,  so  ist  kanm  anzunehmen,  daß  es  hier  nur  ein- 
geboreae  Sadiiien  sind,  da  diese  in  ausgeprtgter  Form  wohl  nur 
sehen  sich  finden.  Die  Mehrzahl  d&rften  vielmehr  den  alten  Wfist- 
lingen  angehören,  und  wirklich  sind  es  meist  ältere  Leute.  Nun  wSte 
es  freilich  nicht  undenkbar,  daß  es  sich  hier  eventuell  auch  um 
tardiveFälle  von  Badismususw.  handelt,  ähnlich  wiev.  Krafft- 
Ebing  uns  die  tardive  Inversion   kennen  lehrte.    Dann  würde 
man  zunächst  verlaniü::en  müssen,  dab  der  normale  Koitus  auf  die 
gewöhnlichen  Reize  hin  unmöglich  wäre.    Das  trifft  allerdings  auch 
bei  vielen  l{ou('*s  zu;  sollten  sie  deshalb  tardive  Sadisten  sein?  Hier 
sehe   ich   keine   andere    Entscheidun^^smöj^lichkeit,  als 
wiederum  seriale  Träume  zu  beachten.    Ein  tardiver  Sadist 
wird  nur  noch  sadistisch  träumen,  während  er  es  vorher  nicht  tat. 
Ob  tatsächlich  solche  Fälle  bekannt  wurden,  weiü  ich  freilich  nicht. 

Wir  nehmen  nun  an,  daü  es  feststeht,  der  Beat  sei  ein  echter, 
eingeborener  Sadist  .Wir  haben  dann  zwei  weüere  Fragen  uns  Toiam» 
legen.  1.  Ist  er  sexuell  hyperSsthetisch,  und  2.  kann  er  leicht^  schwer 
oder  gar  nicht  seinen  abnormen  Geschlechtstrieb  und  damit  dessen 
Befriedigung  unterdrAcken?  Die  mosten  Autoren,  namentÜch  Kraf  f  t- 
EbingO)  nehmen,  an,  daß  immer  eme  erhQhte  sexuelle  Beizbaikeit 
besteht,  während  HolP)  das  nur  als  häufiger  denn  sonst  angibt 
Bez.  der  Homosexualität  scheint  dies  aber  doch  noch  sehr  fraglich. 
Wir  sind  hier  leider  wieder  auf  bloße  subjektive  An<;aben  an* 
gewiesen  und  nur  die  Vertrauenswürdigkeit  der  betreffenden  Person, 
namentlich  sehr  häufige  Träume  der  speziellen  perversen  Art;  kann 

1)  Krafft>£bing,  Psychop«diia  sexasUs  usw.  Über  Momelle  Pervenion. 
DeutMshe  Klinik  am  Amgango  dos  20.  Jabrirandertsi.  1901.  Urbui  u.  Sdiwaiun- 

berg,  Wien. 

2)  Moll,  Uuiersuchuiigou  übor  dio  Libido  sexualis.   1.  Bd.  Beriiu  lätfT/Vb. 


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FofenaiBch'P^cliiitriBcfa-iwydiologtoohe  Baadgloiseo  sam  Progt«ne  Dippold.  369 

ans  gewisse  Anhaltspunkte  geben.  Objektive  Beweise  sind  schwer 
beizubringen.  Vieles  Schlagen  z.  B.  braucht  bei  Sadismus  noch  nicht 
ohne  weiteres  für  sexuelle  Hyporästhcsit'  zu  spri-ciicn.  Wohl  würde 
dies  dagegen  häufig  darnach  eintretende  (Onanie  oder  Koitus  l)ekunden, 
doch  wären  alleinige  Erektionen  usw.  nieist  nicht  wahrnehmbar.  Dann 
mülUe  man  sich  vor  allem  erst  darüber  ei nen,  was  „häufig" 
oder  „selten",  „groß"  oder  „gering"  usw.  bedeutet.  Der 
Geschlechtstrieb,  auch  der  normalste,  ist  quantitativ  auberordentlich 
verschieden;  das  gilt  sehr  wahrscheinlich  auch  von  dem  perversen. 
Die  zweite  Frage  nach  der  Unterdrückbarkeit  des  normalen 
oder  perrersen  GesohlechtstriebesO  ist  womöglich  noch 
schwieriger  zn  beantworten.  Das  hfingt  ganz  yom  Individanm, 
seiner  Bildung,  sdner  moiaUschen  Widentandsfthigkeit,  der  Stfiike 
der  Libido  usw.  ab.  Das  Hauptmoment,  wie  bei  jedem  Cha- 
rakter, bleibt  das  endogene,  angeborene.  CSeteris  paribns 
wild  der  Gebildete  leichter  den  Trieb,  auch  den  perversen,  be- 
herrschen kQnnen,  der  moralisch  Hochstehende  besser  als  der  Ti^- 
Stebende  usw.  Wir  sind  also  hier  in  der  Hauptsache  leider  wieder  nur 
auf  subjektive  Angaben  beschränkt,  da  eine  Tat  als  solche  nodi  nicht 
darauf  schliefen  läßt,  ob  das  Motiv  dazu  ein  objektiv  zwingendes  war 
oder  nicht.  Wenn  freilich  dasselbe  DeHkt  sehr  häufig,  in  gleicher 
Art  und  Wiise  und  mit  bosondcrtT  Vehemenz  gcscliieht,  auch  trotz 
aller  Bcleiirung,  Bestrafung  oline  Keue,  so  wird  man  allerdings  auf 
einen  schwer,  vielleicht  sogar  nicht  zu  unterdrückenden  Geschlechts- 
trieb schlit  Ih  ii  dürfen,  brstmdrrs  w  t  iin  vorher  eine  Art  von  größerem 
sexuellem  Kausch  von  andern  konstatiert  wurde,  was  man  ja 
öfters  sogar  bei  normalem  Geschlechtstriebe  sieht  Ist  man  zu 
dieser  Überzeugung  gekommen,  so  wird  man  den  Täter  für  ver- 
mindert znrechnungstthig  erklären  müssen;  eventnelli  wenn  weitere 
gröbere  StSrongen  in  der  Psyche  nachweisbar  sein  sollten,  für  nn- 
znrecbnnngsfiibig,  sonst  dagegen,  d.  h.  wo  der  Trieb  nnterdrfickbar 
war,  f&r  znrechnungsfiUiig,  besonders  wenn  der  Geist  normal  er- 
Bchdnen  sollte^  nnd  stets  natürlich  bei  erworbenen  Fttlen  bei  Wüst- 
lingen. Normale  P^che  dürfte  aber,  wie  gesagt,  nur  selten  Torhanden 


1)  Moll  (Libido  soxnalis)  niniintdie  [JnuntcrdrQckbarkeit  des  perversen  Triebcsi 
nur  für  einii^e  ITillo  an,  an«loroi-seit!*  aiioli  bei  nonnalor  Liliido.  Dn^  hliust  alle^ 
davon  ab,  ob  der  uomiale  oder  perverttc  Trieb  stark  oder  scliwacti  ist.  Die 
Unoiiterdr&ekbarkeit  der  pervcreen  Libido  Ist  allerdings  nadi  Holl  hiofig,  alao 
wohl  liänfiger  als  normal,  offenbar,  weil  »ie  dort  im  allgemeinen  sürker  ist 
Trotzdem  f>.:\jxt  Moll,  daH  bei  ^vielen,  Ja  den  mdaten  Leoton*  (noimden)  die 
Libido  eine  elementare  Macht  habe. 


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860 


XIX.  NiGKB 


üL-iu,  und  80  ist  die  genaue  Feststellung  des  ganzen  geistig'«  n 
Benehmens  sehr  wichtig.  Sie  könnte  an  sich  schon  Tenninderte 
oder  fehlende  Zurechnungsfälligkeit  bedingen. 

Die  Art  des  sexuellen  Vorgehens  würde  hierbei  eben- 
falls in  das  Gewicht  fallen,  da  sie  für  größere  und  gerin^tTt* 
Perversion  sprechen  würde.    Ceteris  paribus  wird,  je  mehr  der  nor- 
male Koitus  oder  sein  eventuelles  und  schlechteres  A(|UivaleiU.  die 
Onanie,  zur  Befriedigung  der  Libido  aufgegeben  wird,  die  l'erveraion 
eine  schlimmere,  die  reizbare  Schwäche  des  ganzen  Nervensystem  eine 
größere  sein.  Abnorm  ist  ja  stets  der  Reiz,  der  wieder  sehr  verschieden 
sein  kann  und  zwar  bleibend  oder  wechselnd.  Wenn  darauf  aber  nicht 
d«r  KoilDS,  niebt  einmal  Onanie  erfolgt,  sondern  sehon  blofie  Erdctioii 
zur  BeMedigung  genügt,  ja  sogar  nor  Samenabgang  ohne  Erektion, 
so  wftre  eine  absteigende  EntwieUnngsreihe  gegeben*    Die  tiefste 
Stnfe  des  Sadismns  wfiide  dann  erreicht^  wenn  die  gransamen  Hand- 
lungen dendieh  gesohleehtliche  BeCriedignng  venohaffen,  ohne  daß 
aber  Erektion  oder  nur  Samenabgang  erfolgt 

Die  Art  des  sexuelloi  Vorgehens  kann  dabei  auf  allen  diesen 
Stufen  gleich  sein,  im  allgemeinen  ist  sie  wohl  aber  schlimtner,  gian- 
samer  mit  zunehmender  reizbarer  Schwäche.  Der  Unistand  dagegen, 
daß  bei  gewöhnlichem  Sadismus  statt  an  Frsnen  an  Knaben,  wie  in 
unserem  Fall,  die  Tat  geschah,  wird  nur  wenig  in  die  Wagschale 
fallen,  da  die  Knaben,  außer  wo  es  sich  um  homosexuellen  Sadismus 
handelt,  eben  nur  Surrogat  für  das  andere  Geschk'cht  sind.  Der  homo- 
sexuelle Sadismus  —  anscheinend  viel  seltener  als  der  heterosexuelle 
und  viel  häufiger  l)ei  Männern  —  kann  wieder  —  theoretisch  wenig- 
stens —  mehrere  Unterarten  darbieten.  Der  häufigste  Fall  dürfte  der 
sein,  dal'i  die  geschlechtliche  Erregung  mit  nachfolgender  Befriedigung 
erst  auf  sadistische  Reize  hin  erfolgt.  Oder  es  besteht  daneben  reine 
Homosexualität,  d.  h.  es  findet  der  Keiz  schon  im  Anblicke  oder  Um- 
gange mit  gleichgeschlechtlichen  Individuen  statt,  daneben  aber  zu- 
gleich die  vorige  Form.  Dieser  Fall  scheint  mir  im  Falle  Dippold 
vorzuliegen.  Oder  es  besteht  Homosexualität  neben  hetero-sexuellem 
Sadismus  (auch,  faute  de  mieuz,  an  Knaben),  dies  wSre  nur  bei  ge- 
wissen sexuellen  Zwischenstufen,  \m  Hennaphrodisie^  denkbar.  Oder 
zu  gnter  Letzt  könnte  es  sieh  auch  nur  um  Psendo-Homosexnalittt 
bandeln,  d.  h.  heterosexuellen  Sadismus  und  pseudo-homosexnelle  Hand- 
lungen. Bevor  man  jedoch  von  Sadismus  überhaupt  sprechen  kani^ 
muß  dieser  erst  bewiesen  sein.  Denn  der  homosexuelle  oder  lietsro» 
sexuelle  Sadismus  könnte  nur  vorgetäuscht  werden,  die  Prügel  ahio  nur 
Ausfluli  von  Grausamkeit  oder  einer  speziellen  iiacundia  sein.  Ob  diese 


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Foreiuuach'peycbiatrisch-peychologiBdie  Randglofleen  zum  ProzesBe  Dippold.  361 


verscbicdcDcn  Formen  des  homosexuellen  Sadismus  alle  beobachtet  sind, 
weiß  ich  nicht  Theoietiscb  sind  sie  jedenfallB  mQglkli.  Eme  interes- 
sante Nebenfrage  wSie  die,  ob  SadkmiB  bänfiger  «b  Homosenalitit 
ist  leb  glaube  es  kaum,  doeb  kommen  Yon  Sadisten  gewöbnlieh  nnr 
die  ZOT  Kenntnis,  wdcbe  kriminell  belangt  weiden.  Bei  allen  ver- 
sehiedenen  Arten  von  Sadismus  fiberbaupt  wäre  aucb  nocb  das  Zeit- 
Terbfiltnis  zwiscben  dem  Delikte  und  der  gesebleohtlichen  Befriedigung 
ins  Auge  zu  Isssen.  Das  entere  kann  nitanlich  yor,  während  oder 
nach  der  letzteren  eintr^n.  Im  3.  Falle  ist  es  dann  kein  eigentlicher 
Sadismus  mehr,  sondern  nur  Ausfluß  hüchBtor  Wollust,  die  in  allerlei 
Grausamkeitsarten  sich  kundgibt;  im  2.  Falle  wenigstens  öfters. 
Endlich  wäre  nocli  des  sogenannten  „ideellen  Sadismus"  (eventuell 
auch  homosexuellen)  zu  ^cedenken,  der  nur  in  Gedanken  oder  Träumen 
auftritt,  aber  zu  keiner  Tat  führt,  ^vohI  stets  mit  Ejakulation,  Pollution 
resp.  Onanie  verbunden  und  der  „ideellgeistigen  Onanie"  ^gleichzustellen 
ist.  Dieser  dürfte  nicht  als  End-,  sondern  als  Anfangsglied  der 
sadistischen  Entwicklungsreihe  anzusehen  sein,  somit  als  geringster 
Grad,  als  leichteste  Störung. 

Es  fragt  sich  endlich,  ob  nicht  jede  Grausamkeit  über- 
haupt eine  mindestens  unbewußt  sexuelle,  sadistische 
Wurzel  hat.  Der  enge  Zusammenhang  von  Grausamkeit  und  Wollust 
ist  ja  längst  bekannt,  ebenso  daß  sadistiBche  Andeutungen  scihon  im 
normalen  Liebes-  und  Geschlecbtsleben  gar  nicbt  so  selten  sind, 
wie  z.  B.  der  Bi0  beim  Eufi^  das  Stoßen  beim  Koitus  usw.  Madame 
Lambert  sagte  scbon:  Tamour  se  nounit  de  larmes  (F6r6).  Da  nun 
ein,  gewisser  Hang  zur  Grausamkeit  jedem  eignet,  besonders  Kindern, 
80  wird  man  vielleiobt  aueh  eine  geringe  sadistisobe  (wie 
auob  masocbistische)  Neigung  als  normal  bezeichnen  dür- 
f  en*).  Später  bricht  diese  angeborene  Grausamkeit  oft  wieder  durch,  be- 
sonders leicht  bei  Ungebildeten,  z.  B.  bei  Stier-  und  Bingkämpfen,  Hin- 


1t  In  l(Ms»'ii  Anklänf^en  tritt  diese  manehiual  f;aiiz  unerwartet  zutage.  Ich 
habe  z.  B.  an  mir  äelb»t  einige  Male  liei  Scboieraäußeruugen  meiner  Kiuder  einen 
leiebten  Kitsei  zum  Lachen  verq>urt,  alao  «ine  «paradoxe"  Regung,  die  ich 
tarn  Ten  aiwriiliadi  erkliien  mSchte,  ans  der  unüten  AaaoBiation  von  Freude  am 

Sehmerz  bei  andcni.  So  hatte  auch  ein  Gebtlieher  beim  Regrähnis-r  iii<  r  ge- 
liebten Mutter  mit  dem  Lachen  zu  kämpfen.  J)amit  Ist  aber  tlic  >rha(li'iifreude 
nicht  zu  \  erweehselu,  uoeh  das  uuwillkürhche  Lriidieii,  z.  B.  bei  ehiem  komischen 
Falle  efaiea  andern.  Obiges,  paredozea  Veriialten  ist  wohl  aber  kanm  den  B/ogt- 
nannten  ]Muradoxen  mimiscben  Äußerungen  bei  Geisteskranken  an  die  Seite  zu 
M'tzen.  M  «>iin  /  H.  ein  .Molancholiki  i-  tl er  tiefes  iiim-iv!*  Leid  empfindet.  ir»clielf  «»der 
eiu  euphurihclier  l'aralytiker  usw.  eine  weinerliche  Miene  aufsteckt,  ErciguibäC,  diu 
immerhin  selten  genug  sind. 

AnkiT  nr  EriBüBtlaathfopokti«.  XUI.  24 


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362 


XIX.  Nacks 


ricbtungcD,  und  sicher  empfinden  hierbei  auch  manche  unbewofit  einen 
seznellen  Beiz,  bisweilen  sogar  bewußt,  wie  z.  B.  F6r^  *)  zeigen  konnte. 

Wir  sehen  also,  wie  wichtig  die  Entseheidung,  ob  wirklieh 
Dippold  Sadist  gewesen  ist  oder  nicht,  fQr  die  FYage  der  Znreohnnngs- 
ftb^eit  gewesen  wSre.  Der  Leser  mOge  daher  den  huigen  Ezknrs 
über  Sadismus,  der  zugleich  als  Paradigma  für  dnscbttgige  ünter- 
snchnngen  dienen  sollte,  entschuldigen.  Die  Sache  ist  es  wohl  wert; 
da  der  Sadismus  zwdfeUos  kriminell  die  wichtigste  sexuelle  Perversion 
ist  —  man  denke  nur  an  di«  Mädchenstecher,  Lustmörder,  Nekro- 
philen,  an  manche  Fälle  von  Unzucht  — ^  mit  dem  Ma^sochismus  zu- 
gleich als  „Grundform  psychosexueller  Perversion"  (v.  Kiafft>£bing) 
—  erscheint  und  sop:ar  physiologische  Wurzeln  treibt. 

Wenn  nun  aber  Dippold  kein  Sadist  mit  oder  ohne  Homosexualität 
war  —  der  Beweis  hierfür  ist  leider  im  Prozesse  nicht  ^'oliefert 
worden  —  was  war  er  dannV  Ein  normaler,  j^emeiner  Verbn-eher, 
ein  IrnT,  ein  Entarteter  oder  ein  sop^enannter  moralisch  Sclnvaeh 
sinnij^ery  Eine  Psychose  ist  nach  der  psyehiatrisciien  Untersuchung: 
sicher  atiszuschlieUen.  Manches  dagefren  spricht  dafür,  daß  er  ein 
Entarteter,  ein  sogenannter  D(?g6ner^^  superieur,  und  zwar  mehr  dafür, 
als  daß  er  völlig  normal  war.  Wir  haben  früher  schon  auffallende 
C9iaiakterzüge  an  ihm  wahrgenommen.  Aueh  die  Aussagen  des  künf- 
tigen SchwiegenrateiB  und  anderer  Zeugen  braten  sehr  TOPdichti^, 
noch  mehr  aber  sein  krasser  Egoismus,  seine  liederliche  LebensfAbmug, 
sein  in  vielen  Beziehungen  ethischer  Defekt  usw.  WahrscbeiDKch 
würden  auch!  gröbere  unharmonische  Ausbildungen  der  Gdstesflhig- 
keiten  zutage  getreten  sein.  Aber  erst,  wenn  labile  Gemütszuslinde, 
große  Reizbarkeit,  gar  Auftreten  zu  gewissen  Zeiten  von  Impulsionen, 
Sinnt'stäusehunf,'en.  Wahnideen,  wenn  auch  rudimentärer  Art,  ja  hie 
und  da  kurze  Erregtbeits-  oder  Verwirrtheitszustände  bestanden  hätten, 
gewöhnlich  im  Vereine  mit  deutliehen  Entartungserscheinungen  aller 
Art,  bei  erblicher  Belastung,  wäre  die  Diagnose  gesichert^.  Ob  hier- 

1)  Fere,  1^  sadbuie  aoz  courees  de  taureaux.  Revue  de  medecinc.  1900. 
No.  8.  DieMT  Antor  bemerkt  mit  Recht,  daS  gerade  Bhit  die  nmehmeiide  Gnih 
samkett  Idcht  weckt,  wie  man  «las  /..  ß.  bei  Stieridfallpfen  »ieht.  AnderereeUs 
wirkt  aber  wieder  die  rate  l'arhc  <U>  Bluts  »oxnell  crro;;!'!!»!  (11.  El  Ii  a)  und  des- 
lialb  ui^hciucu  uiaocfae  feine  Dinicn  im  ruleu  Hemde,  öiebe  Näcke:  Un  cas 
de  f£tiebteme  de  aoulicra  etc.  Bulletin  de  bt  soci^ti  de  Midecine  mentale  de 
Belgiqne.  1694.  Damit  wSre  wieder  die  Cberleitang  von  Qranflamlcelt  (Blnt)  nur 
Wollust  gegeben.  Die  rote  Farbe  wird  nlmlich  ab  Erinnerung  an  das  Blut, 
d.  Ii.  al><)  als  Atavisinu!«  ^^(Mlcutet  (Ellltt  Gioffrida-ßaggeri),  waa  mir 
iuimurliiu  ^clir  külm  ersclieiuL 

2j  Uierbd  will  ich  jedoch  nidit  verachwcigen,  daß  der  Begriff  des  Ent- 


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Foi«iiaiBdi-i»yditotri8eh«p«]rdiolog^Bohe  BandgkMaen  nun  Pratiesse  Dippold.  863 

von  bei  D.  etwas  beobachtet  wurde,  ist  nicht  ^a-sa^^t.   Idi  kann  /,.  Z. 
also  nur  vermuten,  daß  er  degeneriert  war.   Dann  ist  er  zunäeh>t  ein 
geistic:  Minderwertiger,  wie  ihn  Dr.  KrauBSold  auch  bezeichnete. 
An  siel)  kann  ein  solcher  freilich  zurechnungsfähig  sein,  aber  auch 
nur  vermindert  zurechnunpsfähig,  besonders  wenn  sich  wirklich  ange- 
borener Sadismus  usw.  damit  verbindet.    Die  Zurechnungsfähigkeit 
aber,  wie  es  der  Gutachter  tut,  hauptsächlich  darauf  su  begründen, 
daß  Beklagter  sich]  stundenlang  gut  vertddigt^  ist  meiner  Annobt  nach 
gewagt,  da  ein  solcher  sehr  gut  bes.  einer  spesieUen  Tat,  wie  einer 
sexQcäen  z.  R,  yermindert  zureohnungsfiihig  nsw.  hätte  seiiiL  kSnnen 
und  man  andererseits  sogar  Paranoiker  stundenlang  ohne  den  gering- 
sten  lApsns  sprechen  hSren  kann.  Bekannt  ist  ja  anch,  wie  mfüniert 
oft  manche  Schwachsinnige,  Hysteriker  und  andere  sicth  herausreden 
und  so  leicht  als  ganz  zurechnungsfähig  imponieren.    Geistige  Voll- 
Wertigkeit  ist  bei  Dippold  wohl  sicher  auszuschließen.   Also  ist  er 
auch  kein  ^normaler''  Verbrecher,  da  durchaus  nicht  alle  Ver- 
brecher deutlich  psychisch  minderwertig  und  Kranke  sind, 
wieLombroso  und  seine  Schule  behaupten.    Ja  es  fragt 
sich,  ob  überhaui)t  das  Gros  der  Verbrecher  es  sind,  wenn 
man  die  normale  Variationsbreite  der  „Normalen"  nicht  zu  eng  falit. 
Jede  geistige  ]\I  in  der  Wertigkeit  an  sich  müßte  zwar  einen  gewissen  Grad 
von  verminderter  Zurechnungafähigkeit  bedingen,  doch  von  wo  ab  soll 
dies  beginnen?  Wollen  wir  gar  dieselbe  in  Prozenten  ausdrücken, 
wie  schon  vorgeschlagen  wurde?    Mau  soll  jed«'nfalls  die  ver- 
minderte Zureciinungsfähigkeit  nicht  zu  weit  fassen,  weil 
sonst  die  unzähligen  geistig  leicht  Minderwertigen  in  und 
auBerkalb  des  Gefängnisses  alle  darunter  fallen  würden. 
Dann  hätten  manche  Juristen  mit  der  Behauptung  Recht,  daß  die 
Psychiater  alle  Verbrecher  dem  Forum  entziehen  mSchten.  Ist  endlich 
Dippold  du  ethisch  Schwachsinniger?  Die  meisten  Deutschen 
wollen  von  einer  ,yMoral  insanity**  mit  Recht  nichts  wissen 
und  ich  habe  wiederholt  im  gleichen  Sinne  mich  ausgesprochen d.  h. 
gegen  eine  spezielle  Krankhettsform  dieses  Namens,  charakterisiert 
durch  alleinigen  oder  yorwiegenden  ethischen  Defekt  auf  Tcrschiedenen 


arteten,  dos  Di'gi'nr'n'  sup^riciir  ein  etwas  «'liuanki'mUr,  uImi  bi»  zu  cinoin  go- 
wisdeu  (irsidc  »ubjektivur  i&U  Ja,  manche  wollen  davuu  überhaupt  nichts  wissen, 
X.  B.  Rflband  (Auomunz  et  d^finerfe,  Keviio  de  peycfauitrie  «tCi  1903.  No.  1). 
Extenso  ist  die  Definition  nnd  der  Wert  der  «erblichen  Beiaetung"  noch  vielfach 
zweifelhaft. 

Ii  Ik'S')n(kM-!i  /.ulotzt  in  meiner  Monographie.  Über  die  aogenannte  Moral 
iusauity.   Bergmauu,  Wiesbaden  1902. 

24* 


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364 


XIX.  Mäcke 


Qebieten  bei  sonstiger  Intekdieit  der  Psyche,  spenell  der  Intelligenz. 
AUe  FUle  sogenannten  Schwachsinns  lassen  sidi  nibnlich,  meine  ich, 
ohne  Zwang  in  die  3  folgenden  Hanptgruppen  unterbringen:  1.  die 
der  leicht  Imbezillen  —  die  größte  Masse;  2.  die  der  sogenannten 
D^gOn^r^s  sapericurs,  die  nächstgrößere  Menge,  und  endlich  3.  die 
kleine  Rubrik  der  leicht  periodisch  Irrsinnigen,  In  die  1.  Abteilung 
gehören  auch  die  vielen  Fälle  abgelaufener  Dementia  praecox  (Jugend- 
irresein mit  schnellem  Ausgang  in  Schwachsinn),  wie  sie  besonders 
unter  den  Vagabunden  und  Bettlern  so  häufii,^  sind.  Oh  wirklich  Fälle 
einer  „echten"  Moral  insanity  in  oben  definierteni  Sinne  vorkommen, 
ist  mehr  als  fmglich,  bisher  jedeufalls  einwandfrei  noch  nicht  nach- 
gewiesen worden '),  Wollte  man  den  Dippold  also  als  „moralisch 
Schwachsinnigen"  bezeichnen,  so  würde  man  ihn  am  besten  dann  in 
die  Rubrik  der  Entarteten  unterbringen,  wie  es  scheint.  Geistig 
minderwertig  sind  alle  3  Gruppen  der  sogenannten  Moral 
insanity,  dooh  kann  diese  Minderwertigkeit  in  einigen 
Fällen  so  leioht  sein,  daß  wir  ruhig  die  Znrechnungs- 
ffthigkeit  aussprechen  dftrfen.  Hier  entscheidet  also 
der  Grad  der  Minderwertigkeit  Auch  aosgesprochen  Geiste»- 
kranke  kdnnen  ethisch  depravieit  sein,  aber  diese  Fälle  sind  Yon 
?omberein  anssnscfaUefien,  wie  beim  Sadismns  usw.  diigenigeo,  wo 
die  sexuelle  Perversion  durch  eine  Psychose  oder  ihr  nahestehende 
Zustlnde,  wie  z.  B.  Zwangsideen,  bedingt  ist. 

Wir  sehen  also  wohl  ohne  Fehler  an  Dippold  einen  geistig 
Minderwertigen,  wahrscheinlich  einen  echten  Entarteten,  der  folglich 
nicht  ein  in  gewöhnlicher  Variationsbreite  normaler  Verbrecher  ist 
Ob  nun  der  Grad  der  Entartung  usw.  so  groß  ist,  daß  man  eine  ver- 
minderte Zurechnung  aussprechen  niUHte,  kann  ich  ohne  Akten  und 
Untersuchiin«;  des  Hetrefieuden  natürlich  nicht  sagen.  Hier  würde 
aber  das  Bestehen  von  angeborenem  Sadismus  die  Wagschale  nach 
dieser  Richtung  hin  von  vornherein  sinken  lassen,  deshalb  wäre  eben 
die  Feststellung  desselben  so  wichtig  «rewesen.  Das  Ganze  macht 
mir  aber  doch  den  Eindruck,  als  oh  da»  i'athulogische  in  Dippold  so 
vorwiegt,  daß  das  Urteil  einer  verminderten  Zurechnungsfähigkeit  viel- 
leicbt  geiechtfeitigt  gewesen  wäre. 

Das  Gericht  hat  jedenfalls,  auf  Grund  der  positiyen  Verneinung 
denelben  seitens  des  1.  SacfayerstSndigen  bei  seinem  ürteile,  diese  nicht 

1)  Auch  ilvv  iiriH'-»ti'  Fall  von  Pcnta,  den  Prii-ster  und  Monier  l'otcnza 
betreffend  (lüvista  lueuäile  di  p»ichiatriu  fureuso  etc.  19i)ä.  p.  325),  ist  absolut 
kam  MlGher,  da  die  KntfkloBigkeit,  Suggestibilitlt,  LeiclitgUabfgkelt  usw.  duch- 
ans  gegen  intakte  Intdiigenz  eprechen. 


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Foreusisch-psychiatriach-psychologische  Kaudgiu^seu  zum  Pruzeü^c  Dippuld.  365 

mit  angezogen,  sondern  wohl  neben  der  geistigen  Hinderwertigkeit 
als  Grand  zu  einer  geringeren  Bestrafang  spfiier  in  der  Person  des 
1.  Staatsanwaltes  angegeben,  Dippold  sei  nicht  vorbestraft  nnd  noeb 
jung.  Bei  solchen  Sobenfiliohkeiten  aber,  wie  der  Tiler  sie  aosfllhrte, 

spielen  meiner  Meinung  nach  beide  Gründe  absolut  keine  Bolle. 
Ebenso  wenig  ist  bei  der  Niederträchtigkeit  der  Handlungen  trotz 
beider  Gründe  an  die  Möglichkeit  einer  Beue  und  Besserung  zu 
glauben.  Dies  um  so  weniger,  wenn  das  Ganze,  wie  ich  glaube,  mehr 
minder  der  Ausfluß  eines  solchen  pathologischen  Geisteszustandes 
ist,  der  ein»»  vennindcrtc  Zurechnungsfähigkeit  bedingen  dürfte  und 
nur  so  wäre  die  geringere  Strafe  7u  hegrilndcn  gewesen.  Ganz  abzu- 
weisen ist  es  aber,  wenn  dor  Vert*  idigor  für  seinen  Klienten  statt  Zucht- 
haus das  Gefängnis  dekretiert  wissen  will,  weil  jener  ein  gebildeter 
Mann  sei.  Das  Unigekelirte  sollte  vielmehr  stattfinden:  Ein  Gebil- 
deter sollte  ceteris  |Kirihus  stets  härter  zu  bestrafen  sein, 
weil  man  von  ilim  mehr  Hemmungen  der  Triebe  verlangen 
kann,  als  vom  Ungebildeten.  Denn  die  größere  Bildung,  bessere 
Erziehung,  ist  sicher  dazu  angetan,  eine  Menge  von  Hemmnngsmotiven 
zu  entwickeln  und  einzupflaaaea,  die  normaliler  auch,  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  wenigstens,  wirksam  werden. 

Daß  das  große  Publikum,  ebenso  manche  Juristen,  bei  der  Un- 
kenntnis der  Sachlage  das  Urteil  zu  mild  foad,  ist  leicht  begreiflich. 
Nicht  ganz  ohne  Unrecht  frug  dne  Zeitung,  wie  es  denn  komme,  daß 
man  einen  Mörder  töte,  den  Dippold  aber  so  mild  behandele,  da  doch 
jener  dem  letzteren  gegenüht  r  lange  nicht  so  grausam  verfuhr.  In 
der  Tat  quält  ja  selbst  der  kalte  Mörder  sein  Opfer  nur  sehr  selten, 
während  Dippold  das  seinige  langsam  und  raffiniert  dem  Ende  zu- 
führte, mag  er  dabei  selbst  nicht  den  Tod  eines  derselben  bezweckt 
hal)en.  Für  solche  Scheusale  wäre  noch  der  Tod  fast  zu  gut  und 
sie  münten,  wne  die  Wucherer  bei  Dante,  in  den  untersten  Teil  des 
Höllentrichters  kommen  I  Das  wären  solche  seltene  Ausnahmsfälle, 
wo  in  meinen  Augen  das  Todesurteil  ausgesprochen  und  ausgeführt 
werden  kr>nnte  In  unserem  Falle  liegt  aber  die  Sache,  wie  gesagt, 
doch  anders. 

Noch  einen  Moment  will  ich  heim  Urteilsspruche  verweilen.  Wie 
wir  schon  an  unserem  Falle  sahen,  liegt  öfters  die  Frage  der  Zu- 
rechnungsfähigkeit so  verwickelt,  daß  nur  die  genaueste  Kenntnis  der 

1)  Nücke.  (Jedankcn  eines  Medizinen*  filtor  die  Todei^strafe.  Die*»  Archiv. 
9.  Bd.  Heft  M  11.4.  I!t02.  und  zur  Abwehr  eines  An,t,'riffs  seitens  Lolisinfr;^, 
meine  kleine  Mitteilung:  Nochmuls:  l'ru  und  cuutra  Tudesätrafe.  Ebenda. 
11.  Bd.  &  288. 


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866 


XIX.  NlOKB 


Psychiatrie,  große  Erfahrung  und  psychologisches  Wissen  hier  einen 
Leitstern  abgeben  kann,  der  freilich  auch  kein  untrüglicher  ist,  da  in 
schwierigen  füllen  die  SadiM  r^^tündigen  sich  so  oft  widersprechen. 
Im  Prozesse  Dippold  würde  ich  z.  Ii.  vielleicht  für  verminderte  Zu- 
rechnungsfähigkeit mich  ausgesprochen  hal)en.  Es  ist  nun,  da  alle 
obigen  Voraussetzungen  beim  gewöhnliclien  Richter  ganz  oder  doch 
zum  grül')ten  Teile  fehlen  —  von  den  Geschworenen  natürlich  ganz 
zu  schweigen!  —  widersinnig,  dali  der  Richter  über  die 
Zurechn  ungsfäliigkeit  urteile.  Das  hat  er  Ex perten  al lei  n 
zu  überlassen  und  nur  dem  Gutachten  derselben  sich  zu 
fUgen,  resp.  ein  Obergutachten  einzuholen,  nie  aber  es  zu 
yerwerfen.  Ihm  steht  dann  nur  die  UrteiUkündung  zu. 
Es  Tenehllgt  dahei  nicht  viel,  wie  ich  glanbe^  daß  das  psychiafariscfae 
Gutachten  weniger  exakt  ist  als  eine  experimentelle  Demonstration, 
weshalh  Pelman  neuerdings  (siehe  Bef.  in  der  „Folitisch-anthro- 
pologisdien  Bevue"  1903,  Nr.  7,  &  592)  den  SachTerstindigen  nur  die 
Bolle  des  technischen  Beraters  dnräumen  wUl.  Selbst  bei  der  weniger 
exakten  Psychiatrie  ist  der  Irrenant  doch  imma  noch  unendlich 
sachverständiger  als  der  Bichter  und  manche  ErankheitsfiUle  lassen 
sich  einfach  dem  Richter  nicht  ohne  weiteres  demonstrieren. 

Dies  alles  habe  ich  seinerzeit  ausführlich  behandelt,  und  so  manche 
Psychiater  sind  der  gleichen  Meinung,  trotzdem  die  Mehrzahl  der- 
selben entgegengesetzter  Ansicht  sind,  wie  wohl  alle  Richter  auch,  deren 
Gründe  ich  wolil  kenne.  Ich  werde  seincrzt  it  die  Frage  nochmals  aus- 
führlich bcliandfln  und  bemerke  hier  nur,  dai»  obige  Forderung, 
die  seit  ni  eh  reren  J  ali  ren  in  Portugal  erfüllt  ist,  sich  dort 
brillant  bewährt  und  auch  die  Richter  l)efriedifrt.  die  natürlich  erst 
sich  dagegen  sträubten.  Der  beste  Beweis  also,  dali  diese  Idee  nicht 
bloli  theoretisch  richtig  erscheint,  sondern  praktisch  gut  durchführbar 
ist!  Ich  bin  aber  noch  ^veiter  gegangen  und  habe  verlangt,  dal)  der 
Experte  sich  zugleich  darüber  auszusprechen  habe,  wo- 
hin der  Reat  am  besten  unterzubriugen  sei;  dies  konnte 
der  Bichter  dann  der  ausführenden  Behörde  aktlich  mittelen.  Für 
irre  Verbrecher  kommt  natOrlich  nur  die  Irrenanstalt,  eventuell  eine 
Iirenstation  an  äner  Strafanstalt  in  Ftage.  Was  soll  aber  mit  dem 
Entarteten,  yermindert  Zurechnungsfähigen  werden?  F0rihn 
paßt  weder  die  Irrenanstalt  noch  das  GefSngnis.  Ein  Mittelding 
zwischen  beiden  wire  am  besten.  So  lange  es  solche  Anstalten  aber 

1)  ^'üekü,  Richter  uud  Saclivcrstäudiger.  Dies  Archiv.  S.Bd.  l.a.2.H.  1899. 

2)  Juli o  de  Mattos,  Ob  Alienados  hob  tribunaeB.  voLIL  (Qnleitong.) 
Lisboft  1908. 


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ForennBeh'pejrdiiatriadi-iMydiolof^sehe  RandgloMen  nun  Pmceaae  Dippold.  867 

nicht  ;:il»t,  wird  es  namentlich  vom  Charakter  und  der  Gemein - 
«Gefährlichkeit  ahliäiij;en,  ol)  die  I  rrenanstalt  oder  das  Ge- 
fängnis vorzuziehen  ist'),  l^ei  stark  depra\ierteni  Charakter  und 
ausgesprochener  Genieingefälirhehkeit  käme  nur  das  Gefängnis,  resp. 
dessen  Irrenstation  in  P'rage.  Das  gilt  also  auch  für  Dippold.  Zu- 
gleich aher  wäre  für  solche  Subjekte,  wie  er,  ein  StrafmaÜ 
überhaupt  nicht  auszusprechen,  buudem  die  Intemiening  so 
lange  aaamdehneii,  ab  die  GemeiDgefiLbrlichkeit  usw.  anhfilt,  also 
eventuell  bis  zum  Tode.  Ist  Pippold  wirklich  ein  eingeborener  Sadist, 
so  wird  er  es  sehr  wahrscheinlich  immer  bleiben  nnd  ffir  die  Mit- 
menschen somit  eine  beständige  Gefahr  bilden.  Ist  er  aber  nur  vor- 
wiegend ethisch  verkfimmert,  so  wäre  schon  eher  die  Hoffnung  zu 
hegen,  daß  mit  dem  Alter  die  bösen  TriebCi  die  zur  Untat  führten, 
sich  soweit  abstumpfen,  daß  der  Täter  später  einmal  noch  in  der 
Außenwelt  ohne  Schaden  für  andere  leben  kann. 

Docli  wenden  wir  uns  jetzt  vom  angeklagten  Dippold  zu  seinem 
noch  üherlebenden  13' 2  jährigen  Opfer.  Er  wird  als  prächtiger  und 
trotz  der  vielfachen  Mißhandlungen  gesund  aussehender  Junge  ge- 
schildert und  er  und  sein  Bruder  sind  im  ganzen  gut  beleumundet. 
Ausgezeichnet  sind  seine  Antworten,  kurz,  i)rägnant,  nie  sieh  wider- 
sprechend. Alles  was  er  sagt,  trägt  den  Stempel  der  Waiirheit  und 
wenn  er  für  sieh  und  seinen  toten  Bruder  jedes  Ausüben  der  Onanie 
bestreitet,  so  ist  ihm  gewil»  darin  zu  glauben.  So  vorsichtig  man 
bei  Aussagen  von  Kindern  in  foro  sein  mult,  so  darf  man 
doch  nicht  hierin  zu  weit  gehen.  Kinder  im  Alter  von  zehn 
Jahren  ab  etwa,  besonders  Knaben,  sind  sehr  oft  durch- 
aus vertrauenswlirdig  und  nicht  selten  ausgezeichnete 
Beobachter.  Ja  sogar  unter  noch  Jfingeren  findet  man  solche.  Bei 
den  Mädchen  dagegen  spielt  die  Suggestion  stets  eine 
große  Bolle,  daher  sind  ihre  Aussagen  namentlich  beiün- 
Sittlichkeitsdelikten  skeptischer  aufzunehmen.  Die  Aus- 
sagen vieler  Kinder  sind  sicher  oft  viel  richtiger,  vertrauenswürdiger, 
als  die  der  meisten  erwachsenen  Zeugen,  besonders  unter  den  Unge- 
bildeten, wie  man  das  namentlich  bei  Schwurgericbtssitzungen  sattsam 
zu  beobachten  Gelegenheit  hat. 

Eine  wichtige  Vorbedingung  aber  wird  es  sein,  wie  es 
auch  im  Prozesse  Dijipold  mit  Kecht  geschah,  das  Kind  nicht  in 
Gegenwart  des  Angeklagten  oder  seiner  Eltern  zu  ver- 

1)  Alle  dic»c  Frng'eii  hal>e  ich  iiiisfrihrlich  in  meiner  Muno^raiiliie:  Die 
Unterbringung  ;:::ri-t4 -kranker  Verbrecher,  Marfaold,  Halle  1902,  behandelt;  küner 
in  venchieücneu  audci-eu  Arbeiten. 


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868 


XIZ.  NlCKB 


nehmen,  tia  dann  SufTf^estion,  namentlich  durch  P'urclit,  störend  ein- 
wirkt. Am  besten  würde  man  diese  um^^ehen,  wenn  man  das  Kind 
nur  vom  Untersuehnni^srichter  auf  seiner  Expedition  vernehmen  lieHr. 
doch  dies  ist  des  iiff entliehen  Verfahrens  halber  wohl  kaum  mrtf^licli. 

Werfen  wir  jetzt  einen  Blick  auf  die  bedauernswerten  Eltern. 
Vor  Gericht  machten  beide  einen  durehaus  günstigen  Eindruck.  Die 
gesamte  Praie  hSH  ihnen  jedocb,  wobt  nicht  mit  ünfechl^  tot,  daft 
sie  in  der  Wahl  des  Hanslehrara  zn  wenig  Vorncht  walten  UeOen  und 
anf  keinen  Fall  ihre  Kinder  aof  so  lange  Zeit  einem  Fremden  allein 
bitten  ttbeihusen  sollen,  besonders  da  ihnen  Klagen  Aber  Mißband- 
Inngen  der  Knaben  in  Ohren  gekommen  warto.  Freilißh  hatten  sie 
einen  „berrorragenden"  Peycbiater  Berlins  —  wie  der  Verteidiger 
sa^  —  hingesohickt^  nm  diese  Oerttohte  im  Verein  mit  dem  Schwager 
der  Knaben  za  nntersnehen.  Vielleicht  war  es  ihr  Hausarzt,  jedenfalls 
ist  der  Herr  aber  weder  als  praktischer,  noch  als  wissenscbaftlicher 
Psychiater  bekannt,  also  als  solcher  nicht  „hervorragend",  wohl  aber 
durch  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Hypnose  und  Oehirnanatomie.  Sollte 
aber  ein  Psychiater  oderNeurolopre  als  solcher  freschickt  werden,  so  hätten 
gerade  in  Herlin,  wo  die  Eltern  wohnten,  jranz  andere  Twente  zur  Ver 
fügung  gestanden.  Der  als  Zeuge  auftretende  Abgesandte  behauptet 
nun,  er  sei  gar  nicht  geschickt  worden,  um  die  Minhaiulhmg^cn  fest- 
zustellen und  die  Jungen  zu  untersuchen.  Selbst  wenn  dies  so  wäre, 
dann  hätte  er  aus  eigenem  Antriebe  als  Arzt  es  tun  sollen,  da  er  ja 
wußte,  daß  es  sich  um  Mißhandlungen  bandelte.  Er  scheint  dies 
auch  vorgehabt  zu  haben,  da  er  sieb,  wie  es  heißt,  von  einer  Unter- 
snchnng  dnreh  den  Redefluß  Dippolds  abhalten  Keß,  der  ihn  so  zu 
umgarnen  verstand,  daß  er,  der  Arzt»  den  Dippold  den  Eltern  gegen- 
über spftter  als  „geradezu  idealen  Menschen^  hinstellte,  womit  er  sieh 
unsterblich  blamiert  bat  Weniger  schon  erlag  der  Suggestion  sein  Be- 
gleiter, der  da  sagt,  Dippold  sei  entweder  ein  idealer  Mensch  oder  ein 
gemeiner  Schurke.  Das  Auftreten  des  Srztlichen  Zeugen  mit  sdner  auf- 
dringlichen Schwatzbaftigkeit  war  ein  ungünstiges  und  der  Vorsitzende 
mußte  ihn  ermahnen,  bei  der  Sache  zu  bleiben.  FttrZeugen,  nament- 
lich aber  für  Experte,  ist  es  eine  Hauptsache,  knrz  sich  zn 
fassen  und  nicht  vom  Thema  abzuspringen,  besonders  vor 
Geschworenen.  Kürze  und  Klarheit  allein  sind  überzeugend,  Länge 
und  Abschweifunjr  wirken  nur  lähmend!  Bei  Ungebildeten  ist  leider 
das  erstere  nicht  allzu  oft  anzutreffen,  wie  schon  allein  die  weit- 
schweifigen und  die  TTanjitsache  oft  irar  nicht  berührenden  Aussagen 
so  häufig  bekuaden.  Von  Gebildeteu  kann  und  muß  man  es  aber 
iordera I 


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ForandMb-pBycbiatrisch-pnyohologiache  Randglosgen  sam  Pronne  Dippold.  869 

Ich  will  hier  nicht  weiter  berühren,  daß  ein  junger,  unerfahrener 
Student,  noch  dazu  des  Rechtes,  meist  nicht  ein  g:eeigQeter  Erzieher 
sein  dürfte,  daß  dazu  ein  älterer,  erfahrener  Pädagoge  besser  gewesen 
wäre.  Daß  die  Eltern  dem  Lehrer  ein  mäßipres  Züclitijrnnp^recht  ein- 
geräumt hatten,  war  richtig.  Sie  konnten  nicht  winsen,  daß  er  es 
mißbrauchen  würde.  Das  wäre  aber  unnir»<;lieh  fjewesen .  wenn  er 
stets  in  der  Nähe  der  Eltern  j^^ewesen,  oder  ilini  eine  vertraiienswürdif^e 
Person  heij^e^'eben  worden  wäre.  Gesund heitsrücivsicliten  für  die 
Knaben  bildeten  allenlin^'s  aueli  einen  (Irund  für  ein  Entfernen  <ier- 
selben  aus  ih  r  Grolistadt,  und  es  hätte  sieh  nur  ^;efra;it,  oh  es  nicht 
trotzdem  geratener  gewesen  wäre,  die  Jungen  zu  Hause  zu  behalten, 
zumal  eine  gute  ärztliche  Behandlung  bei  schwachen  Kindern  auch 
in  der  Großstadt  sehr  §^t  möglich  ist  Jedenfalls  gewährt  die  game 
Sache  -interesBante  Einblicke  in  gewisse  Familien-  nnd  Erziehnngsrer- 
hältnisse.  EigentOmlich  bertthrt  es,  daß  der  Staatsanwalt  sich  der 
Eltern  in  langer  Bede  sehr  annimmt  als  ob  sie  die  dgentlioheii  An- 
geklagten gewesen  wSren;  man  gewinnt  fast  den  Eindnick  des:  qni 
s'excnse,  s'accnse. 

Ein  wichtiger  Pnnkt  im  ganzen  Prozesse  ist  das  Zfichtignngsieeht. 
Manche  wollen  dies  abschaffen,  aber  eine  mäßige  Züchtigung  zur 
rechten  Zeit  und  am  rechten  Orte  kann  nur  von  Vorteil 
sein.  Das  alte  Wort:  'O  in]  daffeig  dvO-gtaftog  oi  raidevErat  gilt 
nicht  nur  für  das  spätere  Leben,  sondern  vor  allem  für  die  Schule. 
Nicht  wenifreraber  auch  für  das  Gefäng:nis,  besonders 
bei  M i  n  d  er  i ä  hr  if^en,  die  meist  nichts  anderes  fdrcliten  als  Prügel. 
l«'h  halte  es  daher  für  falsche  Humanität,  wenn  neuerdinfj^H  so  viele 
die  disziplinelle  Prügelstrafe  für  die  Gefan^^enen  ab/;esehafft  wissen 
wollen.  Die  praktischen  Engländer  wissen  sehr  <?iit,  warum  sie  dieselbe 
biÜM'lialten I  Doeli  muß  hier  natürlich  auch  das:  ne  nimis  gelten.  Wohl 
weiß  ich  selir  i;ut,  (hiß  man  oft  mit  Güte  weiter  kommt  und  daß  es 
Lehrer  ijibt,  die  fast  nie  schlafen.  Dies  hän^^t  aber  nielit  nur  vom 
Charakter  und  dem  pädagogischen  Geschicke  derselben  ab,  sondern 
anch  vom  Materiale.  Es  gibt  gnte  nnd  sehlechte  Jahrgänge  in  den 
Schnlen  nnd  bisweilen  yerdirbt  em  einziger  Bnbe  die  ganze  Klasse. 
Hier  kann  dann  nur  das  Bacnlnm  helfen.  Dies  ist  besondeiB  notwendig 
in  Großstftdten,  wo  namentlich  die  Kinder  von  Sozialdemokraten  frech 
auftreten,  oft  schon  zu  Hause  zum  Ungehorsam  gegen  die  Lehrer 
angehalten  werden  und  in  dem  Verhalten  des  Vaters  einen  steten  Bück- 
halt  finden,  der  hei  der  geringsten  auch  noch  so  gerechten  Züchtigung 
des  Kindes  sofort  mit  Strafantrag  droht.  Mit  Becbt  hat  man  daher 
das  Züchtignngsrecht  den  Lehrern  belassen,  wenn  auch  eingeschränkt. 


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370 


XIX.  NXCKB 


Auf  der  andeieii  Seite  ist  allerdings  nicht  zu  verkeDnen,  daß  es  so 
manche  jähzornige  Lehrer  gibt,  die  bei  der  geringrsten  Gelegenheit 
lossclilagen.    Diese  haben  schon  ihren  Beruf  verfehlt.    Hei  andern 

:ct'n  miifi  man  bei  häufiger  Züchtigung,  namentlich  auf  ent- 
blölileni  Hinterteile,  an  die  immerhin  seltene  Möglich  keil  eines  be- 
stehenden Sadismus  denken,  wie  z.  B.  bei  Dippold.  Daher  geht 
an  alle  Eltern  die  ernste  Ermah  nung,  auch  das  Verhältni?» 
ihrer  Kinder  zum  Hauslehrer  oder  zur  douvernaute  stets 
im  Auge  zu  bell  alten,  da  nicht  so  selten  unzüchtige  Praktiken 
verschiedener  Art  hier  sich  entwickeln.  Namentlich  gilt  dies  bei.  der 
HomoaexiialitiU.  Aber  daa  viele  Schlag  hat  noch  ^ne  andere  Schatten- 
seite. Wiederholt,  zuletzt  eindringlich  durch  MolP)  wird  darauf  hin- 
gewiesen, daß  durch  solche  Züchtigungen,  namentlich  auf 
den  Hintern,  der  Geachlechtstrieb  sieb  frUher  als  normal 
e  ntwiokeln  nnd  bei  dazu  beanlagten  Kindern  sogar  peryera 
werden  und  bleiben  kann.  Ein  klassisches  Beispiel  hiefflr  bietet 
Rousseau^),  bei  dem  sich  als  Kind  durch  Schläge  auf  den  Hintern 
seitens  einer  Frau  Masochismus  entwickelte,  wie  er  das  in  seinen  „Be* 
keuntnissen'*  auseinandersetzt  Geschehen  solche  Züchtigungen  von 
andern,  z.  H.  Knaben,  so  kennen  letztere,  die  Zuschauer,  unter  Um- 
ständen sexuell  erregt  werden  usw.,  natürlich  nur  bei  besonderer  Anlage '  i. 

Schlielilich  haben  wir  noch  kurz  das  Publikum  und  die  Presse 
in  ihrem  Verhalten  zum  Prozesse  Dipjiold  uns  etwas  näher  anzusehen. 
Die  Zuhörer  waren  schon  während  der  Verhandlungen  lief  erregt 
und  nach  Schlul^  des  Prozesses  nahmen  sie  und  zugezogene  andere 
eine  so  drohende  Haltung  vor  dem  Gerichtstore  an,  dal)  man  nicht 
wagte,  den  Angeklagten  gleicii  überführen  zu  lassen.  Ahnliche  iSzeneu 
wiederholten  sich  duiin  iteiiu  Transpurt  D.s  in  Bamberg,  Nürnberg  usw. 
Sehr  richtig  bemerkt  eine  Zeitung:  nur  ein  einziger  aus  dem  Volke 
hätte  anzo&ngen  branehen  nnd  alle  wären  sichor  fibor  ßm  Unseligen 
hergefalleo.  Wir  sehen  also,  daß  sogar  bei  uns  unter  Umständen 
die  Möglichkeit  des  Lynchens  vorliegt,  hier  weniger  als 
bloßer  Akt  der  Grausamkeit,  sondern  als  echter  Ausfluß  des  irre- 
geleiteten Gerechtigkeitsgeftthlsy  während  es  ach  beim  amerikanischen 
Lynchen  fast  nur  um  Bassenhaß  (gegen  Neger),  selten  um  bloße 

t)  ^Itill,  über  eine  Meiiig  beachtete  (tofahr  der  Pn'igJ'lstrafc  l>ei  Kimlem. 
Zeitschr.  f.  pä(la;j:<»iri^clie  l'sychol.  usw.  3.  Jahrg.,  aucli  Bloch:  Beitrage  zur  Atiu- 
lügie  der  rsychopathia  sexualis.   2.  Teil.  Dobru,  Dresden  VMS. 

2)  Siebe  F6r£:  I/hutinct  Bezuel  etc.  Alcan,  Paris  1899. 

3)  Siehe  Krafft-Ebing,  Psychopatbia  aexnalia.  lt.  Aull  Enke,  Stutt- 
gart 1901. 


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Foreosisdi-psycbittitodiiMychologisdie  Bandglo«sen  tun  ^anmo  DippoKL  371 

(terecbtip:kcit,  vm  Habg:i6r  usw.  bandelt.  leb  bin  darauf  in  einer  kleinen 
Mitteilung')  seinerzeit  zu  sprechen  crekoninicn  und  Spitzkn-')  hat 
namentlich  das  amerikanische  Lynchen  klar  beleuchtet.  Die  Psvcho- 
logie  der  Volksmasse  ist  eben  eine  andere^  als  die  des 
Einzelnen.  Es  bandelt  sieb  hier  nicbt,  wie  einige  ganz  richtig 
bemerken,  um  bloße  Addierung  gewisser  Neigungen,  Anti- 
pathien usw..  so ndern  zn frleieh  um  qualitative  Änderungen. 
Vor  allem  sinkt  sofort  das  ethische  Niveau,  und  jeder  Krieg,  jede 
Krise  usw.  ISßt  nnr  zn  leicht  erkennen,  wie  sehr  der  Einzelne  etbuob 
höher  steht,  als  die  kompakte  blasse,  die  Nation.  Das  macht  eben 
das  Volk,  die  Menire.  in  ihren  Ausbrüchen  so  unberechenbar  und  <je- 
fäbrlicb'  Diese  ist  vor  alhni  leiclit  sug^estionabel,  mehr  als  das 
Kind.  Die  Vernunft  schwei^^  bald  und  nur  das  Gemüt  arbeitet  vor- 
wiegend. Ist  letzteres  in  Walinng  geraten  —  nnd  das  gescbiebt  Bobneller 
oder  lan^^samer  — ,  s(t  i^leiclit  dir  Menge  einem  Pulverbß*  Der  ge- 
rinp;ste  Funken  l)rinjrt  dasselbe  zur  Exi)losion.  Daher  die  ungeheuere 
Verantw ort  1  i (■  Ii k eit  der  Partei fü Ii re r  und  Volksredner.  Die 
Menge  ist  quasi  eine  plastische  Masse,  aus  der  sich,  je  nach 
Umetfinden,  Gutes  nnd  tfösez  maoben  läßt,  ancb  nocb  in  nn> 
serer  Zeit  Wir  rind  zwar  stolz  darauf,  daß  die  Zeit  der  Hexen-  und 
Ketzerverbrennungen  vorbei  ist  und  doeli  k"mnten  wnlirsdit  inlieh  auch 
jetzt  noch  solche  stattfinden,  natürlieli  nur  an  {rewis.stn  Orten.  Auch 
Judenverfolgungen  treten  noch  bisweilen  auf,  der  Religions-  und  neuer- 
dings der  Nationalbaß  ist  vielfacb  noch  tief  eingewurzelt,  und  wenn 
CS  anginire,  würde  mau  sicher  zu  Religionskriegen  genug  Massen  er- 
halten. Was  für  Zündstoff  angesammelt  ist,  sieht  man  in  alb^n  fanati- 
sierten  Massen-*),  besonders  der  Chauvinisten,  der  Sozialdemokraten, 
Anarchisten  nsw.  Auch  heute  kann  hier  bei  geeigneter  Gelegenheit 
<las  Unglaublichste  geschehen.  Immerhin  scheinen  mit  fort- 
schreitender Ziv  ilisatioii  (loch  die  blutigen  Instinkte  des 
Volks,:ranzen  sich  verrin^n  rt  zu  haben,  wie  «lie  Zahl  der 
gewalttätigen  Verbrecher  überhaupt,  während  die  andern  Ver- 
brecben:  IHebfltahlt  besonders  aber  Betrug  und  ünterscblagung,  zu- 
nehmen. So  wird  sich  zwar  die  verbrecherische  Psvebe 
der  Quantität  nach  scheinbar  trotz  fortschreitender  Bildung 
;ileiehbleiben,  aber  ihre  Qualität  hat  sieh  ^'eändert;  das 
Verbrechertum  ist  milder,  weniger  blutig  geworden;  das 
ist  bereits  ein  großer  Vorteil  und  wfirde  an  sieb  allein  schon 
ffir  den  Wert  der  Zivilisation  sprechen.  Mit  den  Masseninstinkten 
scheint  es  sich  glücklieliorweise  irleieherweise  zn  vorhalten.  Rtets  aber 
wird  bez.  der  \  olksnien;,a',  wenn  fanatisieit,  trotzdem  bchillers  Wort 
.«»ich  bestätigen:  „Wehe,  wenn  sie  losgelassen"*! 


1)  Näcke.  La  l»»  te  humaini'.    Diei^cs  Archiv.  10.  Bd.  t.  u.  2.  Heft. 

R  p  i  t  /  k  a ,  Stati»ti»cbes  Qber  das  Lynchen  in  Mordamerika.  Dieses  Archiv. 

11.  Hd.  r>.  IIA. 

31  Man  denke  nur  an  dio  Haltaog  des  englischen  Vuikcs  während  des 
Burcnkrieges  oder  an  die  Exzesse  der  Tsclicchen  usw.  Und  so  gnȟ  ist  dio 
Macht  der  Suggestion,  daß  auch  die  meisten  Gebildeten  sich  ihr  nicht  ganz  zu 
entziehen  vermögen. 


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872  XIX.  MXcKB,  Foreoaiadi'iwyohologiBdi-fwgrehiatriMhe  BandgloMeD  «sw. 


Die  Presse  endlicli  hat  in  den»  l'ro/.osso  Dippold  im  jranzen  eine 
durchaus  würdige  Kolie  gespielt  und  ist  vor  allem  auf  Sexualpatho- 
logisches im  allgemeineB  nicht  näher  ein^e^aDgeo.  Dies  g^ehl^rf 
nnr  in  Fachblätter,  nie  in  Tageszeitungen,  die  auch  von 
Frauen,  Mädchen  und  Unmündip'n  «relesen  werden  und  durch  solche 
Exkurse  nur  vcr-riftend  wirken  kr»nnt  n.  Mit  tiefem  BcMlauern  sieht  man 
aber,  daß  es  leider  auch  eine  poruo^raphische  Presse  gibt,  die  stets 
gute  Geschäfte  macht  nnd  daß  so^  einige  Bnchhandhingen  und  Anti- 
quariate mit  Vorliehe  Bücher  mit  sexuellem  Inhalte,  veifilhrorischeni 
Umschla^j:  und  oft  lasziven  BiUlern  unter  der  Firma  von  wissenscliaft- 
liciien  Werken  verkaufen  und  herausdrehen,  die  h'ider  vorzü^hcli  irehen. 
Das  meiste  ist  Schund,  doch  gibt  es  sicher  darunter  wertvolle  Ar- 
beiten« die  nnr  dem  Gelehrten  sugftnglich  sein  sollten.  Aber  wie 
ist  dies  zu  ermöglichen?  Die  Presse  soll  die  Sittlichkeit 
direkt  oder  indirekt  nie  schädigten  und  das  gutj^eleitete 
Volksj^ewissen  repräsentieren.  Insofern  hat  der  Redakteur  ein 
heiliges  Amt  zu  verwalten.  Sie  soll  ohne  Ansehen  der  Person  und 
mSg^cbst  objektiv  die  Schäden  des  sozialen  Lebens  aufdecken,  immer 
wieder  auf  die  wunden  Punkte  hinweisen  nnd  Vorschläge  zur  Besserunir 
tun.  Sie  kann  so  mächtitr  die  Volksstimmung:  in  ihrem 
guten  Teile  nicht  nur  aufzeigen,  sondern  auch  leiten,  er- 
ziehen und  derart  indirekt  an  der  Gesetzgebung  mit 
arbeiten.  Man  fänp^t  auch  hei  uns  allmählich  an,  die  Wichtigkdt 
der  Prosse  als  zivihsatorischen  Faktor  anzuerkennen,  obgleich  wir  von 
Amerika  hierin  sehr  beschämt  werden,  wo  die  Preiimänner  nicht  nur 
eine  der  wichtigsten  sozialen  Stellungen  einnehmen  —  höher  als  die 
der  Offiziere  — ,  sondern  zu  allen  mdglichen  Ehren-  und  Staatsämtem 
zugezogen  werden.  Hoffentlich  geschieht  dies  auch  dereinst  bei  uns. 
Der  deutsclie  Michel  ist  ja  bekanntlich  langsam,  trottet  gern  hinter- 
her, macht  dafür  aber  seine  Sache  meist  um  so  gründlicher. 

Nachtrag  bei  der  Korrektur.  Ausgezeichnet  feine  Beob- 
achtungen über  Sadismus  und  Masochisrous  finden  sich  bei  Onstav 
Naumann  (Geschlecht  und  Kunst,  Leipzig,  Ilaessel,  1899).  Nament- 
lich sieht  man  hier  gut,  wie  weit  das  Sadistische  in  das  Normale 
hineinreicht,  wie  wir  nach  v.  Krafft-Ebing  fast  alle  auch  mehr 
oder  weniger  Fetischisten  sind.  Die  Liebe,  sa^t  Verf.,  ist  ihrem 
Oharakter  nach  nicht  liebenswürdig,  sondern  hemseh  und  .„der  lie- 
bende empfindet  psychisch  erhöhte  Wollust,  indem  er  die  Geliebte 
quälf^.  Einen  stark  sadistischen  Zug  zeigt  der  (leschlecht^akt  vieler 
Tiere.  \  erf.  giht  weiter  die  verschiedenen  Erklärungen  für  die  so 
überaus  seltene  Kombination  von  Sadismus  und  Masochismus  in  einer 
Person.  Es  handelt  sich  hier,  wie  ich  glaube,  um  psychischen  Henna- 
phroditismus,  oder:  die  eine  Perversion  ist  angeboren,  die  andere  er- 
worben. Heide  dürften  schwerlich  gleichzeitig  angeboren  sein.  In 
kühner  Weise  erl^lickt  endlich  Verf.  in  ganzen  ZeitabschuiUen  einen 
sadistischen  Zug  (im  kaiserlichen  Rom),  oder  einen  masochistischen 
(jetzt)  oder  einen  gemischten.  AUe  solche  lietraehtnngen  k  la  Nordau 
smd  aber  sehr  der  Kritik  ausgesetzt  und  schwer  zu  beweisen. 


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Besprechiiageii. 


BQcherbesprechungen  von  üans  Groß. 

1. 

Die  Grenzen  der  Z  ur oe h nu ngsf iihi  j;k ei  t  und  die  K r iniinal a  ii th ro- 
pologie.  Für  Juristen,  Ärzte  und  gebildete  Laien  dargestellt  von 
Dr.  Hans  Karella,  mit  20  Illiutratioiien.  Hallea.d.8.  Gebaaei^ 
Sehwetsefakesciie  Driickeid  und  Verlag  m.  b.  H. 
Die  Schrift  sei  dazu  bestimmt,  das  gebildete  Publikum  mit  der 
8chwieri;j:on  Frage  bekannt  zu  niaclien,  die  als  CJrenzproblerae  der  Lehre 
von  der  Zureclmung  zu  bezeichnen  seien.  In  der  Tat  bespricht  Verfasaer 
die  Aufgaben  der  gerichtlichen  Psychiatrie,  die  Anomalien  des  Gesdiieehto- 
gcfnhls,  impolrives  nnd  vnbewvMes  Handeln  nsw.  —  aber  der  Haupttdl 
des  Buches  befaßt  sich  mit  der  Lehre  Lonibrosos,  und  diese  zu  verteidigen 
und  von  ihr  zu  retten,  was  zu  retten  ist,  dürfte  wohl  auch  der  Hauptzweck 
des  Buciies  sein.  Ich  habe  vor  vielen  Jahren  irgendwo  erklärt,  Kurella  sei 
der  beste  existiereiide  Kenner  der  Lehren  Lombrosos;  diesen  Ans^ndi 
wiederhole  ich  auch  heute  und  füge  bei:  wer  sicli  Ober  Lonibroso  kurz, 
klar  und  völlig  erschöpfend  orientieren  will,  der  lese  das  hiermit  angezeigte 
Buch  Kurollas,  bfj^ser  kann  der  genannte  Zweck  nicht  erreicht  werden. 
Die  Verteidigung  Lumbrosus  durch  Kurella  ist  ausgezeichnet  gut  geführt 
nnd  da  zu  ihren  Gunsten  wiederholt  schdnbar  schlagende  nnd  bestediend 
aussehende  Argumentationen  vorgeführt  werden,  so  möchte  ich  mieh  mit 
Kurella  in  derselben  Weise  auseinandei-setzen,  wie  ich  es  vor  einem 
Dutzend  Voll  Jaliren ')  mit  Loniln  itsu  getan  habe.  Wenn  ich  Lom- 
brosos l^ehren  bespreche,  so  kann  ich  dies  nur  vom  Standpunkte  des  Juristen 
ans  tun;  als  Jurist  habe  ieh  weder  die  Exakthdt  der  Untersueliangen  Lom- 
brosos,  noch  die  Gültigkeit  semer  Folgerangen,  nocli  deren  anatomische  nnd 
anthroiiolngisclie  lliclitigkeit  zu  untei-suclien,  wohl  aber  darf  ich  zusehen,  wie 
die  Metluide  Lom  brosos  lieschaffeii  ist,  welche  Grundlagen  er  sich  zurecht- 
gelegt hat,  und  mit  welcher  Logik  er  seine  Folgerungen  zieht  —  Kein 
Hensdi,  der  die  Hsnptb^iriffe  der  Biologie  kennt,  xwdfelt  daran,  daß  es 
Atavismus  gnbt,  da  wir  seine  ErsehttnuDgen  bei  Tieren  und  Pflanzen  oft 
genug  iiecltachten  können,  und  wer  je  gefunden  hat.  dall  jemand  nicht  seinen 
Elteni;  sondern  einem  seiner  Großeltern  älmelt,  hat  damit  behauptet,  daß  es 
Atavinmusy  Rfteksdiläge,  gibt;  es  Ist  aneh  Mer,  dafi  boMm  Rüdndiilge 
auf  viele  Generationen,  anf  ganae  Epoehen  snrfl^gehen  können. 

1;  In  der  ersten  Auflage  mciiie!>  „Handbuch  für  UnttTSttCkongsrichter". 
2)  Terf.  nimmt  den  Juristen  gcgenfiber  eine  eigentftmliche  Stellung  ein  und 

da  er  von  ilmi  n  l»loß  Bruck,  Stcinuietz  und  Vargha  zu  kennen  scheint,  und  z.  B. 
V.  Liszt  und  seine  ,,.Iunfrdeufsclu'  Knininalistenschule"  völlig  ignoriert,  so  ist 
CS  begreiflich,  wenn  er  luitunter  zu  Ausfällen  gegen  dio  Juristen  gelangt  (z.  B. 
S.  31  letzte,  S.  96  erste  Zeilen). 


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374 


Bosprecbungeu. 


Kein  HeiuMsii  Ew^dt  weiter  daran,  daß  es  llbelreranlagte,  von  Gebnit 

aus  zum  Bösen  Innneigende  Menschen  f^hty  und  daß  geistige  Degeneration 
liänfijjT  mit  kfiriK'iliclien  Minhildungs/.ri^'lun  cinlicip^lie ;  der  erste,  der  vor 
tauscntlen  von  Jaliren  sa^'to:  .Hütet  euch  vor  den  (lezeichneten'',  wur 
eigentlich  auch  der  erste,  der  die  Bedeutung  der  Degenerationsstigiueu  er- 
kannt hat  Also  aneh  das  fet  niehts  Nenes  and  der  moderne  KriminaliBt 
weiß  gut,  daß  auch  hier  das  Kausalitä(s])nnzip  maßgebend  ist,  daß  jeder 
Mensch  mit  einer  ^fwisscn  Anzahl  ;_'utt'r  odor  srliloditer  Anlagen  von  Natur 
aus  versehen  ist,  und  dall  auf  diese  Anlagen  Kultur  und  da-s  ihn  um 
gebende  Milieu  wirken  muß,  im  guten  oder  im  schlechten  Sinne.  Sein 
Handeln  ist  die  Wirlrang  dieser  UraMhen. 

Also:  diese  drei  Momente:  Atavismus,  Stigmen  und  Veranlagung 
existieren  und  sind  längst  bekannt,  aber  ihren  von  T.onibroso  be 
haupteten  Zusammenhang:  Stigmen  bedeuten  die  Veranlagung  und 
sind  Ergebnisse  des  Atavismus  —  hat  Lombroso  nicht  bewiesen,  und  das 
wird  aiMh,  wenigstens  mit  d«t  Mitteln  von  heute  und  der  n>dwtem  ZtH, 
niemand  beweisen  können.  Und  Lombrosos  Argumentation  liegt  eigent- 
lich in  der  Doppelbodeutung  eines  Schlag-  und  Titclw(»rtcs:  Deliriueute  natu. 
In  der  einen  Bedeutung  heißt  es:  Der  verbreclierische  Mensch  wird  als 
soleber  geboren  —  er  bringt  seine  bOsen  Anlagen  sdion  von  Katar  aas  mit 
sidi,  Kaltar  kann  bessern,  Miiieu  mai^kieren,  aber  seine  Anlage  behält  er. 

In  diesem  Sinne  nehmen  wir  Modernen,  als  ehrliche  Deterministen, 
den  Dclinciuente  nato  voll  und  ganz  an.  Aber  Lombroso  hat  in  diese 
Worte  noch  einen  zweiten  Sinn  gebracht,  etwa  dahin:  »Der  Verbrecher 
wird  mit  seinen  Stigmen,  die  ihn  als  Vwbredier  kennseiehnen,  geborai; 
nicht  als  ob  die  böse  Veranlagong  die  Stigmen  erzeugte,  oder  diese  jene, 
sondern:  wir  müssen  annelimen  fsa^rt  Lo m broso)  dal»  e.s  etwim  Drittps.  un< 
Unbekanntes  gibt,  welches  s(twühl  die  böse  Veranlagung;  als  die  Sti;.'nH'n 
erzeugt,  es  ist  also  eines  ein  Kennzeicbeu  für  das  Vorhandensein  des  auderen. 
Den  Delinqaente  nato  in  diesem  Sinne  lehnen  wir  abor  als  angeblidi  be- 
wiesen entschieden  ab. 

Vor  allem  will  es  schon  im  allgemeinen  schwer  vereinbar  erscheinen, 
daß  sich  gewisse  Anlagen  mit  so  grob  sinnliclien  Erschdnungen  vereinen 
sollen;  wir  können  uns  allerdings  denken,  daß  ein  arges  Struma  mit  dem 
biOden  Verstände  ebes  Kretins  xnsammenhSngt,  weil  die  monstrOse  Ober- 
wucherung eines  Organs  die  Entwicklung  des  Gehirns  beeinträchtigen  kann  — 
aber  daß  verbnclit  rlsclie  Aida;ro  etwa  nnt  verkrüppelten  Zehen  zusammen- 
hängen soll,  wollen  wir  ohne  Beweis  uiclit  glauben,  und  diesen  Beweis  hat 
uns  Lombroso  nidit  geliefert 

Quod  erat  demonstrandum :  Der  Verbrecher  besitzt  von  Gebnrt  aus  an 
sdnem  Körjjcr  Stigmen.    Diese  Aufgabe  zerfällt  aber  wieder  in  zwei  Beweise: 

1.  Der  Verhreclier  hat  diese  Sti;-anen  in  einem  sehr  grolien  Prozentsatz. 

2.  Der  Nicht\  erbrecher  hat  diese  Stigmen  gar  nicht  oder  weuigstens 
in  «nem  anffallend  geringen  Prozentsatz. 

Werden  nicht  beide  Bewdse  geführt,  so  wäre  bloß  einer  von  ihn«! 
völlig  belanglos:  denn  kommen  Sti^'men  bei  Verbrechern  und  Nielitvcr- 
brechern  in  nicht  sehr  \  erschieden  hohem  Prozeutsatz,  ungefähr  gleichmäßig 
vor,  so  liegt  nichts  Merkwürdiges  vor. 

Wir  wollen  nnn  die  Tätsaofae  beiseite  lassen,  daß  die  nroseatBÜBe, 


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Bcsprecliuiigen. 


•  375 


die  Lombroso  von  seinen  Verbrechern  bietet,  kdne  hohen  sind:  41,  19, 
11,  16,  9,  8.  13  Pros.  usw.  —  das  tHiui  keine  imponierenden  Zahlen,  sie 
lassen  nnr  VermntunL'en  zu,  wenn  vei-seluedene  Feliler(|uelien  nn'renotninen 
werden:  tnit  l'clilertnieilen  beweist  man  alter  nicht.  Wir  wollen  nun  von 
ilieäeu  Uüriiii^eu  Zalileu  abgehen  und  die  MeÜiodti  Lombrosos  betrachten. 

TheoreMi,  und  wenn  er  korrekt  vorgehen  wollte^  maßte  Lombroso 
sagen:  ,,Ich  teile  mein  Material  ein  in  Verbrecher  und  Nicht  Ver- 
brecher —  ich  finde  be!  ei-steren  x  Pro/,.,  bei  letzteren  y  Pr«>z.**  Könnte 
Lombroso  so  s]  »rechen,  so  wäre  die  Beweisführung  einwandfrei,  so  kann 
er  aber,  wie  die  ratsacben  liegen,  durdmoe  nieht  reden  —  er  darf  ehrlicher- 
WMse  nur  sagen:  „ich  vergl«efae  Eingesperrte  und  Nicbteingesperrte'^ 

—  d;ui  ist  ;iber  etwa.s  voUstündig  anderes  und  wissenschaftlich  gleichglUtig. 

Voreret:  die  Untersuehung  Eingesperrter  interessiert  uns  nicht,  die 
Untersuchung  von  Verbrechern  ist  aber  lieute  um  so  weniger  möglich, 
als  niemand  von  uns  sagen  kann,  was  wur  nnter  einem  Verbredier  ver- 
stehen; wir  wissen  ungefähr,  was  em  Verbrechen  ist^  nicht  aber,  wann  einer 
Verbrecher  wird.  Was  mul»  er  begangen  haben  -  wi»-  oft  —  unter 
welchen  UtnstUndcn  -  ans  welchen  Motiven  V  um  \'erl>reclier  zu  sein,  Ver 
Inecher  im  öinnc  der  Ivrintiuaianthropologie,  nicht  im  Sinne  einzelner  Para- 
graphen. Sehen  wir  dnmal  su,  wen  Lombroso  alles  unter  seinen  „ESn- 
geqierrtcn"  fand:  einen  immerliin  nicht  zu  vernachlUssigenden  Prozentsatz 
ungerecht  Verurteilter;  —  dann  solclic.  die  im  nicht  nachzuweisenden,  aber 
doch  \orhandenem  Uauscli  schwere  \  erbrechen  begingen;  —  Wilddiebe, 
deren  .iagdlust  nicht  schlechtei'  war,  als  die  huber  Herren,  und  die  uiclit 
bereifen  wollten ,  daß  das  Wild  auf  ihren  Aekem  nicht  ihnen  gehört;  — 
Twente,  in  inÜcrotar  Not  stahlen;  —  die  untei-schlugen,  nm  hnngenide 
Kinder  zu  nähren;  —  Ijcute,  die  im  gorechtesten  Zorn  einen  erschlugen: 

—  politische  V  erbreciier;  —  Duellanten,  oder  einen,  der  falscli  geschworen 
hat,  um  die  Ehre  dner  Frau  zu  retten  —  die  alle  hat  Lombroso  ge- 
messen, verzeichnet  und  z.  B.  mit  hoher  Crista  frontalis  interna  behaftet  ge- 
funden oder  auch  nicht  waren  das  Verbrecher?  Eingesperrt  waren 
sie.  Verbrecher  aber  nicht,  und  die  Notizen  Lombrosos  wurden 
durch  sie  konfus  gemaclit 

Nun  sehen  wur  uns  das  Vergleichsmaterial  an,  die  „Frden*'.  Abgesehen 
davon,  daß  wir  auch  hier  oft  Verglddunial^  \  on  Schädeln  aus  Sammlungen, 
von  der  Anatomie,  ans  iJeinhiuisem  angeführt  finden,  also  von  Schädeln, 
von  denen  niemand  wei''i.  ob  ihre  Träger  Mörder  oder  ehrliclie  Ixiute 
waren,  abgesehen  davou,  wie  steht  es  mit  den  „frei  Herumgehenden"  V 
dürfen  wir  sie  den  „Nichtverbrediem^  gleidistdlen?  nnter  ihnen  befinden 
sich  vor  allem  solche,  die  schon  bestraft  wurden,  die  dos  Lombroso 
nicht  gesai^f  haben,  und  die  er  vielleicht  vor  einigen  Jahren  oder  Tagen 
als  „Verbreciiei-achädel"  gemessen  hätte.  Dann  solche,  die  ülier  kurz  oder 
lang  ein  Verbreeben  begehen  werden,  die  schon  alle  Anlagen  und  den  Sinn 
fttr  Verbredien  beeitzoi,  und  nur  noch  keinen  AnlaO  hatten,  dasselbe  zu 
begehen.  Dann  alle,  die  Verbrechen  begangen  haben  aber  nicht  erwischt 
oder  nniicliti;;  freigesj)rochen  wurden;  eudlich  die  ungeheure  Zahl  derer, 
die  als  Diebe,  liäuber,  Betrüger,  ülörder,  NotzUcIiter  gestraft  worden  wären, 
wenn  sie  nicht  zufällig  in  wohlhabenden  Verhältnissen  wären  und  nicht  zu 
atehlen,  rauben,  morden  brauchten.   Kriminalanthropologiseh  sind 


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376  H 


Buäprccliiuigeii. 


alle  die  OesanDten  Verbreeber,  oll  hondertmat  mehr  all  die  im 
Qefftngnis  befindlidien,  aber  sie  hatten  ein  Verbrechen  nicht  nOtig,  worden 
nicht  einpesperrt  und  somit  als  „Elirliclio"  vennwwen  iin«i  gezählt. 

Man  wird  vielleidtt  fragen,  ub  sicli  der  Vorgang  nicht  exakter  gestalten 
ließe;  man  könnte  ja  in  den  Oefängniaeen  blolt  die  zweifellosen"  Ver^ 
breefaer  untersuchen  und  alle  anderen  beiseite  laasen.  Aber  wer  wttU,  was 
ein  „zweifollosor*'  VcrbreclH  r  ist?  Wie  subjektiv  und  individuell  würde 
das  ausfallen  und  wer  kennt  alle  Motive  und  Gründe  und  vorausg-efjangene 
Umstände  auch  beim  ,^weifelio6eäteu"  Mörder?  WUlite  man  alles,  so 
wttrde  man  den  „nidikwen  MOrder^  Tidleieht  sofort  ron  der  Liste  der  Yer- 
bredier  streidien  nnd  sagen :  Eingesperrt  ja  —  Verbreeber  nein*'. 

Ebenso  könnte  man  ja  etwa  bei  den  Kontrollmessungen  der  „Ehr- 
lichen** nur  wirklieh  „zweifellos  Klirlielie"  nehmen  ?  Wer  ist  ehrlich  I  Wir 
Wullen  tun,  wie  der  Zöllner  im  Tempel,  der  rückwärts  stand,  an  die  Brust 
Uopfte  nnd  spradi:  ^enr  sei  mir  armen  Sflnder  gnidig".  Wer  von  nns 
weifi,  ob  er  nicht  ein  INeb  gewoidoB  wäre,  w  enn  er  es  nOtig  gehabt  hätte, 
ob  er  nicht  einen  erschlüge,  wenn  er  im  höchsten  Zoni  wäre?  Wir  alle 
wären  vielleicht  Delinquenti  nati,  wenn  uns  die  Verhältnisse  zu  Fall  ge- 
bracht hätten. 

So  wie  es  bente  gestaltet  Toiliegt»  ist  Lombrosos  Katerial  für  daa, 

was  er  beweisen  will,  unbrauchbar.  Wenn  wir  einmal  wissen^  was  rai  Ver- 
breelier  ist.  wenn  man  die  Erdbewohner  reinlieh  in  zwei  I^ager  teilen  kann: 
Verbrecher  und  Niehtverbrecher  —  dann  mag  Lombroso  messen,  zählen 
und  vergleichen  —  was  er  heate  mißt,  zfihlt  nnd  vergleicht,  das  beweist  nicht 
dasy  was  er  beweisen  will,  es  ist  in  dieser  Riohtang  wissenechaftfich  wertioa. 

Wir  wissen,  was  wir  Lombroso  an  Anregung,  an  Ideen  und  Pro- 
blemen zu  verdanken  haben,  aber  der  I>elin(|uente  nato  in  seinem  Sinn 
läßt  sich  auch  dmcii  die,  ich  wiederhole :  geradezu  glänzende  Verteidigungs- 
sohrift  Karellas  nicht  halten. 


2. 

Strafrechtliche  Abhandlangen.    Begründet  von  Prof.  Dr.  Hana 

Benneke.  Heft  39:  Die  Staatsverleuradung  (§  131  R.St.G.B.). 

Von  Paul  Kiedingcr,  lieferendar  in  Breslau.    Sohletter,  Breslau. 

Das  im  Gcäcty.  nicht  sehr  khir  j;efalite  Delikt  hat  schon  oft  zu  Zweifeln 
Anlaß  gegeben^  es  wird  auch  iu  den  Leiirbüclieru  und  ivommentaren  ver- 
schieden genug  behandelt.  Es  war  daher  ehie  dankenswerte  Arbeit,  daß 
Verf.  cüe  dierfalls  in  fhige  kommenden  Momente  grOndfieh  nnd  mit  genaner 
Ltteratarverwertong  aar  Besprechang  gebracht  hiU. 

Druekfelüerberichtlgiiiig* 

Sclincickert,  Zur  Psyeliologie  der  Zeugenaussagen,  Archiv  XllI,  HeftS: 
8.  l'JS,  Zeile  14  von  oben  muU  ob  beißen:  Juristen,  suirt  Juristem. 
S.  19S,     s     3    c    unten    «     *      •     :  heule,  äUtt  Leute. 
S.  200,    «    7    •  oben    «    •     •    :  ihn,  statt  ihm. 
S.202,    «    2    •  unten    *    *     »    :  Sicherheitsorgane, statt —oigene. 


Uniek  TOR  J.B.Hirio]if*ld  In  Leipddg. 


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RETURN      CIRCULATION  DEPARTMENT 

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